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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Copress Verlag

erschienenen Printausgabe (ISBN 978-3-7679-1110-9)

Covergestaltung: Pierre Sick

Illustration Umschlag: © vihaanlight

DTP-Produktion und Layout (Printausgabe):

Verlagsservice Peter Schneider / Satzwerk Huber, Germering

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2016 Copress Verlag

in der Stiebner Verlag GmbH, Grünwald

Alle Rechte vorbehalten.

Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags.

Gesamtherstellung: Stiebner, Grünwald

ISBN 978-3-7679-2044-6

www.copress.de

Inhaltsverzeichnis

Eine Warnung vorweg

Startschuss

Wie ich aus Versehen erst ein Jogger und dann ganz schnell ein Läufer wurde.

Beim ersten Mal tut’s noch weh

Warum ich mich am Anfang an keiner einzigen Bank vorbeistehlen konnte.

Um- und Abwege

Warum Leichtathletik doof ist und warum ich nie Kreismeister im Weitsprung geworden bin.

Wie Ü90 an den Kasseler Bergen

Wie mich das kleine rothaarige Mädchen stehen ließ und meine weißen Laufschuhe ihre Unschuld verloren.

Immer gewinnen die anderen

Warum noch kein Lauf schwach genug besetzt für mich war und warum die wahren Konkurrenten in einer anderen Altersklasse zu finden sind.

Die Letzten werden die Ersten sein
(Campuslauf Lüneburg 2007)

Sparen, bis die Lunge rasselt

Wieso ich eigentlich mal wieder hemmungslos rauchen sollte – wenigstens für zwei Wochen.

Jeder braucht seine Droge
(Tiergartenlauf Lüneburg 2007)

Der Sklave meiner Uhr

Warum ich meine eigene Zone immer noch nicht wirklich entdeckt habe und warum vierstellige Zahlen magisch sein können.

Schön, wenn der Schmerz nachlässt

Was aus meiner ersten richtig großen Laufverletzung geworden ist und warum ich ziemlich gereizt war.

Doping für Arme

Warum ich ein Vermögen für Unkraut ausgegeben habe und mittlerweile doch lieber bei Lakritz gelandet bin.

Völlig alle auf Malle
(Mallorca-Marathon 2008)

Der Pokal für die hinteren Ränge

Warum man Finisher-Shirts viel zu früh bekommt – und oft auch früher als erwartet entsorgt.

Nase voll

Warum es nie den richtigen Moment für eine Erkältung gibt.

Freiheit für die Ohren

Warum ein Hörsturz auf dem 37. Kilometer manchmal durchaus eine akzeptable Alternative wäre.

Sightjogging

Wo man nur bei Starkregen den reinen Laufgenuss erfahren kann und wo man sich gern mal ein bisschen verirrt.

Waffeltüten statt Ostereier
(Paasjogging in Olmen/Belgien 2011)

Offenes Ohr inklusive

Warum der richtige Laufladen mehr bietet als nur Schuhe und Trinkgürtel.

Höhere Mathematik

Warum ich immer Bestzeiten laufen würde, wenn ich mich nur nicht ständig verrechnen würde.

Das gar nicht so schwache Geschlecht

Warum das Laufen ohne Frauen vielleicht möglich, aber ganz bestimmt nicht so schön wäre.

Nicht noch ein Laufmagazin

Warum die schönen bunten Blätter kaufen, wenn man sie sich auch selbst zusammenstellen kann.

Alle reden vom Wetter – wir besonders

Warum es niemals den idealen Tag für einen Lauf geben wird und warum das auch ganz gut so ist.

Blauer Himmel, rote Socke
(Düsseldorf-Marathon 2013)

Sportlernahrung

Warum fett so ähnlich klingt wie fit und Fast Food fast schon vernünftiges Essen wäre.

Außer Form

Warum man vielen Cracks nicht voreilig zu einem gelungenen Lauf gratulieren sollte.

Drück’ auf die Tube

Wie ich die weißen Fasern in mir zum Leben erwecken wollte und dabei vor Fußballern floh.

Allein mit dem drögen Hasen
(Halbmarathon in Oldenburg 2013)

Ach, wie schön ist doch der November

Warum der Swingerclub der Laufmonate ein Image-Problem hat, das er gar nicht verdient.

Zeiten werden überschätzt

Wieso man sich mit einem Marathon Zeit lassen sollte, wenn der Besenwagen einem nicht gerade im Nacken sitzt.

Hermann oder Weichei
(Hermannslauf 2014)

Sie sind doch von der Zeitung?

Warum meine Work-Life-Balance durch die Lauferei bisweilen arg gefährdet wird.

Ein aufregender Lauf
(Elbtal-Volkslauf in Bleckede 2014)

Wir sind doch alle Läufer

Was ich kann, eine Olympiasiegerin aber nicht – und die meisten Fußballprofis erst recht nicht.

Sternschnuppen

Warum manche Läufer irgendwann so plötzlich von der Bildfläche verschwinden, wie sie gekommen sind.

Der Berg ruft

Wie ich mich vom Flachlandtiroler zur Gemse entwickelte, Rückschläge aber nie ausschließen kann.

Hermannslauf in klein
(Borgloher Weiherlauf 2014)

Golfen ist wie Laufen, nur anders

Worüber selbst George W. Bush mal einen klugen Gedanken äußerte.

Gedankensprünge

Warum Läufe bisweilen für völlige Leere im Gehirn sorgen – und warum das gar nicht so schlecht sein muss.

Der Sechste ist der Fieseste
(Volkslauf in Westergellersen 2014)

Ein zutiefst öder Zeitvertreib

Warum ich immer wieder anders laufe – und das Klo bisher doch noch immer gefunden habe.

Im Land der Superbauern
(Halbmarathon Doetinchem 2014) 92

Friss dich zur Bestzeit

Warum ich Ernährungstipps für das Frühstück vorm Marathon so spannend finde.

Einmal pro Jahr

Warum die Innenstadt auch mal dicht sein darf, ohne dass wieder ein Stau schuld dran ist.

Lost in Leipzig (Leipzig Marathon 2015)

Niemand hört auf uns

Warum man sich das mit den Ratschlägen lieber sparen sollte – mein Ratschlag!

Kanal voll (Halbmarathon Bad Bevensen 2015)

Au, Aus, Ausreden

Warum ich für alles eine Erklärung finde, wenn ich nur rechtzeitig mit dem Suchen beginne.

Irgendwas ist immer (Volkslauf in Adendorf 2015)

Das böse Wörtchen „müsste“

Warum ich auch mal wasserscheu und süchtig nach Apfelkuchen sein darf.

Schwer unterzuckert

Wie ich mal eine Woche Verzicht auf Süßes übte – und das in der Vorweihnachtszeit.

Der Neunjahresrückblick

Wie bin ich nur früher herumgelaufen – wie habe ich das nur durchgehalten!

Beim nächsten Marathon wird alles ganz anders

Warum ich mir zum ersten Mal in meinem Marathon-Leben keine Bestzeit vornehme, sondern nur eine gute Zeit erleben will.

Vai, Andreas, vai (Florenz-Marathon 2015)

Ziellinie

Warum Jack Nicholson nicht recht hat – ganz im Gegensatz zu Robert Lemke.

Grenzerfahrung
(Drielandenloop Losser/Niederlande 2016)

Eine Warnung vorweg

Dieses Buch wird keinen Beitrag zu Ihrer Selbstoptimierung leisten. Dieses Buch wird Sie keine Sekunde schneller machen. Niemand wird es jemals „Bibel“ nennen. Sie werden keine ultimativen Tipps für den Laufschuhkauf, den ersten Halbmarathon oder Rezepte für schmackhaftes Carboloading in diesem Buch finden. Es ist kein Ratgeber, im Gegenteil. Warum sollte irgendjemand auch Ratschläge von einem höchst durchschnittlichen Läufer annehmen?

Was bekommen Sie aber für Ihr Geld? Die Geschichte eines ganz gewöhnlichen Menschen, der durchs Laufen einige Kilos verloren, dafür aber viele Freunde gewonnen hat. Eine Geschichte voller Leiden und Rückschläge. Glauben Sie bloß niemandem, der Ihnen diesen Sport als Quell ewiger Glückseligkeit verkaufen will. Eine Geschichte aber auch voller Momente der Erkenntnis. Warum ist Laufen oft so anstrengend, nervig und ungerecht, trotzdem aber mindestens die zweitschönste Beschäftigung der Welt? Meine Antworten folgen – Ihre müssen Sie selbst finden.

Wäre dieses Buch ein Liebesfilm, würde der Streifen nicht beim ersten verschämten Kuss enden, auch nicht bei der ersten heißen Nacht oder bei der Hochzeit. Meine Verbindung mit diesem Sport geht stramm auf die Petersilienhochzeit zu. Die erste Verliebtheit ist mittlerweile einer tiefen Zuneigung gewichen. Und gilt nicht fürs Laufen wie für die Liebe: Es kommt nicht so sehr darauf an, wer am schnellsten fertig ist.

Startschuss

Wie ich aus Versehen erst ein Jogger und dann ganz schnell ein Läufer wurde.

Irgendwann im Spätsommer 2006 ging ich in ein Lüneburger Sportfachgeschäft, um mich für das Fitness-Studio einzukleiden. Ich kaufte Shirts, Shorts, Turnschuhe und in einem Akt der spontanen Leidensbereitschaft ein Paar Laufschuhe. Das Fitness-Studio blieb Episode. Die Lauferei nicht.

„Du joggst jetzt auch?“, durfte ich mich sehr bald von meiner Liebsten, Freunden und Kollegen fragen lassen. Meine Liebste gab dem neuen Hobby höchstens ein paar Wochen. Ich selbst frage mich noch heute, wieso ich mich nach meiner ersten Runde über 5,5 qualvolle Kilometer überhaupt zu einer zweiten aufraffen konnte. Der Leidensdruck beim Blick auf die Waage oder auf mein über die Jahre etwas rundlich gewordenes Profil muss gewaltig gewesen sein. Ja, ich joggte jetzt auch.

Ich ließ mich nicht von den ersten Herbststürmen bremsen, hatte Glück, dass der Winter 2006/2007 in der norddeutschen Tiefebene nicht allzu hart ausfiel. Wenn das Wetter mal nicht anfängergerecht war, stieg ich im Studio aufs Laufband und war zufrieden. Doch mein Leben als Jogger endete abrupt: mit meinem ersten Volkslauf am 18. März 2007, einem ebenso regnerischen wie stürmischen Sonntag, in Scharnebeck.

Rentner und kleine Mädchen hängten mich zwar ab, aber ich hatte Blut geleckt. Vor allem wollte ich nun nicht mehr als Jogger tituliert werden. „Jogger?“, entgegnete ich entrüstet allen Leuten, die mich in die Schublade der planlosen Herumrenner einsortieren wollten. „Nein, ich bin kein Jogger. Ich laufe!“

Beim ersten Mal tut’s noch weh

Warum ich mich am Anfang an keiner einzigen Bank vorbeistehlen konnte.

„Eine Reise, tausend Meilen lang, mit einem ersten Schritt fing sie an!“, dichtete Laotse vor gut 2600 Jahren. Tausend Meilen wollte ich bei meinem ersten Laufversuch nicht unbedingt hinter mich bringen – einmal zum Ebensberg und zurück sollte reichen. Überschaubare fünf Kilometer durch ein Wäldchen gleich bei mir um die Ecke, das die allermeisten Lüneburger als Laufrevier noch nicht entdeckt haben. Keine Zeugen also!

Was ich auch nicht hatte, war ein Plan. Ich zog mir die frisch erworbenen Laufschuhe an und einen Trainingsanzug, den ich von Spinnweben und Staub befreien musste, so regelmäßig war der zuvor im Einsatz. Seit vier Wochen hatte ich keine Zigarette mehr angezündet, war seitdem bestimmt dreimal im Fitness-Studio. Was sollte mich also bremsen?

Zum Beispiel die erste Bank, die nach gut einem Kilometer am Weg stand und müde Läufer dazu aufforderte, ein klitzekleines Päuschen einzulegen. Und die zweite Bank – wer ist denn so unverantwortlich und stellt so viele Sitzgelegenheiten im Wald auf? Ich drehte eine kleine Runde durch den Ebensberg, der nicht etwa eine nennenswerte Erhebung darstellt, sondern nur einen Lüneburger Stadtteil, nicht ohne ein-, zweimal zu verschnaufen. Auf dem Rückweg legte ich eine kleine Rast an der zweiten Bank ein. Und an der ersten. Dann war ich fertig. Und wie.

Acht Pausen hatte ich bei angenehm frischem Wetter gebraucht – und ich war trotzdem ausgelaugt wie nach einer Sahara-Durchquerung. Auf die Ausschüttung von Glücks-Endorphinen wartete ich vergeblich. Das hatte eindeutig keinen Spaß gemacht.

Es ist mir bis heute ein Rätsel, warum ich doch weitergelaufen bin. Oft auf dem Laufband im Studio, halbwegs regelmäßig dazu im Freien. Wenn ich besonders mutig war, lief ich bis zum Sportplatz des TuS Erbstorf. Und zurück über den Heidkoppelweg, den Col du Tourmalet Nordostniedersachsens mit gnadenlosen 30 Höhenmetern (aufgerundet). Nach gut drei Monaten Solosport kam ich auf die Idee: Vielleicht macht das alles doch etwas mehr Spaß mit anderen Bekloppten? Und steuerte den Lauftreff des TuS Hohnstorf an.

Ich fühlte mich bereit für den ersten öffentlichen Auftritt. Auf ging’s also ins idyllische Dorf an der Elbe. Welten trafen hier aufeinander. Die Athleten vom Deich bevorzugten Laufhosen vom Kaffeeröster, ich hatte im Supermarkt zugeschlagen. Die Cracks trugen kurzärmlige Leibchen. Unter meinem geliebten Kapuzenpulli und der Wollmütze fing ich schon an vor Aufregung zu schwitzen, bevor ich den ersten Schritt geschafft habe.

Proud to be black – ich bevorzugte schwarze Kleidung, fast alle um mich herum weiß, blau, rot, orange. Eine Lage ausziehen? Wir haben doch Januar! Auch wenn es fast zehn Grad warm war, drohten doch Frostbeulen und Erfrierungen. Ich ließ alles an und sollte es sehr bald bereuen.

Als mein Laufpartner schälte sich schnell Ortwin heraus. Lehrer kurz vor der Pension, Webmaster des TuS Hohnstorf, ehemaliger Marathon-Läufer und noch so einiges, weswegen uns der Gesprächsstoff nicht ausgehen sollte. Macken diverser Sportler und sonstiger lokaler Prominenz – mit diesen Themen hätten wir auch einen Ironman bestreiten können.

„Geht’s mit dem Tempo?“, erkundigte er sich immer mal wieder.

„Ja“, japste ich. Rennen und reden – eine Doppelbelastung, mit der meine Lunge noch nicht so recht klar kam.

Nach einer ausgedehnten Runde über den Deich und durch die Felder tauchte vor uns die Sporthalle wieder auf. Ein Anblick, gegen den ich absolut nichts einzuwenden hatte.

„Du hättest doch noch schneller gekonnt“, fragte Ortwin.

Ich antwortete wahrheitsgemäß: „War schon ganz okay so.“

Zum ersten Mal hatte ich acht Kilometer am Stück geschafft, war darauf mindestens so stolz wie Albert Einstein auf die Entdeckung der Relativitätstheorie.

Hohnstorf liegt leider nicht gerade bei mir um die Ecke, aber ich suchte und fand bald Gleichgesinnte in Lüneburg. Immer im Spätfrühling schaue ich aber gern beim Deichlauf in Hohnstorf vorbei, nicht nur, weil es der eindeutig flachste Volkslauf im Landkreis ist – wer es die paar Meter hoch zum Deich schafft, hat das Schlimmste schon hinter sich.

Immer wieder begrüßt mich Ortwin mit den Worten: „Im Prinzip bist du ja über uns zum Laufen gekommen.“ Und noch nie habe ich widersprochen.

Um- und Abwege

Warum Leichtathletik doof ist und warum ich nie Kreismeister im Weitsprung geworden bin.

Ich laufe jetzt also. Machen ja Millionen Deutsche. Dabei habe ich Laufen über viele Jahre ignoriert, ja gehasst. Schuld daran war vor allem der Sonnenberg am Ortsrand von Seesen/Harz. Und mein Sportlehrer in der 7. Klasse.

Ein Pädagoge, der seine Schutzbefohlenen vom Jacobson-Gymnasium bis nach Engelade rennen lässt und dann über den sicher gut 50 Meter höher liegenden Sonnenberg zurückjagt, macht sich nicht unbedingt Freunde unter zwei Dutzend pubertierenden Mädchen und Jungen. Wenn dieser sogenannte Pädagoge die Quälerei gemütlich aus seinem Auto heraus verfolgt, dann hat er den Grundstein für eine lebenslange Lauf-Phobie endgültig gelegt. Bei mir jedenfalls.

Er verteilte gern Fünfen und Sechsen an die Schüler, die den Sonnenberg Sonnenberg sein ließen und lieber von Engelade aus zurücktrampten. Kaum zu glauben, wie viele Jugendliche in einen VW Golf passten.

Ich begann Leichtathletik zu verabscheuen. Erstens wegen des Pädagogen vom Sonnenberg. Zweitens mangels eigenen Talents – Bundesjugendspiele waren für mich schlimmer als Zahnarzt, Latein-Vokabeltest und Besuch bei der dicken Tante im Weserbergland zusammen. Und drittens wegen des obskuren Völkchens, das zu meiner Jugendzeit diese olympische Kernsportart repräsentierte.

Rennende Apotheken. Muskelberge unbestimmten Geschlechts. Langstreckler, gegen die jede russische Kunstturnerin wirkte wie ein Fall für die Weight Watchers. Oder mein ganz besonderer Freund Jürgen Hingsen. Ein Zehnkämpfer, gesegnet mit Muskeln für eine ganze Busladung, aber mental nicht in der Lage, bei Olympischen Spielen einen 100-Meter-Lauf pünktlich zu beginnen – und das bei drei Versuchen. Eine Sportart, so glaubwürdig wie Mitternachts-Quizsendungen auf Nepp 5.

Schlimmer aber sind doch die Cracks vor Ort, denn diese kann man nicht einfach wegzappen. Schwer atmend machen sie wehrlose Wälder unsicher, hüllen sich in atmungsaktive Gewänder, in denen sie modetechnisch Mitte der Neunziger in Eisenhüttenstadt auch nicht weiter aufgefallen wären. Legen für schreiend buntes Plastikkram, das ihre zarten Füßchen vor Malaisen schützen soll, das Monatsgehalt eines rumänischen Facharbeiters hin. Ausgemergelte, lustfeindliche Gestalten, die kein Stück Schokolade mehr futtern dürfen, weil sie in dreieinhalb Monaten beim Halbmarathon von Bienenbüttel in der Altersklasse M55 unbedingt unter die ersten Drei kommen wollen.

Böse Vorurteile? Diese Sportskanonen nervten mich schon im Gymnasium. Der Sportlehrer scheuchte uns auf den Platz, brüllte: „Heute Weitsprung auf Noten!“, ohne auch nur ansatzweise auf die richtige Technik und auf den optimalen Anlauf einzugehen, geschweige denn, einen Sprung vorzuführen.

Ich rannte wie ein Wilder Richtung Grube, bekam auf halbem Weg fast einen Wadenkrampf, hob mit einem Seufzer ab, setzte zum Flug an und plumpste zirka eine Zehntelsekunde später in den Sand bei drei Meter irgendwas, während die Sportskanonen lässig Anlauf nahmen, kängurugleich abhoben und sich ihre Eins abholten, ohne auch nur eine Schweißperle zu vergießen.

Weitaus mehr habe ich 75-Meter-Läufe gehasst. So sehr, dass ich sie komplett aus meinem Gedächtnis gestrichen habe. Kein weiteres Wort also zu diesem Thema.

Ich schwamm lieber und feierte grandiose Erfolge bei den Meisterschaften des Schwimmkreises Gandersheim. Über „50 Brust Knaben“, diese Urkunde habe ich tatsächlich aufgehoben, wurde ich als Siebenjähriger in 1:21,9 Minuten auf Anhieb Jahrgangsmeister – es soll ein zweiter Knirps mitgeschwommen sein, weitere Unterlagen über dieses epochale Sportereignis in der Vor-Internetzeit liegen mir leider nicht mehr vor. Vielleicht war ich doch einziger Starter im Jahrgang 1964.

Ich zog zum Studieren nach Göttingen, wählte als drittes Fach trotz aller Demütigungen am Sonnenberg und auf dem Schulsportplatz Sport, drückte mich dabei aber, so weit es irgendwie ging, um Leichtathletik.

Vorm Schwimmtraining stand beim ASC Göttingen regelmäßig eine Laufrunde um den Kiessee an – wundersamerweise hatte ich zu dieser Zeit immer irgendeine Vorlesung zu besuchen. Ach ja, vielleicht hätte ich beim Göttinger Tageblatt gern volontiert – die Wahl des Chefs fiel aber auf eine stadtbekannte Leichtathletin. Da konnte ja nur ein Laufhasser aus mir werden. Der Hass hielt aber nur so lange, bis ich das Laufen wirklich, wirklich dringend nötig hatte.

Was wäre aus mir wohl ohne den Sportlehrer vom Sonnenberg geworden? Wahrscheinlich auch ein Läufer, aber ohne Jahrzehnte lange Umwege.

Wie Ü90 an den Kasseler Bergen

Wie mich das kleine rothaarige Mädchen stehen ließ und meine weißen Laufschuhe ihre Unschuld verloren.

Elf Kilometer können verdammt lang sein. Vor allem, wenn man die Distanz zum ersten Mal an einem Stück läuft wie ich beim Schiffshebewerk-Volkslauf in Scharnebeck. Ungefähr fünf Minuten vor dem Start stellt sich die Sinnfrage verschärft. Der nächste Regenschauer geht nieder, der Südwestwind pfeift über den Sportplatz am Schulzentrum, der alles ist, nur nicht windgeschützt.

Ein paar dick eingemummte Kinder laufen zwei Sportplatzrunden. Einige werden von ihren Eltern angefeuert, einige gar begleitet – wie peinlich. Gut, dass meine Eltern knapp 200 Kilometer Luftlinie entfernt sind, wahrscheinlich gerade in aller Ruhe frühstücken und absolut nichts ahnen von meinen sportlichen Ambitionen.

In der Nacht zuvor habe ich kaum ein Auge zugetan. So nervös war ich zuletzt vor meiner Führerscheinprüfung. Und damals konnte ich wenigstens mit dem Auto fahren und musste mich nicht selbst bewegen. Zum Frühstück Kaffee wie üblich, um überhaupt wach zu werden. Wann bin ich das letzte Mal freiwillig sonntags vor acht Uhr aufgestanden? Aber darf ich Nervenwrack jetzt überhaupt Kaffee trinken, oder geht das schon zu sehr auf die Blase? Ob auch bei Volksläufen Dixi-Klos aufgestellt sind?

Ich habe bestimmt schon fünfmal meine Mütze auf- und wieder abgesetzt, meine Trainingsjacke an- und wieder ausgezogen. So viele Dehnübungen wie in der letzten halben Stunde schaffe ich sonst pro Monat. Anders formuliert: Ich bin nervös. Knapp 150 Frauen und Männer stellen sich auf. Jeder scheint genau zu wissen, wo er sich zu platzieren hat. Alle haben die landkreisinterne Hackordnung schon auf vielen Rennen ausgefochten. Ich aber bin das neue Hähnchen im Stall. Stelle ich mich zu weit vorn hin, werde ich wahrscheinlich auf den ersten zehn Metern gnadenlos niedergewalzt. Stelle ich mich brav hinten kurz vor den Walkern an, gebe ich mich ja schon kampflos mit Platz 120 bis 130 zufrieden. Nein, ich wähle ein Plätzchen mitten in der Mitte.