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Time To Care

Aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung und besseren Lesbarkeit wird im folgenden Text auf eine geschlechtsspezifische Differenzierung verzichtet. Es sind jedoch stets Personen männlichen und weiblichen Geschlechts gleichermaßen gemeint.

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Dr. Robin Youngson wurde im Jahre 1955 in Großbritannien geboren. Als Sohn einer Militärsfamilie folgte er seiner Familie zu verschiedenen Standorten des ehemaligen Britischen Weltreiches, bevor er die Schrecken des institutionellen Lebens auf einem englischen Internat erfuhr. Im Jahre 1977 schloss er sein Hochschulstudium an der Universität Cambridge mit einem Ingenieursdiplom ab und arbeitete drei Jahre lang auf dem hochriskanten Gebiet der Erdöl-Gewinnung, um sein Medizinstudium zu finanzieren. Als praktizierender Anästhesist war Youngson viele Jahre lang eine einsame Stimme auf dem internationalen Rednerparkett für mitfühlende, ganzheitliche Patientenfürsorge. Er ist der Gründer der internationalen Bewegung HEARTS in HEALTHCARE, die er im Jahre 2012 ins Leben rief.

Robin Youngson

Time To Care

Zeit für Zuwendung –
Wie Sie Ihre Patienten und Ihren Job lieben

Aus dem Englischen übersetzt von Marie Downar

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel Time To Care – How to Love Your Patients And Your Job bei Rebelheart Publishers.

Satz und Gestaltung: Björn Bordon/MetaLexis, Niedernhausen

Umschlaggestaltung: Marion Ullrich, Frankfurt am Main

Druck: Beltz Bad Langensalza GmbH

ISBN: 978-3-86321-318-3

eISBN: 978-3-86321-321-3

Printed in Germany

Alle Rechte vorbehalten

All jenen gewidmet,
die die Regeln vergessen und
ihr Herz geöffnet haben.

Inhalt

Geleitwort zur deutschen Ausgabe

Vorwort zur englischen Ausgabe

Kapitel 1Burnout

Kapitel 2Freundlichkeit

Kapitel 3Der Versuch zu überleben

Kapitel 4Achtsam handeln

Kapitel 5Positiv gesund

Kapitel 6Die Wahl, Ihre Arbeit zu lieben

Kapitel 7Heilende Hände

Kapitel 8Die Neurowissenschaft des Mitgefühls

Kapitel 9Zeit für Zuwendung gewinnen

Kapitel 10Ein besseres System aufbauen

Kapitel 11Mitfühlende Führungskultur

Kapitel 12Der persönliche Wendepunkt

Kapitel 13HEARTS IN HEALTHCARE

Kapitel 14Meine Geschichte: Rebell für eine gute Sache

Danksagungen

Stimmen zum Buch

Literaturempfehlungen und Ressourcen

Anmerkungen zu den Kapiteln

Ein Wort zur deutschen Übersetzung

Geleitwort zur deutschen Ausgabe

Wir stehen in der Medizin vor einem Dilemma. War es noch vor Jahren allein die „Fachlichkeit“ (zu der interessanterweise häufig nicht die kommunikativen oder „menschlichen“ Fähigkeiten des Experten gezählt wurden), die über einen „guten“ oder „schlechten“ Arzt bzw. Therapeuten entschied, gilt heute doch im Allgemeinen als anerkannt, dass die – etwas verniedlichend – oftmals „Soft Skills“ genannten Kompetenzen auch irgendwie wichtig sind. Wichtig für wen? Wichtig für was?

Noch immer müssen wir uns als Patienten häufig entscheiden, was uns wichtiger ist – das „Fachliche“ oder das „Menschliche“ (an unserem Arzt), denn allzu oft stellen wir fest, dass beides nur selten in einer Person und an einem Ort zusammenzufallen scheint. Wie wir uns wohl, wenn es wirklich wichtig ist, entscheiden werden?

Manchmal scheint es gar, als stünden diese beiden Aspekte und Qualifikationen diametral bzw. in Konkurrenz zueinander. Noch immer hört man mitunter den Hinweis, nicht nur unter Medizinern selbst, dass die persönliche Komponente und das „Menschelnde“ (das Subjektive) in Medizin und Therapie den Blick auf das fachlich Indizierte und sachlich Gebotene (das Objektive) zu verstellen vermögen.

Gleichzeitig können wir uns nicht länger der objektiven Bedeutung auch des Subjektiven entziehen. So finden heute z. B. neurobiologische Befunde immer stärker Eingang in die ärztlich-therapeutische Praxis (unter verschiedenen Labels – wie u. a. „Shared Decision Making“, „Arzt-Patienten-Beziehung“, „Ressourcenorientierung“, „Mind-Body-Medizin“, „Positive Psychologie“ usw.). Auch jenseits des Placebo-Effektes, der gegenwärtig Gegenstand einer regelrechten „Subjektivitätswelle“ in Forschungsaktivitäten einer immer spezifischer und zugleich individueller und personenzentrierter werdenden Medizin ist, finden wir stark naturwissenschaftlich verankerte Ansätze, die aus „Soft“ immer mehr „Hard Skills“ zu machen scheinen. Denken wir auch an Begriffe wie Achtsamkeit, Mitgefühl und Empathie – oder Empowerment, Selbstwirksamkeit und Selbstregulation, Resilienz und Kohärenz.

Kommen wir auf das Dilemma zurück: Wie lernt man diese Skills? Kann man sie überhaupt trainieren? Oder hat man sie – oder eben nicht? Kann man das eine mit dem anderen überhaupt verbinden? Verstellt gar das eine den Blick auf das andere, muss man daher die subjektiven Anteile seiner eigenen „Fachlichkeit“ über die Berufskarriere hinweg – aus unterschiedlichen Gründen – erst abgelegt haben, sie quasi opfern, um entweder überhaupt „nach oben“ zu kommen oder aber am Beruf – im Sinne eines Selbstschutzes – nicht auszubrennen? Und diejenigen, die den Beruf heute akademisch prägen und in der Ausbildung lehren, sind das dann die „Übriggebliebenen“? Ist von dort zu erwarten, dass das beschriebene Dilemma versöhnlich aufgelöst wird?

Wie gesagt, wir sind heute glücklicherweise einen Schritt weiter. Die evidenzbasierte Medizin, die oft (zu Unrecht!) als das Ende therapeutischer Freiheit und einer „aushandelnden“ Arzt-Patienten-Beziehung gesehen wird, beinhaltet eben auch jene subjektiven Anteile und Patienten-Präferenzen.

Aber mal ganz ehrlich, wenn es zum Schwur kommt, wenn Sie in der einen Kitteltasche ein „objektiv“ wirksames Medikament haben, das der Patient „braucht“ (und evtl. seinerseits auch „unbedingt“ haben möchte), in der anderen eine auf Beziehung und Subjektivität basierende Aufmunterung zur „Selbstfürsorge“, wofür entscheiden Sie sich? Als Arzt bzw. Therapeut? Als Patient? Politisch korrekt würden wir sicher alle antworten: „Für beides!“. Aber: Haben Sie dafür wirklich Zeit? Haben Sie das gelernt, wissen Sie, wie es geht? „Glauben“ Sie auch wirklich daran? Teilen Sie eine echte, authentische und aufrechte Sorge um die subjektiven Bedürfnisse, Ängste und Wünsche des Patienten? Kennen Sie überhaupt seine eigentlichen „Needs“, jenseits dessen, was in der Kurve, elektronischen Karteikarte, im Arztbrief oder auf der Diagnosen-Liste steht? Haben Sie ihn gefragt? Weiß er es selbst? Und wie halten Sie das jeden Tag aus, sowohl die Aspekte der individuellen Ressourcenorientierung einerseits als auch der objektiven Behandlungspfade entlang kodierter Diagnosen zu berücksichtigen – und auch zu bedienen? Schaffen Sie es tatsächlich, den Blick eines fragenden Patienten zu erwidern, auszuhalten – selbst wenn Sie keine Antwort auf seine „eigentlichen“ Fragen haben? Und wer hilft Ihnen eigentlich dabei? Ist es nicht doch auch „Time to care“?

Dieses Buch ist eine große Freude. Es macht Mut und vermittelt voller Zuversicht, dass gerade auch die junge Generation von Medizinern und Therapeuten mitnichten nur auf das eigene Wohl bedacht und durch eine eher funktionale Sicht auf den Beruf geprägt ist (vgl. „Generation Y“), sondern dass ausgerechnet von dort heute entscheidende Fragen zu Rollenverständnis, Arztbild und „Menschlichkeit in der Medizin“ gestellt werden. Dabei sind die aufgeworfenen Aspekte mitunter komplex – und auch unbequem. Was heißt „Patienten-Zentrierung“ in der Medizin eigentlich wirklich? Verstehen Mediziner und Patienten das Gleiche darunter? Können Sie als „Behandler“ den Menschen, der Ihnen gegenübersitzt, in der realen Praxis wirklich ganz erfassen? Können Sie ihn möglicherweise gar „lieben“, in seiner ganzen Person und Realität, nicht nur seinen „Fall“? Und sollten Sie das überhaupt? Wie steht es um den fürsorglichen Kontakt, die Berührung, körperlich wie seelisch? Sind wir Ärzte immer da, ganz anwesend, wenn wir „da“ sind? Open Your Mind – haben wir Geist, Seele und Herz immer geöffnet?

Dieses Buch stellt Fragen und gibt, gänzlich undogmatisch, eine Reihe von interessanten, wichtigen Antwortmöglichkeiten. Dabei sollten Sie, liebe Leser, die Fakten und Anregungen des Buches als das nehmen, was sie sind: Ideen und Anstöße, die jeder für sich selbst hinterfragen und daraus das individuell Passende heraussuchen und weiterentwickeln kann – auf dem Weg hin zu einer „menschenzugewandten Medizin“.

Dabei wünsche ich Ihnen von Herzen Glück, Erfolg und Freude!

Univ.-Prof. Dr. med. Tobias Esch, Witten – April 2016

Professur für Integrierte Gesundheitsversorgung/Gesundheitsförderung, Universität Witten/Herdecke

Autor von Die Neurobiologie des Glücks – Wie die Positive Psychologie die Medizin verändert (Thieme) und Stressbewältigung – Mind-Body-Medizin, Achtsamkeit, Selbstfürsorge (Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft).

Vorwort zur englischen Ausgabe

Während meiner 46-jährigen Laufbahn im Gesundheitswesen habe ich als Sachbearbeiter, Manager, Verwaltungsleiter, Geschäftsführer, Kurator, Lehrer und lebenslanger Student gearbeitet. Ich habe erfahren, welche Kraft und welches Privileg einer patienten- und familienzentrierten Gesundheitsfürsorge in sich bergen kann, die ihre Wurzeln im Mitgefühl, in der Würde, im Respekt, im Informationsaustausch, in der Mitbeteiligung und Zusammenarbeit auf allen Ebenen der Gesundheitsversorgung hat.

Meine Erkenntnisse sind das Ergebnis mutiger Gemeinschaften und einzigartiger Erfahrungen am Children’s Hospital in Boston, dem Dana-Farber-Cancer Institute und dem Institute for Healthcare Improvement. Und ich lernte von faszinierenden Innovatoren am Institute for Patient and Family Centered Care, dem Schwartz Center, dem Picker Institute, Planetree und vielen anderen mehr.

Auf dieser langen Reise fiel mir immer wieder auf, dass wir als Führungskräfte keine Systeme implementierten, welche die sichere, effektive und mitfühlende Tätigkeit unseres Personals unterstützen. Ganz gleich, wie gut unser exzellentes Personal arbeitet, führen kaputte Systeme und menschliche Fehler dazu, dass unsere Patienten Schaden erleiden. Die daraus resultierende Frustration und Verzweiflung beim Gesundheitspersonal scheint schier überwältigend zu sein.

Ich habe die außerordentliche Kraft der kollegialen Unterstützung erfahren, wenn es auch mal eine Umarmung gab und man sich auf die Frage konzentrierte: „Was ist passiert?“ und nicht nur auf die Frage: „Wer hat das getan?“ Die so arbeitende Führungspersönlichkeit kann wieder und wieder den direkten Zusammenhang zwischen einer guten Mitarbeitererfahrung, einer positiven Patientenerfahrung und der Kraft des integrativen Handelns beobachten.

Des Weiteren habe ich bei der Beobachtung unserer eigenen Patienten, des eigenen Personals und in der internationalen Tätigkeit stets Inseln, Grüppchenbildung und einen Mangel an Gemeinschaftssinn gefunden. Die „Beziehungs-Leute“ sprachen weder mit der „Empathie-Clique“ noch mit den „Mitgefühls-Befürwortern“. Die „patientenzentrierten“ Fans waren anders als die „familienzentrierten“ Vorkämpfer und keiner der beiden stand mit den „Familienpflegern“ in Verbindung.

Bei Initiativen, die sich an das Personal richteten, war der Patient nicht mit im Blickfeld. Ich wusste aus der Erfahrung in vielen anderen Gebieten in der Wissenschaft und im Management, dass wir so die Kraft des gemeinsamen Lernens und fachübergreifender Konzepte ungenutzt ließen.

Ich habe die Hoffnung, dass die globale Diskussion über die Gesundheitsversorgung nun endlich einen Wendepunkt erreicht: Wir beginnen nun über den Patienten, die Öffentlichkeit, den Menschen, behandelnde Ärzte und Pfleger, Partnerschaften, Engagement, Empathie, second victimsI, Beziehungen, Mitgefühl, gemeinsame Entscheidungsfindung, Gemeinschaft und so weiter miteinander zu sprechen.

Wir können uns über ein wachsendes Bewusstsein freuen: An vielen Orten sehen wir bereits, wie sich Meinungen verändern und bei einer relativ kleinen Zahl sehen wir sogar, wie sich Verhaltensweisen und Gewohnheiten ändern. Time to Care ist eine Inspiration für die letzteren.

Als ich begann, Time to Care zu lesen, wollte ich gleich wieder aufhören. Es beginnt hart und bildhaft; es legt initial den Fokus auf Unmenschlichkeit, unpersönliche Behandlung, darauf, was nicht funktioniert und das daraus resultierende Leid, den Schaden und die Tragödien für unsere Patienten, unser Personal und für diejenigen, denen diese Menschen am Herzen liegen.

Überall im Gesundheitswesen sehen wir Mitarbeiter, die das Gefühl haben, dass es keine Zeit mehr für mitfühlende Fürsorge gibt. Und wenn wir dieses Privileg verlieren, unseren Patienten mit Mitgefühl zu dienen, folgt Burnout allzu oft auf dem Fuße. Nach 46 JahrenII weiß ich das, ich habe es gesehen, ich habe es gefühlt, doch hat es seinen Schrecken noch immer nicht verloren.

Ich zwang mich dazu, weiterzulesen; Peter Senge hat mich in seinem Buch Die fünfte DisziplinIII gelehrt, dass wir uns mit der Realität unserer Handlungsweisen auseinandersetzen und uns zugleich auch mutige Ziele stecken müssen.

Als ich weiterlas, war ich begeistert, wirklich begeistert. Ich lernte Dinge, die ich nicht kannte: fachübergreifende Konzepte aus dem Gebiet der Positiven Psychologie, Erklärungsstile, wie man sich Freundlichkeit angewöhnen kann und die Kraft einfacher Handlungen. Die mentalen Mauern wurden aufgebrochen.

Obwohl ich „Empathie“ und „Selbsteinschätzung“ lehre, erfuhr ich nun neue Inhalte. Ich wurde an unerwartete Quellen der Erkenntnisse und Ideen herangeführt, die wir für das gemeinsame Lernen nutzen können.

Eine meiner Lieblingsdefinitionen für Führungskompetenz lautet: „Die Menschen an einen Ort zu führen, wo sie gar nicht hingehen wollten, und in ihnen das großartige Gefühl darüber auszulösen, dass sie dort hingelangt sind.“

Das Material über Appreciative Inquiry (wertschätzende Befragung), über das Verständnis unseres Einflusses auf andere, über positive Atmosphäre und über Achtsamkeit enthielt für mich wichtige neue Lektionen als Führungskraft und ist meines Erachtens wertvolles Wissen für alle Führungskräfte im Gesundheitswesen.

Diejenigen von uns, die das Privileg haben, in der Gesundheitsversorgung zu arbeiten, wissen, wie hart es für uns, unsere Patienten und ihre Angehörigen sein kann. Aber wir wissen auch um das Potential für große Belohnungen.

Avedis Donabedian sagte: „Zuerst kommen Liebe und Leidenschaft und dann kommen Strategie und Taktik.“ Die Lektüre von Time To Care inspirierte mich dazu, mir die großartige Möglichkeit und Kraft optimierter Liebe und Leidenschaft auszumalen.

Der Titel bringt es auf den Punkt – wir müssen uns die Zeit dafür nehmen, für uns selbst, unsere Kollegen und diejenigen zu sorgen, denen wir dienen.

In diesem Buch erklärt Robin Youngson Gesundheitsfachkräften, wie sie: ihr Herz stärken können, sich dafür entscheiden können, sowohl ihre Arbeit als auch ihre Patienten zu lieben, die Fähigkeit zur mitfühlenden Fürsorge verfeinern können, über institutionelle Begrenzungen hinauswachsen können, und sich einer weltweiten Bewegung zur Verbesserung der Patientenfürsorge anschließen können.

Das Ergebnis ist ein Geschenk Fachgebiet überschreitender Konzepte und neuer Möglichkeiten: der Imperativ zur Veränderung, wie sie umgesetzt werden kann und warum sie bei uns selbst beginnen muss.

Jim Conway

Lehrbeauftragter der Harvard School of Public Health

I.Ärzte können sich auch als zweite Opfer nach medizinischen Behandlungsfehlern erleben (A. d. Ü.).

II.Stand der englischen Originalausgabe 2012, gilt auch für weitere Zeitangaben (A. d. Ü.)..

III.Peter M. Senge. Die fünfte Disziplin: Kunst und Praxis der lernenden Organisation. Klett-Cotta-Verlag, 10. Auflage 2008 (A. d. Ü.).

Kapitel1

Burnout

In Ihrer Notaufnahme liegt unbeachtet eine Patientin, die Ihre Großmutter sein könnte, auf einer Liege mitten im Gang. Es gibt keine freien Betten mehr. Nachdem sie vergeblich versucht hatte, auf sich aufmerksam zu machen, liegt sie nun stumm auf beschmutzten Laken. Es war niemand da, der sie hätte zur Toilette begleiten können.

Ein ungeschriebenes Gesetz unter medizinischem Fachpersonal lautet: Kopf einziehen, schleunigst die Arbeit erledigen, Papierkram ausfüllen und ab zum nächsten Patienten.

Gestern hatten Sie sich Zeit genommen, um einem Patienten wirklich zuzuhören, seine Hand zu halten und ihm Trost und Verständnis entgegenzubringen. Diesen Fehler werden Sie heute nicht nochmal machen – nicht, nachdem lhre Kollegen deutlichen Unmut über eine derartige Zeitverschwendung geäußert hatten.

Ein ungeschriebenes Gesetz unter medizinischem Fachpersonal lautet: Kopf einziehen, schleunigst die Arbeit erledigen, Papierkram ausfüllen und ab zum nächsten Patienten.

Nach mühevollen Jahren der Aus- und Weiterbildung zur höchsten fachlichen Qualifikation, in denen Sie wahrscheinlich ihre Familie hintan gestellt haben, sind Sie stolz auf Ihre technischen Fertigkeiten. Aber nun halten sich Freude und Zufriedenheit bei der Ausübung in Grenzen. Die Arbeit an sich ist reine Routine, tagein und tagaus.

Und seit wann sind die Patienten eigentlich dermaßen undankbar? Erst vernachlässigen sie ihre Gesundheit und dann erwarten sie von Ihnen, dass Sie es wieder in Ordnung bringen – nur um später Beschwerden zu verfassen oder Sie zu verklagen, wenn der gewünschte Erfolg ausbleibt.

Am Ende der Schicht gehen Sie erschöpft und entmutigt nach Hause. Heute haben Sie jemanden wütend angeherrscht. Sie wissen nicht, wie lange Sie das noch durchhalten können. Es muss doch noch mehr hinter der Arbeit stecken als bloßes Geldverdienen.

In dieser Geschichte erkennen sich immer mehr Beschäftigte im Gesundheitswesen wieder.

Die Gesundheitsversorgung schwebt in großer Gefahr. Der stete wissenschaftlich-technische Fortschritt, die Konzentration auf Krankheit anstatt auf Wohlbefinden, die rasant zunehmenden Kosten und die Korruption der medizinischen Versorgung aufgrund Gewinnmaximierung und Profitgier bringen uns rasch an einen kritischen Punkt. In diesem Machtgerangel droht die Gefahr, dass die menschlichen Aspekte der Fürsorge, des Mitgefühls und der Heilung verloren gehen.

International nehmen Erschöpfungszustände, Depression, Stress und Burnout beim medizinischen Personal epidemische Ausmaße an. Bei steigendem Stresspegel tun Mobbing und Missbrauch ihr Übriges, um den Teamzusammenhalt und die Patientenversorgung weiter in Mitleidenschaft zu ziehen.

In den letzten Jahren erregte der Ausdruck disruptive behavior (störendes Verhalten) in medizinischen Fachzeitschriften zunehmende Aufmerksamkeit.1 Er ist ein Euphemismus für kleinkindhafte Wutausbrüche unter medizinischem Fachpersonal – gekennzeichnet durch Geschrei, das Werfen von Gegenständen und Türenknallen. Unspektakulärer, jedoch ebenso zerstörerisch wirken Hohn und Sarkasmus.

Nicht der Job, den wir uns ausgesucht haben

Jill Maben ist eine Wissenschaftlerin in London. Ihre Ängste über den Zustand des Krankenpflege-Berufes wurden in einer Längsschnittstudie erfasst, die zeigte, wie die Ideale und Werte der Pflegewissenschafts-Studenten mit der nüchternen Arbeitsrealität im britischen Gesundheitswesen kollidierten:2

Kürzlich examinierte Pflegekräfte wurden einem verdeckten Regelwerk ausgesetzt, dessen Einhaltung von ihnen erwartet wurde. Dieses Regelwerk stand jedoch im Widerspruch zu ihren Werten und Idealen. Die vier „Regeln“ herrschten insbesondere in Arbeitsumfeldern vor, welche als herausfordernd und mangelhaft galten.

Regel 1: Rasche körperliche Versorgung hat gegenüber psychologischer Betreuung Vorrang.

Regel 2: Keine Miene verziehen! (mit dem Bedürfnis, beim Verrichten von schwerer körperlicher und „schmutziger“ Arbeit gesehen zu werden)

Regel 3: Lass dich nicht zu sehr auf die Patienten ein (wahre jederzeit die emotionale Distanz).

Regel 4: Pass dich an und stifte keine Unruhe (Lass die Finger von dem Versuch, die gängige Praxis zu verändern).

Maben fand heraus, dass die meisten Pflegerinnen und Pfleger sich innerhalb der ersten beiden Jahre nach Berufsabschluss zu verkappten oder gescheiterten Idealisten entwickelten. Beruflich frustriert, grassierte unter ihnen eine hohe Rate an Burnout-Erkrankungen, in deren Folge es unweigerlich zu Desillusionierung, häufigem Jobwechsel und in manchen Fällen gar zum gänzlichen Ausstieg aus dem Beruf kam.

Ärzten ergeht es nicht besser. In einer Umfrage der US-amerikanischen Ärzte-Stiftung von 2008 zeichneten die 12 000 befragten Ärzte in den USA ein düsteres Bild, das drastische Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung der Nation haben könnte.3

Der Bericht ergab Folgendes:

78 % der Ärzte fanden die Heilkunde „nicht mehr befriedigend“ oder „weniger befriedigend“,

63 % der Ärzte bekannten, nicht immer genügend Zeit zu haben, um all ihre Patienten adäquat zu behandeln,

60 % der Ärzte würden den Arztberuf nicht empfehlen,

49 % der Ärzte – mehr als 150 000 Mediziner des gesamten Land – gaben an, dass sie im Laufe der nächsten drei Jahre vorhätten, entweder die Patientenzahlen zu reduzieren oder ihre Tätigkeit niederzulegen,

42 % der Mediziner bewerteten die Arbeitsmoral ihrer Kollegen als „mangelhaft“ oder „sehr gering“,

nur 6 % der Ärzte beschrieben die Arbeitsmoral ihrer Kollegen als „positiv“.

Chronischer Stress und Desillusionierung ziehen auch das Arbeitsklima in Mitleidenschaft. In einer Umfrage an fünfzig US-amerikanischen Krankenhäusern für Kriegsveteranen (Veterans Hospital Administration, VHA) berichteten 86 % des Pflegepersonals und 49 % der Ärzte, Zeugen von Wutausbrüchen des leitenden medizinischen Personals gewesen zu sein. Diese schadeten nicht nur dem Arbeitsklima, sondern letzten Endes auch der Patientenversorgung.4

Die meisten Befragten dieser Studie waren der Ansicht, dass mangelhafte Kommunikation zu Behandlungsfehlern führe, welche sich auf die Sicherheit und letztendlich sogar auf die Mortalität der Patienten auswirkten.

Unsere Gesundheitssysteme selbst verursachen unnötig viel Schmerz und Leid. Jeden Tag machen unsere Einstellungen und unser Handeln einen Großteil unserer harten Arbeit im Dienste der Patienten wieder zunichte.

Die ergreifendsten Schilderungen dieses Leides kommen oft von Menschen in medizinischen Berufen, die sich plötzlich selbst in der Patientenrolle wiederfinden und sich ängstlich und verwundbar fühlen.

Wenn Menschen in medizinischen Berufen zu Patienten werden

George Sweet, ein pensionierter Psychotherapeut und Schriftsteller aus Neuseeland, erkrankte an Myelitis transversa, einer akuten Entzündung des Rückenmarkes. Sweet schilderte seine persönlichen Erfahrungen während der täglichen Visiten im Krankenhaus5:

Als ich das erste Mal ins Krankenhaus kam, sorgte ich mit meiner aufrichtigen Art für Verwirrung. Ich konnte plötzlich meine Beine nicht mehr bewegen. Zur Visite fragte man mich: „Wie fühlen Sie sich heute?“ Wahrheitsgemäß antwortete ich: „Sehr verängstigt und tieftraurig.“ Irgendwie schien meine Antwort jedoch unpassend zu sein; das Team strauchelte gedanklich, fing sich aber bald wieder und erkundigte sich dann nach meinen Symptomen: „Geht es den Füßen schon etwas besser?“ Ich fühlte mich zurückgewiesen, nicht gehört – „im Stich gelassen“ wäre keineswegs übertrieben ausgedrückt.

Mehrere Monate war ich im Krankenhaus, aber ich brauchte ungefähr neun Wochen, um dieses vage Gefühl und diese Unzufriedenheit als solche benennen zu können, welche diese Visiten in mir hervorriefen. Die Visiten waren für mich durchweg unpersönlich. Dieser Eindruck wurde noch durch Ärzte verstärkt, die ihre Antworten auf meine Aussagen nicht mit mir, sondern untereinander besprachen. Aus Angst gab ich auf Fragen oft schnelle, unvollständige oder wenig hilfreiche Antworten. Es fühlte sich nicht so an, als ob ich, George, auch nur von geringster Wichtigkeit für die Visite war. Die Pathologie war sehr wichtig. Ich war überwältigt von den vielen Menschen, die so wenig Bestreben hatten, George kennenzulernen oder ihn in seine eigene Behandlung mit einzubeziehen.

Die Visiten begannen üblicherweise mit einem kurzen „Wie geht es Ihnen heute Morgen?“. Schnell lernte ich, dass die korrekte Antwort „alles in Ordnung“ oder „gut“ lautete. Im schlimmsten Fall schien der Schwerpunkt darauf zu liegen, sich zu vergewissern, dass beim Patienten „ alles in Ordnung“ war (was bedeutete, dass die Visite weitergehen konnte) – oder aber dass der Patient ein Problem hatte, welches eine Änderung der Medikation erforderte (dann konnte die Visite weitergehen). Auf meine Nachfrage bei anderen Patienten fand ich heraus, dass auch sie bei derartigen Visiten bevorzugt mit „alles in Ordnung“ oder „gut“ antworteten.

Aus meiner Perspektive als Klinikarzt zeichnet dieser kurze Bericht sehr genau nach, was ich im Laufe meines Berufslebens bei den Visiten in sämtlichen Krankenhäusern miterlebte. Diese unpersönliche Behandlung war nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

Die Persönlichkeit des Patienten löst sich rasch in der Rolle des Patienten auf.

Bei unserer Art der Medizin stehen die Krankheit und die standardisierte Behandlung der Pathologie im Mittelpunkt und nicht der Mensch mit seiner jeweiligen Erkrankung. Zudem erzeugen die jeweiligen Rollen als Arzt oder als Patient ein erhebliches Machtgefälle.

Es ist sehr viel einfacher für Patienten, Fragen mit „alles in Ordnung“ oder „gut“ zu beantworten, als essentielle Sorgen zuzugeben oder Fragen zu stellen.

Wir wissen mittlerweile, dass diese Art der Behandlung, die sich so viele Menschen in medizinischen Berufen aneignen, nicht nur für die Patienten, sondern auch für die behandelnden Ärzte ernste Konsequenzen nach sich zieht.

Warum wir den gesamten Menschen behandeln müssen

Es gibt zunehmende wissenschaftliche Evidenz für den enormen Einfluss emotionaler und psychologischer Faktoren auf das Wohlbefinden und Überleben unserer Patienten. Beispielsweise ist der Unterschied in der Mortalitätsrate zwischen Pessimisten und Optimisten bei führenden Todesursachen wie Herzkrankheiten etwa so groß wie derjenige zwischen Rauchern und Nichtrauchern.6

Der Unterschied in der Mortalitätsrate zwischen Pessimisten und Optimisten bei führenden Todesursachen wie Herzkrankheiten ist etwa so groß wie derjenige zwischen Rauchern und Nichtrauchern.

Vielleicht sind Sie ein versierter Chirurg, der an der Relevanz dieser ganzen Gefühlsduselei für Ihr chirurgisches Ergebnis zweifelt. Es ist wissenschaftlich belegt, dass sich durch Stress die Rekonvaleszenz Ihrer Patienten verzögert und das Risiko von Wundinfektionen und Krebs-Rezidiven erhöht.7,8

Menschen verfügen von Natur aus über besondere Regenerationskräfte. Jeder Arzt kennt Patienten, die sich aller Erwartungen zum Trotz einer guten Gesundheit erfreuen, obwohl ihnen prognostiziert wurde, dass sie an einer unheilbaren Krebserkrankung versterben würden.

Wann immer wir also Patienten unpersönlich als „Knoten in der Brust auf Station 6“ behandeln, versäumen wir es, einen sehr wirkungsvollen Heilungsmechanismus zu nutzen, der mindestens so effektiv ist wie viele unserer Medikamente.

In dieser distanzierten, unpersönlichen Art der Behandlung liegt auch eine der Hauptursachen für so viel Verdruss bei vielen Medizinern. Wenn Patienten eine mangelhafte Zuwendung spüren, verlieren sie schnell das Vertrauen. Sie sind unzufrieden, fühlen sich ungehört und neigen dann entweder dazu, vermehrt Ansprüche zu stellen oder sich zurückzuziehen. Dies trübt die Freude am Beruf. Zudem neigen Menschen in Gesundheitsberufen dazu, selbst ihre härtesten Kritiker zu sein.

Während sich die Arbeitsbedingungen zuspitzen und die Patientenversorgung auf dem Spiel steht, leiden Burnout-gefährdete Mitarbeiter besonders unter einem hohen Maß an Selbstkritik und Scham. Das ist ein scheußlicher Teufelskreis, der zu Depressionen und körperlichen Beschwerden führt.

Unglückliche Mediziner verseuchen die Menschen in ihrer Umgebung. Schlechte Laune ist ansteckend. Menschen in einem angespannten Arbeitsumfeld verlieren Geduld und Gutmütigkeit. Sie blaffen sich gegenseitig an. Eine Längsschnittstudie zu krankheitsbedingten Fehlzeiten bei Krankenhausärzten zeigte, dass schlechte Teamarbeit der stärkste Einflussfaktor war, entscheidender sogar als Arbeitsüberlastung.9

Und was passiert, wenn uns die Therapieoptionen ausgehen? Vielleicht hat der Patient eine chronische Erkrankung, die wir nicht beheben oder heilen können; schlimmer noch: eine unheilbare Krebserkrankung. Wie fühlen wir uns, wenn wir dem Patienten sagen müssen: „Es tut mir leid, wir können nichts mehr für Sie tun.“? Was macht das mit unserem Sinn für fachliche Kompetenz, unserem Selbstwertgefühl?

Professor Keiran Sweeney war ein inspirierender Allgemeinmediziner und angesehener Lehrer in der Medizin. Er verstarb an Heiligabend im Jahre 2009 mit der Diagnose eines Pleuramesothelioms, einer bösartigen Neubildung des Lungenfelles, das die Lunge umschließt. In einem bewegenden Artikel, der vor seinem Tode erschien, beschreibt er, wie er von seiner schicksalhaften Diagnose erfuhr.10

Die Gewebeprobe wurde fachgerecht von einem OP-Team entnommen. Alle Ärzte machten nach der Prozedur einen beängstigend niedergeschlagenen Eindruck. Niemand sah sich imstande, meine wachsende Angst beim Namen zu nennen, außer vielleicht der jüngste Assistent im Team, der von sich – im Nachhinein betrachtet – wahrscheinlich glaubte, weder über die notwendige Autorität noch über die Lebenserfahrung zu verfügen, um eine derartige Diagnose zu erörtern. Der Fachkrankenpfleger kam vorbei, um meiner Frau und mir zu zeigen, wie man den Thorax-Drainagekatheter entleert, der noch belassen wurde, um die Pleurodese zu unterstützen.

Wenn es irgendetwas gäbe, was ich über Mesotheliome wissen wolle, sagte er in bester Absicht, habe er eine Menge Informationen vorrätig. Der körperliche Schock durch diese achtlos dahingesagte Bemerkung ging dem derben emotionalen Schlag teilweise voraus, während ich mich höflich lächelnd zur Röntgenkontrolle begab, wozu ich durch die diensthabende Schwester mit folgenden Worten aufgefordert wurde: „Könnten Sie diesen jungen Mann bitte runter zum Thorax-Röntgen schaffen, sobald Sie fertig sind?“ Ich schätze, die Krankenschwester war etwa 22 Jahre alt …

Während der Röntgenaufnahmen fragte meine Frau den onkologischen Fachkrankenpfleger, warum alle hier so bedrückt wirkten. Zu diesem Zeitpunkt wusste anscheinend jeder, dass ich ein Mesotheliom hatte, jeder außer mir.

Ich habe es letztendlich herausgefunden, als ich den Entlassungsbrief zu Hause am Mittagstisch bei einem Glas Sauvignon Blanc las: Malignes Mesotheliom. „Der Patient hat Kenntnis über die Diagnose.“, hieß es in der Zusammenfassung.

Die nächsten 48 Stunden nutzten wir, um mit unseren vier wunderbaren Kindern zu reden, die sich im mittleren Teenageralter bis Anfang 20 befinden und deren erfreuliche Karrieren derzeit von Schule über Teilzeit-Arbeit bis zum Hochschulstudium reichen. Ich kann den entsetzlichen Schmerz kaum in Worte fassen, den diese Nachricht bei ihnen ausgelöst hat.

Wir umarmten uns. Sie weinten. Ich weinte um sie, aus Angst um mich selbst und über die unfassbare Schreckensvorstellung, dass sie weiter auf dieser Welt leben würden, auf der ich bald keine Rolle mehr spielen würde. Genau wie meine Frau waren sie mutig, selbstlos und mitfühlend.

Sweeney fuhr fort, die verheerenden emotionalen Auswirkungen im Umgang mit Medizinern zu schildern, die außerstande waren, die Schwere seiner Erkrankung anzuerkennen oder irgendeine Form der emotionalen Unterstützung anzubieten.

Sweeneys Geschichte gibt einen Einblick, wie vielen Schwierigkeiten Menschen in medizinischen Berufen begegnen, wenn ihre Behandlung nur auf die Krankheit oder die physischen Symptome des Patienten gerichtet ist. Mangelt es diesen Menschen an Selbstvertrauen, Fähigkeiten und psychologischer Belastbarkeit, um einem Patienten emotionale Unterstützung und Verständnis entgegenzubringen, so bleibt ihnen nur eine schreckliche Verfehlung des eigentlichen Berufssinnes.

Ich glaube, dass jeder einzelne von Sweeneys vielen Ärzten und Pflegenden ein mitfühlender Mensch war. Vermutlich hätten sie sehr gelitten, wenn sie sich der Tragweite ihrer Worte bewusst gewesen wären, während sie sich gleichzeitig außerstande sahen, Trost oder Hoffnung zu spenden.

Wenn Sie aber als Arzt oder Therapeut an der Seite von Patienten sitzen können und ihren Mut, ihre Resilienz, Hoffnung und Fähigkeit zur Vergebung angesichts einer lebensbedrohlichen Erkrankung miterleben, dann fühlen Sie sich demütig und privilegiert. Es ist eine gemeinsame Reise, die Ihrer Arbeit einen tiefen Sinn verleihen kann.

Wo bleibt das Mitgefühl?

Warum stoßen Mitgefühl und Fürsorge innerhalb professioneller und institutioneller Kulturen auf so viel Widerstand? Und auf persönlicher Ebene: Was hält Menschen in Gesundheitsberufen davon ab, ihre Herzen in die Arbeit einzubeziehen und eine emotionale Verbindung mit den Patienten einzugehen? Wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge sind die Antworten darauf allgemein gültig:

das schiere Arbeitstempo und eine Vielzahl miteinander konkurrierender Anforderungen,

der Gruppenzwang,

die Überzeugung, Objektivität und klares Urteilsvermögen seien obligatorisch,

der entmenschlichende Effekt der vielen Medizintechnik,

klinikinterne Regeln und Richtlinien.

Als medizinische Fachkräfte sind wir fest verwurzelt in einer Kultur, die unbewusst unsere Überzeugungen und Verhaltensweisen prägt. Diese Einflüsse verhindern derart hartnäckig eine mitfühlende, ganzheitliche Fürsorge, dass ich sie „Tyranneien“ des Systems nenne: all die Normen, Praktiken, Gewohnheiten und Überzeugungen, die wir uns im Laufe der Ausbildung, Weiterbildung und Praxis unbewusst aneignen.

Selten sprechen wir über psychologische und emotionale Verletzlichkeit, dabei sehen Menschen in Gesundheitsberufen schreckliche Dinge: entsetzliche Verletzungen und Entstellungen (davon einige infolge der Behandlung), von Krankheit gezeichnete Körper, Schmerz und Leid und Todesfälle von Patienten, die uns an geliebte Menschen erinnern.

Uns wird beigebracht, dass der Preis einer emotionalen Beteiligung zu hoch ist: Wir müssten uns mit unserer eigenen Verletzlichkeit, Unzulänglichkeit und potentieller Sterblichkeit auseinandersetzen. Wie viele Menschen in Gesundheitsberufen reden mit einem Patienten schon gern über Tod und Sterben?

Die erste Studie über emotionale Verletzlichkeit von Menschen in Gesundheitsberufen wurde vor mehr als fünfzig Jahren veröffentlicht.11 Isabel Menzies, eine britische Psychoanalytikerin, war federführend bei dieser klassischen Untersuchung mit dem Titel A Case-Study in the Functioning of Social Systems as a Defence against Anxiety. A Report on a Study of the Nursing Service of a General Hospital.I

Menzies’ Pflegekräfte standen in ständigem Kontakt mit Menschen, die körperlich krank oder verletzt waren, oftmals ernsthaft. Ob und in welchem Maße die Patienten sich wieder erholen würden, war ungewiss. Die Betreuung von Patienten mit unheilbaren Erkrankungen war für die Pflegenden eine der anstrengendsten Herausforderungen. Schwestern und Pfleger waren mit drohendem oder bereits eingetretenem Leid und Tod konfrontiert. Ihre Arbeit umfasste Tätigkeiten, welche normalerweise als unangenehm, ekelerregend und beängstigend empfunden werden.

Menzies berichtete, dass der intime körperliche Kontakt mit Patienten starke und zwiespältige Gefühle bei den Pflegenden hervorrief. Emotionen wie Mitleid, Mitgefühl, Liebe, Schuld und Angst trafen auf Emotionen wie Hass und Verachtung, die alle durch die Patienten ausgelöst wurden. Solche starken Gefühle wurzelten oft im Neid auf die Patienten über die Zuwendung, die ihnen so großzügig entgegengebracht wurde.

Menzies zeigte auf, dass die Bewältigungsstrategien der Pflegekräfte deren Ängste abbauten, indem die Pflegenden sowohl sich selbst als auch die Patienten entpersonalisierten. Diese Strategien beinhalteten:

ein System der „Aufgabenlisten“, das die Pflegenden von der Angst befreite, Entscheidungen treffen zu müssen,

Kommunikation über Patienten nicht mit ihrem Namen, sondern mit ihrer Krankheit: die Pneumonie in Bett 15,

eine einheitliche Dienstkleidung als Symbol für Uniformität im Verhalten, so dass eine Pflegekraft perfekt austauschbar mit einer anderen Pflegekraft war; für die Person der jeweiligen Pflegekraft an sich gab es keinen Raum

Distanziertheit und Verleugnung von Gefühlen, eine „gute“ Pflegekraft störte es nicht, von einer Arbeitsstelle auf eine andere versetzt zu werden.

Neueste Berichte illustrieren, dass heutige Medizinstudenten im klinischen Teil ihrer Ausbildung ähnlich herausfordernde Erfahrungen machen.

Ein Student der Harvard-Universität, Neal Chatterjee, schrieb12:

An Krankenhäusern gibt es nichts, das besonders natürlich wäre – durchgängig beleuchtete Flure, die Kakophonie aus verschiedensten Lautsprecherdurchsagen, beinahe pausenloses Piepen und Brummen, der fade Geruch der Krankenhausbettwäsche.

Diese Unnatürlichkeit wurde mir eindrucksvoll klar, als ich als Medizinstudent im 3. Jahr – frisch rasiert, nervös, aufnahmebereit – den ersten Tag meiner Famulatur in der Chirurgie begann.

Als ich zu meinem Team kam, beschrieb der für mich zuständige Assistenzarzt gerade den Krankheitsverlauf eines Patienten: „Er kam mit leichten, stechenden Bauchschmerzen … und ging mit einem aortokoronaren Bypass, einer Appendektomie und zwei Thorax-Drainagen.“

Diese Bemerkung war offensichtlich lustig, wie ich dem anschließenden Gelächter entnahm. Und der Arzt, der diese Anekdote erzählte – lässig auf seinem Stuhl sitzend, die Beine übereinandergeschlagen und mit Kaffee in der Hand – schien sich erstaunlich … wohlzufühlen.

Im Laufe dieses Jahres – an der Harvard Medical School bekannt als grundlegende klinische Erfahrung – verwandelte sich das Geplärr der Durchsagen zu einem leisen Hintergrundrauschen, das Piepen und Brummen schien immer weiter weg und der fade Geruch der Krankenhausbettwäsche wurde mir nur allzu vertraut.

Gelegentlich jedoch gab es Momente, die mich an mein altes Unbehagen erinneren ließen, eine Art Vorahnung, dass das, was da gerade passiert war, von größerer Tragweite war, als ich zu dieser Zeit erkennen konnte. Diese Momente verloren sich oft inmitten der morgendlichen Prüfung der Vitalzeichen, unserer nächsten Aufnahme oder der Differentialdiagnosen von Brustschmerz.

Am Ende des Jahres wurden wir gebeten, einen Abschlussbericht über unser erstes Jahr im Krankenhaus zu schreiben. Was dann meinen Computerbildschirm füllte, hatte nichts mit Vitalzeichen oder Brustschmerz zu tun. Ich begann zu schreiben: „Ich habe ein 24-Stunden altes Kind sterben gesehen. Ich sah dasselbe Kind im Alter von 12 Stunden und besaß die Unverfrorenheit, ihren Eltern zu sagen, dass sie schön und gesund war. Offenbar erbrach sich der Vater angesichts seines Kindes – blau, schlaff, still – an Ort und Stelle. Ich sage „offenbar“, weil ich zu Hause unter meiner eigenen Bettdecke schlief, als sie verstarb.

Ich habe viel zu viele Leute nackt gesehen. Ich habe 350 Pfund Fleisch gesehen, tot: eingetrocknetes rotes Blut überzog den nackten Adipösen, seine Mullverbände und die nutzlosen EKG- Papierstreifen. Ich habe einen Patienten zum zweiten Mal getroffen und ihn innerhalb von zehn Minuten auf dem OP-Tisch narkotisiert, ausgebreitet und aufgeschnitten liegen sehen.

Ich habe ein Kind auf die Welt geholt, allein. Ich habe einem Mann das Bein abgesägt und es in einen Metalleimer abgeworfen. Ich habe drei Patienten in einer Nacht an Krebs sterben gesehen.

Bemerkenswert ist, dass alle im Gesundheitswesen Tätigen den Prozess der Ausbildung und der ersten Berufsjahre durchlaufen, ohne unmenschlich zu werden. Doch manche dieser Menschen sind wie Engel, sie strahlen an ihrem Arbeitsplatz und erschaffen so Oasen der Ruhe, der Zuwendung und des Mitgefühls. Welche besonderen emotionalen und psychologischen Stärken ermöglichen es ihnen, den entmenschlichenden Einflüssen zu widerstehen?

Unsere Menschlichkeit bewahren

Pioniere auf dem neuen und rasch expandierenden Gebiet der Positiven Psychologie erforschen solche Fragen zu Resilienz, Stärken und Wohlbefinden. Viel zu lange haben wir uns auf mentale Probleme wie Angst und Depressionen konzentriert, sagen Führende auf diesem Gebiet wie Martin Seligman.13,14 Wir müssen verstehen, was es bedeutet, gesund, glücklich und resilient zu sein. Worin bestehen die psychischen Stärken, die den Menschen erlauben, aller Widrigkeiten zum Trotz aufzublühen?

Viele Leute neigen dazu, zu glauben, dass unterschiedliche Verhaltensweisen das Ergebnis von angeborenen Persönlichkeitsmerkmalen sind. Es scheint, als ob manche Menschen einfach von Natur aus glücklich, sorglos und resilient sind.

Tatsächlich können diese Eigenschaften aber schnell erlernt und weiterentwickelt werden. Zudem können wir lernen, unsere Umgebung neu zu gestalten, statt das ewige Opfer unseres Umfeldes zu sein, um eine ganz andere Lebenserfahrung zu machen.

Als ich vor 15 Jahren meine lange Reise des Lernens antrat, hatte ich für ebendieses Konzept nur ein müdes Lächeln übrig. Zu jener Zeit war ich Anästhesist und betrieb eine hochspezialisierte Medizin an einem großen Lehrkrankenhaus. Die Quelle meiner beruflichen Identität und meines Selbstwertes war technische Expertise. Während ich meine Patienten versorgte, wusste ich wenig über mitfühlende Fürsorge.

Drei Dinge änderten meine Meinung. Zum einen die große Bedeutung der wissenschaftlichen Forschungen auf den verschiedensten, miteinander verwandten Gebieten: Die Zusammenhänge zwischen psychologischer, emotionaler und körperlicher Gesundheit; die Neurobiologie zwischenmenschlicher Beziehungen und wie sehr wir einander beeinflussen; und der rasante Erkenntnisgewinn der Positiven Psychologie.

Zweitens erlebte ich eine allmähliche Veränderung in meiner eigenen Erfahrungswelt, als ich begann, die Haltungen und Fähigkeiten der mitfühlenden Fürsorge zu erlernen. Meine klinische Tätigkeit habe ich noch nie freudvoller, erfüllender und als so privilegiert empfunden. Arbeiten, die bisher reine Pflichterfüllung waren, machten mir nun große Freude.

Der letzte Faktor waren schließlich die vielen Geschichten von anderen Medizinern, die ihr Leben von Grund auf verändert hatten.

Mein E-Mail-Postfach wurde eine Schatzkiste voller bewegender Geschichten, die mit Sätzen wie „Robin, Sie haben mein Leben gerettet …“ begannen.

Jeder, der mit evidenzbasierter Methodik arbeitet, kennt die lange Latenzzeit zwischen der Veröffentlichung klinischer Studien und der Verankerung dieses Wissens in der Praxis. Zum Beispiel kann eine „Lysetherapie“ (medikamentöse Auflösung eines Blutgerinnsels) innerhalb der ersten Stunde eines akuten Herzinfarktes die Mortalität um bis 48 % senken.15 Obwohl bereits in den 1980er Jahren überzeugende Beweise für diesen Nutzen vorlagen, dauerte es bis in die 1990er Jahre, bis dieses Wissen praktisch umgesetzt wurde; noch bis weit in die 2000er Jahre wurden viele Patienten nicht entsprechend behandelt.

Genauso verhält es sich mit den Forschungsergebnissen über die mitfühlende, ganzheitliche Behandlung und das Wissen, um die tiefen zwischenmenschlichen Verbindungen: Einsicht und Praxis hinkten den Erkenntnissen sehr lange hinterher.

Das neue Gebiet der Positiven Psychologie

Die Wissensexplosion auf dem Gebiet der Positiven Psychologie im letzten Jahrzehnt beginnt unseren Zugang zu Gesundheit und Wohlbefinden zu revolutionieren. Lang gehegte Gewohnheiten, wie zum Beispiel die professionelle Distanz im Umgang mit Patienten und Kollegen, müssen nun in Anbetracht der modernen Neurowissenschaften und unserer neuen Erkenntnisse über Wahrnehmung, Bewusstsein und Realität erneut überprüft werden.

Vor dem neuen Jahrtausend lag der Fokus der Psychologie und Psychiatrie fast komplett auf den Defiziten und Störungen der geistigen Gesundheit, wie Angststörungen oder Depressionen. Gesundheit wurde einfach als Abwesenheit von Krankheit wahrgenommen, statt als positive Entfaltung von körperlichem, emotionalem, geistigem und spirituellem Wohlbefinden.

Die Wissensexplosion auf dem Gebiet der Positiven Psychologie im letzten Jahrzehnt beginnt unseren Zugang zu Gesundheit und Wohlbefinden zu revolutionieren.

Die „Bibel“ für alle, die im Bereich der seelischen Gesundheit tätig sind, ist eine komplexe Klassifikation von psychischen Störungen namens DSM-IV.II Die vierte Ausgabe des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen umfasst tausende Einträge, dennoch fehlt im Grunde genommen die Hälfte des Buches. Beschreibungen oder Klassifikationen von geistigen und emotionalen Stärken, positiven Werte oder Quellen der Resilienz und des Wohlbefindens kommen darin nicht vor. Die Psychologen Christopher Peterson und Martin Seligman behoben diesen Mangel, indem sie im Jahre 2004 das Character Strengths and Virtues: A Handbook and ClassificationIII publizierten.16

Das vorliegende Buch Time to Care stützt sich auf wichtige, neue wissenschaftliche Belege aus der Welt der Positiven Psychologie. Herausragende Forscher wie Barbara Fredrickson, Autorin des Bestsellers PositivityIV, lehren uns, wie wir in medizinischen Berufen aufblühen und die beste Version unserer selbst werden können.17

Gegenwärtig verdichten sich auch die Hinweise für eine Verknüpfung zwischen Positiver Psychologie und körperlicher Gesundheit. In einer der zahlreichen von Seligman zitierten StudienV betrug das Risiko, in den nächsten zehn Jahren an einem Herzinfarkt oder Schlaganfall zu versterben, bei niederländischen optimistischen Senioren weniger als ein Viertel im Vergleich zu pessimistischen Senioren.14

Damit wird klar, dass unser Fokus auf die körperliche und biomedizinische Ebene von Krankheit unausgewogen ist. Wir müssen unser Augenmerk viel stärker auf das emotionale, psychologische und spirituelle Wohlergehen sowie auf die enorme Wichtigkeit von heilsamen Beziehungen richten.

Die Fokussierung auf Positivität, Wohlbefinden, Stärken und Widerstandsfähigkeit statt auf Krankheit ist heutigen Medizinern oft fremd. Wir sind so versiert in der Problemerkennung, Diagnosefindung, Therapie und Risikomanagement, dass unser gesamtes Denken dadurch unbewusst geprägt wurde.

Die Wissenschaft der Positiven Psychologie kann uns also eine große Hilfe dabei sein, uns von diesen unbewussten Einflüssen zu befreien, um uns zu vollauf mitfühlenden Behandlern zu entwickeln.

Fredrickson entwickelte die sogenannte Broaden-and-build-TheorieVI, die besagt, dass positive Gedanken und Emotionen das Feld unserer Wahrnehmung erweitern, unsere Kreativität erhöhen und unseren gesellschaftlichen Beitrag steigern.18

Pessimistische, traurige Gedanken, die nur auf Probleme und Risiken gerichtet sind, begrenzen hingegen unsere Kreativität und halten uns in eingefahrenen Denkmustern gefangen, in denen dieselben Gedanken ständig in unserem Kopf umherkreisen. Hatten Sie jemals einen schlechten Tag gehabt und sich dabei ertappt, dass Sie gedanklich gerade all die Dinge auflisten, die bereits schief gelaufen sind? Dadurch steuern sie geradewegs auf weitere Katastrophen zu.

Dieses Buch knüpft auch an die uralte Weisheit fernöstlicher Philosophien, wie z. B. der buddhistischen und taoistischen Philosophie, an.

In der Art und Weise, wie kritische Denkweisen unser Repertoire an Antworten begrenzen können, verstellen auch andere fragwürdige Annahmen, Rahmenbedingungen und Modelle der westlich geprägten Kultur unseren Zugang zu Gesundheit und Wohlergehen. So wird in der westlichen Welt sehr viel Wert auf das Selbstbewusstsein als Quelle des Wohlbefindens gelegt. Aktuelle Forschungsergebnisse legen jedoch nahe, dass Selbstmitgefühl eine sehr viel stabilere Grundlage für das Glück ist.19