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Welchen Beruf hat ein Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, der bei seiner Ankunft in Israel keinen Geigenkasten unterm Arm trägt? Antwort: Er ist Pianist.

Dieser Jüdische Almanach ist ganz der Musik gewidmet: Musik verbindet die Menschen am Shabbat, Musik spendet Trost in schwierigen Zeiten, aber wie kann man jüdische Musik definieren? Geht es um liturgische Synagogengesänge oder biblische Instrumente, scheint es klar, aber wie steht es mit den Werken jüdischer Komponisten, Librettisten oder Interpreten? Die Sprache der Noten und Klänge ist eine universale – eine, die sich überallhin mitnehmen lässt, dennoch kann man sich fragen, inwiefern die Herkunft des Musikers eine Rolle für sein Schaffen spielt.

 

Mit Beiträgen von Doron Rabinovici, Na'ama Sheffi, Robert Dachs, Tina Frühauf, Aviv Livnat, Leo Treitler, Susanne Zepp und vielen anderen.

 

 

JÜDISCHER
ALMANACH

der Leo Baeck Institute

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Musik

Herausgegeben von Gisela Dachs
im Auftrag des
Leo Baeck Instituts Jerusalem

Jüdischer Verlag
im Suhrkamp Verlag

 

 

Gefördert durch Nordelbisches Missionszentrum (NMZ), Nahostreferat,
Referat für christlich-jüdischen Dialog
Im Dialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch
in Hessen und Nassau

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Redaktionelle Beratung: Irene Aue-Ben-David und Na'ama Sheffi

Umschlagabbildung: Vered Navon

 

Das Leo Baeck Institut (LBI) ist benannt nach der Symbolfigur der deutschen Judenheit im 20. Jahrhundert und besitzt Zentren in New York, London und Jerusalem sowie eine Wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft in Deutschland. Es wurde 1955 in Jerusalem gegründet, um die Geschichte und Kultur des deutschen und zentraleuropäischen Judentums zu erforschen und zu dokumentieren.

 Seit 1993 gibt das Leo Baeck Institut Jerusalem den Jüdischen Almanach heraus. Dies knüpft an eine alte Tradition an, die durch den Nationalsozialismus gewaltsam abgeschnitten wurde. Erstmals erschien ein Jüdischer Almanach im Jahre 1902.

 

Leo Baeck Institute:

Jerusalem: 33 Bustenai Street, Jerusalem 93229, Israel; www.leobaeck.org

London: 2nd Floor, Arts Two Building, Queen Mary University of London, Mile End Road, London E1 4NS, UK; www.leobaeck.co.uk

New York: 15 West 16th Street, New York, NY 10011, USA; www.lbi.org

Freunde und Förderer des LBI: Liebigstraße 24, Frankfurt 60323

 

 

 

 

eBook Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© für diese Zusammenstellung Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag; für die einzelnen Beiträge bei den Autorinnen und Autoren

© für die Abbildungen Vered Navon

Berlin 2016

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlagfoto: Vered Navon

 

eISBN 978-3-633-74899-0

www.suhrkamp.de

INHALT

Zu diesem Almanach

Heidy Zimmermann Was ist jüdisch an jüdischer Musik?

Thomas Gerlich und Heidy Zimmermann
Nah und fern zugleich. Ein Gespräch über Musik und Identität zwischen György Ligeti und Mauricio Kagel

Mark Kligman Musik und Judentum

Shoshana Liessmann Hörner, Leiern, Kriegsgeheul. Was uns die Bibel über die Musik im Alten Israel (nicht) verrät

Tina Frühauf Ein Instrument und seine Folgen: Die Orgel in der deutsch-jüdischen Kultur

Robert Dachs Wiener Publikumslieblinge – vertrieben, ermordet, unsterblich

Leo Treitler Max Raabe in Israel: Lebendiges Erinnern

Ruth Frenk »Freizeitgestaltung«: Musik in Theresienstadt (1942-1944)

Irit Youngerman »Geächtete Musik dirigiert von einem Flüchtling«: Mahlers Sinfonien im Programm des Palestine Orchestra vor und während des Zweiten Weltkriegs

Na'ama Sheffi Die Grenzen der Zensur: Musik, Shoah und Liberalismus

Joel E. Rubin »Aufgeschlossen und respektvoll«: Klezmer als Teil der jüdischen Alternativszene in Deutschland im frühen 21. Jahrhundert

Ofer Waldman Israelische Musiker in Deutschland – ein lohnenswertes Nachhorchen?

David Witzthum Das Kostbarste der Jeckes-Seele: die Kammermusik

Aviv Livnat »Nicht so sehr im bewussten Leben, aber vielleicht in den Werken«: Gedankenspaziergänge mit dem Komponisten Abel Ehrlich (1915-2003)

Motti Regev (Israelischer) Pop-Rock: Elektrische Gitarren, ästhetischer Kosmopolitismus und kulturelle Eigenart

Doron Rabinovici Der Klang eines jungen Tel Aviv

Edwin Seroussi Jüdische Musiker in der islamischen Welt

Stuart J. Hecht McCarthy gegen Mostel: Ein jüdischer Broadwaystar überlebt die Schwarze Liste

Tad Hershorn Jazz, Juden und Afroamerikaner

Oren Roman und Susanne Zepp Jiddischer Tango

Hanno Loewy »We are giving them Treblinka«: Punk und Jewish Radical

Zu den Autorinnen und Autoren






Für meinen Bruder
Robert Dachs (1955-2015)

ZU DIESEM ALMANACH

Welchen Beruf hat ein jüdischer Neueinwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, wenn er bei seiner Ankunft am Flughafen in Israel keinen Geigenkasten unterm Arm trägt? Die richtige Antwort lautet: Er ist Pianist. Musiker gilt als ein jüdischer Beruf. Während sprachliche Hürden oftmals nur schwer überwindbar sind, hat die Sprache der Noten und Klänge den klaren Vorteil, eine universale, transportierbare zu sein – eine, die sich im Gepäck überall hin mitnehmen lässt. Schon die biblischen Instrumente verweisen auf eine uralte Tradition im Judentum. Musik verbindet am Shabbat und an Feiertagen; sie spendete darüber hinaus Trost und Hoffnung in schwierigen Zeiten.

Dieser Almanach ist diesem weitgefassten Thema gewidmet und setzt sich dabei auch mit den Grenzen auseinander, an die man stößt, wenn es um die Definition jüdischer Musik geht. Bei liturgischen Synagogengesängen scheint dies noch klar, aber wie steht es mit den Werken jüdischer Komponisten, Textdichter sowie deren Interpreten? Inwiefern spielt die eigene Herkunft eine Rolle bei dem Schaffensdrang? Ist Musik, die unter grauenhaften Umständen der Verfolgung entstanden ist, eine jüdische? In ihrem Eröffnungsbeitrag versucht Heidy Zimmermann darauf Antworten zu geben. Sie betont, dass »jüdische Musik« keinesfalls als Einheit beschrieben werden könne und sieht das Faszinierende vielmehr an ihrer Heterogenität, ja Gegensätzlichkeit und manchmal einmaligen Vielstimmigkeit.

Über diese Fragen und ihr eigenes Verhältnis zum Judentum haben sich im November 1990 zwei der profiliertesten Komponisten des 20. Jahrhunderts unterhalten: György Ligeti und Mauricio Kagel. Wir drucken dieses bisher unveröffentlichte Gespräch hier erstmals ab.

Eindeutiger liegen die Dinge bei der Forschung nach musikalischen Wurzeln in den Heiligen Schriften. In seinem Artikel befasst sich Mark Kligman mit der Musik von Juden in der Hebräischen Bibel, beim Aufbau Jerusalems als Zentrum des jüdischen Volkes und in den verschiedenen Regionen der Diaspora. Er beschreibt, wie sich zahllose Beispiele dafür finden lassen, dass der Musik in entscheidenden Momenten des religiösen Lebens eine große Bedeutung zukam. Aus jener Zeit gibt es keine überlieferten konkreten melodischen Spuren. Shoshana Liessmann hat versucht, ein Klangbild vom damaligen Musikschaffen zu erstellen. Sie ist sich aber nicht sicher, ob es im 21. Jahrhundert tatsächlich gelingen kann, sich in die musikalische Welt des biblischen Menschen einzufühlen, der – die Stille der Wüste und die göttliche Macht fürchtend – sang, tanzte und musizierte.

Bis ins 19. Jahrhundert hinein waren Gesänge allein mündlich tradiert worden. Tina Frühauf beschreibt, wie die kantoriale Improvisationskunst allmählich in den Hintergrund trat und feststehenden Melodien wich. Eines der deutlichsten Anzeichen eines neuen musikalischen Selbstverständnisses war die Orgel als Begleit- oder Soloinstrument, was wiederum – als Symbol der Reform – die Abgrenzung zwischen traditionellem und modernem Gottesdienst markierte. Obwohl ihr Status in der jüdischen Liturgie immer umstritten war, setzte sie neue musikalische Entwicklungen in Gang. Mit der Zerstörung der Synagogen in der Reichspogromnacht 1938 fand die jüdische Orgelkultur im deutschsprachigen Raum ein abruptes Ende. Spuren dieser Kultur finden sich noch in den Vereinigten Staaten, wo Orgelmusik bis heute ein wesentlicher Bestandteil im Gottesdienst reformierter und liberaler Gemeinden ist.

Die Nazis hatten nicht nur die Juden ermordet, sondern auch versucht, deren künstlerisches Erbe zu vernichten. In manchen Fällen erwies sich das als schwierig. Das zeigt der Fall der Wiener Populärkultur, die – wie Robert Dachs darlegt – überwiegend von jüdischen Textdichtern, Komponisten und Interpreten überhaupt erst erschaffen wurde. Da sich ihre beliebte Musik nicht verbannen ließ, mussten die Namen der Schöpfer von den Notenblättern und Programmheften verschwinden.

Die vergessene Tradition der Kabaretts, Varietés und Tanzbars lässt Max Raabe wieder aufleben, wenn er im Stil der Goldenen Zwanziger einstige Ohrwürmer singt. Das führte ihn auch nach Israel. Über diese Konzertreise schreibt der amerikanische Musikwissenschaftler Leo Treitler, der – selbst noch in Deutschland geboren – mit seiner Familie vor den Nazis geflüchtet war.

Wie im Konzentrationslager Theresienstadt Musiker die Kraft fanden, künstlerisch tätig zu sein, damit beschäftigt sich Ruth Frenk. Sie beschreibt die Fülle an Werken, die unter unsäglichem Leid entstanden sind, und fragt sich, inwieweit es überhaupt möglich ist, diese angemessen in der Gegenwart zu interpretieren.

Während das Judentum in Europa bereits dem Untergang geweiht war, entstand 1936 in Palästina das spätere israelische Philharmonieorchester. Sein zügiger Aufbau vor dem Zweiten Weltkrieg war eine außerordentliche Erfolgsgeschichte. Man nahm damals Musikstücke ins Programm, die auf dem Alten Kontinent nicht mehr gespielt werden durften, darunter vor allem auch Werke von Gustav Mahler. Irit Youngerman beschreibt die ambivalenten Gefühle der Bevölkerung im Hinblick auf den berühmten jüdischen Komponisten, der in ihren Augen zum Inbegriff der Assimilation geworden war.

Ein ganz anderer Fall ist der Umgang mit Richard Wagner. Seine Musik, die mit antisemitischem Gedankengut assoziiert wird, wird in Israel immer noch weitgehend boykottiert. Über diese »freiwillige Zensur« – aus Respekt vor Überlebenden – schreibt Na'ama Sheffi.

Spricht man von jüdischer Musik, denken viele zunächst einmal an Klezmer-Musik. Das Thema wird heute in erster Linie unter dem Aspekt diskutiert, dass auch nichtjüdische Deutsche sie spielen und lieben. In seinem Beitrag betrachtet Joel E. Rubin die Klezmerszene mit einem differenzierteren Blick und analysiert, wie es möglich werden konnte, dass heute jüdische und nichtjüdische Deutsche, Amerikaner und andere in Deutschland lebende Ausländer, die allesamt in der Klezmerszene des frühen 21. Jahrhunderts aktiv sind, sich austauschen und miteinander Musik machen können.

Dass Musiker aus aller Welt in Scharen nach Deutschland strömen, verwundert Ofer Waldman nicht. Er erklärt das – bei klassischer Musik – unter anderem mit den geradezu paradiesischen Tarifverträgen, die sich noch aus den Zeiten des Wirtschaftswunders in unsere Gegenwart gerettet haben. Zudem berichtet der Israeli über seine persönlichen Erfahrungen als Orchestermusiker in Deutschland.

Über ganz besondere musikalische Treffen in Israel schreibt David Witzthum, der sich in seiner Freizeit seit zwanzig Jahren mit anderen Jeckes (aus Deutschland stammenden jüdischen Einwanderern) oder Nachkömmlingen von Jeckes der Kammermusik widmet. An dieser schmalen Brücke, die in die alte Heimat zurückführte, hielten viele der früheren Jeckes einst fest. Sie dachten dabei wehmütig an ein Europa, das es in Wirklichkeit in vielerlei Hinsicht so niemals gegeben hatte.

Aus Deutschland stammte auch Abel Ehrlich, der 1934 nach dem Abitur in Königsberg zunächst nach Jugoslawien geflüchtet war und 1939 noch rechtzeitig eine Einwanderungserlaubnis für Palästina erhielt. Mit über 3000 Kompositionen zählte er zu den fruchtbarsten Musikschaffenden in Israel. Er schuf Werke für Chor, Sinfonieorchester und verschiedene Kammerensembles sowie viele Solostücke. Aviv Livnat erzählt aus einer persönlichen Perspektive von seinem einstigen Lehrmeister.

Längst gibt es heute aber auch eine starke und ausdifferenzierte Pop-Musikszene in Israel. Motti Regev schreibt über die Entwicklung und Besonderheiten des israelischen Rock, in dem die elektrische Gitarre von Anfang an eine wichtige Rolle spielte – angereichert mit orientalisch-mediterranen Klangfarben, die der arabischen Bouzouki nachempfunden sind.

Doron Rabinovici stimmt anschließend ein Lob an auf die israelische Indie-Band Acollective, deren Sound er als »Stimme eines Milieus im postmodernen und postnationalen Tel Aviv« schätzt. Verschwiegen werden darf nicht, dass es sich bei den Gründern um seine beiden Neffen handelt, deren Karriere sich in eine Familientradition einbettet, die von Musik durchwoben ist.

Der heutige Konflikt im Nahen Osten verleitet oftmals zu der Annahme, jüdische und islamische Kulturen seien per se unverträglich. Doch haben die meisten Juden seit dem Aufkommen des Islams und bis ins 15. Jahrhundert in den riesigen arabischen und persischen und später in den osmanischen Reichen gelebt, was auch zu einem fruchtbaren kulturellen Austausch besonders in der Musik führte. Über die Rolle von Juden als Bewahrer der musikalischen Traditionen in den islamischen Ländern bis in unsere Zeit, weiß Edwin Seroussi zu berichten.

Jenseits des Atlantiks fanden im 20. Jahrhundert jüdische Amerikaner auf den Broadwaybühnen eine neue Heimat. Allerdings wehrten sich Nationalisten gegen die Integration anderer ethnischer Gruppen, auch Juden, die sie besonders in den Jahren nach den Weltkriegen mit den gefürchteten Kommunisten gern in einen Topf warfen. Stuart J. Hecht erzählt von der Karriere des legendären Theaterstars Zero Mostel, die im Schatten der Schwarzen Liste stattfand.

Jüdische Nordamerikaner, die es nach ihrer Einwanderung in die Städte und damit in die Modernität, gezogen hatte, sollten auch den Jazz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dauerhaft beeinflussen. Viele von ihnen waren Amerikaner der ersten Generation, sie wurden Songschreiber, Musiker, Entertainer, besonders in New York, wo sie direkt mit den afroamerikanisch geprägten Genres in Berührung kamen. In seinem Beitrag befasst sich Tad Hershorn mit dieser produktiven, wenn auch nicht konfliktfreien Beziehung zwischen amerikanischen Juden und Afroamerikanern.

Es existiert wohl kaum eine musikalische Stilrichtung, der Juden nicht irgendwie ihren Stempel aufgedrückt hatten. So die jüdischen Einwanderer in Südamerika, wo sie zur Entstehung des jiddischen Tangos beitrugen. Oren Roman und Susanne Zepp erzählen seine Geschichte.

Wer wiederum von seiner Herkunft explizit Abstand nehmen wollte, das waren oft jüdische Protagonisten des Punk. Hanno Loewy weist darauf hin, dass sie erst in den letzten Jahren als »jüdische Punker« ins Rampenlicht geholt wurden, ob sie es wollten oder nicht. In seinem Text über Jewish Radicals geht er auf die Querbeziehungen zwischen intellektuellem jüdischen Underground, Beat Poeten und musikalischem Radikalismus – nicht nur in den USA, sondern auch in England, Frankreich und Deutschland – ein.

Was die vorliegende Sammlung von Texten auszeichnet, die alles andere als einen Vollständigkeitsanspruch erheben möchte, ist, dass hier, neben Experten und Kennern, auch viele aktive Musiker – oft in einer Person – zur Feder gegriffen haben, um über ihre Tätigkeiten und Leidenschaften zu reflektieren.

Die Bilder stammen von Vered Navon. Sie hat für diesen Almanach Verkehrsinseln in der israelischen Stadt Rosh Ha'ayn fotografiert, die mit Skulpturen von Musikinstrumenten ausgestattet wurden.

 

Gisela Dachs
Jerusalem/Tel Aviv

HEIDY ZIMMERMANN
WAS IST JÜDISCH AN JÜDISCHER MUSIK?

Spricht man über Musik in Hinblick auf das Judentum, steht unweigerlich die Frage nach einer »jüdischen Musik« im Raum. Kaum ein Begriff ist so vielschichtig und einer so wechselhaften Konjunktur unterworfen wie dieser. In den letzten Jahrzehnten hat beispielsweise der weitreichende Klezmerboom das Verständnis geprägt, und unzählige Festivals, Konzerte, Publikationen und Forschungsprojekte haben mit dem Etikett »jüdische Musik« oder »jüdische Musiker« Eindeutigkeit suggeriert, jedoch letztlich eher zur Verwischung von Konturen beigetragen. Die Biennale Bern stellte im Herbst 2001 mit einem ungewöhnlich breitgefächerten Programm »jüdische Musik« zur Diskussion, setzte aber ein markantes Fragezeichen hinter den Begriff. Alexander Ringer, der aus Berlin in die USA emigrierte Musikwissenschaftler, der sich ein Forscherleben lang in einschlägigen Arbeiten mit der Thematik auseinandergesetzt hat, betonte dort, dass er die Einladung für einen Vortrag bei dieser Biennale nur dank diesem Fragezeichen angenommen habe. In den Jahren seither ist die Kategorie »jüdische Musik« im Zuge einer neuen affirmativen Ethnisierung und in einer zunehmend globalisierten Welt so selbstverständlich geworden, dass sie auf der pluralistischen Karte von der Weltmusik als eine Landschaft unter vielen aufscheint. Gleichzeitig ist diese Landschaft eine außergewöhnlich vielfältige und schichtenreiche, und die Frage bleibt aktuell: was kann jüdisch sein an Musik, und welche Rolle spielt Musik in der Geschichte der Juden?

Der Begriff »jüdische Musik« ist erstaunlich jung. Er taucht in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts im Rahmen der allgemeinen Debatte über »jüdische Kultur« auf, die nach dem Ersten Weltkrieg immer intensiver geführt wird und unter den politischen Repressalien in den 1930er Jahren kulminiert. Die Ursache für diese vergleichsweise späte Begriffsbildung liegt unter anderem darin, dass die hebräische Sprache keinen abstrakten Oberbegriff für Musikalisches kennt und das Lehnwort »musiqa« nur für Theoretisches verwendet hat, während der traditionelle Alltag selbstverständlich von musikalischer Praxis, von »Singen« und »Spielen« erfüllt war. Die Debatte über »jüdische Musik« bewegt sich daher im Spannungsfeld zwischen westlicher Kunstmusik und den funktional gebundenen Bereichen von Folklore und liturgischem Gesang.

Im Emanzipationsprozess des europäischen Judentums seit dem 19. Jahrhundert spielte die Musik eine zentrale Rolle, bot sie doch – als vermeintlich universale Sprache – von allen Künsten die beste Aussicht auf eine erfolgreiche Integration. Dass gerade die Musik für die Juden auch zu einem identitätsstiftenden Faktor werden konnte, hängt mit ihrer prinzipiellen Abstraktheit zusammen; Musik per se transportiert ja im Gegensatz zur bildenden Kunst keine Bilder und im Gegensatz zur Literatur keine Begriffe. Diese prinzipielle Abstraktheit der Musik macht das Medium aber auch offen für die Zuschreibung von Bedeutungen und symbolischen Wendungen, nicht nur über beigegebene Texte und Titel, sondern auch auf der Ebene der Töne. Daher haben sich sowohl der Kulturzionismus als auch national orientierte Fraktionen des Judentums von Anfang an auf die Musik als einheitsstiftende Größe berufen. Aus dieser national orientierten Perspektive schien das Bedürfnis nach einer »Musikgeschichte der Juden« oder einer »Geschichte der jüdischen Musik«, analog zu zeitgenössischen europäischen Modellen, naheliegend zu sein. Wurde bis dahin das Thema »Musik und Juden« in erster Linie religiös und lebensweltlich betrachtet, so ging es nun um die Konstruktion einer kontinuierlichen Geschichte von den biblischen Ursprüngen bis zur Kunstmusik des 20. Jahrhunderts. Das Narrativ dieser Geschichte schreitet in Jahrtausend- und Jahrhundertschritten von mythischer Vorzeit (Jubal als Erfinder der Musik, das Meereslied von Mose, Mirjam und den »Kindern Israel«, Psalmen Davids) über einzelne schriftliche Zeugnisse im Mittelalter (Obadja der Proselyt) und Salomone Rossi als erstem Komponisten der Neuzeit bis zu Exponenten der Emanzipation (Giacomo Meyerbeer, Felix Mendelssohn, Jacques Offenbach). Fortgesetzt wird die Geschichte in Osteuropa mit der Lancierung einer »neuen jüdischen Musik«, einer Nationalmusik im Zeichen »jüdischer Renaissance«, die schließlich im Mandatsgebiet Palästina in den »mediterranen Stil« mündet und im Staat Israel oder in den jüdischen Communities von Amerika sich der Gegenwart nähert.1

Mit diesem Narrativ geht einerseits die Prämisse einer besonderen Affinität von Juden und Musik einher, andererseits liegt ihm ein mehrschichtiger Paradigmenwechsel zugrunde, dessen zentrale Komponenten nur teilweise ins Bewusstsein treten: Musik und Gesang waren im Judentum über die Jahrhunderte hinweg eine der mündlichen Überlieferung vorbehaltene Angelegenheit, wurden als solche bewusst gepflegt und in einer zeitlosen Sphäre der Tradition bewahrt. Mit dem Wechsel in die Schriftlichkeit musikalischer Notation erfolgt ein Schub der Historisierung und Rationalisierung, aber auch der Säkularisierung und der kulturellen Öffnung. Musikalische Aktivitäten sind nun nicht mehr nur eine Sache des Kollektivs und der Tradition, sondern sie werden zur Manifestation herausragender Persönlichkeiten. Während der Wiener Oberkantor Salomon Sulzer sich als Sänger von Schubertliedern ebenso profilieren konnte wie als Komponist von mehrstimmigen Synagogengesängen, wählten manche seiner Zeitgenossen den Schritt in die Assimilation, um in der Mehrheitsgesellschaft ihren Weg zu machen. So schien bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Etablierung im europäischen Musikleben immerhin möglich, auch wenn sie, wie im Fall des Geigers Joseph Joachim oder – noch prominenter – von Gustav Mahler, nicht selten mit der Taufe erkauft werden musste. Dass gleichzeitig im Zeichen eines zunehmend militanten Antisemitismus den Juden eigene Kreativität abgesprochen und ihre Teilhabe an der Mehrheitskultur infrage gestellt wurde, löste wiederum eine Gegenbewegung hin zu einem neuen jüdischen Selbstbewusstsein aus. Die Historikerin Shulamit Volkov hat diese Entwicklung als »Dynamik der Dissimilation« beschrieben, eine Entwicklung, die gruppenintern eine weitgehende Anerkennung eines pluralistischen Judentums mit sich brachte.2

Auf dem Gebiet der Musik hat bekanntlich Richard Wagners Schrift Das Judenthum in der Musik (1850/1869) eine katalysierende Wirkung gehabt.3 Der lange Schatten dieses Pamphlets hat nicht nur für Jahrzehnte antisemitische Invektiven genährt, sondern auch jüdische Musiker und Musikforscher immer wieder zu Stellungnahmen gezwungen. Während die einen Wagners Motiv, den Neid auf seine erfolgreichen jüdischen Kollegen (allen voran Meyerbeer) durchschauten und seinen Antisemitismus als Konkurrenzproblem zu ignorieren bereit waren, versuchten andere seine Schmähungen zu widerlegen und dem Thema »Judentum in der Musik« eine positive Richtung zu geben. Jüdische Wagnerianer tendierten dazu, den Ideologen und seine Musik strikt voneinander zu trennen, gleichwohl geben Wagner-Aufführungen in Israel noch immer zu heftigen Auseinandersetzungen Anlass. So erscheint der Fall Wagner bis heute als unumgänglich, und seine Schrift wird unweigerlich in jede Auseinandersetzung mit »jüdischer Musik« hineinzitiert.

Der Begriff »jüdische Musik« selbst ist so vieldeutig, dass jede Annäherung an das Thema eine gleichermaßen klärende wie differenzierende Definition erfordert. Wenn »jüdische Musik« so viel meint wie »Musik der Juden« bzw. »von Juden praktizierte Musik«, drängen sich unmittelbar Fragen auf, die auch Kunst und Literatur betreffen: Wer ist ein Jude, bzw. wer versteht sich noch als Jude angesichts des kompliziert gewordenen Verhältnisses von Nationalität und Religion? Wie konstituiert sich jüdische Identität in der Diaspora und über die Zeiten hinweg, wenn Sprache, Territorium und Lebensgewohnheiten nur noch bedingt einigende Faktoren sind? Aufgrund des beschleunigten Säkularisierungsprozesses ist eine Eingrenzung auf »Musik der Juden« vollends fragwürdig, läuft die Zuschreibung doch darauf hinaus, jüdische Identität auf das Kriterium der Herkunft zu reduzieren. Ebenso problematisch ist der Impuls, musikalische Produktion und Praxis in Israel umstandslos in eine Geschichte jüdischer Musik einzuschreiben. Auch der Versuch, »jüdische Musik« über inhaltliche Aspekte zu definieren, bezogen auf artifizielle Musik etwa über die Verwendung von Themen und Motiven aus der jüdischen Geschichte und Religion, von traditionellen Melodien oder von Texten in hebräischer Sprache bzw. jüdischen Dialekten, führt keineswegs zu Eindeutigkeit. Man kann durchaus Verständnis aufbringen für den Wunsch, die Vertonung von Psalmen, liturgischen Texten oder Holocausterinnerungen, etwa Arnold Schönbergs Psalm 130 (1950), sein Kol Nidre (1938) oder A Survivor from Warsaw (1947) als Dokumente jüdischer Musik zu betrachten. Doch sieht sich ein an Texten und Inhalten orientiertes Kriterium unweigerlich mit der Frage konfrontiert, wie dann entsprechend gelagerte Werke nichtjüdischer Komponisten einzuordnen wären, etwa Max Bruchs Cellokonzert Kol nidrei (1881), Maurice Ravels Deux mélodies hébraïques (1914) oder Dmitri Schostakowitschs Liederzyklus Aus jiddischer Volkspoesie (1948). Schließlich impliziert die Rede von »jüdischer Musik« und »jüdischen Musikern« die prekäre Frage, ob es musikalische Merkmale gibt, die – sei es im Bereich der Komposition oder der Interpretation – ein spezifisch jüdisches Idiom zu definieren erlauben.

Blickt man auf die innerjüdische Debatte über Musik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zeichnen sich zwei Hauptstränge der Argumentation ab, die sich unter dem Druck der politischen Verwerfungen vehement widersprechen. Das Grundproblem, das diese Debatte immer wieder anheizt, ist die Möglichkeit einer engen oder weiten Definition des Begriffs »jüdische Musik«. Eine solche orientiert sich an der historischen Tiefe und an der Vielfalt mündlicher Tradition in den Lebenswelten der jüdischen Diaspora oder aber an einem modernen Werkbegriff, der von der westlichen Kunstmusik, von Schriftlichkeit und ambitionierter Komposition also, geprägt ist.

Mit einer engen Definition von »jüdischer Musik« kamen die der Tradition verbundenen Musiker gut aus. Für sie gehörte dazu synagogale Musik, paraliturgische Musik zu jüdischen Festen und Lebensstationen, oder auch für den Konzertsaal gefertigte Arrangements von entsprechenden Melodien mit Instrumentalbegleitung. So wie das Jiddische gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur gültigen Literatursprache erhoben worden war, sollten nun jiddische Lieder und synagogaler Gesang als Kunstmusik tauglich gemacht werden.

Andererseits waren auch Juden, die ihre Religion als Privatsache betrachten und an der Kultur der Mehrheitsgesellschaft teilhaben wollten, an einer engen Definition interessiert. Für sie kam es nicht in Betracht, Komponisten wie Mendelssohn und Mahler, Meyerbeer und Schönberg für eine partikulare jüdische Musikgeschichte zu beanspruchen und damit die antisemitische Ausgrenzung zu bestätigen. Daneben konzentrierten sich Ethnologen und Volkskundler auf die Dokumentation von musikalischen Traditionen, deren langfristige Bewahrung ihnen gefährdet schien. Für sie bestand das Thema der »jüdischen Musik« vor allem in der Diversität der Diaspora. Abraham Idelsohns zehnbändiger Hebräisch-Orientalischer Melodienschatz (1914-1932) steht exemplarisch für dieses Interesse an regionalen Traditionen und ist zu einer Dokumentation von epochaler Bedeutung geworden. Idelsohn definierte »jüdische Musik« streng soziologisch als »von Juden für Juden geschaffene Musik«, wobei er eine kohärente jüdische Lebenswelt als selbstverständlich voraussetzte.4 Aus der Fülle seiner Bestandsaufnahme leitete er ein »Ur-Melos« des jüdischen Kultgesangs ab, das er als Zweig der semitisch-orientalischen Musik mit gemeinsamen Eigenschaften wie Modalität, vokaler Einstimmigkeit, freiem Rhythmus, Improvisation und mündlicher Überlieferung charakterisierte. Diese Merkmale sind für die traditionelle jüdische Musik allesamt zutreffend, doch sind sie spezifisch »jüdisch« nicht auf der musikalischen Ebene, sondern nur in Kombination mit einschlägigen Texten und Kontexten. Denn die musikalische Praxis der Juden war immer eine zentrale Transferstelle im Kontakt mit anderen Kulturen, und Elemente wie übermäßige Sekunden, deklamatorische Rhythmen und charakteristische Tonarten kommen auch in der osteuropäischen und der arabischen Musik vor. Gleichwohl wurden solche Merkmale von Vertretern der »jüdischen Renaissance« und Musikern, die an der Belebung einer jüdischen Kunstmusik auf Basis von überlieferten Melodien interessiert waren, als Orientierungsgröße betrachtet. So entstanden in den Jahren 1910 bis 1930 zahlreiche von Volksmusik inspirierte Kompositionen und Bearbeitungen, welche Folklore in den Konzertsaal holten und somit auch dem assimilierten Judentum musikalische Begegnungen mit solchen musikalischen Traditionen verschafften.

An diesem historischen Scharnier begannen sich folgenreiche Ansätze zu einer weiten Definition von »jüdischer Musik« zu entwickeln. Sie wurzeln im Bedürfnis, zur Selbstvergewisserung jegliche von Juden erdachte und praktizierte Musik anhand bestimmter Merkmale als Erscheinungsformen eines gemeinsamen Wesens zu beschreiben, doch sie haben bisweilen überzogene und widersprüchliche Argumentationen hervorgebracht. Vor allem im Zuge des Kulturzionismus, der seine Aufgabe darin sah, die kulturelle Aufbauarbeit für eine jüdische Nation auch in der Diaspora zu leisten, gab es Anstrengungen für die Konstruktion einer neuen jüdischen Kunstmusik. Sie waren getragen vom Interesse an historischer Kontinuität einerseits und vom Wunsch, das Judentum in die Moderne zu führen, andererseits. Osteuropäische Komponisten wie Joseph Achron, Michail Gnessin oder Lazare Saminsky artikulierten sich mit folkloristisch gefärbten Stücken wie Hebräische Melodie (1911), Variationen über ein jüdisches Volksthema (1923) oder Danse rituelle du Sabbath (1924). Sie trugen dazu bei, einen musikalischen Stil zu konstruieren, der zitiert und weiterentwickelt werden konnte und mit dem seither jüdischer ›Charakter‹ assoziiert wird. Demgegenüber versuchte der Musikethnologe Curt Sachs bei einem ersten internationalen Kongress für jüdische Musik 1957 in Paris noch einmal eine engere Abgrenzung des Gegenstandes mit der griffigen Formulierung »Jewish Music is that Music made by Jews, for Jews, as Jews«.5 Aber das von ihm eingebrachte reduktive Kriterium der gruppenintern situativen Funktion ist seither sowohl jüdischerseits als auch durch ein wachsendes Interesse der Mehrheitsgesellschaft ausgehebelt worden.

Eine erweiterte Definition »jüdischer Musik« wird problematisch an dem Punkt, wo sie auf einen gemeinsamen »Geist« oder ein jüdisches »Wesen« bei Komponisten jeglicher Couleur rekurriert. Solch essenzialistische Vorstellungen, die – prominent vorgetragen von Max Brod – besonders auf Mahlers Musik, aber etwa auch auf Schönbergs Zwölftontechnik projiziert worden sind, lassen sich rational kaum begründen, halten sich in der landläufigen Wahrnehmung jedoch hartnäckig. Ernest Bloch, prominentester westlicher Vertreter des »neuen jüdischen Stils«, hat dieser Auffassung zusätzlich Nahrung gegeben, indem er seine einschlägigen Kompositionen als Ausdruck der »jüdischen Seele« verklärte.

Seit dem frühen 20. Jahrhundert zielte ein Seitenzweig der weiten Definition darauf ab, jüdische Leistungen auf dem Gebiet der Musik zu sammeln und den Beitrag von Juden zur Weltkultur sichtbar zu machen, ohne notwendigerweise nach dem jüdischen Wesen der Produkte zu fragen. Greifbar ist dieses Profil schon in Paul Nettls Schrift Alte jüdische Spielleute (1923); wenig später publizierte der Exilrusse Gdal Saleski unter dem Titel Famous Musicians of a Wandering Race (1927) eine Sammlung von Biografien herausragender jüdischer Musiker, deren zweite Auflage 1947 unter dem weniger verfänglichen Titel Famous Musicians of Jewish Origin erschien. Mit dem Projekt Juden im deutschen Kulturbereich versuchte auch Siegmund Kaznelson, der Direktor des jüdischen Verlags Berlin, eine Bestandsaufnahme jüdischer Leistungen. In dem bereits 1934 abgeschlossenen, aber erst 1959 publizierten Kompendium werden ebenfalls jüdische Komponisten und Interpreten gewürdigt.

Einen »überproportionalen Anteil« von Juden an der abendländischen Kunstmusik konstatierte schon der erwähnte Abraham Idelsohn.6 Er brachte diesen mit dem besonderen musikalischen Talent des jüdischen Volkes in Verbindung und war mit dieser Ansicht nicht allein. Von der neueren Sozial- und Kulturgeschichte werden solche auf Quantifizierung beruhende Befunde hingegen mit den besonderen sozioökonomischen Bedingungen der Juden in der Mehrheitsgesellschaft erklärt. Grob verkürzt heißt das, dass die Juden im Zuge der Säkularisierung bei anhaltendem Antisemitismus eine doppelte Ausgrenzung erfuhren, die nicht selten zur Entwicklung spezifischer Kompetenzen und besonderer kultureller Kreativität führte.7 Umgekehrt hatte das die Konsequenz, dass Juden bewusst oder unbewusst in Bildungsbereiche strebten, die viele Entfaltungsmöglichkeiten boten, auf dem Gebiet der Musik nicht nur als Komponisten, Dirigenten, Sänger und Instrumentalisten, sondern auch als Publizisten, Verleger, Arrangeure und Produzenten. Die israelische Autorin Gabriela Avigur-Rotem hat das notorische musikalische Exzellenzstreben jüdischer Familien in einem ihrer Romane wunderbar anekdotisch gefasst: Die Hauptfiguren einer in Argentinien angesiedelten Handlung, Leon und Ida Gidekel, streiten sich über den richtigen Startpunkt für die musikalische Erziehung ihrer Kinder. Der eifrige Leon kauft dem zweijährigen Sprössling Salomon ein Klavier. Dagegen opponiert Ida mit dem Argument, »selbst Mozart begann erst als Dreijähriger«, worauf Leon kontert: »Aber Mozart war kein Jude!«8

Innerhalb der jüdischen Community dient das Sammeln der kulturellen Leistungen von »Stammesgenossen« immer auch der Selbstvergewisserung und der Identifikation mit der Gruppe als einer Solidargemeinschaft – zumal nach der Erfahrung von Diaspora, Exil und Holocaust. In Titeln wie Jews in Music (Artur Holde, 1959), Great Jews in Music (Darryl Lyman, 1986) und Composers of Classical Music of Jewish Descent (Lewis Stevens, 2003) manifestiert sich ein Phänomen, das in der amerikanischen Gesellschaft als »Jewhooing« bezeichnet wird, das aber in Europa – wenn auch vielleicht weniger explizit – ebenfalls existiert. Unabhängig davon, ob es musikalisch eine Rolle spielt, dass Darius Milhaud, Kurt Weill, György Ligeti, Morton Feldman, Steve Reich oder Otto Klemperer, Leonard Bernstein und Daniel Barenboim Juden waren bzw. sind, erhält dieser Aspekt Gewicht in einer Zeit, die ihre Aufmerksamkeit wieder vermehrt auf Biografisches richtet. Mit der Weitung des Blicks auch auf populäre Musik, auf Operette und Schlager der Zwischenkriegszeit, auf die Unterhaltungssparten von Tin Pan Alley, Broadway und Filmmusik, verdichtet sich das Bild so sehr, dass es für manche durchaus nicht abwegig scheint, von einer genuinen Affinität der Juden zur Musik zu sprechen. Das Bedürfnis, jüdische Berühmtheiten ins Bewusstsein zu rücken und als Vorbilder zu präsentieren, befestigt freilich auch das Bewusstsein einer wie auch immer gearteten Differenz. Man kann sich daher fragen, welchen Sinn es hat, Leonard Cohen oder Bob Dylan als jüdische Musiker zu apostrophieren, nur weil ihre Texte bisweilen auf Jüdisches rekurrieren oder weil sie gelegentlich ein Hawa nagilah bzw. Hallelujah angestimmt haben. Anders sieht es aus, wenn John Zorn mit der Bewegung einer Radical Jewish Culture gezielt eine musikalische Auseinandersetzung mit jüdischer Geschichte und den eigenen Wurzeln sucht und in seinen Werken jüdische Stereotypen sowohl zitiert als auch demontiert. Oder wenn Uri Caine sich dem Fragenkomplex von Mahlers Judentum durch Klezmerisierung von dessen Musik nähert und dadurch eine persönliche Aktualisierung von starker Sprengkraft zur Diskussion stellt: »Ich habe Mahlers Musik gewöhnlich in Konzerten des Philadelphia Orchestra gehört. Und da dachte ich manchmal: Wenn du diese Passage auf einer jüdischen Hochzeit spielen würdest, würden sie dich rausschmeißen. Man müsste es viel wilder spielen.«9

Wenn es schon immer forciert war, »jüdische Musik« als Einheit zu beschreiben, so muss eine heutige Sicht auf dieses Terrain erst recht auf simplifizierende Schablonen verzichten. Das Faszinierende an der »Musik in jüdischer Geschichte und Kultur« – so der Titel einer neueren amerikanischen Gesamtdarstellung – ist vielmehr ihre Heterogenität, ja Gegensätzlichkeit. Der Vielstimmigkeit individueller künstlerischer Positionen in der Moderne und dem pluralistischen Bewusstsein multipler Identitäten in der Postmoderne kann nur eine differenzierte Sichtweise gerecht werden, die fallweise biografische, ästhetische, soziokulturelle wie auch politische Faktoren ins Kalkül zieht, um immer wieder kritisch zu fragen: Was ist jüdisch an »jüdischer Musik«?

1

  

Vgl. etwa die Darstellungen von Abraham Z. Idelsohn (Jewish Music, 1929), Lazare Saminsky (Music of the Ghetto and the Bible, 1934), Peter Gradenwitz (The Music of Israel, 1949) und Max Brod (Die Musik Israels, 1951).

2

  

Shulamit Volkov, »Die Dynamik der Dissimilation«, in: dies., Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zehn Essays, München 1990, S. 166-180.

3

  

Vgl. Jens Malte Fischer, Richard Wagners »Das Judentum in der Musik«, Frankfurt am Main 2000.

4

  

Abraham Z. Idelsohn, Jewish Music in its Historical Development, New York 1929, S. 471.

5

  

Vgl. den Artikel »Music« in: Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971/72, Bd. 12, Sp. 555.

6

  

Idelsohn, Jewish Music, S. 476.

7

  

Helmuth Kiesel, »Woraus resultiert die außerordentliche kulturelle Leistung des Judentums zu Beginn der Moderne? Problemaufriß und Forschungsbericht«, in: Vererbung und Milieu, hrsg. von Michael Wink = Heidelberger Jahrbücher 45 (2001), S. 267-296.

8

  

Gavrielah Avigur-Rotem, Motsart lo hayah yehudi [hebr.] Jerusalem 1992.

9

  

Hans-Jürgen Schaal, »›Wie können Sie das Mahler antun?‹ Gespräch mit Uri Caine«, in: Neue Zeitschrift für Musik 161/4 (2000), S. 62-64, hier S. 63.