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Theorien des Sozialstaats zur Einführung

Stephan Lessenich

Theorien des Sozialstaats
zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Dieter Thomä, St. Gallen
Cornelia Vismann, Weimar †

Junius Verlag GmbH
Stresemannstraße 375
22761 Hamburg
www.junius-verlag.de

© 2012 by Junius Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Florian Zietz
Titelbild: Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft
Veröffentlichung der E-Book-Ausgabe März 2016
ISBN 978-3-96060-019-0
Basierend auf Printausgabe:
ISBN 978-3-88506-699-6
1. Aufl. 2012

Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Zur Einführung …

hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1978 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Von Zeit zu Zeit müssen im ausufernden Gebiet der Wissenschaften neue Wegweiser aufgestellt werden. Teile der Geisteswissenschaften haben sich als Kulturwissenschaften reformiert und neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervorgebracht; auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sind die traditionellen Kernfächer der Geistes- und Sozialwissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diese Veränderungen sind nicht bloß Rochaden auf dem Schachbrett der akademischen Disziplinen. Sie tragen vielmehr grundlegenden Transformationen in der Genealogie, Anordnung und Geltung des Wissens Rechnung. Angesichts dieser Prozesse besteht die Aufgabe der Einführungsreihe darin, regelmäßig, kompetent und anschaulich Inventur zu halten.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in verstärktem Maß ein Ort für Themen, die unter dem weiten Mantel der Kulturwissenschaften Platz haben und exemplarisch zeigen, was das Denken heute jenseits der Naturwissenschaften zu leisten vermag.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner
Dieter Thomä
Cornelia Vismann

Inhalt

1. Der Sozialstaat als soziale Tatsache

1.1 Sinn und Sinnlichkeit

1.2 Konjunkturen und Krisen

2. Worum geht es im Sozialstaat?

2.1 Jenseits von Gut und Böse – der Sozialstaat

2.2 Modernisierung

2.3 Normalisierung

2.4 Umverteilung

2.5 Sicherung

2.6 Integration

2.7 Relationierung

2.8 Stabilisierung

2.9 Der Sozialstaat – Ordnung, Wissen, Macht

3. Was treibt den Sozialstaat?

3.1 Funktionen

3.2 Interessen

3.3 Institutionen

3.4 Geschlechterverhältnisse

3.5 Ideen

4. Wohin bewegt sich der Sozialstaat?

4.1 Und er bewegt sich doch: Kontinuität – und Wandel

4.2 Ökonomisierung

4.3 Defamilialisierung

4.4 Remoralisierung

4.5 Internationalisierung

4.6 Immer in Bewegung bleiben: Wandel – und Kontinuität

5. Den Sozialstaat dekonstruieren

5.1 Politik mit dem Sozialen

5.2 Kapitalismus und Kritik

Nachweise und Danksagungen

Anhang

Literatur

Über den Autor

1. Der Sozialstaat als soziale Tatsache

1.1 Sinn und Sinnlichkeit

Den Sozialstaat als eine soziale Tatsache zu bezeichnen mag im ersten Moment banal klingen. Wir kennen den Sozialstaat als eine öffentliche Instanz, die für die Sicherung der materiellen Existenz der Bürger und Bürgerinnen eines politischen Gemeinwesens sorgt. In dieser Eigenschaft errichtet er Ämter, verpflichtet Personal, prüft Anspruchsberechtigungen, zahlt Gelder aus, gewährt Leistungen. Der Sozialstaat ist mit dem Sozialen befasst: Er kümmert sich um die Lebensbedingungen »seiner« Bevölkerung, er sorgt sich um die Lebenschancen der Leute, sucht gleiche oder gleichartige Ausgangspositionen herzustellen, offensichtliche Benachteiligungen auszugleichen, den Verlierern in der »Lotterie des Lebens« eine zweite, womöglich auch dritte Chance zu gewähren (Prantl 2010). Der Sozialstaat ist eine politische Institution zur Ordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse gemäß bestimmten, allgemein geteilten Wertvorstellungen der sozialen Sicherheit, Gleichheit, Gerechtigkeit. Als solcher ist er eine in den je spezifischen sozialen Strukturen einer historisch-konkreten Gesellschaft verankerte Instanz der politischen Gestaltung des Sozialen – und also in der Tat, und zwar in doppeltem Sinne, eine soziale Tatsache. Was sonst?

Die gesellschaftliche Bedeutung des Sozialstaats ist mit einer solchen ersten, noch eher alltagsweltlich gefärbten Annäherung an den Gegenstand durchaus angesprochen und angedeutet, aber aus der – im Folgenden einzunehmenden – soziologischen Perspektive noch keineswegs hinlänglich erfasst. Was Émile Durkheim, einer der anerkannten »Klassiker« der Disziplin, mit der Rede von den »sozialen Tatsachen« (les faits sociaux) als Motiv und Motor soziologischen Denkens und Verstehens meinte, geht über das zur sozialen »Faktizität« des Sozialstaats eingangs Gesagte hinaus. Dabei muss man Durkheims »übersoziologisierende« Position, wonach das Soziale nur aus dem Sozialen zu erklären sei (vgl. Durkheim 1895: 220 f.; vgl. Wrong 1961), nicht unbedingt teilen, um in die weiteren Überlegungen zum sozialen Charakter des Sozialstaats einen grundlegenden durkheimianischen Gedanken mit einzubeziehen: dass nämlich soziale Tatsachen gewissermaßen ein Eigenleben – jenseits, außerhalb, »oberhalb« der Individuen (in) einer Gesellschaft – führen und gleichsam einen äußeren Zwang auf den Einzelnen auszuüben vermögen bzw., genauer, dem oder der Einzelnen wie ein von außen auf ihn oder sie einwirkender Zwang erscheinen mögen.

Das »Zwanghafte«, sozial Zwingende des Sozialstaats soll in dieser Einführung von Beginn an – neben der befähigenden, sozial ermöglichenden Dimension seines Handelns – im Zentrum einer theoretischen Erkundung und Ergründung der sozialstaatlichen Gesellschaftsformation stehen. Die in die Strukturbildungen und Strukturbildungsprozesse moderner Gesellschaften eingelagerte Dialektik von Freiheit und Zwang, Befreiung und Disziplinierung (Wagner 1994), wird vielleicht nirgendwo so deutlich (und damit auch soziologisch begreiflich) wie im Falle des Sozialstaats und seiner Institutionenordnung. Der Sozialstaat ist »sozial« zuallererst nicht in dem uns heute alltagssprachlich und -wissentlich geläufigen, normativ aufgeladenen Sinne seiner sorgend-helfenden, gesellschaftlich ausgleichenden und befriedenden Intervention. Er ist Sozial-Staat zunächst in dem (mehrfachen) analytischen Sinn, dass er (a) in seinem Handeln Bezug nimmt auf »soziale Probleme«: Armut und Arbeitslosigkeit, Alter und Krankheit, Hungers- und Wohnungsnot, Über- oder Unterbevölkerung; (b) durch sein Handeln solche – und im Prinzip beliebige andere – gesellschaftliche Phänomene überhaupt erst als »soziale Probleme« definiert, sie zu solchen deklariert (Kaufmann 1996); (c) über seine erklärte Verantwortungsübernahme für die politische »Lösung« dieser »Probleme« die von ihnen Betroffenen – den »Armen« und den »Arbeitslosen«, den »Rentner« und die »Patientin«, den »Hartz-IV-Haushalt« und den »sozialen Brennpunkt« – als Sozialfiguren und -räume gesellschaftlicher Sorge und Besorgnis konstruiert (Simmel 1908); und schließlich (d) diese »problematischen« Sozialfiguren und Sozialräume dementsprechend als Objekte sozialpolitischer Vornahmen im Namen der gesellschaftlichen »Gesamtheit« (vgl. ebd.: 546) behandelt: als individuelle und kollektive Adressen und Adressaten der über ihre öffentliche Versorgung und Unterstützung vermittelten gesellschaftlichen Steuerung und Regulierung, Normierung und Normalisierung, Kontrolle und Disziplinierung.

Wohlgemerkt: Es geht hier wie im Weiteren nicht um »gut« und »böse«, wenn vom »sorgenden« Sozialstaat einerseits, dem »Zwangscharakter« seiner Institutionen und Interventionen andererseits die Rede ist. Es geht vielmehr einzig und allein darum, ein soziologisch angemessenes – und das heißt: seinen Januskopf, die Ambivalenzen seines Handelns, den strukturellen Doppelsinn seiner Tätigkeit vollständig erfassendes – Bild des Sozialstaats zu zeichnen. Es muss einer soziologischen Theorie des Sozialstaats gerade darum gehen, »die gängigen Vorstellungen über Gut und Böse im Raum der Sozialpolitik in Zweifel zu ziehen« (Achinger 1958: 11) – Vorstellungen, die gesellschaftlich ebenso weit verbreitet wie einer wissenschaftlichen Beobachtung sozialstaatlichen Handelns abträglich sind. Wenn im Folgenden die in der einschlägigen Literatur zu findenden Elemente eines theoretischen Zugangs zum Verständnis der sozialen Tatsache namens »Sozialstaat« zusammengetragen werden, dann liegt diesem Vorhaben die Absicht zugrunde, die dem Gegenstand inhärente (und dem Alltagsverstand unbezweifelbare) Normativität zu überwinden bzw. zu unterlaufen. Diesem Alltagsverständnis zufolge tut der Sozialstaat »Gutes« oder soll es jedenfalls tun: Armut bekämpfen, Arbeit schaffen, Bildung vermitteln, Teilhabe ermöglichen und vieles Andere mehr; nach Ansicht mancher Beobachter aber tut er dabei bisweilen auch »zu viel des Guten« und damit de facto »Schlechtes«: die Abgabenbelastung hochtreiben, die Arbeitsanreize reduzieren, die Selbsthilfefähigkeit der Menschen schwächen, den gesellschaftlichen Vormund spielen. Diese Alltagsbeobachtungen, ganz gleich ob sie von den vielzitierten »einfachen Leuten« oder von den vielgehörten Angehörigen der Funktionseliten artikuliert werden, legen jeweils bestimmte Wertmaßstäbe an sozialstaatliches Handeln an und beurteilen dieses nach Maßgabe der Einlösung entsprechender Wertideen: »Verteilungsgerechtigkeit« und »Chancengleichheit«, »Solidarität« und »Eigenverantwortung«.

Die wissenschaftliche Beobachtung kann sich naheliegenderweise nicht darin erschöpfen, diese – als solche wohlbegründete – Alltagsperspektive auf den Sozialstaat schlicht zu reproduzieren. Sie wird vielmehr die Frage zu klären haben, ob und in welcher Weise sozialstaatliches Handeln historisch und systematisch tatsächlich durch den politischen Kampf für »ethische Prinzipien des Gesellschaftslebens« (Achinger 1958: 12) – welcher Art auch immer – motiviert und angetrieben wurde. Sie wird ergänzend die Frage zu prüfen haben, welche alternativen Erklärungsfaktoren für die Entstehung und Entwicklung des Sozialstaats in Rechnung gestellt werden müssen, etwa funktionale Erfordernisse oder partikulare Interessen. Sie wird sich der Frage zu stellen haben, ob die Etablierung des sozialstaatlichen Institutionensystems, wie wir es heute kennen und nutzend mitgestalten, von der Arbeitsvermittlung über die Ausbildungsförderung bis zur Altenhilfe, das Ergebnis intentionaler (sei es werte- oder interessengeleiteter) sozialpolitischer Handlungen war – oder aber als eigentlich unbeabsichtigte Nebenwirkung anderer Staatsaktivitäten, als eher zufälliges »Abfallprodukt« gesellschaftshistorischer Eventualitäten bzw. als unkalkulierbarer Effekt der prinzipiellen gesellschaftlichen »Unbestimmtheitslücke« (Vobruba 2009: 115) politischen Steuerungshandelns gelten muss. Schließlich wird sie auch die Frage zu beantworten haben, ob die »Gesellschaftsideale« (Achinger 1958: 12), deren politische Realisierung in der Selbstdeutung oder zumindest Selbstdarstellung der relevanten Akteure doch immer auch eine Rolle gespielt haben, in der sozialstaatlichen Praxis tatsächlich erreicht wurden, oder vorsichtiger formuliert: welche historisch-konkreten »institutionellen Realisierungen« (Kaufmann 2003a: 36) sie in den real existierenden Sozialstaaten erfahren haben.

All diese Fragen einer bzw. an eine Soziologie des Sozialstaats werden in dem vorliegenden Einführungsband adressiert. Dabei soll, so sehr der Fokus auch auf die Theorien des Sozialstaats gerichtet ist, das plastische Bild eines gesellschaftlichen Arrangements entstehen, das in ganz handgreiflicher Weise das Leben der Menschen, ihre alltägliche soziale Praxis, prägt – und zwar in der Tat »von der Wiege bis zur Bahre«. Der Sozialstaat ist, so lässt sich im Anschluss an Anthony Giddens’ »Theorie der Strukturierung« (Giddens 1984) sagen, eine nahezu idealtypische und hocheffektive strukturierende Struktur der modernen Gesellschaft. Als ein Staat, der tendenziell in sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens aus- und eingreift, strukturiert er individuelle Verhaltensweisen und kollektive Handlungsorientierungen gleichermaßen. Große wie kleine Entscheidungen unseres täglichen Lebens und unserer längerfristigen Lebensplanung werden mittelbar oder unmittelbar durch sozialstaatliche Institutionen und deren je konkrete Ausgestaltung beeinflusst: zum Arzt gehen oder nicht (wie gut ist die ärztliche Versorgung in meinem Wohnumfeld, habe ich freie Arztwahl, muss ich für den Arztbesuch eine Kostenbeteiligung entrichten?); studieren oder nicht (gibt es eine öffentliche Ausbildungsförderung, ist sie vom Einkommen der Eltern abhängig, wird sie als Zuschuss oder als Darlehen gewährt?); heiraten oder nicht (honoriert das Steuersystem die Eheschließung, wie sind die Unterhaltspflichten innerwie außerhalb ehelicher Lebensgemeinschaften geregelt, wie sieht das Scheidungsrecht aus?); Kinder kriegen oder nicht – oder vielleicht doch erst später (welche finanzielle Unterstützung haben Eltern und Erziehende zu erwarten, steht ihnen bezahlbare und dennoch hochwertige öffentliche Kinderbetreuung zur Verfügung, was sieht das Sorgerecht im Fall einer Trennung vom Partner vor?); das Erwerbsleben beenden oder eher noch nicht (kann ich auch als älterer Arbeitnehmer noch mit der Möglichkeit einer betrieblichen Weiterbildung rechnen, welche Möglichkeiten des vorzeitigen Berufsausstiegs bestehen, welche Rentenhöhe habe ich zu erwarten?) und so weiter und so fort: die Liste sozialstaatlich gerahmter Lebenssituationen und -konstellationen ließe sich in der Tat beliebig verlängern. Und ebenso umfangreich würde eine Auflistung der sozialstaatlichen Prägung kollektiver Lebensführungsmuster ausfallen: Bestimmten Lebenslagen (z.B. »den« Arbeitslosen), Altersgruppen (z.B. »den« Über-65-Jährigen) oder Alterskohorten (z.B. »den« Angehörigen der Babyboomer-Generation) sind eben nicht zufällig, sondern institutionell bedingt gewisse soziale Handlungsorientierungen, Werthaltungen und Lebensstile gemeinsam. So überhöht der/die durchschnittlich erwartbare Arbeitslose gerade aufgrund ihres/seines Ausschlusses aus dem Erwerbsleben typischerweise den Wert der Erwerbsarbeit und findet im Zweifel jede sozialstaatlich bereitgestellte Arbeitsgelegenheit besser, als »keine Arbeit« zu haben; der/die durchschnittlich erwartbare Rentner/in ist von der materiellen wie kulturellen Verpflichtung zur Erwerbsarbeit befreit und genießt nach Beendigung seines/ihres Arbeitslebens typischerweise einen finanziell einigermaßen gesicherten und gesellschaftlich weitgehend anerkannten »Ruhestand«; der/die durchschnittlich erwartbare Angehörige der geburtenstarken Jahrgänge zahlt über Abgaben auf sein/ihr Erwerbseinkommen die »Ruhegehälter« der gegenwärtigen Rentnergeneration, sorgt sich typischerweise allerdings um die Höhe und Verlässlichkeit seiner/ihrer eigenen zukünftigen Rente und betreibt daher parallel zusätzlich private Altersvorsorge. Und in allen diesen sowie vielen weiteren Fällen gilt, dass mehr oder weniger individuelle Ausnahmen (»faule Arbeitslose« und streitbare Erwerbslosigkeitsaktivisten; bis ans Lebensende berufstätige Familienunternehmer und nach Aktivität dürstende »junge Alte«; sorglose Hedonisten und generationengerechtigkeitsgetriebene Jungpolitiker etc.) jeweils die soziale Regel bestätigen – bis diese sich im Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung wiederum ändert.

Denn in dem Maße, wie der Sozialstaat die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse institutionell beeinflusst und somit gleichsam »politisiert«, wird er seinerseits zum Gegenstand von (in ihrem Ergebnis – wie umgekehrt die politischen Steuerungsversuche des Sozialstaats auch – durchaus offenen) gesellschaftlichen Einflussnahmen. Der Sozialstaat moderner, sozialstaatlich strukturierter Gesellschaften wird unvermeidlicherweise selbst zur gesellschaftlich strukturierten Struktur. Er prägt nicht nur individuelle Lebensläufe und kollektive Lebensweisen, er setzt individuelle wie kollektive (bzw. kollektiv organisierte, korporative) Akteure auch in eine institutionell bestimmte Beziehung zueinander. Was für »junge« und »alte« Menschen (die erwerbstätigen Beitragszahler der »Babyboomer«- und die erwerbsentpflichteten Rentenbezieher der »68er«-Generation) gilt – dass sie nämlich über den Sozialstaat und dessen Intervention vermittelt in spezifischer, sprich institutionell spezifizierter Weise miteinander verbunden sind –, trifft in strukturähnlicher Weise auf zahllose weitere sozialstaatliche »Beziehungspaare« (bzw. »Dreiecksbeziehungen«) zu: Gesunde und Kranke, Eltern und Kinderlose, Männer und Frauen, Steuerzahler und Transferempfänger, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Krankenkassen, Ärzteverbände und Pharmaunternehmen – dem Sozialstaat als gesellschaftlicher Beziehungsvermittlungsagentur sind keine systematischen Grenzen gesetzt. All diese sozialstaatlich etablierten Beziehungsmuster sind allerdings grundsätzlich dynamisch. Sozialstaatliche Institutionen richten unser Handeln ein (Polanyi 1957) und richten es auf das – seinerseits institutionell ein- und ausgerichtete – Handeln anderer Akteure aus. Sie legen dieses soziale Handeln und die damit konstituierten gesellschaftlichen Handlungszusammenhänge aber keineswegs auf Dauer fest, sondern sind beständige Quelle und strategischer Bezugspunkt von immer neuen Anliegen, Ansinnen, Ansprüchen der Handelnden. Die Jungen wollen niedrige Abgaben, die Alten hohe Renten (und im individuellen Lebensverlauf möchte man am Liebsten beides); die Gesunden wollen, dass die Kranken gesünder leben, damit sie die Gesunden nicht mit den Kosten ihrer Krankheit belasten (und wenn sie selbst schwer krank werden, sehen sie die soziale Welt womöglich ganz anders); Eltern wollen Kindertagesstätten, Kinderlose wollen vielleicht eigene (aber die Kasse zahlt die künstliche Befruchtung nicht mehr) oder vielleicht doch lieber fremde Kinder (als zukünftige Rentenbeitragszahler/innen), dafür aber nicht unbedingt Kindertagesstätten (oder nicht für fremde Kinder oder jedenfalls nicht gleich nebenan). Es zeigt sich: Der Sozialstaat eröffnet einen prinzipiell unendlichen Raum sozialer Beziehungsstrukturen – und aus ihnen sich ergebender Konfliktdynamiken (Lessenich & Nullmeier 2006). Die von ihm, seinen Institutionen und Interventionen, strukturierte gesellschaftliche Struktur schlägt auf ihn selbst zurück, strukturiert in ihrer von ihm strukturierten Bewegung ihrerseits seine institutionelle Struktur und deren Praxis.

Kompliziert? Nun ja – nur so kompliziert, wie die soziale Welt moderner, sozialstaatlich verfasster Gesellschaften eben komplex ist. Oder, in den einfacheren Worten eines Klassikers der deutschen Sozialstaatsforschung: »In allen Phasen der Entwicklung wird die Sozialpolitik durch gesellschaftliche Veränderungen gewandelt und in allen Phasen bewirkt sie selbst Veränderungen.« (Achinger 1958: 72) Der Sozialstaat ist eine soziale, sprich sozial vermittelte und daher notwendig dynamische, in stetem Wandel begriffene Tatsache – was die gesellschaftlichen Sinnsetzungen seiner Institutionen angeht ebenso wie hinsichtlich der jedem Menschen jederzeit erfahrbaren Sinnlichkeit seiner Interventionen.

1.2 Konjunkturen und Krisen

Wie alles im sozialen Leben hat somit auch der Sozialstaat – jenseits von »Gut« und »Böse« – zwei Seiten: eine sozial strukturierende und eine gesellschaftlich strukturierte. Betrachtet man ihn von seiner strukturierenden Seite, dann tritt er als eine, zumindest dem ersten Anschein nach, autonome Instanz der herrschaftlichen, politisch institutionalisierten Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse auf – und den seiner Herrschaft Unterworfenen (also »uns« Sozialstaatsbürger/innen) als eine zwingende, durch Anrechte und Anreize, Regeln und Sanktionen bezwingende institutionelle Struktur entgegen. Analytisch gesehen, begegnen wir auf dieser Seite dem Sozialstaat als »unabhängiger Variable«, als erklärendem Faktor der Gestalt gesellschaftlicher Verhältnisse an einem konkreten Ort zu einer gegebenen Zeit: als »an active force in the ordering of social relations« (Esping-Andersen 1990: 23). Der analytische Blick muss jedoch zugleich die andere Seite der Medaille erfassen: den Sozialstaat als »abhängige Variable«, als Effekt der gesellschaftlichen Verhältnisse, als in seiner je konkreten Gestalt aus eben diesen – durch ihn selbst (mit) strukturierten – gesellschaftlichen Verhältnissen zu erklärendes Phänomen.

Versucht man den Sozialstaat von dieser seiner anderen, strukturierten Seite zu sehen und zu verstehen, so lassen sich systematisch mindestens drei gesellschaftliche Bestimmungsmomente sozialstaatlichen Handelns unterscheiden. Erstens unterliegt der Sozialstaat, verstanden als komplexes institutionelles und administratives Arrangement gesellschaftsgestalterischer Intervention, einer Unzahl politischer Einflussnahmen seitens unterschiedlichster und unterschiedlich machtvoller Akteure, die entweder auf ökonomische Erfordernisse verweisen (eine geringere Staatsquote, höhere Subventionen, niedrigere Steuersätze, bessere Investitionsbedingungen u.v.a.m.) oder soziale Forderungen stellen (eine geringere Arbeitslosenquote, höhere Sozialleistungen, niedrigere Abgabenbelastung, bessere Arbeitsbedingungen u.v.a.m.). Im Kern lässt sich diese Einflussdimension so fassen, dass der Sozialstaat im Kreuzfeuer des strukturellen Interessenkonflikts industrieller Gesellschaften steht, sich die – in der Regel gegenläufigen – interessenpolitischen Anliegen von »Kapital« und »Arbeit« gleichermaßen auf ihn richten. Zweitens aber wird das gesellschaftsgestaltende Staatshandeln nicht nur über solch »externe« Kanäle beeinflusst, sondern zugleich auch intern strukturiert: Die Einrichtungen und Programme des Sozialstaats, seine Ämter, Agenturen und Administrationen, sein politisches Personal und die in seinem Namen oder Auftrag arbeitenden Professionen und Organisationen entwickeln, sobald sie einmal errichtet, eingerichtet, eingespielt sind, ein Eigenleben. Die unmittelbare wie mittelbare Sozialstaatsverwaltung – von der Ministerialbürokratie über die kommunalen Sozialbehörden und die Wohlfahrtsverbände bis zu den Fachorganisationen der sozialarbeiterischen Berufe – ist durch eine institutionelle Eigenlogik gekennzeichnet, die sich zwar nie vollständig von den erwähnten politischen Einflussnahmen (wie auch von den Bedarfslagen und Interessenbekundungen der sozialstaatlichen »Klienten«) zu entkoppeln vermag, die »eigentlich« gefragte Rationalität sozialpolitischer Problembearbeitung aber immer auch durch eine eigene, »eigenartige« Binnenrationalität des Apparats ergänzt. Im Zuge der Etablierung und Expansion des Sozialstaats bildet dessen politisch-administrativer Komplex ein »Interesse an sich selbst« (Offe 1975) aus, an seiner Selbsterhaltung und Selbststeuerung, das als zweites wesentliches Strukturierungsmoment moderner Sozialstaatstätigkeit gelten muss. Drittens schließlich ist sozialstaatliches Handeln auch in dem – mittelbareren – Sinne »durch sich selbst« beeinflusst, dass es sich mit Sachverhalten konfrontiert sieht, die ihrerseits vorherigem sozialstaatlichem Handeln geschuldet sind. Nicht nur, dass die soziale Welt, deren immer neuen Gestaltung sich der Sozialstaat widmet, eine seit dessen Entstehung gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer schon politisch gestaltete ist, der Sozialstaat also in seiner je aktuellen Tätigkeit auf die sozialen Folgen seines eigenen Tuns, auf die – häufig nicht-beabsichtigten – Konsequenzen seiner vorherigen Eingriffe in die gesellschaftlichen Verhältnisse trifft. Neben diesen sozialpolitischen bzw. politisch-sozialen Rückkopplungseffekten ist der Sozialstaat auch – und zwar je länger er besteht und je weiter er sich ausdehnt, desto mehr – mit der Sorge um die Funktionsfähigkeit seines eigenen Institutionensystems befasst, letztlich also tatsächlich mit sich selbst beschäftigt. Nicht mehr die Vermeidung von Armut und damit die Verbesserung der Lebenslage bestimmter Personen und Haushalte, sondern die Implikationen politischer Programme zur Armutsvermeidung für das Tariflohngefüge, für die Beitragssituation der Sozialversicherungen, für die Geschäftstätigkeit öffentlicher und privater Bildungsträger usw. stehen im Zentrum der sozialpolitischen Agenda hochentwickelter Sozialstaaten; weniger die klassische Lösung »sozialer Probleme« als vielmehr die Kontrolle des politischen Problemlösungssystems, »Sozialpolitik zweiter Ordnung« (Kaufmann 1998) also.

Der Sozialstaat ist demnach Arena gesellschaftlicher Interessenpolitik, sozialadministrativer Eigeninteressen, sozialpolitischer Rückkopplungseffekte und systempolitischer Selbststeuerung zugleich. All diese Strukturiertheitsdimensionen seines Handelns zusammengenommen, kann er unter dem Strich als allenfalls relativ autonome Steuerungsinstanz moderner Gesellschaften gelten (Offe 2006): als stets neu sich konstituierendes Konfliktfeld des (seinerseits wiederum keineswegs »freien«, sondern grundsätzlich politisch wie ökonomisch vor-strukturierten) Spiels der gesellschaftlichen Kräfte. In diesem Spiel kommt ihm gesellschaftsanalytisch gesehen die Rolle des Mittlers zwischen den einander in unterschiedlichsten, in der Regel asymmetrischen Abhängigkeitsbeziehungen verbundenen sozialen Akteuren zu, des Vermittlers zwischen deren um staatliche Aufmerksamkeit konkurrierenden, politisch einander prinzipiell widerstreitenden, tendenziell gar widersprechenden Positionen. In der sozialstaatlich verfassten Gesellschaft streben die Eigentümer des Produktivvermögens nach möglichst günstigen Verwertungsbedingungen ihres Kapitals, kämpfen die Arbeitnehmer/innen um eine angemessene Entlohnung und um Schutz vor Überausbeutung ihrer Arbeitskraft, klagen Arbeitssuchende die Schaffung von Arbeitsplätzen ein, reklamieren Beschäftigte einen möglichst frühzeitigen und materiell gesicherten Ausstieg aus der Erwerbsarbeit, streiten bildungsbürgerliche und aufstiegsorientierte Sozialmilieus für die Aufrechterhaltung eines sozial selektiven Schulsystems, fordern Hartz-IV-Empfänger/innen einen Verzicht auf Verhaltenskontrollen durch die Arbeitsagenturen und die Mittelschichten umgekehrt eine striktere Sanktionspraxis, verlangen Wohlfahrtsverbände den Schutz ihres Tätigkeitsfelds vor den Aktivitäten privater Unternehmen, die ihrerseits auf dessen Liberalisierung in Form der Öffnung von Wohlfahrtsmärkten drängen – und all diese materiellen wie ideellen Interessenbekundungen richten sich immer nur an ein und dieselbe Adresse: den Sozialstaat. Im Grunde genommen kann dieser gar nicht anders, als durch Problembearbeitung an der einen Stelle zugleich an der Problemerzeugung andernorts mitzuwirken (Lessenich 1996; Hockerts 2011). So unverzichtbar er als gesellschaftlicher Krisenmanager auch ist – als Retter von Banken, Unternehmen und Arbeitsplätzen, als Organisator von öffentlichen Ausbildungs-, Gesundheits- und Beschäftigungssystemen, als letzte Sicherungsinstanz von Arbeitslosen, Erwerbsunfähigen oder Alleinerziehenden –, so unvermeidlich facht er mit eben diesem makrowie mikrosozialen Krisenmanagement immer auch neue Krisenherde an, tatsächliche ebenso wie gefühlte: seine mit Steuermilliarden finanzierten Rettungsaktionen drohen (so heißt es jedenfalls) die Leistungsbereitschaft der Steuerzahler/innen übermäßig zu beanspruchen, die Produktion öffentlicher Güter behindert (so wird jedenfalls behauptet) in unangemessener Weise privatwirtschaftliche Aktivitäten, die staatliche Alimentierung von für bedürftig erklärten Personen und Haushalten schwächt (so jedenfalls die warnenden Stimmen) deren Willen zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und zur eigenständigen Sicherung ihrer Existenz.

Als Problemlöser und Problemgenerator in Personalunion bzw. ein und derselben Institution, oder genauer: als politische Projektionsfläche für gesellschaftliche Problemdiagnosen und Problemlösungen aller Art, ist der Sozialstaat der institutionelle Kristallisationspunkt der allfälligen Krisen demokratisch-kapitalistischer Gesellschaften. Finanz- und Organisations-, Steuerungs- und Legitimationskrisen sind gleichsam das unvermeidbare Schicksal des Sozialstaats und das tägliche Brot seines gesellschaftlichen Daseins. All diese sozialstaatlichen Krisen – die regelmäßig aufgedeckten Haushaltsdefizite der Sozialversicherungen und Ineffizienzen der Sozialverwaltungsbehörden, die unaufhörlich wiederkehrenden Berichte über wirkungslose Sozialprogramme und der sozialpolitischen Praxis überdrüssige Bürger/innen – sind letztlich immer nur Anlässe und Triebkräfte neuerlicher Konjunkturen des Sozialstaats, zyklisch erneut sich drehende Antriebswellen seines »Umbaus«, der »Reform« seiner Einrichtungen und Leistungssysteme. Nicht, dass der Sozialstaat dabei nur Getriebener wäre und nicht auch seine eigene Agenda (»2010« oder welchen Namens auch immer) verfolgen würde; nicht, dass er in diesem ewig krisenhaften Prozessieren seiner selbst bloß neutrale Instanz der Wahrnehmung und Abfederung gesellschaftlicher Erschütterungen wäre und nicht auf bestimmte Eruptionen sozialer Interessenbekundung ausgesprochen sensibel, auf andere hingegen weniger empfindlich reagieren würde (Offe 1972). So oder so aber nimmt die Etablierung und Expansion des Sozialstaats auf diese Weise in der historischen Rückschau die Prozessgestalt einer beständigen Abfolge krisenvermittelter Rearrangements seiner gesellschaftsgestalterischen Institutionenordnung an.

Mit Fug und Recht lässt sich behaupten, dass der sozialstaatliche Vergesellschaftungsmodus gerade über seine Krisen und durch sie hindurch – in seiner permanenten Krisenhaftigkeit – zu einer unwiderruflichen, unhintergehbaren Tatsache der gesellschaftlichen Moderne geworden ist. Das von Hans Achinger so genannte, von den altliberalen Propagandisten einer möglichst staatsfreien Sozialordnung gern geübte »Spiel mit dem Wegdenken« (Achinger 1971: 138) des Sozialstaats ist schlichtweg nicht mehr möglich – und stattdessen einem anderen Spiel gewichen, nämlich dem um die politische Bewirtschaftung einer sozialen Tatsache: jenes Sozialstaats, der »nicht mehr ein dem gesellschaftlichen Zustand hinzugefügtes remediens darstellt, sondern ein constituens des Alltags aller und des Begreifens der Gesellschaft selbst« (ebd.; Hervorhebung im Original). Als solch konstituierender, ja konstitutiver Faktor der Gegenwartsgesellschaft, ihrer Struktur und ihrer Dynamik, ist der Sozialstaat ein würdiger Gegenstand sozialwissenschaftlicher, insbesondere soziologischer Erkenntnis und Theoriebildung. Ihrer synthetisierenden Zusammenschau sind die folgenden Ausführungen gewidmet.

Sie setzen ein mit einem systematischen Überblick über das, worum es dem – oder besser: im – Sozialstaat geht, was also die programmatischen Motive und strukturellen Effekte seiner gesellschaftlichen Intervention sind (Kapitel 2). Es schließen sich (dem Anliegen des Bandes entsprechend recht schematisch angelegte) Betrachtungen zu der Frage an, wer – oder besser: was – den Sozialstaat in seiner historischen Bewegung antreibt und in Betrieb hält (Kapitel 3). Darauf folgen (ebenso »willkürlich« geordnete) Überlegungen zu dem Charakter – oder vielleicht besser, weil weniger moralisch aufgeladen: der Logik – gegenwärtiger sozialstaatlicher Entwicklungen (Kapitel 4Sozialitätobjektiv-technischenals solcheAnalyseKritik