Höller, Hans; Larcati, Arturo Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag

PIPER

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ISBN 978-3-492-97467-7

Oktober 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

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sie stand mit stummen Göttern gut und hatte ein phänomenales Gedächtnis ganz aus Flimmerhaar

für verlorene Zeit und eine verlorene Erde

Die Geschlagene

Vorwort

›Zufällig‹ wird Ingeborg Bachmann Anfang Jänner 1964 in Berlin von einem ihr noch kaum bekannten jungen Mann zu einer Reise nach Prag eingeladen. Sie sagt zu, und auf dieser Reise beginnt sie das Gedicht zu schreiben, das »Böhmen liegt am Meer« heißen wird.

Die Geschichte der Entstehung dieses Gedichtes zeigt, was für sie Leben und Schreiben bedeuteten. Sie musste damals beginnen, wieder ins Leben und zum Schreiben zurückzufinden. Nach dem beinah tödlichen physischen und psychischen Zusammenbruch in Zürich Ende 1962 erhielt das Gedichteschreiben einen lebensgeschichtlichen Augenblick lang eine neue Notwendigkeit. Wenn man es genau nimmt, dauerte dieser Augenblick bis 1973, von den ersten schnell hingeworfenen Gedichtentwürfen aus der Zeit der Klinikaufenthalte Ende 1962, Anfang 1963 bis zu dem begeisterten Gespräch über »Böhmen liegt am Meer« im großen Interview mit Gerda Haller, aufgenommen für ein Filmporträt im Juni 1973, wenige Monate vor ihrem Tod. Für diese Aufnahmen hat sie auch das Gedicht noch einmal vorgelesen.

In unseren Recherchen haben wir entdeckt, dass »Böhmen liegt am Meer«, von der Autorin als einzigartiger Glücksfall bezeichnet,[1] nicht allein dasteht, sondern dass es zu einem bis jetzt unentdeckt gebliebenen Gedichtzyklus von ihrer Winterreise nach Prag gehört. Dieser beginnt, in der Chronologie der Reise, mit »Auf der Reise nach Prag«, aus dem zwei Jahre später »Enigma« hervorgeht. Das siebte, abschließende Gedicht heißt »Heimkehr über Prag«. Der Titel des Eingangsgedichts spielt auf Eduard Mörikes Künstlernovelle Mozart auf der Reise nach Prag an, so dass Bachmanns Reiseroute auch durch den »Zauberatlas« führt, »den nur die Literatur sichtbar macht«. Und so gibt es das Illyrien Shakespeares, das wir in »Böhmen liegt am Meer« wiederfinden, »aber Shakespeares Illyrien deckt sich nicht damit«,[2] und so gibt es »Böhmen« und »Prag« in den Gedichten des Winterreise-Zyklus, deren Namen man zwar auf den geografischen Landkarten finden kann, aber für die Dichterin gehörten sie zum »Haus Österreich«, das ihr das liebste Wort für ihr Herkunftsland war. Sie hat es von allem befreit, was einmal territoriale Herrschaft, Besitz und Machtpolitik war, und verwendete es für eine erträumte Welt, für das in Literatur verwandelte »Geisterreich« der Habsburgermonarchie, in welchem bei ihr die Länder, die Völker und ihre Sprachen und Träume aneinandergrenzen.

1. Kapitel

Die sieben Gedichte des ›Winterreise-Zyklus‹

Enigma

 für Hans Werner Henze aus der Zeit der ARIOSI

 

Nichts mehr wird kommen.

 

Frühling wird nicht mehr werden.

Tausendjährige Kalender sagen es jedem voraus.

 

Aber auch Sommer und weiterhin, was so gute Namen

wie »sommerlich« hat –

 

es wird nichts mehr kommen.

 

Du sollst ja nicht weinen,

sagt eine Musik.

 

Sonst

sagt

niemand

etwas.

 

Einige Entstehungsvarianten von »Enigma« tragen den Titel »Auf der Reise nach Prag«, auf einem Blatt hat Bachmann einmal beide Titel nebeneinandergestellt, den früheren rechts in Klammern wie eine Datierung: »Enigma (auf der Reise nach Prag)«. Am unteren Blattrand dieses Typoskripts (Bl. 442, K. 1171, vgl. Letzte Gedichte, S. 147) steht maschinschriftlich die – von uns emendiert wiedergegebene – Anmerkung: »Dieses Gedicht ist eine Collage / es bezieht sich auf die Peter Altenberglieder von Alban Berg / und auf die 2. Symphonie von Mahler, / also eines Textes, den Altenberg auf eine Postkarte geschrieben / hat, und einen Kinderchor in der 2. Symphonie von Gustav Mahler.«

Ingeborg Bachmann las das Gedicht mit dem Titel »Auf der Reise nach Prag« am 9. Jänner 1966 auf der 5. Matinee der Reihe »Autoren lesen aus eigenen Werken« im Züricher Theater am Hechtplatz. Unter dem Titel »Enigma« erschien es in der Nummer 15 (November 1968, S. 93) der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Zeitschrift Kursbuch. In dieser Druckfassung ist die Widmung für Hans Werner Henze enthalten. Unser Abdruck des Gedichts folgt Bl. 143, K. 1181, Letzte Gedichte, S. 155.

Prag Jänner 64

 

Seit jener Nacht

gehe und spreche ich wieder,

böhmisch klingt es,

als wär ich wieder zuhause,

 

wo zwischen der Moldau, der Donau

und meinem Kindheitsfluß

alles einen Begriff von mir hat.

 

Gehen, schrittweis ist es wiedergekommen,

Sehen, angeblickt, habe ich wieder erlernt.

 

Gebückt noch, blinzelnd,

hing ich am Fenster,

sah die Schattenjahre,

in denen kein Stern

mir in den Mund hing,

sich über den Hügel entfernen.

 

Über den Hradschin

haben um sechs Uhr morgens

die Schneeschaufler aus der Tatra

mit ihren rissigen Pranken

die Scherben dieser Eisdecke gekehrt.

 

Unter den berstenden Blöcken

meines, auch meines Flusses

kam das befreite Wasser hervor.

 

Zu hören bis zum Ural.

 

»Prag Jänner 64«, ebenfalls im Novemberheft 1968 (Nr. 15) der Zeitschrift Kursbuch erschienen, zeigt in der Grundschicht der ersten Entwurfsfassung den – handschriftlich durchgestrichenen – Titel »Auferstehung« (Bl. 312, K. 1184). Auf der Matinee des Theaters am Hechtplatz vom 9. Jänner 1966 hat die Autorin zum ersten Mal eine Fassung des Gedichts (mit dem Incipit »Seit dieser Nacht« als Titel) vorgelesen. Bei diesem in Zürich gelesenen Text lautet die dritte Strophe: »Gehen und Sehen habe ich wieder gelernt. / Die Krücken sind seitlings gefallen.«

Das nur in der Kursbuch-Edition nachweisbare Wort »riesigen Pranken« statt »rissigen Pranken« dürfte ein Druckfehler sein. Der Abdruck folgt Bl. 418a, K. 1193.

 

Böhmen liegt am Meer

 

Sind hierorts Häuser grün, tret ich noch in ein Haus.

Sind hier die Brücken heil, geh ich auf gutem Grund.

Ist Liebesmüh in alle Zeit verloren, verlier ich sie hier gern.

 

Bin ich’s nicht, ist es einer, der ist so gut wie ich.

 

Grenzt hier ein Wort an mich, so lass ichs grenzen.

Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder.

Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land.

 

Bin ich’s, so ists ein jeder, der ist soviel wie ich.

Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehn.

 

Zugrund – das heisst zum Meer, dort find ich Böhmen wieder.

Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf.

Von Grund auf weiss ich jetzt, und ich bin unverloren.

 

Kommt her, ihr Böhmen alle, Seefahrer, Hafenhuren und Schiffe

unverankert. Wollt ihr nicht böhmisch sein, Illyrer, Veroneser

und Venezianer alle. Spielt die Komödien, die lachen machen

 

Und die zum Weinen sind. Und irrt euch hundertmal,

wie ich mich irrte und Proben nie bestand,

doch hab ich sie bestanden, ein um das andre Mal.

 

Wie Böhmen sie bestand und eines schönen Tags

ans Meer begnadigt wurde und jetzt am Wasser liegt.

 

Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land,

ich grenz, wie wenig auch, an alles immer mehr,

 

ein Böhme, ein Vagant, der nichts hat, den nichts hält,

begabt nur noch, vom Meer, das strittig ist, Land meiner Wahl zu sehen.

 

Ingeborg Bachmann hat »Böhmen liegt am Meer« zum ersten Mal am 10. Mai 1965 im Wiener Palais Pálffy auf einer Veranstaltung der Österreichischen Gesellschaft für Literatur vorgetragen. Sie las am Beginn Ein Ort für Zufälle, den Text der Georg-Büchner-Preis-Rede, und dann einige Gedichte. Das letzte, »Böhmen liegt am Meer«, kündigte sie mit der für die Datierung wichtigen Überleitung an: »Vor kurzem habe ich wieder versucht, ein Gedicht zu schreiben, das ich zum ersten Mal lese: ›Böhmen liegt am Meer‹« (vgl. Ellen Marga Schmidt: Ingeborg Bachmann in Ton- und Bildaufzeichnungen, Werke 4, S. 459).

Zum ersten Mal erschienen ist »Böhmen liegt am Meer« im Programmheft des Festival di Spoleto (IX. Festival dei Due Mondi. 24 giugno – 17 luglio 1966, S. 27) und danach im selben Jahr auch in einer Auswahl ihrer Gedichte in der DDR (Ingeborg Bachmann: Gedichte. Eine Auswahl. Mit einem Nachwort von Klaus Schuhmann. Berlin u. Weimar: Aufbau-Verlag 1966, S. 103f.).

Die spätere Publikation in der »legendären« Nummer 15 (1968) des Kursbuchs empfand sie als kränkend, weil ihre Gedichte, unter dem Titel »Ingeborg Bachmann / Vier Gedichte«, mit wenig Platz für die einzelnen Gedichte und mit mehreren falschen Strophengrenzen abgedruckt wurden (aber »Böhmen liegt am Meer« ist dort fehlerlos wiedergegeben).

Der Abdruck folgt Bl. 278, K. 1206, Letzte Gedichte, S. 117. Vgl. dort (S. 116) auch die Darstellung der in einer handschriftlichen Korrektureintragung von der Autorin gewünschten – eigenwilligen, nicht systematischen – Setzung der Apostrophe (so dass in derselben Gedichtfassung »ichs« und »ich’s« zu stehen kommen).

Wenzelsplatz

 

Nicht viel zu sehn, Eisfährten, Schneehaufen

rauchend vor Kälte die Münder, hinauf und

hinunter wie Fischzüge vonhause nachhause

miteinander und in der Quere Menschen. Nicht viel zu verstehn.

 

Es raucht nur, wölkt sich, vor sich hin denkt

sich ein jeder, denkt sich nichts. Wozu auch

und warum hier.

 

Der Platz, von dem ich aber nachhause finde, heisst auch so,

ist ein und derselbe. Ich habe meinen kleinen Rauch

vor dem Mund und biege ein und komme lebendig an

in eine Gasse, die weit unten in meiner Vergangenheit endet

und in der meine Herkunft ist.

 

»Wenzelsplatz« nimmt die obere Blatthälfte eines Typoskripts (Bl. 371, K. 7716) ein, auf dem darunter das Gedicht »Jüdischer Friedhof« steht (Letzte Gedichte, S. 23).

»Eisfährten, Schneehaufen« steht als vertikale Sofortkorrektur über »der Schnee, eine Havarie«, und über das Wort »sprachlos« ist »rauchend« geschrieben, vielleicht, um die Anspielung auf den berühmten Vers in Friedrich Hölderlins »Hälfte des Lebens« – »Die Mauern stehn / Sprachlos und kalt« – zu vermeiden (vgl. Letzte Gedichte, S. 39).

In der letzten Zeile wird auf der horizontalen Ebene der Satzschluss »mein Leben ist« dem Korrekturmodus der Autorin gemäß durch das danebengestellte »in der meine Herkunft ist« ersetzt.

Das Motiv einer ungetrennten, selbstvergessenen Existenz weist im Werk Ingeborg Bachmanns eine große Beständigkeit auf: »Wir liegen umschlungen am Grund, / die Wasser decken uns zu, / wir sind ein einziger Mund / und atmen Vergessen und Ruh« heißt es im ersten Hörspiel »Ein Geschäft mit Träumen«, 1952 (Werke 1, S. 212); im Wüstenbuch wird das »mystische Zusammengehen von Einatmen, Ausatmen, Gehen und Ruhen, [. . .] das Halleluja des Überlebens im Nichts« beschworen (TA 1, S. 283). In »Wenzelsplatz« versprechen solche Bilder die Heimkehr in ein Zuhause, das vor den Trennungen der Ich-Werdung liegt, in ihnen klingt Bachmanns philosophische Überzeugung an, dass Leben etwas Selbstverständliches sein müsste, das keiner Begründung und keiner Rechtfertigung bedarf: »Immerzu müssen wir uns und alles, was wir tun, wünschen, denken, begründen; das Leben, wie wir es seit Jahrtausenden leben, ist nichts Selbstverständliches [...]« (»<Auf das Opfer darf keiner sich berufen>«, Kritische Schriften, S. 351).

Jüdischer Friedhof

 

Steinwald, keine vorzüglichen Gräber, nichts zum Hinknien

und für die Blumen nichts. So eng ist dort ein Stein, wie den

andren um den Hals fallend, keiner ohne den andern zu denken,

und für die Lebendigen einen Spaltbreit Durchlaß gewährend,

trauerlos. Wer den Ausgang erreicht, hat nicht den Tod,

sondern den Tag im Herzen.

 

 

von dem ich] von ich

 

»Jüdischer Friedhof«, zum ersten Mal in Letzte Gedichte (S. 23) aus dem Nachlass ediert, ist auf der unteren Hälfte der Typoskriptseite (Bl. 371, K. 7716) überliefert, auf der sich auch »Wenzelsplatz« befindet. Ein Indiz, dass es sich bei diesen Gedichten nicht um erste Entwurfsfassungen handelt, sondern um maschinenschriftliche Transkriptionen handschriftlicher Entwürfe. In den sechs Versen werden zentrale utopische Motive des Zyklus der Pragreise angesprochen. Das Sprachbild »für die Lebendigen einen Spaltbreit Durchlass gewährend« enthält die Vorstellung der Übergängigkeit zwischen den Toten und den Lebenden, wie man sie auch in Bachmanns »Was ich in Rom sah und hörte« findet bei der Beschreibung der »Tiberina«, der »Insel der Kranken und Toten seit alter Zeit«, die »von uns anderen mitbewohnt werden will, mitbefahren« (Werke 4, S. 29). Mit dem Wort »keine vorzüglichen Gräber« klingt die soziale Komponente der ›Böhmen-Gedichte‹ an: Auf jüdischen Friedhöfen wurden »die Toten nebeneinander in der Folge ihres Ablebens beerdigt«, so dass der Besitz und die Hierarchie aufgehoben sind (zit. n. Herbert Liedel, Helmut Dollhopf: Haus des Lebens. Jüdische Friedhöfe, Letzte Gedichte, S. 41). Die eng nebeneinandergesetzten Grabsteine werden im Gedicht ebenfalls zum Bild eines liebevollen Miteinanders: »ein Stein, wie den / andren um den Hals fallend, keiner ohne den andern zu denken«.

Auf der Rückseite des Blatts (Bl. 371a, Letzte Gedichte, S. 23) hat die Autorin handschriftlich »Liste der schlechten Orte« notiert. Berlin, von wo aus Ingeborg Bachmann nach Prag reiste, war damals für sie ein solcher ›schlechter Ort‹, so dass in der Konstellation von Berlin und Prag die tödlichen und die lebendig machenden »Zufälle«, von denen sie 1964 in der Einleitung zur Georg-Büchner-Preis-Lesung spricht, einander gegenüberstehen.

Poliklinik Prag

 

Da ist alles umsonst. Kostet nichts mehr.

Nur die krank sind. Kein Reichenhaus, kein Armenhaus,

nur ein Krankenhaus für die Kranken, kostet nichts,

alles umsonst, kein Vortritt und keine Privilegien,

da sind alle krank und klopfen an wie ans Paradies

und taumeln wie vorm Paradies und atmen kaum

 

 

vorzüglichen] vorzüglciehn / Hinknien] Hinnien / Spaltbreit]

Sapltbreit / trauerlos. Wer] trauerlos, Wer

 

»Poliklinik Prag«, Typoskript Bl. 134, K. 7672, Erstveröffentlichung in: Letzte Gedichte, S. 25. Ähnlich wie in »Jüdischer Friedhof« verlieren auch in diesem Gedicht Krankheit und Tod ihre Schwerkraft (»und taumeln wie vorm Paradies und atmen kaum«), und die Vereinzelung ist aufgehoben in der Gemeinschaft ›aller Kranken‹.

Das Wort »umsonst« im ersten Satz ist mehrdeutig. Es stellt eine Verbindung zur ›Böhmischen Utopie‹ her, eine Welt, in der das Geld und die Bevorrechtung nicht mehr gelten; das Wort lässt aber auch an den unheilbaren Zustand des kranken Ich und den der wartenden Kranken denken, und zugleich klingt in »umsonst« das Wissen um die verlorenen Hoffnungen im realen Sozialismus an. Einem Brief an Hans Werner Henze, Sommer 1965, ist zu entnehmen, dass Sozialismus und Kommunismus zu Ingeborg Bachmanns »Prinzip Hoffnung« gehörten, einer zweifelnden und verzweifelten Hoffnung. In der Kippfigur des »umsonst« in »Poliklinik Prag« ist der Gedanke der Vergeblichkeit enthalten, und doch ist die Autorin nicht abzubringen von einer Hoffnung, die vom Realitätsprinzip nicht außer Kraft gesetzt werden kann. Sie könne »nur hoffen (hoffen, wie man hofft, wenn man weiss, verloren, verloren, für immer verloren), dass im Lauf der Zeit das Gesicht der einzigen Revolution dieser Zeit die menschlichen Züge annehmen wird, die nie ein System annehmen wird« (Brief an Hans Werner Henze, Montignysur-Loing, 29.?/30. August 1965. (Ingeborg Bachmann, Hans Werner Henze: Briefe einer Freundschaft. Hg. v. Hans Höller. Mit einem Vorwort von Hans Werner Henze. München u. Zürich: Piper 2004, S. 267).

Heimkehr über Prag

 

Auf einem Umweg; es kehrt heim

es spricht wieder

die Friedhöfe im Winter

die Umkehr, erste Heimstätten

unter den Sternen, was

so schrecklich ist, die lapidaren

Inschriften der Alten zersprungen

die Namen, die Gräber

die Moldau, die längste

Nacht, die ist nicht zu

Ende,

 

Die Moldau, die gehört

mir nun, mit Kronen hab

ich sie bezahlt und hab

sie weiterfließen lassen.

 

 

sind. Kein] sind, Kein

 

»Heimkehr über Prag« ist zum ersten und einzigen Mal in Ich weiß keine bessere Welt ediert (S. 160f., dort auch als Faksimile abgebildet). In unserer Transkription des schwer lesbaren handschriftlichen Gedichtentwurfs werden folgende andere Lesarten gewählt: Heimstätten] Heimstätte; zersprungen] zusprangen; / mir nun] nun mir. Der handschriftliche Entwurf (Bl. 453) ist von der Autorin in dieser sprachlich brüchigen, auch in der Interpunktion unzureichenden Form belassen und nicht mehr weiter bearbeitet worden.

Das Gedicht bildet den selbstbewussten Schluss des Reisezyklus: Das Ich hat die Reise nach Prag wie eine Verheißung erfahren und mit seinen »Kronen« der Moldau das freie Weiterfließen erkauft. Der Satz von der längsten Nacht, die nicht zu Ende ist, korrespondiert mit der messianischen Wendung »Seit jener Nacht« in »Prag Jänner 64«.

In dem sich zerfahren ausnehmenden Gedichtentwurf ist ein Gewebe von Motiven zu erkennen, das ihn mit den anderen ›Böhmischen Gedichten‹ und anderen Werken aus dieser Zeit in Beziehung setzt: der thematische Wechsel von »es« und »ich« (vgl. das unpersönliche »es« im Prosatext Ein Ort für Zufälle, 1964); das Motiv des Flusses und des freien Fließens oder die Semantik der Verheißung im Sprachbild der »Sterne« und der »Kronen«. Der ganze Reisezyklus ist getragen von der Sehnsucht nach Heimkehr in ein geträumtes Österreich, der das Schlussgedicht des ›Winterreise-Zyklus‹ eine konkrete lebensgeschichtliche Perspektive verleiht. Ingeborg Bachmann hat mehrmals betont, dass die Reise in eine Stadt des alten Österreich für sie eine Heimkehr nach Wien bedeutete, einen »Umweg«, der sie in ihr Herkunftsland zurückführte. De facto kehrte sie aber aus Prag nach Berlin zurück, wo sie sich bis Herbst 1965 aufhielt.

Die Überlieferung der Gedichte

Die hier abgedruckten sieben Gedichte sind in der rekonstruierbaren Abfolge der Stationen der Pragreise wiedergegeben.

Die kurzen Anmerkungen zu den abgedruckten Gedichten auf der jeweils linken Seite nennen die Erstveröffentlichung. Nur drei – »Enigma«, »Prag Jänner 64« und »Böhmen liegt am Meer« – sind zu Lebzeiten der Autorin veröffentlicht worden. Die vier anderen – »Wenzelsplatz«, »Poliklinik Prag«, »Jüdischer Friedhof« und »Heimkehr über Prag« – sind erst mehr als dreißig Jahre nach dem Tod Ingeborg Bachmanns in verschiedenen Editionen erschienen. Von diesen vier Gedichten ist nur jeweils eine Fassung überliefert. Auch wenn die Sofortkorrekturen stehengeblieben sind und keine Reinschrift-Typoskripte vorliegen, kann man sie nicht als Fragmente bezeichnen, denn die Transkriptionen der Textschicht letzter Hand zeigen abgeschlossen wirkende Gedichte. Wahrscheinlich handelt es sich um maschinenschriftliche Übertragungen von nicht überlieferten handschriftlichen Entwürfen. Nur bei »Heimkehr über Prag«, dem Schlussgedicht in der Chronologie des Reisezyklus, ist es beim handschriftlichen Entwurf geblieben.

Die vier kleineren Gedichte unterscheiden sich von den anderen nicht nur durch den Status der Ausarbeitung und nicht nur, weil sie keine komplexen Textgenesen aufzuweisen haben, sondern weil in ihnen nichts von der dramatischen Dynamik zu erkennen ist, mit der sich in »Enigma«, »Prag Jänner 64« und in »Böhmen liegt am Meer« ein Ich aus der Erstarrung befreit, aufsteht, neu zu sehen und zu hören beginnt und jene messianische Erfahrung ausspricht, die in den Eingangsversen von »Prag Jänner 64« zum Ausdruck kommt: »Seit jener Nacht / gehe und spreche ich wieder, / böhmisch klingt es, / als wär ich wieder zuhause«.

»Wenzelsplatz«, »Poliklinik Prag« und »Jüdischer Friedhof« hingegen sind Darstellungen kleiner, Schutz gewährender urbaner Räume, die an das utopische »Ungargassenland« im Roman Malina erinnern oder an das »Galicien« in Das Buch Franza, wohin sich das Ich vor den Kränkungen der Welt rettet.[3] Manchmal erscheint die Rettung in diesen nicht mehr weiter bearbeiteten Gedichten auch ein wenig zu leicht erschrieben, zu glatt, wie die Schlussverse in »Jüdischer Friedhof«: »Wer den Ausgang erreicht, hat nicht den Tod, / sondern den Tag im Herzen.«

Der ›Winterreise-Zyklus‹

Liest man die Gedichte in der hier präsentierten Anordnung, muss es merkwürdig erscheinen, dass der Reise-Zyklus, den die sieben Gedichte bilden, nirgends erwähnt wird und sich auch im Nachlass kein Verweis darauf gefunden hat. Die Autorin hatte doch sonst einen kompositorischen Sinn für zyklische Zusammenhänge und die darin liegenden Möglichkeiten szenisch-dramatischen Erzählens in der Lyrik, man denke nur an die »Lieder von einer Insel«, an die »Lieder auf der Flucht« oder an den biografischen Zyklus »Von einem Land, einem Fluß und den Seen«.[4] Als die Pragreise-Gedichte entstanden, schrieb sie an den »Todesarten«-Romanen, bei denen ihr ebenfalls ein Zyklus vor Augen stand.

Ein Grund für das Fehlen eines expliziten Hinweises auf diesen letzten Gedichtzyklus könnte darin liegen, dass die Autorin nach ihrer Hinwendung zum Prosaschreiben nicht mehr auf die Rolle der Lyrikerin festgelegt werden wollte und sich deshalb dezidiert von der Phase des Gedichteschreibens abgrenzte. Ihrem Hang zu Mystifikationen folgend, hat sie sogar gegen die Evidenz des Faktischen betont, dass sie in den letzten Jahren überhaupt nur mehr ein Gedicht geschrieben habe, »Böhmen liegt am Meer«, und selbst dieses Gedicht wollte sie als »Geschenk« sehen, als sei es ihr ›zufällig‹ zugefallen. So wird sich wohl auch der Zyklus wie von selbst ergeben haben, ›zufällig‹, und vielleicht ist es ihr auch rätselhaft vorgekommen, dass ihr nicht nur das eine ›Böhmische Gedicht‹ geschenkt wurde, sondern ein ganzer Zyklus – ›sieben Böhmische Gedichte‹!

Aber es geht weniger um die Feststellung, dass es diesen Zyklus gibt, als darum, wie sich unsere Lektüre verändert, wenn man die Gedichte als Teile eines Zyklus liest und die chronologische Abfolge der Reise mitdenkt. Sie gewinnen im Zusammenhang neue Perspektiven, weil die motivische Arbeit und die thematischen Linien besser sichtbar werden. Dann ist es auch nicht mehr so wichtig, dass in der Entstehungsgeschichte von »Enigma« der Titel »Auf der Reise nach Prag« fallen gelassen wird, weil das Gedicht aus einer inneren ›Logik‹ heraus seinen Platz am Beginn des Reise-Zyklus einnimmt. Man sieht, dass die extreme antiutopische Negativität des »Nichts mehr wird kommen« im Eingangsgedicht, Bachmanns Dialektik einer »via negativa« folgend, im nächsten Gedicht umschlägt in Rettung.[5] Dass die Autorin auch sonst zu dieser theologischen Denkfigur einer Rettung im Ausnahmezustand tendierte, zeigt nicht nur ihr Radiofeature zu Simone Weil, sondern ihr literarisches Werk insgesamt. In »Nach dieser Sintflut« (1957) möchte das Ich »die Taube, / und nichts als die Taube, / noch einmal gerettet sehn. // Ich ginge ja unter in diesem Meer! / flög’ sie nicht aus, / brächte sie nicht / in letzter Stunde das Blatt.«[6] Das zweite Gedicht von der Ankunft in Prag trug ja zunächst den messianischen Titel »Auferstehung«. Es setzt ein mit dem Datum jener Nacht, seit der das Ich wieder geht und spricht und die »Schattenjahre« hinter sich lässt (»Prag Jänner 64«).

Als drittes Gedicht folgt »Böhmen liegt am Meer«: Das Ich betritt zögernd die Stadt und setzt die utopische Fantasie wieder in ihre Rechte. In diesem Gedicht führen die Wörter und deren Verbindungen untereinander selbst das verheißene Aneinandergrenzen vor.

Dann folgen die vier kleineren Gedichte mit der Erfahrung von urbanen Orten und Räumen, die dem Ich Zuflucht und Schutz gewähren: »Wenzelsplatz«, »Jüdischer Friedhof« und »Poliklinik Prag«. Den Abschluss bildet »Heimkehr über Prag«, das einzelne Reiseeindrücke rekapituliert und die thematische Linie der Verwandlung von Schnee und Eis in das fließende Wasser der Moldau abschließend noch einmal aufgreift.

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