Cover

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

Die E-Books des Reclam Verlags verwenden entsprechend der jeweiligen Buchausgabe Sperrungen zur Hervorhebung von Textpassagen. Diese Textauszeichnung wird nicht von allen Readern unterstützt.

Enthält das E-Book in eckigen Klammern beigefügte Seitenzählungen, so verweisen diese auf die Printausgabe des Werkes.

Der kleine Junge und die alte Burg

Die große Burg, die über dem endlosen Wald aufragt, faszinierte den kleinen Jungen. Kleine Jungen lieben Burgen. Hier sind sie Ritter; hier werden Heldengeschichten erträumt, durchlebt, ertrotzt. Auf Burgen sind die Jungen sicher, denn nicht nur die Erwachsenen, auch die dicken Mauern und die Kanonen schützen sie.

In der Erinnerung des kleinen Jungen von einst ist dieser Burgbesuch die früheste Begegnung mit alter, ferner Geschichte gewesen. Nicht jener Geschichte, die vor allem die alten Tanten und die Großeltern wiederholten und nicht loswurden – diese Opfergeschichten von Flucht und Vertreibung, vom Verlust der Jugend und der Unschuld, diese Tätergeschichten voller Wut und Selbstmitleid über das, was nicht getan worden war und was nicht ungeschehen gemacht werden konnte.

Die alte Burg war fern von alledem; entrückt in einem Traumwald, scheinbar weit weg vom wirklichen Deutschland, dem guten und dem bösen, dem geteilten Land der Opfer und der Täter – und doch mittendrin im fremden Teil Deutschlands, wo es so anders roch, so anders schmeckte, anders klang und doch vertraut. Die Sprache war die des Vaters, die der Erfurter Oma, die so viel gelesen hatte, die meistens Bücher schenkte, die einen tollen Garten besaß, die so viel erzählte, so viel erlebt, auch erlitten hatte, die nie klagte. Die Oma war mit auf der Burg und ist im Erinnerungsbild noch immer da.

Durch einen Burgführer, den die Oma zu Weihnachten in den Westen schickte, weiß ich, dass dieser erste Besuch auf der Wartburg in den Juli 1967 fiel; damals war ich fünf. Mich faszinierten die Geschichten, die ich damals hörte: von dem geflohenen Mönch mit dem Bart, der sich Junker Jörg nannte; vom Teufel, der in die Nussschale fuhr, als schwarzer Hund erschien und aus dem hohen Fenster sprang; vom Wurf mit dem Tintenfass. Der Lutherheld im Märchendunkel, tapfer wie das Schneiderlein, lauter wie das Rotkäppchen; einer, der sich gegen die Übermächtigen zur Wehr zu setzen verstand, der sich nicht abbringen ließ von dem, was er für richtig hielt. Einer mit aufrechtem Gang – kann man brauchen in Deutschland.

Als ich zuletzt auf der Wartburg war – im September 2015 –, war wieder Märchenzeit, nur anders. Das Staatsoberhaupt unseres wiedervereinigten Landes bat den Historiker, ihm und elf seiner europäischen Kollegen zu erläutern, was die Reformation denn sei und was sie mit Europa zu tun habe. Der Burgschauder war wieder da, jetzt als Lampenfieber.

Auf der alten Burg habe ich den kleinen Jungen wiedergetroffen. In den Jahrzehnten, die uns trennen und verbinden, war ich immer wieder im 16. Jahrhundert unterwegs – dem Zeitalter, das man die »Reformation« nennt. Viele Details, die mich als kleinen Jungen noch nicht interessiert hätten, habe ich in dieser Zeit erforscht. Manches davon findet sich in diesem Buch wieder.

Reformation – einige Vorklärungen

Der Begriff »Reformation« stammt aus dem Lateinischen; reformatio bedeutet so viel wie »Umgestaltung«, »Verbesserung«, »Erneuerung«, auch: »Wiederherstellung«. Im Kern geht es also darum, den Zustand einer Sache in dem Sinne und dahingehend zu verändern, dass man Mängel, die man erkannt hat, beseitigt. Eine reformatio kann sich auf sehr unterschiedliche Dinge beziehen; entscheidend ist, dass es sich um etwas handelt, das bereits ›geformt‹ war, also eine bestimmte Gestalt, lateinisch: forma, aufwies, ehe es ›deformiert‹ wurde. Etwas Ungeformtes, Wildes – unberührte Natur, ungestaltete Materie – müsste ›formiert‹ werden, ehe man sie ›reformieren‹ könnte.

In der Vorsilbe »re-« deutet sich der rückwartsgewandte Charakter der reformatio an; in unserer Gegenwart ist dies erklärungsbedürftig, da sich beinahe jede Veränderung, etwa im Bereich der Sozialgesetzgebung oder der Bildungs- und Wissenschaftspolitik, als ›Reform‹ präsentiert, ohne dass jeweils ein Rückbezug zu einer älteren ›Urgestalt‹ gegeben wäre. Das hängt offenbar damit zusammen, dass alles, was nach ›Reform‹ klingt, bis heute im Ganzen eher positiv besetzt ist und eingängiger wirkt, als wenn man einfach von einer Gesetzesänderung spräche. Wer »Reform« oder »Reformation« sagt, scheint eine zukunftsfähige Veränderung anzustreben, also etwas zu tun, das der ›reformierten‹ Sache eine Perspektive verleiht.

Früher war es selbstverständlich, dass sich – entsprechend der Vorsilbe »re-« – eine reformatio darauf bezog und daran zu messen hatte, wie etwas ursprünglich gewesen war. Dem Begriff wohnte die Vorstellung inne, dass die ›bessere‹ und ›zukunftsgemäßere‹ Gestalt einer Sache immer die früheste gewesen sei. In dem sentimentalen Spruch mancher Senioren »Früher war vieles besser« schwingt noch eine ferne Erinnerung an diese Mentalität nach. Historisch gesehen ist sie erst seit der Epoche der Aufklärung, so um die Mitte des 18. Jahrhunderts herum, aus der Mode gekommen. Erst damals fing man nämlich in der Breite der Gesellschaft an, nicht mehr die vergangene Zeit vor allem des Altertums, also die Antike, für groß und maßstabsetzend zu halten, sondern sich selbst, der eigenen Gegenwart und der hier und heute gestalteten Zukunft mehr zuzutrauen als der Vergangenheit.

In der Geschichte des späten Mittelalters und der frühen Frühneuzeit, also im 15. und 16. Jahrhundert, war die Vorstellung noch selbstverständlich, dass die Alten es besser gemacht hätten, als man selbst es je könnte. Wenn man einen Mangel beseitigen und etwas optimieren wollte, konnte das also nur bedeuten, dass man sich daran orientierte, wie etwas früher einmal gewesen war. Reformatio hieß die Wiederherstellung eines als grundsätzlich besser oder gar ideal vorgestellten ursprünglichen Zustandes. Wer in diesem Sinne auf ›Reformation‹ drängte, hatte das Legitimitätsproblem, das mit Veränderungen in der Regel verbunden ist, immer schon gelöst. Wer alles lässt, wie es ist, muss sich in der Regel nicht rechtfertigen. Wenn man die ursprüngliche Gestalt einer Sache wieder zum Leben erwecken will, braucht man das auch nicht aufwendig zu begründen. Ob und inwiefern freilich das, was ein ›Reformator‹ als die ursprüngliche und alte ›Form‹ ausgibt, tatsächlich alt und ursprünglich ist oder nicht doch eher dem entspricht, was er dafür hält, wird man im Einzelfall zu entscheiden haben.

Im 15. Jahrhundert nahm der Ruf nach einer umfassenden Reformation und das Ringen darum deutlich zu. Das hatte eine Reihe unterschiedlicher Gründe; einige davon hingen mit dem Zustand der Kirche zusammen. »Die Kirche«: das war nicht wie heute eine Institution, mit der man gelegentlich etwas zu tun hat – wenn man es denn will. Die Kirche ging alle an; sie war eine allgegenwärtige, lebensbestimmende Wirklichkeit, die die Menschen von der Taufe bis zum Tod begleitete und die das Zusammenleben stärker als jede andere Macht bestimmte. Sie stellte Bildung und Sozialfürsorge sicher; sie entschied über Heil oder Verdammnis. Jeder Mensch, der in Europa lebte, war selbstverständlich und ohne dass es einer eigenen Entscheidung bedurft hätte, Christ – es sei denn, er gehörte der winzigen Minderheit der Juden an, die seit alters am Rande der Gesellschaft der Christen befristet geduldet und allzeit gefährdet lebte.

Zu Beginn des 15. Jahrhunderts war die römische Kirche in einer schwerwiegenden Krise, denn sie war in die Anhängerschaft verschiedener Päpste gespalten. Für die römische Tradition war diese Krise gravierend, da sie auf den Papst in Rom als Oberhaupt und Stellvertreter Christi auf Erden konzentriert war. Ihre Autorität und Organisationsstruktur basierte darauf, dass es ein, nur ein sichtbares, irdisches Haupt, eben den Papst, gab. Auch das Kirchenrecht, das überall in der lateinischen, d. h. in der kulturell von der römischen Tradition geprägten Kirche galt, setzte den einen von Kardinälen gewählten und von Beratern umgebenen Papst an der Spitze voraus. In der Krise der gespaltenen Kirche und ihrer einander bekämpfenden Obödienzen, d. h. der Gefolgschaften der unterschiedlichen Päpste, entstand die Idee, durch eine große Kirchenversammlung, ein Konzil, zu einer Lösung zu gelangen. Diese Idee hatte mit re-formatio zu tun, denn große Konzile, die von Kaisern einberufen wurden, hatte es schon in der Antike, seit den Tagen Konstantins, des ersten christlichen Kaisers im frühen 4. Jahrhundert, gegeben. Zwischen 1414 und 1418 trat in Konstanz ein solches Konzil zusammen, auf dem die gesamte lateineuropäische Kirche durch Bischöfe oder theologische Lehrer vertreten war. Es übernahm die Aufgabe einer »Reformation der Kirche an Haupt und Gliedern«. Fortan stand das Thema Reformation oben an, denn das Konzil legte fest, dass es nun regelmäßig solche großen Kirchenversammlungen geben sollte. Ihre Aufgabe bestand darin, das Papsttum bei der Umsetzung von Reformmaßnahmen zu unterstützen bzw. es zu kontrollieren. Die Reformthemen waren etwa die seelsorgerliche Verantwortung für die Gläubigen, die Vergabe der kirchlichen Stellen, die einheitliche Gestaltung und Verwaltung der sieben Sakramente, die die römische Kirche kannte (Taufe, Beichte, Abendmahl, Priesterweihe, Ehe, Firmung, Letzte Ölung). Im weiteren Verlauf des 15. Jahrhunderts setzte das wiedererstarkende Papsttum aber viele Energien ein, um den Einfluss der Konzilien – den man unter dem Begriff des Konziliarismus zusammenfasst – zurückzudrängen.

Die Idee und der Ruf nach einer Reformation der Kirche blieb freilich präsent. Die Kritik an bestimmten Erscheinungen des Kirchenwesens war um 1500 allgegenwärtig. Warum sammelte die Kirche Geld für Kreuzzüge gegen das Osmanische Reich, das nach der Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 immer bedrohlicher auf Europa übergriff, wenn diese ohnehin niemals stattfanden? Warum investierten hohe Vertreter der Geistlichkeit, der Klerus, viel Geld in repräsentative Prachtbauten, anstatt die Armen zu versorgen? Warum lebten die Kleriker nicht tugendhafter und keuscher, wenn sie doch die Vorbilder der Gesellschaft zu sein beanspruchten? Fragen dieser Art führten allerdings nicht dazu, dass die Menschen an der Institution Kirche als solcher irregeworden wären. Im Gegenteil: Zu keiner Zeit wurde so viel für die Kirche gespendet, im Auftrag der Kirche gebaut, geistliches Personal beschäftigt wie in der Zeit um 1500. Man investierte viel an Hoffnungen in und an materiellen Gaben für die Kirche; man erwartete entsprechend viel von ihr und ihren Repräsentanten. Und man orientierte sich in seinem Bild von der Kirche gerne und auch immer intensiver daran, wie sie nach der heiligsten Urkunde der Christenheit, der Bibel, und nach den ältesten Traditionen der christlichen Antike gewesen war.

Der Ruf nach Reformation besaß im frühen 16. Jahrhundert eine ähnliche Qualität wie heute etwa der nach Umweltschutz oder der Appell zu Nachhaltigkeit; als verantwortungsbewusster Zeitgenosse kann man eigentlich nicht dagegen sein. Auch der junge Theologieprofessor Martin Luther in Wittenberg reihte sich in die lange Kette jener ein, die eine Reformation forderten. Allerdings setzte er weniger als die meisten anderen, die nach einer solchen riefen, bei Missständen als bei den diesen zugrundeliegenden religiösen Motiven an. Er formulierte sogar Sätze wie: »Die Kirche bedarf einer Reformation. Doch dies ist nicht die Sache eines einzelnen Papstes, auch nicht vieler Kardinäle … sondern des ganzen Erdkreises, ja im Grunde allein Gottes. Die Zeit dieser Reformation weiß allein der, der die Zeiten geschaffen hat.« Später, so gegen Ende des 16. Jahrhunderts, waren Anhänger Luthers der Überzeugung, dass die Veränderung der Kirche, auf die viele gewartet hatten, mit dem Wirken des Wittenberger Theologen eingetreten sei. Sie meinten auch, dass Gott in und durch Luther gehandelt habe. Deshalb wurde der Begriff der »Reformation«, der zunächst ganz allgemein allerlei Versuche der Verbesserung durch Wiederherstellung einer ursprünglichen Gestalt bezeichnet hatte, nun exklusiv auf dieses historische Phänomen der durch Luther und seine Anhänger herbeigeführten Veränderung der Kirche angewandt. Von seinem Ursprung her ist der historische Epochenbegriff »Reformation« also durchaus nicht wertneutral, sondern ›aufgeladen‹: er transportiert den Anspruch, dass Luther und die anderen ›Reformatoren‹ die ›ursprüngliche‹ und ›reine‹ Gestalt der Kirche und des Christentums wiederhergestellt hätten.

Im Lauf der Neuzeit, während des 18. und 19. Jahrhunderts, wurde es dann immer üblicher, das ganze Zeitalter als »Epoche der Reformation« zu bezeichnen. Der tief im protestantischen Christentum verwurzelte preußische Historiker Leopold von Ranke, der zwischen 1839 und 1847 eine einflussreich gewordene Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation verfasst hat, gab diesem Zeitalter – anknüpfend an ältere Deutungstraditionen – einen bestimmten zeitlichen Rahmen, der lange Zeit in der Geschichtsschreibung gültig geblieben ist. Demnach begann die Reformation im Jahr 1517 mit Luthers Anschlag der 95 Thesen und endete mit der rechtlichen Anerkennung des evangelischen Bekenntnisses auf dem Augsburger Reichstag von 1555.

Die Geltung dieses Epochenkonzepts ist inzwischen aus verschiedenen Richtungen in Frage gestellt worden. Zum einen hat man betont, dass eine Reformationsepoche von 1517 bis 1555 außerhalb Deutschlands unplausibel sei, da insbesondere die rechtliche Lösung des Religionskonflikts nur für das Heilige Römische Reich deutscher Nation, nicht aber für die übrige europäische Staatenwelt gegolten habe. Sodann wurde darauf hingewiesen, dass ein Epocheneinschnitt im Jahr 1517 die Ereignisse im historischen Umkreis der Veröffentlichung der 95 Thesen stark über- und die sehr allmähliche Entwicklung des Bruchs zwischen Luther und der Papstkirche deutlich unterschätzt. Sodann wurde herausgestellt, dass ältere Reformtendenzen vor und neben Luther weiterliefen und die von Wittenberg ausgegangene Reformation keineswegs die einzige, sondern nur eine unter mehreren Reformationen gewesen sei. Wer so argumentiert, spricht gern von einem »Zeitalter der Reformationen«, das man dann zumeist um 1400 beginnen und um 1650, also nach dem Dreißigjährigen Krieg (161848), enden lässt. In der internationalen Diskussion erfreuen sich diese weitangelegten, aber auch recht unspezifischen historiographischen Konzeptionen von ›Reformation‹ einer gewissen Beliebtheit.

In Deutschland ist die Diskussion um eine ›Epoche‹ der Reformation eng mit der Erinnerungskultur der Reformationsjubiläen verbunden. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass die erstmals 1617 im großen Stil begangenen, seit dem früheren 18. Jahrhundert in vielen evangelischen Ländern im Jahresrhythmus wiederholten Reformationsfeiern nicht nur kirchliche, sondern auch staatliche Feste und Feiertage waren – bis heute. Dadurch wurde dem Jubiläumsdatum des 31. Oktober, dem Tag des ›Thesenanschlags‹ Luthers, im Zuge der Erinnerungskultur eine Bedeutung zuerkannt, die seinen bescheidenen historischen Dimensionen nicht entsprach. Angesichts des Eigengewichts der Erinnerungskultur wird man sich aber der Aufgabe zu stellen haben, wie mit diesem Datum produktiv umzugehen sei. Die Geschichte der Reformation als eines spezifischen historischen Zusammenhangs mit Luther, Wittenberg und den 95