image1
Logo

Stefan Bauberger

Wissenschaftstheorie

Eine Einführung

Grundkurs Philosophie 20

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

1. Auflage 2016

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-031119-0

 

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-031120-6

epub:    ISBN 978-3-17-031121-3

mobi:    ISBN 978-3-17-031122-0

 

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhalt

 

 

 

 

  1. I Einführung
  2. 1. Was ist Wissenschaftstheorie?
  3. 2. Wozu Wissenschaftstheorie?
  4. 3. Methode und Empfehlungen
  5. II Sinnesdaten als Grundlage der Erkenntnis
  6. 1. Die Naturwissenschaften und der Empirismus
  7. 2. Rudolf Carnap: Methodischer Positivismus und Physikalismus
  8. 3. Praktische wissenschaftstheoretische Konzepte: Operationalisierbarkeit von Begriffen
  9. 4. Philosophische Konsequenzen
  10. a) Empirische Erkenntnis und Operationalisierung
  11. b) Die Reichweite des Empirismus und die »empirische Einstellung«
  12. c) Gibt es nicht-empirische Erkenntnis?
  13. III Induktion, Verifikation, Falsifikation
  14. 1. Hume und die Kausalität
  15. 2. Popper: Falsifikationismus
  16. 3. Die empiristische Antwort auf Popper
  17. 4. »Raffinierter« Falsifikationismus
  18. 5. Grenzen des Falsifikationismus
  19. 6. Praktische wissenschaftstheoretische Konzepte: Falsifizierbarkeit als Kriterium für Theorien, Immunisierungsstrategien, Ad-Hoc-Hypothesen, Hilfshypothesen
  20. 7. Bilanz und philosophische Reflexion
  21. IV Eigenschaften
  22. 1. War Popper ein Platonist? – Inwiefern? –Platonismus und Naturwissenschaften
  23. 2. Was sind Eigenschaften?
  24. a) Operationalisierung
  25. b) Intensionalität und Extensionalität bei Frege
  26. c) Die Russell-Zermelo-Antinomie
  27. d) Extensionalität
  28. 3. Schwarze Raben
  29. a) Das Paradoxon
  30. b) Ein Lösungsversuch: Bedingte Wahrscheinlichkeiten
  31. c) Probleme mit bedingten Wahrscheinlichkeiten
  32. d) Eine Lösung: Natural kinds
  33. e) Noch ein Punkt zu den Raben und zu Wahrscheinlichkeiten
  34. 4. Intensionalität
  35. V Theorien
  36. 1. Kuhn und seine Theoriendynamik
  37. 2. Lakatos und seine Forschungsprogramme
  38. 3. Feyerabend und seine anarchistische Erkenntnistheorie
  39. 4. Die Theoretizität von Begriffen und das strukturalistische Theorienkonzept
  40. 5. Theorien: Praktische Konsequenzen für die Wissenschaft
  41. 6. Theorien: Philosophische Reflexion
  42. 7. Einfachheit von Theorien: Instrumentalismus oder Realismus?
  43. 8. Zusatzbemerkung: Paradigmen in den Geisteswissenschaften
  44. VI Evolutionäre Erkenntnistheorie
  45. 1. Philosophie und Naturwissenschaft
  46. 2. Evolutionäre Erkenntnistheorie
  47. 3. Erkenntnisse
  48. a) Details
  49. b) Der Anspruch der evolutionären Erkenntnistheorie
  50. c) Zirkularität der evolutionären Erkenntnistheorie?
  51. 4. Letztbegründung?
  52. 5. Philosophie und Naturwissenschaft: Anwendung
  53. VII Konstruktivismus
  54. 1. Methodischer Konstruktivismus
  55. 2. Radikaler Konstruktivismus
  56. 3. Sozialer Konstruktivismus
  57. 4. Konstruktivismus: Praktische Konsequenzen für die Wissenschaft
  58. 5. Philosophische Diskussion
  59. VIII Erklärung
  60. 1. Das Hempel-Oppenheim-Schema und seine Vulgarisierung
  61. 2. Erweiterung: Statistische Erklärungen
  62. 3. Probleme und Grenzen
  63. 4. Erklären und Verstehen: Ein pragmatischer Ansatz
  64. 5. Erklärung: Philosophische Reflexion
  65. IX Theorienholismus, das Analytische und das Apriori
  66. 1. Holismus und Theorienholismus
  67. 2. Wissenschaftliche Revolutionen – Umbrüche im Weltbild
  68. a) Das ptolemäische und das kopernikanische Weltbild
  69. b) Die Newton-Mechanik
  70. c) Evolutionstheorie
  71. d) Die Relativitätstheorie
  72. e) Die Quantentheorie
  73. f) Der Logizismus und die Gödel’schen Unvollständigkeitssätze
  74. 3. Apriori/Aposteriori und analytisch/synthetisch
  75. 4. Deutung
  76. X Naturgesetze
  77. 1. Was sind Naturgesetze? Und: Wie hängen sie mit den Regelmäßigkeiten zusammen?
  78. 2. Effektive Naturgesetze
  79. 3. Ein Einwand gegen Naturgesetze
  80. 4. Statistische Naturgesetze
  81. 5. Nochmal: Kausalität
  82. 6. Apriorische Begründungen
  83. 7. Im Blockuniversum
  84. 8. Die Weltformel und ihre Ontologie
  85. XI Objektivierung als Form der Erkenntnis
  86. 1. Über das Subjekt der Erkenntnis: Was ist Objektivierung?
  87. 2. Das Richtige an der Objektivierung und die Übertreibung
  88. 3. Objektivierung: Bezüge zur Wissenschaftstheorie
  89. Literatur
  90. Personenverzeichnis
  91. Stichwortverzeichnis

I           Einführung

 

 

1.         Was ist Wissenschaftstheorie?

Wissenschaftstheorie fragt danach, was Wissenschaft ist, wie sie funktioniert und was sie erkennt. Dabei bezieht sie sich aus historischen Gründen vorwiegend auf empirische Wissenschaften und dieser Fokus wird in diesem Buch beibehalten.

Die Positionen, die innerhalb der Wissenschaftstheorie vertreten werden, decken eine sehr große Bandbreite ab. Es gibt auf der einen Seite Ansätze, mit Hilfe der Wissenschaftstheorie als philosophischer Grundlagentheorie das gesamte Gebäude der empirischen Wissenschaften systematisch und streng zu begründen. Auf der anderen extremen Seite stehen Ansätze, die alle Wissenschaften als soziale Phänomene begreifen, deren Wahrheitsanspruch nicht objektiv begründet werden kann und soll.

Diesem Buch liegt die Auffassung zugrunde, dass alle oder zumindest die meisten Positionen, die in der Wissenschaftstheorie vertreten werden, zum Verständnis der empirischen Wissenschaften beitragen. Das Interesse richtet sich nicht auf ein exaktes historisches Verständnis, warum welche Positionen sich wie entwickelt haben, sondern auf ihren systematischen Beitrag zum Gesamtbild der Wissenschaften.

Wissenschaftstheorie, wie sie in diesem Buch verstanden wird, ist eine kritische Auseinandersetzung mit den empirischen Wissenschaften. Dazu gehören zwei wichtige Punkte:

•  Die Methoden der empirischen Wissenschaften.

•  Der Erkenntnisanspruch der empirischen Wissenschaften.

2.         Wozu Wissenschaftstheorie?

Wissenschaftstheorie wird in diesem Buch mit zwei erkenntnisleitenden Interessen betrieben, die den beiden dargestellten Punkten entsprechen:

•  Die Reflexion auf die Methoden der empirischen Wissenschaften dient einem praktischen Zweck: Sie soll eine Hilfestellung liefern für das Betreiben dieser Wissenschaften.

•  Die Reflexion auf die Geltung der empirischen Wissenschaften wird als genuin philosophische Fragestellung aufgefasst. Insofern die Wissenschaftstheorie zur Klärung dieser Frage beiträgt, berührt sie erkenntnistheoretische Fragestellungen der Philosophie.

Wenn damit der Anspruch erhoben wird, dass die Wissenschaftstheorie auch einen praktischen Wert für die Arbeit der empirischen Wissenschaften hat, dann kann das leider nicht ohne Klage stehen bleiben: Viele empirische Wissenschaftler interessieren sich in keiner Weise für Wissenschaftstheorie. Vielfach wird Wissenschaftstheorie auch fast ohne Bezug auf die Realität praktischer Forschung betrieben und verliert deshalb ihre Relevanz für diese. In dieser Hinsicht ist das Schicksal der Wissenschaftstheorie paradigmatisch für das der Philosophie.

3.         Methode und Empfehlungen

Dieses Buch betrachtet Wissenschaftstheorie aus einer untypischen Perspektive. Insbesondere ist es zwar dem Wahrheitsanspruch der empirischen Wissenschaften verpflichtet, grenzt sich aber ausdrücklich von »naturalistischen« Positionen ab, die reflektiert oder unreflektiert den meisten wissenschaftstheoretischen Forschungen und Abhandlungen zugrunde liegen. Als beste und in dieser Hinsicht komplementäre Ergänzung zur Lektüre sei das Buch von Poser empfohlen [Poser 2001], das eine solide Einführung in die Wissenschaftstheorie liefert.

Einige der folgenden Kapitel referieren die Position von Klassikern der Wissenschaftstheorie, gefolgt von anschließender Reflexion. Andere Kapitel reflektieren philosophische Fragen, die teilweise die Grenzen der traditionellen Wissenschaftstheorie sprengen. Diese Kapitel des philosophischen Weiterdenkens können unbeschadet des weiteren Verständnisses übersprungen werden (Kap. IV, Kap. VI, Kap. IX). Die Kapitel X und XI führen in sehr prinzipielle und abstrakte philosophische Überlegungen hinein und sind als Weiterführung der wissenschaftstheoretischen Überlegungen zu verstehen.

II          Sinnesdaten als Grundlage der Erkenntnis

 

 

1.         Die Naturwissenschaften und der Empirismus

Die Philosophie ist vielen modernen Naturwissenschaftlern sehr fremd. In den Anfängen der griechischen Philosophie war das ganz anders, als Philosophie und Naturforschung als Einheit betrachtet wurden. Aristoteles, der im Mittelalter immer mehr zur wichtigsten philosophischen Autorität wurde, war auch Naturforscher. Seine Philosophie ist grundlegend mit seiner Naturbeobachtung und seinen Theorien über die Natur verbunden. Später allerdings wurde seine Philosophie dogmatisiert, was dem Geist der Naturforschung völlig widerspricht.

Die Entstehung der modernen Naturwissenschaft

Eine neue Blüte der Naturforschung begann im Übergang zum 17. Jahrhundert. Galileo Galilei war wahrscheinlich die wichtigste Gestalt für die Entwicklung der modernen experimentellen Methode und damit für die Geburt der heutigen Naturwissenschaften. Galileis experimentelle Methode entspricht nicht einem naiven Bild von Naturwissenschaften, das der reinen Beobachtung den zentralen Stellenwert zuspricht. Die naturwissenschaftliche Beobachtung ist vielmehr eine geformte Beobachtung, wie in den unten stehenden Kapiteln über Theorien noch deutlich werden wird.

Galilei erkannte, dass die Fallgesetze für alle Körper in der gleichen Weise gelten. Eine Feder fällt im Vakuum genauso schnell wie ein Körper aus Blei. Diese Erkenntnis beruht auf einer genialen Abstraktionsleistung, weil natürlich alle Körper, deren Fallen Galilei beobachten konnte, durch die Luftreibung abgebremst werden. Galilei suchte nach den Naturgesetzen hinter den Beobachtungen und dadurch nach der tieferen Wirklichkeit hinter den Beobachtungen.

Ein Zeitgenosse Galileis war Francis Bacon. Seine Methode entspricht besser dem naiven Bild eines Naturforschers, denn er war mehr ein Sammler von Beobachtungen. Seine Experimente waren auch viel weniger von der Idee der Suche nach dahinter liegenden Gesetzen bestimmt, sondern vom Ideal der Beherrschung der Natur. Mit Bacon beginnt die Bewegung des Britischen Empirismus. Prominente Vertreter dieser Richtung sind John Locke und David Hume. Nebenbei bemerkt: Kants »Kritische Philosophie« wäre ohne die Inspiration und Herausforderung durch den Britischen Empirismus, insbesondere durch Hume, nicht denkbar.

Empirismus

Empirismus bezeichnet allgemein die erkenntnistheoretische Auffassung, dass alles menschliche Wissen (sowie auch jede Rechtfertigung für Überzeugungen) vorrangig in der Erfahrung gründet, also nicht primär im Denken. Er grenzt sich damit vom Rationalismus ab, der seit der frühen Neuzeit viele Philosophen prägte. Diese Priorität der Erfahrung kann unterschiedlich verstanden werden, wie sich im Vergleich von Galilei und Bacon zeigt. In jedem Fall ist aber die »empirische Einstellung« eine methodische Grundlage jeder Naturwissenschaft. (Siehe dazu unten die Darlegungen anknüpfend an Bas van Fraassen.)

Der Wiener Kreis, Positivismus, Physikalismus

Für die Entwicklung der Philosophie war neben dem Britischen Empirismus noch eine zweite empiristische Schule von großer Bedeutung, der Wiener Kreis. Zu ihm gehört zum Beispiel Rudolf Carnap, dessen Position beispielhaft im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen wird. Für Carnap wie auch für andere im Wiener Kreis waren die moderne Logik und Grundlagenfragen der Mathematik prägend. Carnap bezeichnet seine Position als »methodischen Positivismus« und »Physikalismus«.

Der Positivismus ist eine Spielart des Empirismus. Der Begriff des »Positivismus« wurde hauptsächlich von Auguste Comte (19. Jhd.) in die Philosophie eingeführt. Comte sprach vom »logischen Positivismus« und meint damit eine Verschärfung des Empirismus, indem er prinzipiell die Möglichkeit verneint, dass es Erkenntnis über unbeobachtbare Objekte geben kann. Das beinhaltet eine grundsätzliche Kritik an jeder Metaphysik.

Der Wiener Kreis und mit ihm Carnap geben dem Positivismus eine sprachphilosophische Wendung. Die Frage der Existenz oder Nicht-Existenz von unbeobachtbaren Objekten ist für Carnap keine philosophische Frage, weil es in gewisser Weise gar keine philosophischen Fragen als solche gibt. Moritz Schlick, führend im Wiener Kreis, zeichnet folgendes Programm für die Entwicklung der Philosophie:

»… philosophische Schriftsteller werden noch lange alte Scheinfragen diskutieren, aber schließlich wird man ihnen nicht mehr zuhören, und sie werden Schauspielern gleichen, die noch eine Zeitlang fortspielen, bevor sie bemerken, dass die Zuhörer sich allmählich fortgeschlichen haben. Dann wird es nicht mehr nötig sein, über ›philosophische Fragen‹ zu sprechen, weil man über alle Fragen philosophisch sprechen wird, das heißt: sinnvoll und klar.« [Schlick 2006, 38]

Im Sinn des methodischen Positivismus, wie Carnap seine Position bezeichnet, ist die einzig sinnvolle Frage bezüglich metaphysischer Objekte, ob über sie in einer formal korrekten Sprache gesprochen werden kann, und diese Möglichkeit verneint er.

Carnap ist außerdem noch ein »Physikalist«, weil er annimmt, dass die physikalische Sprache als Einheitssprache der Wissenschaft geeignet ist. Das ist in dem Sinn zu verstehen, dass z. B. die Beschreibung von biologischen Vorgängen prinzipiell auf physikalische Beschreibungen reduziert werden kann, und dass dies auch das Ziel der Wissenschaft sein soll.

2.         Rudolf Carnap: Methodischer Positivismus und Physikalismus

Im Folgenden wird ein kurzer Text von Carnap zusammenfassend referiert [Carnap 1931, 432-465]. Die Ideen, die Carnap dort ausbreitet, sind grundlegend für die Entwicklung der modernen Wissenschaftstheorie. Er schreibt mit vorbildlicher Klarheit:

»Die Wissenschaft in ihrer herkömmlichen Gestalt bildet keine Einheit. Sie zerfällt in Philosophie und Fachwissenschaften; die Fachwissenschaften zerfallen in Formalwissenschaften (Logik und Mathematik) und Realwissenschaften; die Realwissenschaften pflegt man zu zerlegen in Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften und Psychologie. Diese verschiedenen Wissenschaftsarten trennt man nicht nur aus praktischen Gründen der Arbeitsteilung. Die allgemein verbreitete Ansicht geht vielmehr dahin, dass sie sich grundsätzlich in Hinsicht ihrer Objekte, ihrer Erkenntnisquellen, ihrer Methoden unterscheiden. Demgegenüber soll hier die Auffassung vertreten werden, dass die Wissenschaft eine Einheit bildet: alle Sätze sind in einer Sprache ausdrückbar, alle Sachverhalte sind von einer Art, nach einer Methode erkennbar.« [Carnap 1931, 432]

Carnap beruft sich anschließend auf die »Entwicklung der neuen Logik, insbesondere der logischen Analyse der Sprache« [Carnap 1931, 432], um diese Behauptung bezüglich der Philosophie, der Logik und der Mathematik zu rechtfertigen.

»Die Sätze der Logik und Mathematik sind Tautologien, analytische Sätze, die allein auf Grund ihrer Form gültig sind. Sie haben keinen Aussagegehalt, d. h. sie besagen nichts über das Bestehen oder Nichtbestehen irgendeines Sachverhaltes. (. . .) Trotz ihres tautologischen, gehaltsleeren Charakters haben die logischen und mathematischen Sätze eine erhebliche wissenschaftliche Bedeutung, da sie zur Umformung der gehaltvollen Sätze verhelfen.« [Carnap 1931, 433]

Diese konstruktivistische Auffassung der Mathematik liegt heute weitgehend der praktischen Weise, wie Mathematik betrieben wird, zugrunde (axiomatische Methode), wenngleich sie in der Philosophie der Mathematik nicht Konsens ist. Weitreichender ist Carnaps These bezüglich der Philosophie:

»(. . .) Diese Analyse ist schließlich zum Ergebnis gekommen, dass es nicht neben oder über den Fachwissenschaften eine Philosophie als eigenes System philosophischer Sätze geben kann. Vielmehr besteht die Tätigkeit der Philosophie in der Klärung der Begriffe und Sätze der Wissenschaft.

(. . .)

Die wissenschaftliche Arbeit betrifft entweder den empirischen Inhalt der Sätze: man beobachtet, experimentiert, sammelt und bearbeitet das Erfahrungsmaterial. Oder es geht um Klarstellung der Form der Wissenschaftssätze, sei es ohne Rücksicht auf den Inhalt (formale Logik), sei es in Hinblick auf die logischen Beziehungen bestimmter Begriffe (Konstitutionstheorie, Erkenntnistheorie als angewandte Logik).« [Carnap 1931, 432 f.]

In Carnaps Konzept ist Philosophie also nur insoweit sinnvoll, als sie sich als Hilfswissenschaft auf die empirischen Wissenschaften bezieht.

Sein Argument beruht auf zwei Voraussetzungen, die er beide als erfüllt ansieht:

•  Ein Aufweis, dass die physikalische Sprache als Einheitssprache der Wissenschaft geeignet ist (Physikalismus).

•  Eine sprachphilosophische Analyse, die streng zwischen einer »formalen« und einer »inhaltlichen« Redeweise unterscheidet.

Die formale Redeweise, »die strenggenommen die einzige korrekte ist,« [Carnap 1931, 436] unterscheidet sich von der inhaltlichen, indem sie »von Wörtern anstatt von ›Objekten‹ und von Sätzen anstatt von ›Sachverhalten‹« [Carnap 1931, 435] spricht. Die Bedeutung von Wörtern wird durch Übersetzung oder Definition angegeben, nicht durch irgendeinen Bezug auf eine Realität außerhalb der Sprache. Damit will dieser Ansatz alle metaphysischen Probleme vermeiden, die er konsequent als Scheinprobleme versteht. Diese Probleme entstehen, weil wir gewöhnlich die inhaltliche Sprechweise verwenden, die aber nur als abkürzende Sprechweise verstanden werden darf. Und wenn die genannten Scheinprobleme auftreten, dann sollte man auf die formale Sprechweise zurückgreifen:

»Nehmen wir als Beispiel die Sprache der Arithmetik. Die Charakterisierung dieser Sprache in formaler Sprechweise würde etwa lauten: die arithmetischen Sätze sind aus Zeichen der und der Art in der und der Weise zusammengesetzt; es gelten die und die Umformungsregeln. Statt dessen mag man auch in inhaltlicher Redeweise sagen: die arithmetischen Sätze geben gewisse Eigenschaften von Zahlen und gewisse Beziehungen zwischen Zahlen an. Eine derartige Formulierung ist, wenn auch ungenau, so doch verständlich und zulässig, wenn man sie vorsichtig handhabt. Man darf sich durch diese Formulierung nicht zu der Scheinfrage verleiten lassen, was diese ›Zahlen‹ denn nun für Gegenstände seien, ob sie real oder ideal, extramental oder intramental seien od. dgl. Bei Anwendung der formalen Redeweise, die überhaupt nicht von ›Zahlen‹, sondern nur von ›Zahlzeichen‹ spricht, verschwindet diese Scheinfrage.« [Carnap 1931, 436]

Die Frage danach, was Zahlen sind, ist ein klassisches Problem der Philosophie der Mathematik, das eng mit dem Universalienproblem zusammenhängt. Existieren Zahlen (als platonische Entitäten in einem Reich der Ideen) und werden die Beziehungen zwischen ihnen (also die mathematischen Regeln) durch mathematische Forschung entdeckt oder sind Zahlen und ihre Verknüpfungsregeln ein Konstrukt des menschlichen Geistes?

Es geht in diesem Buch nicht um eine detaillierte philosophische Auseinandersetzung mit dem metaphysischen Aspekt von Carnaps Ansatz (so interessant dieser auch ist), sondern nur darum, einige Grundideen herauszuarbeiten, die für die Wissenschaftstheorie grundlegend sind. Der wichtigste Punkt in diesem Zusammenhang ist der Begriff der »Protokollsprache«.

Die Protokollsprache

Als Positivist führt Carnap alle wissenschaftlichen Sätze grundlegend auf Erfahrung zurück. – Aber diese Aussage fällt schon wieder in die inhaltliche Redeweise zurück, die für Carnap nur als abkürzende Vereinfachung ihre Berechtigung hat. Also nimmt er konsequent nicht die für ihn unbestimmte Erfahrung, sondern sogenannte »Protokollsätze« als Grundlage der wissenschaftlichen Erkenntnis:

»Die Nachprüfung geschieht an Hand der ›Protokollsätze‹. Hierunter sind die Sätze verstanden, die das ursprüngliche Protokoll etwa eines Physikers oder Psychologen enthält. Wir stellen uns hierbei das Verfahren so schematisiert vor, als würden alle unsere Erlebnisse, Wahrnehmungen, aber auch Gefühle, Gedanken usw. sowohl in der Wissenschaft als auch im gewöhnlichen Leben zunächst schriftlich protokolliert, so dass die weitere Verarbeitung immer an ein Protokoll als Ausgangspunkt anknüpft. Mit dem ›ursprünglichen‹ Protokoll ist dasjenige gemeint, das wir erhalten würden, wenn wir Protokollaufnahme und Verarbeitung der Protokollsätze im wissenschaftlichen Verfahren scharf voneinander trennen würden, also in das Protokoll keine indirekt gewonnenen Sätze aufnehmen würden. Das wirkliche Laboratoriumsprotokoll eines Physikers kann etwa folgende Form haben: ›Aufstellung der Apparate…; Schaltungsschema…; Zeigerstellung der verschiedenen Instrumente zu den verschiedenen Zeitpunkten…; bei 500 V tritt Funkenentladung ein.‹« [Carnap 1931, 437 f.]

Carnap gesteht zu, dass es keine Einigkeit darüber gibt, was eigentlich ursprüngliche Protokollsätze sind. Es ist seiner Ansicht nach eine psychologische Frage, was die ursprünglichen Elemente der Wahrnehmung ausmacht [Carnap 1931, 439]. Er betrachtet das im zitierten Artikel nicht als großes Problem. Es hat sich aber im Lauf der weiteren Entwicklung der Wissenschaftstheorie herausgestellt, dass die Auffassung, dass sich ursprüngliche, grundlegende Elemente der Wahrnehmung isolieren lassen, in grundsätzliche Probleme des Wahrheitsanspruchs der empirischen Wissenschaften führt. Mehr dazu in den folgenden Kapiteln. Auch Carnap selbst hat später die »unklare Mischung aus psychologischen und logischen Bestandteilen« [Carnap 2006, 260] in der Erkenntnistheorie kritisiert.

Antimetaphysische Grundeinstellung und die Frage nach der Philosophie

»… die logische Analyse kommt zum Ergebnis (…), dass die sog. metaphysischen Sätze Scheinsätze sind, da sie in keinem Ableitungsverhältnis (weder einem positiven noch einem negativen) zu den Sätzen der Protokollsprache stehen. Sie enthalten entweder Wörter, die nicht auf Wörter der Protokollsprache zurückführbar sind, oder sind aus zurückführbaren Wörtern syntaxwidrig zusammengesetzt.« [Carnap 1931, 452]

Dasselbe gilt, so meint Carnap, allgemein für viele Begriffe in den Geisteswissenschaften:

»Beispiele: ›objektiver Geist‹, ›Sinn der Geschichte‹, usw.« [Carnap 1931, 451]

Die antimetaphysische Einstellung von Carnap ergibt sich also aus seinem Prinzip, dass wissenschaftliche Sätze auf die Protokollsätze zurückführbar sein müssen. Er bezeichnet dies als »methodischen Positivismus.«

»Durch den Zusatz ›methodisch‹ soll zum Ausdruck gebracht werden, dass es sich hierbei um Thesen handelt, die nur von der logischen Möglichkeit gewisser sprachlicher Umformungen und Ableitungen reden, und nicht etwa von der ›Realität‹ oder ›Nichtrealität‹ (›Existenz‹, ›Nichtexistenz‹) des ›Gegebenen‹, des ›Psychischen‹, des ›Physischen‹. Derartige Scheinsätze kommen in den historisch vorliegenden Formulierungen des Positivismus und des Materialismus gelegentlich vor. Sobald man sie als metaphysische Beimengungen erkennt, wird man sie ausschalten; das ist gerade auch im Sinn der Urheber jener Richtungen, die ja Gegner aller Metaphysik waren.« [Carnap 1931, 461]

Carnap argumentiert also nicht inhaltlich gegen metaphysische Positionen. Sein Argument beschränkt sich darauf, dass er Metaphysik als Scheinwissenschaft entlarven will, womit die inhaltliche Diskussion überflüssig wird (dieser Anspruch Carnaps ist natürlich fragwürdig). Die Philosophie wird damit, wie oben zitiert, auf eine »Klarstellung der Form der Wissenschaftssätze« reduziert, »sei es ohne Rücksicht auf den Inhalt (formale Logik), sei es in Hinblick auf die logischen Beziehungen bestimmter Begriffe (Konstitutionstheorie, Erkenntnistheorie als angewandte Logik).« [Carnap 1931, 432 f.]

Insofern ist Philosophie im methodischen Positivismus reine Wissenschaftstheorie, nämlich eine Reflexion auf die Form und auf die Methoden der empirischen Wissenschaft. Sie dient der empirischen Wissenschaft in ähnlicher Weise wie Logik und Mathematik.

3.         Praktische wissenschaftstheoretische Konzepte: Operationalisierbarkeit von Begriffen

An diesen Abschnitt über Carnaps Physikalismus bzw. methodischen Positivismus (was einen methodischen Materialismus einschließt) kann sich die Behandlung eines grundlegenden Konzepts der Wissenschaftstheorie anschließen, das sehr weitreichende Konsequenzen hat: das Konzept der Operationalisierbarkeit von wissenschaftlichen Begriffen. Dieses Konzept setzt zwar Carnaps Philosophie nicht voraus. Man kann es aber als eine praktische Umsetzung der von ihm gemachten Voraussetzung verstehen, dass wissenschaftliche Sätze nur dann sinnvoll sind, wenn sie sich auf Protokollsätze zurückführen lassen.

Es handelt sich hier zunächst um eine Frage der Methode der empirischen Forschung. Im nächsten Abschnitt soll dann gesondert die Frage betrachtet werden, inwieweit sich daraus erkenntnistheoretische Konsequenzen ergeben.

Ein physikalisches Beispiel kann dazu dienen, dieses Konzept einzuführen: die grundlegenden Ideen der speziellen Relativitätstheorie. Tatsächlich war Einstein bei seiner Entwicklung dieser Theorie von den (philosophischen) Ideen von Mach beeinflusst, der ein Vorläufer von Carnap im Wiener Kreis war.

Eine Aussage dieser Theorie sei hier zur Erläuterung angeführt: Die spezielle Relativitätstheorie führt zur Behauptung, dass der Begriff der »Gleichzeitigkeit von Ereignissen« relativ zum Beobachter ist. [Bauberger 2003, 85-87] Wenn zwei voneinander entfernte Ereignisse, zum Beispiel eines auf der Erde, das andere auf dem Mond, für einen Beobachter, zum Beispiel für den auf der Erde, gleichzeitig stattfinden, dann sind sie für einen in geeigneter Weise relativ dazu bewegten Beobachter zeitlich zueinander versetzt. Je nach Bewegung findet das Ereignis auf der Erde vor dem auf dem Mond statt oder umgekehrt.

Dies widerspricht der Intuition. Tatsächlich gibt es auch heute immer wieder noch Versuche von Pseudophysikern, die Relativitätstheorie zu widerlegen, weil sie angeblich dem »gesunden Menschenverstand« widerspricht, also »nicht wahr sein kann«. Angesichts der hervorragenden empirischen Bestätigung der Relativitätstheorie und dem Fehlen jeglicher empirischer Gegenargumente kann man das nur als ideologisch motiviert betrachten.

Nebenbemerkung: Viele Missverständnisse und ungerechtfertigte Vorwürfe zwischen Wissenschaften und »Pseudowissenschaften« erwachsen aus der folgenden Spannung:

•  Einerseits gibt es innerhalb einer Gemeinschaft von Wissenschaftlern (»scientific community«) deutlich ausgeprägte Autoritätsstrukturen. Abweichungen von gewissen Selbstverständlichkeiten werden keiner Diskussion gewürdigt.

•  Andererseits wird jeder seriöse Hinweis auf neue Erkenntnisse begierig aufgegriffen.

Die Autoritätsstrukturen werden von außen leicht als Unterdrückung neuer Erkenntnisse interpretiert. Das Aufgreifen von Hinweisen auf neue Beobachtungen oder Erkenntnisse wird von außen oft so interpretiert also ob diese Hinweise schon Teil des wissenschaftlichen Konsenses sind. Ein sensationsorientierter Wissenschaftsjournalismus wird davon gefüttert.

Von Polanyi gibt es eine sehr interessante erkenntnistheoretische und metaphysische Interpretation dieser Spannung [Polanyi 1985, 61–65]. Auch im Folgenden wird diese Spannung im Abschnitt über Paradigmen (Kap. V.1) noch aufgegriffen werden.

Zurück zum Thema: Einsteins Argument »gegen« die Intuition beruht auf einer Anwendung des Begriffs der Operationalisierbarkeit: Der Begriff der Gleichzeitigkeit von Ereignissen mag noch so selbstverständlich erscheinen, ein wissenschaftlicher Gebrauch des Begriffs setzt jedoch voraus, dass eine Messmethode angegeben werden kann, mit der überprüft werden kann, ob zwei Ereignisse gleichzeitig stattfinden.

Die geeignete Methode, die Einstein zugrunde legte, beruht darauf, von beiden Ereignissen her Lichtstrahlen zu einem Punkt in der Mitte zwischen den Ereignissen laufen zu lassen. Wenn diese Lichtstrahlen gleichzeitig ankommen, dann waren die Ereignisse gleichzeitig, vgl. dazu die Abbildung:

Images

Einstein erkannte, dass aus dieser Definition von Gleichzeitigkeit, zusammen mit dem (kontraintuitiven) Postulat, dass die Lichtgeschwindigkeit in allen gleichförmig bewegten Systemen gleich ist, folgt, dass die »Gleichzeitigkeit von Ereignissen relativ zum Beobachter ist. [Hinweis: Gut erklärt wird das im Wikipedia-Eintrag unter »Relativität der Gleichzeitigkeit«, zuletzt gesehen am 10.3.2016.]

Der wissenschaftstheoretisch interessante Aspekt ist die Frage, worauf sich der Begriff der Gleichzeitigkeit bezieht: Auf eine Messmethode oder auf eine Eigenschaft von Ereignissen. Die Unanschaulichkeit der Relativitätstheorie beruht darauf, dass wir eine intuitive Auffassung von solchen Begriffen wie Gleichzeitigkeit haben, die aber nicht zutrifft. Es scheint selbstverständlich zu sein was es bedeutet, dass ein Ereignis, das hier im Zimmer stattfindet, gleichzeitig zu einem im Nachbarzimmer ist.

In der naiven Auffassung entsprechen Begriffe bestimmten Eigenschaften (von Objekten oder Ereignissen) und der Physiker sucht nach einer Methode, um zu messen, ob diese Eigenschaft verwirklicht ist, ob also z. B. zwei Ereignisse gleichzeitig stattfinden. Einsteins Argument kehrt die Richtung der Fragestellung um: Was Gleichzeitigkeit ist, lässt sich nur in Bezug auf eine bestimmte Messmethode angeben. Die Messmethode definiert den Begriff der Gleichzeitigkeit.

Wenn man diese Voraussetzung akzeptiert, dann verschwinden alle Probleme der Unanschaulichkeit, nicht weil die Theorie anschaulich wird, sondern weil es kein Problem mehr damit gibt, dass die Relativitätstheorie der Intuition dem »gesunden Menschenverstand« widerspricht. Dieser wird als Maßstab für die Bildung von wissenschaftlichen Begriffen gar nicht benötigt.

Zusammengefasst: Es ist nicht so, dass die Bedeutung von wissenschaftlichen Begriffen der Festlegung voraus geht, wie diese zu messen sind. Sondern das Verhältnis ist umgekehrt: Die jeweilige Messmethode definiert erst den jeweiligen Begriff. Daher müssen in Zusammenhang mit wissenschaftlichen Aussagen die Messmethoden, die den verwendeten Begriffen entsprechen, entweder standardisiert sein oder explizit angegeben werden. Sonst sind die Aussagen sinnlos. Erkenntnistheoretisch und ontologisch formuliert: Wissenschaftliche Begriffe beziehen sich nicht auf Eigenschaften von Objekten der Welt, für die Messmethoden konstruiert werden, sondern sie beziehen sich auf die jeweiligen Messmethoden.

Natürlich kannte die Wissenschaft, und insbesondere die Philosophie, immer schon das Problem der Willkür von Definitionen. Es ist wichtig, den Unterschied zwischen Operationalisierung und Definition (im klassischen Sinn) zu verstehen:

•  Definition (im klassischen Verständnis): Die Objekte der Welt haben bestimmte Eigenschaften. Diese werden durch Begriffe bezeichnet. Eine Definition ordnet die Begriffe den Eigenschaften zu.

•  Eine Operationalisierung legt einen wissenschaftlichen Begriff dadurch fest, dass eine Messmethode angegeben wird, mit der festgestellt werden kann, ob dem betrachteten Objekt dieser Begriff zugeordnet werden kann.

Der entscheidende Punkt ist, dass »Operationalisierung« in gewisser Weise davon absieht, »Eigenschaften« der Objekte zu betrachten. Solche Eigenschaften werden nicht vorausgesetzt, und es gibt keinen Anspruch, dass Begriffe diesen entsprechen müssten. Es genügt der Bezug auf eine Messmethode. Das betrachtete Beispiel (Gleichzeitigkeit in der speziellen Relativitätstheorie) und die folgenden Beispiele sollen die Fruchtbarkeit dieses Konzepts zeigen. Zunächst geht es dabei nur um die pragmatische Frage, wie empirische Wissenschaft sinnvoll betrieben werden kann. Erkenntnistheoretische und ontologische Konsequenzen sollen in einem eigenen Abschnitt betrachtet werden.

Images

Dabei muss beachtet werden, dass die »gewöhnliche« Sprache der Wissenschaft das Konzept der Operationalisierung nicht explizit berücksichtigt. In Carnaps Konzept (vgl. oben): Gewöhnlich verwenden wir die inhaltliche Redeweise, die »Objekten« bestimmte »Eigenschaften« zuspricht. Dies ist aber in Carnaps Verständnis nur eine abkürzende Form für die formale Redeweise. Wenn es durch die fälschlich suggerierte Ontologie dieser Redeweise zu Problemen kommt, dann muss auf die formale Redeweise zurückgegriffen werden. Dieses Konzept von Carnap ist die philosophische Entsprechung zum Verhältnis zwischen Operationalisierung und der gewöhnlichen Wissenschaftssprache.

Beispiel: Intelligenz

Die Forderung, dass wissenschaftliche Begriffe operationalisierbar sein müssen, bzw. dass sie ihren Sinn nur in Bezug auf eine bestimmte Operationalisierung haben, wurde anhand eines Beispiels aus der Physik, also der empirisch härtesten Naturwissenschaft eingeführt. Sie ist aber umso wichtiger, je weniger »hart« empirische Wissenschaften sind.

Ein Beispiel aus dem Gebiet der Psychologie: »Studenten der Philosophie sind intelligenter als Studenten der Archäologie.« [Vgl.: Goller 1995, 24] Über diese Behauptung kann man sicher streiten. Lässt sich die Frage wissenschaftlich entscheiden? Dazu muss zuerst eine Methode festgelegt werden, wie Intelligenz gemessen werden kann, also ein Intelligenztest.

Es ist heute schon Allgemeinwissen, dass es viele verschiedene Intelligenztests gibt, die bei Vergleichen auch zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, bis hin zu modernen Begriffen wie »emotionale Intelligenz«. Eine operationalistische Position sagt nun, dass die zitierte Aussage gar keine wissenschaftlich sinnvolle Bedeutung hat, außer in Bezug auf eine bestimmte Messmethode für Intelligenz. Wenn sie als wissenschaftliche Aussage formuliert wird, dann muss sie also eigentlich viel umständlicher aussehen, z. B.: »Wenn die Intelligenz von Philosophiestudenten mit dem Intelligenztest XY (der durch bestimmte Messverfahren charakterisiert ist) gemessen wird, dann ergibt sich im Durchschnitt ein höherer Wert als bei Archäologiestudenten.«

Aber selbst diese Redeweise suggeriert noch, es gäbe eine Eigenschaft »Intelligenz«, die durch einen bestimmten Test gemessen werden kann. Streng genommen verzichtet man einfach darauf, den Begriff Intelligenz überhaupt einer vorgegebenen Eigenschaft zuzuordnen, die Menschen in mehr oder weniger großem Ausmaß haben, sondern die Messmethode definiert den Begriff. Damit ist natürlich die Möglichkeit offen, dass bei einer anderen Messmethode für Intelligenz das Ergebnis anders ausgeht. Dieser Widerspruch ist nicht inhaltlich (sonst gäbe es Probleme mit der Logik), sondern er besteht nur auf der formalen Ebene, indem Begriffe verschieden definiert werden.

Bei Philosophiestudenten und Archäologiestudenten ist die Aussage noch harmlos. Wenn aber behauptet wird (und das ist nicht konstruiert), es sei wissenschaftlich erwiesen, dass Menschen mit schwarzer Hautfarbe im Schnitt weniger intelligent seien als die mit weißer Hautfarbe, dann lässt sich die Brisanz des Konzepts der Operationalisierbarkeit erkennen.

Beispiel: Wohlstand

Nochmal ein interessanteres und ziemlich brisantes Beispiel: »Eine Wirtschaftspolitik der Deregularisierung führt zu mehr Wohlstand.« Eine konsequente Anwendung des Anspruchs der Operationalisierbarkeit führt zur Frage, was denn Wohlstand sei. Ist das Durchschnittseinkommen der Bevölkerung eines jeweiligen Landes der richtige Indikator, oder die Lebenserwartung oder die Einkommensverteilung oder der kulturelle Standard oder was sonst? Es sollte inzwischen deutlich sein, dass die Aussage gar keine Bedeutung hat, außer in Bezug auf einen bestimmten Wohlstandindikator (der natürlich komplex sein kann, und mehrere der angeführten Kriterien berücksichtigen kann).