Copyright © Junfermann Verlag, Paderborn 2016

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Fotos im Innenteil Sabine Tröndle

Covergestaltung / Reihenentwurf Christian Tschepp

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2016

Satz & Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn

ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-570-0

ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-578-6 (EPUB), 978-3-95571-580-9 (PDF), 978-3-95571-579-3 (MOBI).

Vorwort von David Emerson

Die neueste Forschung macht deutlich: Die Heilung von Traumafolgestörungen erfordert, etwas zu tun, anstatt ausschließlich über das traumatisierende Geschehen zu sprechen.

Herkömmliche Behandlungswege für psychische Erkrankungen, Trauma und posttraumatischen Stress eingeschlossen, basieren auf einem psychodynamischen Therapieansatz. Dieser beschreibt die Wechselwirkung seelischer Vorgänge in Abhängigkeit von äußeren und inneren Ereignissen und setzt in der Therapie ausschließlich in der Vergangenheit an, über die es zu reden gilt. Diese Sichtweise haben in jüngster Zeit Fachleute, die Traumafolgestörungen untersuchen und behandeln, einer kritischen Prüfung unterzogen. Die psychodynamische Therapietradition erzielt fraglos viele Erfolge, doch bei der Behandlung von Menschen, die chronischen Missbrauch oder Vernachlässigung erlitten haben, sind die Ergebnisse wenig überzeugend. Zieht man in Betracht, mit welchem Schmerz und welchem Leid Kinder zu kämpfen haben, die von ihren Eltern oder anderen Bezugspersonen vernachlässigt wurden; Erwachsene, die jahrelang in einer missbräuchlichen Beziehung feststeckten oder Menschen, die Gefangenschaft und Folter überlebt haben, dann reicht es bei Weitem nicht aus, nur über die Vergangenheit zu sprechen.

In den letzten Jahrzehnten haben sich nach anfänglichen Experimenten Therapieansätze herausgebildet, die bei posttraumatischem Stress dem Handeln den Vorzug geben – allgemein spricht man von „körperlichen (somatischen) Interventionen“. Vor nicht allzu langer Zeit hat dieses körperbezogene Vorgehen (Methoden, bei denen die Betroffenen ihren Körper aktiv einsetzen) die Aufmerksamkeit jener Instanzen auf sich gezogen, die die Mittel für die wissenschaftlichen Untersuchungen von Therapiemethoden bereitstellen. Psychodynamische Therapieansätze waren und sind in ihrer Bedeutung unangefochten Das Verständnis, dass Trauma sich auf den gesamten Organismus erstreckt, führte jedoch dazu, dass in der westliche Welt Untersuchungen von körperorientierten Therapiemethoden finanziert und durchgeführt wurden. Traumasensitives Yoga (TSY) ist ein Teil dieser neuen Strömung. Wir entwickelten TSY 2003 am Trauma Center in Brookline, Massachusetts, und als Erste und bisher Einzige erhielten wir für unsere Studie einen Zuschuss von der Regierung der Vereinigten Staaten, um den Erfolg von TSY in einer randomisierten (zufällige Auswahl, Anm. der Autorin) kontrollierten Studie1 zu untersuchen. Die Resultate erwiesen sich als vielversprechend.

Werkzeuge, die traumatisierten Menschen helfen, ihren Körper wieder aktiv einzusetzen, müssen klar und einfach sein. Das vorliegende Buch von Dagmar Härle erfüllt diesen Anspruch vollumfänglich und kann als eine Art „Betriebsanleitung“ für einen von der traumatischen Vergangenheit geprägten Körper verstanden werden. Betroffene lernen aus diesem Buch, auf welche Weise ein Trauma unseren Körper, genauer gesagt unsere Neurophysiologie und damit unser Erleben in jedem einzelnen Augenblick beeinflusst. Für unseren Therapieansatz mit TSY sind vor allem die Veränderungen der sogenannten interozeptiven Nervenbahnen (Interozeption: unsere Fähigkeit, Vorgänge im Körperinnern wahrzunehmen) von Interesse. Interozeptive Nervenbahnen leiten Informationen unseres Körpers zum Gehirn und machen uns seine Befindlichkeit bewusst: Auf diese Weise spüren wir unsere Füße auf dem Boden, unseren Herzschlag oder die Muskeln in unserem Arm, wenn wir einen schweren Gegenstand heben. Chronische Traumatisierung führt dazu, dass diese interozeptiven Empfindungen weniger verlässlich sind und der eigene Körper beispielsweise nicht mehr als berechenbar oder die Körperempfindungen und -grenzen nicht mehr als klar und konsistent wahrgenommen werden können, oder sich, im Gegenteil, permanent Anspannung breitmacht. Ein Teilnehmer des Yogaprogramms im Trauma Center drückte es folgendermaßen aus: „Ich fühlte mich getrennt von meinem Körper, war immer in einer Art Autopilotmodus. Hatte ich mich verletzt, konnte ich nicht einmal den Schmerz spüren.“2

Hinter traumasensitivem Yoga steht die Idee, dass wir mit den Yogaübungen unsere Aufmerksamkeit auf das lenken, was wir in unserem Körper spüren, und so die interozeptiven Nervenbahnen reaktivieren können. Infolgedessen können wir unseren Körper als verlässlicher und berechenbarer – als einen sicheren Ort – wahrnehmen. Die vorliegende Anleitung von Dagmar Härle liefert hierzu einen wichtigen Beitrag. Das Buch verschafft Betroffenen einen leichten Zugang zu TSY, sodass sie den Nutzen, den ihnen der aktive Einsatz ihres Körpers beschert, voll ausschöpfen können.

David Emerson

The Trauma Center

Brookline, Massachusetts

Im Januar 2016


1  Yoga as an adjunctive treatment for posttraumatic stress disorder: a randomized controlled trial. (Yoga als begleitende Therapiemaßnahme bei der Behandlung von posttraumatischem Stress: eine randomisierte, kontrollierte Studie), van der Kolk, Stone, West, Rhodes, Emerson, Suvak, Spinazzola, Journal of Clinical Psychiatry, 75 (6), e559-e565, 2014.

2  Claiming peaceful embodiment through yoga in the aftermath of trauma. Alison M. Rhodes, Complementary Threrapies in Clinical Practice 21 (2015)

Einleitung

Da Sie, liebe Leserin, lieber Leser, am Thema dieses Buchs interessiert sind, gehören Sie vermutlich zu jenen Menschen, die eine persönliche Krise durchgestanden haben oder in ihrem Leben von belastenden Begebenheiten heimgesucht wurden. Sie leiden unter den Folgen dieser Traumata und sind auf der Suche nach einem gangbaren Weg, selbst aktiv zu werden, um zu einem entspannten, sicheren und selbstgesteuerten Lebensgefühl (zurück) zu finden. Möglicherweise haben Sie im Rahmen einer Therapie traumasensitives Yoga kennengelernt oder sind darauf aufmerksam gemacht worden und möchten es nun zu Hause üben. Oder aber Sie zählen zur Gruppe der Helfer, sind selbst Therapeut oder Therapeutin und suchen nach einem Leitfaden für eine körperorientierten Methode, die die Selbstwirksamkeit und Affektregulation von Traumapatienten fördert.

Das vorliegende Praxisbuch eröffnet neben einem kurzen Einblick in die Hintergründe von Trauma und traumasensitivem Yoga einen Übungsraum mit einer Fülle von Beispielen und praktischen Anleitungen, die Sie in der Therapie ebenso wie zu Hause nutzen können.

Warum körperorientierte Traumatherapie?

Ein Trauma besteht neben den im Gedächtnis gespeicherten Erinnerungen aus Körpererinnerungen, die sich beispielsweise in einer flachen Atmung, einer andauernden Körperspannung oder in einem gekrümmten Rücken und gesenktem Blick manifestiert haben. Der Körper friert zum Zeitpunkt des traumatisierenden Ereignisses ein und reagiert fortan auf traumabezogene Auslösereize (Trigger) mit hoher Erregung, so, als widerfahre ihm die traumatische Situation aufs Neue. Die Betroffenen sind in einer sich ständig wiederholenden Stressantwort stecken geblieben. Dieses „Steckenbleiben“ offenbart sich unter anderem in Bewegungs-, Atem- und Haltungsmustern.

Erinnert ein Traumatrigger an das schreckliche Ereignis, möchte der Betroffene handeln, das heißt sich zur Wehr setzen oder davonlaufen. Er fühlt sich entweder von Emotionen überschwemmt, die er nicht kontrollieren kann, oder er erstarrt in ohnmächtiger Hilflosigkeit. Wiederholt lässt ihn sein Körper im Stich – er kann sich nicht auf ihn verlassen: Weder bringt er ihn in Sicherheit, noch ist er ein Ort des Wohlbefindens. Auch Entspannung und Ruhe können sich als schwierig erweisen, wenn sich Empfindungen von Überwachsamkeit (Hypervigilanz) und Nervosität mit Taubheit und Lähmung abwechseln. Da sich Gefühle und Erregungszustände im Körper, genauer in den Körperempfindungen, abspielen, erscheint es mehr als logisch, diesen Umstand zu nutzen und in die Behandlung von Traumafolgestörungen einzubeziehen.

Warum Yoga?

Die meisten von uns haben schon einmal die Erfahrung gemacht, dass sie ihre Befindlichkeiten über den Körper regulieren können, jedoch setzen wir dieses Wissen, anders als andere Kulturen, nicht systematisch ein. Tanz, Rhythmus, Gesang oder Tai Chi, Qigong oder Yoga sind nur einige Beispiele, wie der Körper jenseits der Gesprächstherapie Erfahrungen zu verarbeiten vermag. Diesen Erfahrungsschatz der Wechselwirkungen zwischen Körper und Seele nutzen wir im traumasensitiven Yoga, um dem Körper zu helfen, das traumatische Erleben zu verarbeiten.

Yoga und Achtsamkeitstraining sind inzwischen in aller Munde und gelten als probate Wege, zu lernen, sich auf den Körper einzulassen, im Hier und Jetzt zu leben und eine wertfreie Beobachterposition auszubilden. Die im Yoga geübten Körperhaltungen (Asanas) und Atemübungen (Pranayama) eröffnen einen Raum, in dem die Konzentration auf körperliche Aspekte, wie die Dehnung oder die kraftvolle Aktivität eines Muskels, das achtsame Beobachten der Körperreaktionen im Mittelpunkt stehen. Der stete Wechsel von Anstrengung und Erholung trainiert zudem unser Nervensystem und macht es widerstandsfähiger. Das Ziel des Yoga ist ein ruhiger, beobachtender Geist, der sich nicht von Gefühlen überwältigen lässt. Diese Fähigkeit kommt traumatisierten Patienten sowohl im Alltag als auch in der Expositionstherapie zugute.

Warum traumasensitives Yoga?

Vielleicht gehören Sie zu jenen, die feststellen mussten, dass Yoga und Achtsamkeit Ihnen überhaupt nicht guttun, ja dass sie das Gegenteil von dem bewirkten, das Sie anstrebten, und eher beängstigende und negative Gefühle auslösten.

Wenn Sie unter den Folgen einer Traumatisierung leiden, werden oft gerade in der Stille die „Dämonen“ wach, und der Fokus auf den Körper kann alte Wunden wieder aufreißen und noch bewusster aufzeigen, dass Sie sich mit Körperempfindungen schwertun oder sie Ihnen gar verschlossen sind. Auch kann der Besuch einer Yogaklasse mit vielen Menschen auf engem Raum, ebenso wie Anforderungen, denen Sie genügen sollen oder wollen, Traumaerinnerungen wachrufen. Folglich muss die Yogapraxis auf Ihre Bedürfnisse zugeschnitten sein.

Seit vielen Jahren unterrichte ich Yoga und bin von den vielfältigen Wirkungen, die es auf mich selbst und meine Schülerinnen und Schüler hat, immer wieder aufs Neue beeindruckt. Daher beschäftigte mich bereits während meines Studiums der Psychotraumatologie die Frage, welchen Nutzen Yoga in der Traumatherapie haben könnte, und ich begann nach Abschluss des Studiums, Traumapatienten in kleinen Gruppen in „Achtsamkeitsyoga“ zu schulen. Im Unterschied zum üblichen Yogaunterricht, in dem das Programm klar vorgegeben ist, ermutigte ich die Teilnehmenden, die Asanas und Atemübungen auf die eigenen Bedürfnisse abzustimmen. Die Übenden hatten also immer eine Wahl. Ganz anders verhält es sich bei einer traumatisierenden Erfahrung, die dem Betroffenen keinen Raum für Entscheidungsfreiheit und Selbstbestimmung lässt.

Im Unterricht wies ich auf konkrete körperliche Wahrnehmungen hin, was den Übenden half, ihren Fokus im Hier und Jetzt zu halten und nicht mit ihren Traumaerinnerungen in die Vergangenheit oder zu ihren Zukunftsängsten in das Morgen abzudriften. Um dies zu erleichtern, sprach ich Empfindungen wie ein Gefühl der Dehnung in Muskeln oder Sehnen an, das Gewicht eines Körperteils oder die Atmung. Mir war klar, dass manche der Teilnehmenden wenig oder gar nichts davon spürten, jedoch veränderte sich dieses Empfinden mit zunehmendem Training. Ich machte auch Fehler. Damals war mir noch nicht klar, dass die nach dem Yoga übliche Entspannung für viele Traumatisierte nur ein „Durchhalten“ darstellte und somit keine gute Erfahrung war. Die Rückmeldungen meiner Yogaschüler lehrten mich, wie ich das Yoga besser an ihre Bedürfnisse anpassen konnte.

Neben den Gruppen begann ich, mit Patienten in der Einzeltherapie Yogaasanas und Atemübungen einzuflechten. Manche Haltungen dienten als Ressource zur Stabilisierung, andere halfen, ein besseres Gewahrsein für den Körper zu entwickeln; wieder andere konnten eine Dissoziation, das Abspalten von der gegenwärtigen Erfahrung, beenden.

Eine wichtige Bestätigung für meine Beobachtungen und Erfahrungen erfuhr ich von David Emerson, Director of Yoga Services im Trauma Center in Brookline und Buchautor3. Traumasensitive Yogagruppen sind in Brookline fester Bestandteil der Therapie. Die positive Wirkung dieser Herangehensweise ist inzwischen durch Studien mehrfach bestätigt worden. Nach meiner Weiterbildung am Traumacenter zum cert. Facilitator TCTSY (Trauma Center Traumasensitives Yoga) konnte ich meine Erfahrungen systematisieren, erweitern und in dem Buch Körperorientierte Traumatherapie. Sanfte Heilung mit traumasensitivem Yoga für die Einzeltherapie nutzbar machen.

Patienten und Gruppenteilnehmer bitten mich oft um Übungsanleitungen, da sie traumasensitives Yoga (TSY) auch außerhalb der Therapiestunden und TSY-Gruppen praktizieren wollten. So entstand dieses Praxisbuch, in dem sich Werkzeuge finden, mit deren Hilfe überwältigenden Erinnerungen etwas entgegengesetzt werden kann.

Dieses Buch ist kein Ersatz für eine Traumatherapie, und ich möchte nicht den Anschein erwecken, dass Sie sich damit „selbst heilen“ können oder sollen. Es kann Sie jedoch ergänzend dabei unterstützen, Erregungszustände leichter zu kontrollieren, sich selbst als wirksam und effektiv zu erleben, was auch die Traumatherapie erleichtert.

Leidet ein Mensch unter den Folgen einer oder mehrerer traumatischer Erfahrungen, werden Traumaerinnerungen leicht durch unterschiedlichste traumabezogene Auslösereize, sogenannte Trigger, entfacht, was sowohl zu Erregungszuständen als auch zu Gefühlen von Taubheit, Abschalten oder Hilflosigkeit führen kann. Da diese Trigger vielfältig sind, werden Sie bei der Lektüre möglicherweise an Ihre persönliche Geschichte erinnert. Bei der Arbeit mit meinen Patienten pflege ich, wenn die Erregung über die Gebühr ansteigt, die Sitzung zu unterbrechen, und wir suchen Körperhaltungen (Asanas) oder Atemübungen (Pranayama) aus dem Yoga, die beruhigend wirken. Wir „bremsen“ also die Erregung ab. Ich verwende hier bewusst das Wort „suchen“. Da sich Erlebnisse und Erinnerungen unterscheiden und jeder Mensch anders reagiert, ist die Wirkung eines Asanas oder einer Atemübung nie im Voraus genau abzuschätzen. Was den einen beruhigt, kann beim anderen das Gegenteil erzeugen. Hat man Übungen gefunden, die die Erregungszustände mildern, stehen sie als Ressourcen immer dann zur Verfügung, wenn der Stress zu intensiv wird.

Ich möchte Sie ermutigen, das Buch aus der Hand zu legen, wann immer es Ihnen „zu viel“ wird, sei es im Theorieteil, in dem Sie über die verschiedenen Arten von Traumatisierung, über Symptome und deren Ursachen lesen, oder im Praxisteil, in dem Sie Yogahaltungen und Atemübungen finden. Manchmal ist es nicht ganz einfach herauszufinden, wann es Zeit für eine Pause ist und was hilft, sich aus dem Sog der Traumaerinnerungen zu befreien, um sich wieder in der Gegenwart zu verankern und sich zu beruhigen. Blättern Sie, wann immer Sie Lust dazu verspüren oder eine „Pause“ brauchen, im Praxisteil und probieren Sie aus, welche Yogahaltungen oder Atemübungen Ihnen guttun. Mit Yoga betreten wir einen Raum, in dem es kein Richtig oder Falsch gibt, in dem nur Ihre eigene Erfahrung zählt.

Sollten Sie die Möglichkeit haben, Übungen aus diesem Buch mit Ihrer Therapeutin oder Ihrem Therapeuten gemeinsam anzuwenden und mithilfe dieser vertrauten Person in einem sicheren Rahmen über Ihre Erfahrungen zu sprechen, nutzen Sie diesen Vorteil.

Das Buch ist folgendermaßen aufgebaut:

Teil I lädt Sie in die Welt des Yoga mit Asanas, Pranayama und Achtsamkeit ein. Teil II beinhaltet Informationen über die verschiedenen Formen von Trauma und verhilft Ihnen dazu, Ihre Symptome zu verstehen und einordnen zu können. Teil III bringt beide Elemente zusammen und führt Sie ein in die traumasensitive Art, Yoga zu üben. Teil IV ist ganz der Praxis gewidmet. Hier finden Sie Asanas und Pranayama, die Ihnen das Rüstzeug an die Hand geben, sich selbst zu helfen. Die ersten sechs der in Kapitel 17 vorgestellten Übungsprogramme finden Sie – leicht modifiziert – Online auf Youtube im Junfermann Channel unter https://www.youtube.com/channel/UC7pdtqwVaJcM5blRHOyyjug.

Im Anhang finden Sie u.a. Selbstbeobachtungsbögen, die Ihnen ermöglichen, Ihre Erfahrungen zu dokumentieren und zu reflektieren, sodass sie auch für Ihre Traumatherapie nutzbar werden.


3  Trauma-Yoga – Heilung durch sorgsame Körperarbeit (Emerson & Hopper 2011) und Trauma-Yoga in der Therapie (Emerson 2015).

2. Die Werkzeuge

2.1 Asanas

In der ganz frühen Zeit der Yogaentwicklung bedeutete Asana ausschließlich „stabile Sitzhaltung“. Die Vielfalt der Asanas verdanken wir jedoch der Erkenntnis der Yogis, dass sich durch bestimmte Körperhaltungen Energiebahnen und psychischen Zentren öffnen lassen. Durch sie kann der Adept Kontrolle über Körper und Geist erlangen, und die Übungen befähigen so zu höherer Achtsamkeit und Präsenz im Alltag. Die Yogis erfassten, dass sich durch die Kontrolle des Körpers – Haltung und Atmung – der Geist lenken lässt.

Yogaübungen unterscheiden sich von Gymnastik in vielerlei Hinsicht, auch wenn Yoga als Work-out Eingang in die Fitnessbewegung gefunden hat. Vorrangig im Yoga ist jedoch nicht die körperliche Fitness, sondern das Erkennen und Beruhigen des Geistes, das Erlernen von Achtsamkeit und Präsenz im Hier und Jetzt – Fähigkeiten, die jedem Menschen zugutekommen, insbesondere jenen, die unter hoher Anspannung und Überforderung stehen, wie es bei Traumabetroffenen oft der Fall ist. Yoga wird daher auch als „Work-in“ bezeichnet.

Körperhaltungen und Bewegungen sind untrennbar mit unseren Emotionen verbunden, man nennt dies Embodiment. Es ist daher einsichtig, dass die Abwandlung eingeschliffener körperlicher Tendenzen eine Veränderung unseres Gefühlserlebens bewirkt. Vielleicht kennen Sie den Test: Man sinkt in sich zusammen, lässt die Arme hängen und versucht zu denken: „Ich bin so glücklich!“ Oder man richtet sich auf, strafft die Schultern, reckt das Kinn und sagt sich: „Ich bin so traurig!“ Beides funktioniert nicht, die Haltungen „passen“ nicht zu den Gefühlen. Man kann hier die berühmte Frage nach der Henne und dem Ei stellen: Hat das Körpermuster, beispielsweise für depressive Verstimmungen, sich aufgrund dieser Haltungs- und Atemtendenz in einem niedergeschlagenen Gefühl manifestiert oder begann alles mit Freud- und Hoffnungslosigkeit, denen der Körper gefolgt ist? Tatsache ist, dass wir mit unserer Haltung unsere Gefühle beeinflussen können.

Übertragen auf Yoga heißt dies: Wir nehmen eine für uns ungewohnte Haltung ein, zum Beispiel eine verstärkte Aufrichtung in eine Rückbeuge, und spüren der Wirkung achtsam nach. Bemerken wir, dass die Rückbeuge Angst auslöst, beschließen wir, den Oberkörper nach vorn zu beugen und beobachten wieder aufmerksam, was jetzt geschieht. Oder wir bewegen uns zwischen den beiden Positionen hin und her, wie bei der Übung Katze – Kuh (auf dem Stuhl / auf der Matte), bei der sich Rückbeuge und Vorwärtsbeuge abwechseln. Mit der Zeit gewöhnt sich unser Körper an neue Haltungs- und Bewegungsmuster.

Eines möchte ich betonen: Es geht bei einer Rückbeuge – um beim Beispiel zu bleiben – nicht darum, sich möglichst perfekt oder weit nach hinten lehnen zu können, erst recht nicht, wenn eine solche Haltung beklemmende Gefühle auslöst. Sinnvoller ist es, sich allmählich in kleinen Schritten an ungewohnte Positionen heranzutasten, die Wirkung achtsam zu erforschen und, ganz im Sinne des yogischen Prinzips, gewaltlos und freundlich mit sich selbst umzugehen.

Wir können die Asanas in folgende Gruppen unterteilen:

Jedes Asana hat zahlreiche Variationsmöglichkeiten und kann flexibel auf die Bedürfnisse jedes Übenden sowie auf die Gegebenheiten des Raums abgestimmt werden. Wir können kraftvolle oder sanfte, statische oder dynamische Übungen wählen und auf diese Weise unserer körperlichen, mentalen und emotionalen Verfassung Rechnung tragen. Wir können auf dem Stuhl, im Stehen oder auf der Matte üben, um uns auf die Gegebenheiten des Raums einstellen (vgl. Berufsverband deutscher Yogalehrer 2007, Fuchs 2007).

Yoga passt sich dem Schüler an und nicht umgekehrt. Im Yoga ging es schon immer darum, ohne Leistungsdruck zu üben und einen Beobachter zu etablieren, der uns hilft, präsent zu bleiben und die Geschehnisse mit Abstand zu betrachten. Im Yoga schulen wir unseren Beobachter, indem wir nachspüren und achtsam verfolgen, was eine Übung auslöst. Auch wenn wir manchmal gar nichts spüren oder beobachten können, so ist der Geist dennoch fokussiert und suchend, und wir sind mit unserer Aufmerksamkeit bei unserem Körper und beim Atem – eben präsent.

2.2 Pranayama

Ein Erwachsener macht etwa 15 Atemzüge pro Minute, das sind ca. 21.600 Atemzüge pro Tag (Saraswati 2001). Durch die Atmung wird Sauerstoff aufgenommen und Kohlendioxid abgegeben. Sauerstoff ist unabdingbar für den Zellstoffwechsel. Ohne ihn kommt es im Körper weder zum Verbrennungsprozess noch zur Energiegewinnung, Grundvoraussetzungen für jede Art von Bewegung, für die Bildung und Ausschüttung von Hormonen, für die Verdauung und für alle mentalen Vorgänge. Ohne Sauerstoff gibt es kein Leben.

Atmen ist ein unwillkürlicher, aber ebenso ein willentlicher Vorgang und stellt damit eine Ausnahme in unserem Organismus dar. Viele Prozesse wie Verdauung, Hormonausschüttung oder Energiestoffwechsel entziehen sich unserem Willen, jedoch können wir jederzeit entscheiden, ob wir den Atem anhalten bzw. langsam oder schnell atmen wollen. Die meiste Zeit des Tages wird unser Atem jedoch vom Atemzentrum gesteuert und ist, wie die oben genannten Beispiele, ein unwillkürlicher Prozess, dem wir so gut wie keine Aufmerksamkeit schenken. Die Yogis haben bereits früh erkannt, dass wir mit dem Atem unsere Befindlichkeit steuern können, und ihm aus diesem Grund große Bedeutung beigemessen. Unter der Bezeichnung Pranayama sind Atemübungen zu einem Bestandteil des Yogas geworden.

Der Atem ist das Tor zu unserem Nervensystem. Betrachten wir das Atmen genauer, so kann man vier Phasen unterscheiden:

Man kann sich das Atmen als Kreis oder anschaulicher als Ellipse vorstellen, da die Pausen nach dem Ein- bzw. Ausatmen vergleichsweise kürzer sind als die Ein- und Ausatmung selbst. Jede Pranayama-Technik macht sich diese vier Aspekte zunutze.

Sollten Sie beim Lesen dieser Zeilen bemerken, dass Sie sich zu sehr auf Ihren Atem konzentrieren und dies unangenehme Gefühle bei Ihnen auslöst, machen Sie eine Pause, stehen Sie auf und gehen einer vertrauten Tätigkeit nach, die Ihnen hilft, sich wieder nach außen zu fokussieren.

Die Anatomie und Dynamik der Atmung

Bei jedem Atemzug verformen sich die Brust- und Bauchhöhle dreidimensional, das heißt nach oben, nach unten und nach vorne. Als wichtigster Atemmuskel fungiert das Zwerchfell, das Brust- und Bauchhöhle voneinander trennt. Man kann es sich als stark gewölbten Fallschirm vorstellen, der an der Wirbelsäule und an den Rippen festgemacht ist. Bei der sogenannten Bauchatmung flacht das Zwerchfell beim Einatmen ab und macht Platz für die Lungen. Dieses Abflachen bewirkt, dass die inneren Organe nach unten und nach außen gedrückt werden, das Zwerchfell wird zum „Bauchwölber“. Für diese Art der Atmung muss der Bauch entspannt sein. Auch an der sogenannten Brustatmung ist das Zwerchfell beteiligt. Bei dieser hebt es den Brustkorb, und die Rippen verschieben sich gegeneinander, sodass wiederum Platz für das Lungenvolumen geschaffen wird. Der Bauch bleibt ruhig, während das Zwerchfell den Brustkorb hebt – es wird zum „Brustkorbheber“. Für diese Art der Brustatmung muss der Brustkorb entspannt sein (vgl. Kaminoff 2007, S. 19).

Abbildung 2.1: Brustatmung (© rob3000 – Fotolia.com)

Abbildung 2.2: Bauchatmung (© linaluna86 – Fotolia.com )

Auf den Abbildungen ist zu erkennen, wie sich Brustkorb (Abb. 2.1) und Bauch (Abb. 2.2) verformen und auf welche Weise sich die Bauch- von der Brustatmung unterscheidet. Ich möchte mit dieser kurzen Einführung in die Atemfunktion deutlich machen, dass auch bei der Brustatmung das Zwerchfell eingesetzt wird und daher nicht allein die Bauchatmung eine Zwerchfellaktivität erfordert. Wir brauchen beide Atemformen, denn Asanas, bei denen wir die Bauchmuskeln anspannen, lassen keine Bauchatmung zu (vgl. Kaminoff 2007). Deshalb ist es irreführend, von der Bauchatmung als „richtiger“ und von der Brustatmung als „falscher“ Atmung zu sprechen. Das alleinige Interesse des Yoga liegt in einer achtsamen Atembeobachtung sowie darin, dass wir mittels Pranayama-Übungen Einfluss auf unseren Atem und damit auf unser Nervensystem nehmen können.

Es existiert noch eine dritte Form der Atmung: die Schreckatmung oder paradoxe Atmung. Wenn wir erschrecken, atmen wir kräftig ein, ziehen den Brustkorb nach oben, den Bauch nach innen und halten den Atem an. Dauert die Schrecksituation an, gehen wir in einen leisen, kaum hörbaren Atem über, der sich nur noch in der Schlüsselbeinregion abspielt. Beide Atemmuster können sich „verselbstständigen“, sodass wir auch im Alltag nur noch flach atmen und / oder beim Einatmen den Bauch einziehen. Diese Atemmuster aktivieren den Sympathikus, jenen Teil des Nervensystems, der für Kampf und Flucht zuständig ist, und signalisieren dem Organismus, dass Wachsamkeit angezeigt ist und Gefahr im Anzug sein kann.

Atemkontrolle im Yoga hat das Ziel, mittels Atem unser Nervensystem zu beeinflussen. Bei jeder Einatmung, ebenso bei einem schnellen Atemrhythmus, wird der Teil des Nervensystems aktiviert, der uns zur Tat vorbereitet – der sogenannte Sympathikus. Jedes Mal, wenn wir ausatmen oder wenn wir langsam atmen, regen wir hingegen jenen Zweig des Nervensystems an, der uns ruhig werden lässt, den sogenannten Parasympathikus. Einatmen beschleunigt den Puls und macht uns aktiv und wach, Ausatmen hingegen wirkt beruhigend, der Puls wird langsamer. Im Yoga machen wir uns diese Phänomene bewusst zunutze. Manche Asanas und Pranayama-Techniken nehmen beispielsweise Einfluss auf unsere Atemfrequenz oder -tiefe. Indem wir den Atem beschleunigen oder verlangsamen, erzielen wir die gewünschte Wirkung. Andere Techniken wiederum fokussieren auf einen gleichmäßigen Atem, da ein rhythmisches, tiefes und langsames Atmen zu ruhigeren, gleichmäßigen Gehirnrhythmen führt und infolgedessen zu physischer, emotionaler und mentaler Entspannung (Saraswati 2001). Wieder andere Übungen zielen auf eine verlängerte Ausatmung ab und beruhigen somit Körper und Geist.

2.3 Achtsamkeit

Wie wir weiter oben gesehen haben, ist die Achtsamkeit oder achtsames Gewahrsein der Schlüssel zum Yoga. Achtsamkeit, Englisch mindfulness, und Achtsamkeitsmeditation sind zu gängigen Begriffen geworden: achtsam gehen, achtsam essen, achtsam miteinander umgehen. Was verbirgt sich jedoch genau hinter der Idee des „achtsamen“ Handelns?

Achtsamkeit: Eine Definition

Achtsamkeit hat das Ziel, Inhalte des aktuellen Bewusstseins lediglich zur Kenntnis zu nehmen. Sie hat weder Entspannung noch Veränderung aufkommender Gefühle zum Ziel. Die Aufmerksamkeit bleibt auf das unmittelbare Erleben gerichtet und ermöglicht eine wachsende Wahrnehmungsfähigkeit aller körperlichen, emotionalen und mentalen Vorgänge im gegenwärtigen Moment. Die Orientierung auf das gegenwärtige Erleben ist durch Neugier, Offenheit und Akzeptanz gekennzeichnet (Bishop & Lau 2004).

Man kann beim Üben von Achtsamkeit also nichts falsch machen oder versagen, beispielsweise weil die Gedanken abgeschweift sind. Jede Beobachtung, auch die der abschweifenden Gedanken, und jede Wahrnehmung ist richtig. Ziel ist nicht die Veränderung, sondern allein die Beobachtung. Mit zunehmender Praxis wird es einfacher, sich von den Inhalten des Bewusstseins zu lösen, Distanz zu den Geschehnissen zu bekommen und ausschließlich zu beobachten, ohne zu bewerten. Je besser dies gelingt, desto weniger werden wir von Gefühlen oder Empfindungen überrollt und weggeschwemmt.

Achtsamkeit will uns helfen wahrzunehmen, dass sich Bewusstseinsinhalte konstant verändern und vergänglich sind. Sobald wir von schlimmen Erinnerungen und Gefühlen überschwemmt werden, geht dieses Empfinden verloren. Im Strudel der Gefühle existiert weder die Hoffnung, dass dieser Zustand bald vorbei sein wird, noch das Gewahrsein, dass die Intensität der Gemütsbewegung nicht konstant bleibt. Es ist der ewig gleichbleibende Horrorfilm. Achtsamkeit zu üben kann sich also lohnen, denn sie schult unseren Geist und ermöglicht uns, Veränderungen wahrzunehmen sowie uns von Gefühlen und Empfindungen zu distanzieren.

Es existieren zwei Denkmodelle in Bezug auf Achtsamkeit. Das eine Modell geht von der Akzeptanz unangenehmer Empfindungen aus – solange sie nicht schaden. Nach diesem Modell kontrolliert der Verstand den Körper, die Weisheit wird im Geist und weniger im Köper vermutet. Die andere Form betont die Weisheit des Körpers. Beim Auftreten unangenehmer Empfindungen wird eine Übung verändert oder beendet. Die Übungsvorschläge dienen hier ausschließlich dem Experimentieren, Spüren und Erleben (Huppertz 2011). Ich persönlich präferiere die zweite Auffassung, die auch die Basis der Übungen in diesem Buch ist. Passives Aushalten trägt aus meiner Sicht nicht zur Heilung traumatischer Erfahrungen bei. Hingegen zu lernen, seinem Körper wie auch seinen körperlichen Impulsen zu vertrauen, schafft ein Gefühl der Selbstwirksamkeit und Sicherheit.

Ein weiterer Aspekt von Achtsamkeit ist, wie oben bereits erwähnt, das „Nichtbewerten“. Das hat jedoch nichts mit akzeptierendem passivem Verhalten zu tun im Sinne von „aushalten“. Wenn Sie beispielsweise während des Übens achtsam Ihre Körperempfindungen beobachten und Ihr Knie zu schmerzen anfängt, nehmen Sie bewusst eine andere Haltung ein. Sie bewerten durchaus den Schmerz im Knie als negativ – was er ja auch ist – und unternehmen aktiv etwas dagegen. Sie trainieren auf diese Weise Ihre Selbstwirksamkeitserwartung6.

Spüren Sie jedoch beim Üben einen Dehnungsreiz, können Sie sich entscheiden, diesen Reiz zu verringern, indem Sie Ihre Haltung verändern und wahrnehmen, was Sie nun empfinden, oder indem Sie das Dehnungsgefühl interessiert beobachten. Eventuell bemerken Sie, dass es zu- oder abnimmt oder sich anderweitig verändert. Im reinen wertfreien Beobachten gewinnen Sie Abstand zu Ihren Empfindungen. Ihre Entscheidung, eine Stellung zu verändern oder noch ein wenig in der Haltung zu verbleiben, können Sie wertfrei im Auge behalten – keine der beiden Varianten ist besser! Achtsamkeit so einzusetzen ermutigt uns und stärkt unser Selbstwertgefühl und unsere Selbstwirksamkeitserwartung.

Betrachten wir Achtsamkeit aus einer neurobiologischen Perspektive, so weiß man heute, dass Aufmerksamkeit eine große Unterstützung, wenn nicht sogar eine Voraussetzung für tief greifende Veränderungen in den neuronalen Strukturen darstellt. Das heißt, erst mit einer aufmerksamen Gesinnung können Veränderungen wirksam werden (Wellensiek 2010). Achtsamkeit zu üben bedeutet folglich: in der Gegenwart beobachten, was von Moment zu Moment wahrnehmbar ist. Im TSY fokussieren wir uns vor allem auf die körperlichen Phänomene und weniger auf die gedanklichen. Sind wir in der Lage, diese achtsam zu beobachten, wächst unsere Fähigkeit, Abstand von überwältigenden Empfindungen zu gewinnen und uns nicht mehr von ihnen „wegspülen“ zu lassen.