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Hildegard von Bingen

 

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Herausgeber: Hubert Gerstrich
Textredaktion und Satz: André Piotrowski
Covergestaltung: Christian Dörge
Motiv: Fotolia #102010250 – Subbotina Anna

STYX Verlag, Hanau 2016
Kontakt: info@styx4you.com

ISBN Print: 978-3-95447-300-7
ISBN eBook: 978-3-95447-301-4

Copyright © by Sabina Trooger

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Ich bin gekommen,
Feuer auf die Erde zu werfen,
und was will ich anderes,
als dass es brenne!
Wo im Menschen keine Frage ist,
da ist auch keine Antwort des Heiligen Geistes.
Ein solcher Mensch stößt die Gabe Gottes zurück
und stürzt sich in den Tod.

1. Schweigen

Schon beim Erwachen spürte ich, dass dies ein besonderer Tag werden würde. Es war der letzte Sonntag im Weinlesemonat des Jahres 1178, und zum Erntedank-Gottesdienst erwarteten wir in unserer Klosterkirche eine Menge Gäste aus der ganzen Umgebung. Ich war aufgeregt wie ein junges Mädchen. Leider teilte mein Körper diese Empfindung nicht; als ich die Stufen des Münsters erklomm, spürte ich jedes einzelne meiner achtzig Jahre in den Knochen. Ich lehnte mich an das Geländer und genoss den würzigen Duft, der von den nahen Wäldern herüberwehte. Der Himmel wölbte sich tiefblau und die Freude der fünfzig Benediktinerinnen, die als meine Töchter mit mir auf dem Rupertsberg lebten, lag fast greifbar in der Luft.

»Was für ein wundervoller Morgen, Mutter Abbatissa!« Mein junger Sekretär, der Mönch Wibert von Gembloux, tauchte strahlend neben mir auf.

»Das kann man wohl sagen.«

Am gegenüberliegenden Ufer des Rheins kroch gerade der erste Sonnenstrahl über den Hügel und überzog die granitgrauen Mauern der Klostergebäude mit einem rosigen Schimmer. Rüdesheim und Eibingen lagen noch im Schatten, zu unserer Rechten aber spiegelten die Bingener Turmspitzen das Licht, als wären sie vergoldet. Wo die Nahe in den Rhein mündete, glänzten die schäumenden Wasser wie flüssiges Perlmutt. Unsere Anlegestelle in der kleinen, flussaufwärts gelegenen Bucht bot kaum noch Platz für die vielen Boote und Nachen. Aus allen Himmelsrichtungen kamen erwartungsfrohe Menschen in ihren besten Sonntagskleidern angerudert; oder sie überquerten die Brücke von Bingen. Schwatzen und Gelächter schallte bis zu uns hinauf. Die Menge der Besucher erschien mir wie ein wogendes, zur Ernte bereites Weizenfeld.

»Heilige Meisterin!« Ich bemerkte Hilde und Albrecht erst, als sie sich bereits vor mir auf die Knie geworfen hatten. Die beiden bewirtschafteten ein kleines Weingut in der Nähe und hatten mir vor Kurzem ein krankes Kind gebracht. Bevor ich sie daran hindern konnte, bedeckten sie meine Hände mit Küssen.

»Bitte, steht auf«, bat ich etwas unwillig. »Wie geht es eurer kleinen Anna?«

»Sie ist gesund«, stieß Hilde mit hochrotem Kopf hervor. Ihre Wangen waren nass von Tränen. »Du hast sie geheilt, heilige Mutter!«

»Ich habe nichts dergleichen getan. Gott ist der einzige Heiler.« Ich erinnerte mich genau an die entzündete Geschwulst am Fuß des Kindes, das im Wundfieber geglüht hatte. Schroffer, als ich es beabsichtigt hatte, entzog ich Hilde meine Hand und trat einen Schritt zurück, damit die beiden endlich aufstanden. »Sind eure anderen Kinder gesund – acht waren es, glaube ich?«

Hilde nickte eifrig. »Acht, und an Johannis wurde unsere Älteste von einem gesunden Knaben entbunden! Sie ist schon fünfzehn und mit einem Fuhrmann verheiratet. Wir wollten schon viel früher kommen, um dir zu danken, aber mitten in der Weinlese wird jede Hand gebraucht …«

»Das weiß ich doch. Grüßt die kleine Anna von mir.«

Von Wibert gestützt, betrat ich die Kirche. Augenblicklich befand ich mich in einer anderen, inneren Welt. Geräusche verhallten in der Höhe, mein Blick verlor sich zwischen den Säulen und der dämmrige Raum umfing mich wie ein geheimnisvoller Leib, aus dem unablässig Jesus geboren wurde. Ich ließ mich auf dem Äbtissinnenplatz in der Mitte des geschnitzten Chorgestühls nieder und beobachtete, wie sich das Mittelschiff langsam füllte.

Bauern, Fischer und adlige Gutsbesitzer mit Knechten und Mägden besetzten den hinteren, der Öffentlichkeit vorbehaltenen Teil der Kirche; außerdem viele Bürger und Handwerker aus den umliegenden Orten. Weiter vorn saßen die Angehörigen des Klerus von Bingen und, zur Feier dieses besonderen Tages, auch die Mönche vom Kloster Disibodenberg, aus dem unser Konvent fast dreißig Jahre früher hervorgegangen war. Wie ein Schwarm Raben im Hühnerhof hockten die Brüder in ihren schwarzen Kutten zwischen den Leuten im bunten Sonntagsstaat. Als Letzter erschien der Vogt von Bingen zusammen mit seiner Frau und seinen Vasallen. Hinter ihm fiel die zweiflügelige Tür ins Schloss, und allmählich verstummte selbst das Geflüster.

Mein Herz hüpfte vor Freude, als in diesem Augenblick der erste Sonnenstrahl durch das Mittelfenster hereinflutete. Sein goldener Strom ergoss sich vom Hauptaltar über uns, berührte alle Anwesenden mit seiner Wärme und ließ jedes Gesicht in kindlichem Staunen erglühen. Während die Glocken erklangen, im selben Rhythmus und in derselben Tonfolge wie seit dreißig Jahren, schweifte mein Blick über die Reihen, und einen Augenblick lang war ich verwirrt, als ich ein Bauernmädchen auf dem Platz sitzen sah, den Baumeister Philibert bevorzugt hatte …

* * *

»Wir müssten so nah wie möglich am Ufer bauen. Weiter oben wird der Hang zu steil für große Gebäude, und das Erdreich wäre auch nicht fest genug.«

Wir standen zwischen verfilztem Gestrüpp am Fuß des Rupertsberges; ringsum lag unberührte Wildnis. Rauschend umflossen uns die Wasser der beiden Ströme. Philibert hatte sich mit seiner Maßschnur durch die Brennnesseln gekämpft und sah mich unschlüssig an. »Ich weiß, das ist ungewöhnlich. Willst du dich nicht doch lieber nach einem anderen Bauplatz umsehen?«

»Nein, nein. Diesen Ort hat Gott mir für mein Frauenkloster bezeichnet. Übrigens gibt es in letzter Zeit viele Klosteranlagen in Tälern. Als Baumeister solltest du davon wissen.«

»Ich weiß sogar den Grund: Angeblich arbeiten die Ordensleute dort mehr! Sie müssen nämlich den Boden erst trockenlegen, bevor sie irgendetwas anbauen können.« Philibert zwinkerte mir gutmütig zu, und ich lachte mit ihm. In Wirklichkeit war ich längst nicht so sicher, wie ich mich gab. Ich war lange krank gewesen, und die Weite der unbekannten Landschaft bestürmte mich. Nach Jahren der Abgeschiedenheit in meiner Frauenklause erlebte ich es als großes Abenteuer, überhaupt hier zu sein. Auch war es für mich ungewohnt, mit einem weltlichen Mann allein zu sprechen. Baumeister Philibert war sonnenverbrannt und kräftig, mochte etwa vierzig Jahre zählen und hatte gewiss großen Erfolg bei Frauen. Das merkte ich an dem neckenden Tonfall, in dem er mir die Baupläne erklärte und mir am Fuß des wüsten, brachliegenden Osthanges die Stelle bezeichnete, wo das Münster entstehen sollte.

»Die Hochwasserkante des Rheins liegt genau hier.« Er deutete auf einen flachen Geröllhügel, auf dem prächtige Silberdisteln wuchsen. »Die Südmauer sollte also möglichst dicht an der Nahe entlanglaufen, damit im Norden genug Platz für den Chor ist …«

»Nein«, unterbrach ich. »Ich will keinen angebauten Seitenchor wie in einem Männerkloster. Dies wird ein reiner Frauenkonvent, und unser Chorgestühl kommt mitten in die Kirche. Genau zwischen Apsis und Hauptschiff! Wir wollen einen freien Blick zum Altar. Siebenmal täglich versammeln wir uns dort, um Gott zu begegnen; es ist der Mittelpunkt unseres Lebens. Welchen Sinn hätte es, uns der räumlichen Mitte zu berauben?«

Philibert musterte mich überrascht, als sähe er mich zum ersten Mal. »Überhaupt keinen Sinn, das ist wohl wahr«, murmelte er verlegen, »aber soviel ich weiß, ist diese Bauweise in einem Frauenkloster noch nie vorgekommen. Hast du das mit deinem Abt abgesprochen? Ich meine, wer ist eigentlich der Bauherr?«

»Ich bin der Bauherr«, hörte ich mich sagen. »Diese neue Anlage wird durch Spenden und Schenkungen adliger Gönner finanziert, nicht aus der Kasse des Mönchsklosters. Abt Kuno hat also keinerlei Verlust und braucht keinen Finger zu rühren. Findest du nicht auch, dass ich unter diesen Umständen ein gewisses Mitspracherecht bei der Gestaltung unseres Lebensraumes haben sollte?«

»Was ich finde, ist nicht unbedingt von Belang«, meinte Philibert verwirrt, und ich fürchtete schon, er würde den Auftrag zurückgeben.

Doch plötzlich hellte sein Gesicht sich auf. »Wenn wir mit dem ganzen Bau ein Stück nach Norden ausweichen können, liegt der Hauptaltar genau hier! Das bedeutet, dass zur Terz, gerade vor dem Choralamt, die Sonne durch das Hauptfenster fallen wird. Dann könnt ihr in der Kirche den Sonnenaufgang zum zweiten Mal erleben!« Seine Augen funkelten voller Vorfreude, und er begab sich eifrig wieder an seine Messungen.

* * *

Als die Glocken allmählich verklangen, nahm ich noch einmal Abschied von diesem guten Freund, der schon vor vielen Jahren gestorben war. Zu Beginn des Gottesdienstes ertönte nun Musik: der volle Klang einer Zither, der goldene Ton einer Harfe. Niemals in meinem langen Leben konnte ich diesen Zweiklang ohne Herzklopfen hören, der desgleichen siebenmal täglich unsere Stundengebete einleitete. Unsere Musik brachte uns Gott näher; sie öffnete uns die Tür zu Seinem Thronsaal, und wir durften uns Ihm darbringen wie kindliche Geschenke. Wie dankbar war ich dafür, dass uns das Domkapitel nach langem Hin und Her ausnahmsweise die Erlaubnis zum Gebrauch dieser beiden Instrumente erteilt hatte!

Gerade als die klaren Stimmen der Nonnen das O Gott, komm mir zu Hilfe anstimmten, öffnete sich noch einmal die Kirchentür. Ein staubiger, verschwitzter Jüngling in lederner Reitkleidung schlüpfte herein und ließ seine Augen suchend über die Menge schweifen. Unsere Blicke trafen sich, und er öffnete den Mund, als wollte er mir über all die Köpfe hinweg etwas zurufen. Dann schien etwas zu zerbrechen, das sein Gemüt gefesselt hatte. Seine verzerrten Züge wurden weich, und er schien erst jetzt wahrzunehmen, wo er sich befand. Mit scheu geneigtem Kopf zwängte er sich neben den Fischer Arbo auf die letzte Bank. Else, die Bingener Gastwirtsfrau, hatte sich zum ihm umgewandt und starrte nun mit einer seltsamen Mischung aus Häme und Befriedigung zu mir herüber.

Hatte ich mich getäuscht, oder überzogen hinter dem Fremden jagende Wolken den Himmel? Mir fiel ein, dass ich heute beim Aufwachen einen metallischen Geruch wahrgenommen hatte, als kündigte sich ein Sturm an; und nach der Prim hatte Morgenrot den Himmel überzogen wie jagende Flammen. Ein Unwetter würde wohl viele unserer Gäste über Nacht bei uns festhalten, überlegte ich; doch dank Gottes Gnade war unser Kloster auch für eine große Anzahl von Besuchern gerüstet. Wir verfügten über wohlgefüllte Speisekammern, über ein geräumiges Gästehaus und über genügend selbst gewebtes Leinen, um viele Dutzend Strohsäcke zu beziehen. Wer länger bliebe, würde unweigerlich unseren Frieden spüren.

»Von der Tiefe bis hoch zu den Sternen überflutet die Liebe das All.« Die tiefen Stimmen der Mönche brachten den ganzen Kirchenraum zum Vibrieren. Darüber stiegen die makellosen Frauenstimmen schwerelos auf; sie schwangen sich gleichsam durch die ganze Höhe des Himmels. Die hinreißenden Klänge ließen in den Herzen aller Anwesenden die wirkliche Liebe hervorbrechen: Selbst ich, die ich diese Musik doch so gut kannte, spürte ihre sprudelnde Lebensfülle. Die Frauen auf den Bänken schmiegten sich enger an ihre Männer; sogar der Vogt saß mit offenem Mund da wie ein kleiner Knabe. Die Gesichter entspannten sich: Es war, als fiele lebendiger Tau auf uns alle. Von Helenger, dem Abt des Disibodenberges, fing ich einen zerknirschten Blick auf …

* * *

»Du weißt sehr wohl, dass dein Vorgänger Kuno mir ein Güterverzeichnis aller Ländereien gegeben hat, die meinen Töchtern von ihren Familien überschrieben wurden! Denkst du, das hat er zum Spaß getan? Diese Güter gehören rechtlich uns, und ich verlange, dass du endlich die entsprechenden Urkunden ausstellen lässt!«

Ich hatte den neu gewählten Abt Helenger in seinem geräumigen Empfangszimmer förmlich überfallen. Mit knapp dreißig Jahren war er recht jung für sein Amt, und nichts hatte ihn auf den wütenden Auftritt einer Frau vorbereitet, die seine Mutter hätte sein können und die sich von seiner Würde nicht im Geringsten einschüchtern ließ.

»Du weißt, ich bin erst seit wenigen Wochen im Amt … Kunos Tod kam so überraschend, ich hatte noch keine Zeit, mich in die Sache zu vertiefen«, stotterte er ausweichend. »Ich verspreche, ich werde mich darum kümmern und dir so bald als möglich einen Boten …«

»Nicht so bald als möglich. Jetzt.« Ich warf mich in den bequemen Sessel, der für adelige Besucher bereitstand. Jahre der Entbehrungen hatten mich gestählt; nie zuvor hatte ich mich so stark gefühlt. Helenger schien das zu spüren, denn unwillkürlich wich er vor mir zurück.

»Seit fünf Jahren wohnen meine Töchter und ich auf dem Rupertsberg«, donnerte ich. »Wir haben aus einer Wildnis einen blühenden Garten gemacht; wir haben in elenden Hütten auf einer Baustelle gelebt, bis unsere Wohngebäude endlich fertig waren. Und die ganze Zeit über mussten wir auf die Einnahmen aus unserer eigenen Mitgift verzichten, weil dein Vorgänger Kuno hoffte, uns aushungern zu können! Hältst du das etwa für gerecht?«

Der junge Abt suchte verlegen nach Worten. »Es ist nichts Böses, dass ihr auf weltliche Güter verzichten sollt.«

»Ich weiß besser als du, was unser Gelübde bedeutet!«, fuhr ich ihn an. »Wir haben gehungert und gefroren, wir bekamen Schwielen und Frostbeulen wie gewöhnliche Grobmägde, aber wir haben niemals aufgegeben. Und das werden wir auch jetzt nicht tun.«

»Und doch ist mir zu Ohren gekommen, dass bei euch Unfrieden ausbrach«, warf Helenger in scheinbarer Besorgnis ein. »Ist es nicht so, dass einige deiner Töchter sogar den Konvent verließen?«

»Das ist allerdings wahr, und ihre Sünde komme auf Kunos Haupt! Einige Schwestern ertrugen das harte Leben nicht. Sie beriefen sich auf ihr Adelsprivileg und verließen uns, um in der Welt zu leben – hörst du das, Helenger? Falls ihre Seelen für die Ewigkeit verloren sind, dann nur, weil dein Vorgänger uns Steine in den Weg warf, wann immer er konnte, statt uns zu helfen. Denkst du, dass es das wert war?«

»Sicher siehst du die Dinge ein wenig zu einseitig«, gab der Abt zu bedenken. »Wärst du, ehrwürdige Mutter, nicht so halsstarrig gewesen, hätte sich gewiss alles gütlich regeln lassen, und die genannten Töchter wären in der Obhut des Ordens verblieben.«

»O ja, und wir alle wären zeit unseres Lebens auf dem Disibodenberg verblieben«, schnappte ich wütend zurück. »Begreifst du wirklich überhaupt nicht, was es bedeutet, in der lebendigen Wirklichkeit des Heiligen Geistes zu leben? Als Gott mir befahl, mit Seinen Offenbarungen an die Öffentlichkeit zu gehen, hätte ich mich lieber in den Tiefen der Erde verkrochen, das kannst du mir glauben. Aber so einfach ließ Gott mich nicht davonkommen. Für Kuno dagegen war das Wirken des Heiligen Geistes nur ein abstraktes Phänomen …«

»Gehst du da nicht ein bisschen zu weit? Als Abt musste er das Wohl des ganzen Ordens im Auge behalten. Er musste beispielsweise bedenken, welch eine Wirkung eine so stürmische Klostergründung wie die eure auf schlichte oder aufbrausende Gemüter haben könnte! Dir mag die göttliche Offenbarung zuteilwerden – ich will dir dies keineswegs abstreiten –, aber manch anderer mag, wenn er deinem Beispiel folgt, seine eigenen hochfliegenden Hoffnungen mit Gottes Stimme verwechseln. Du kannst dir selbst ausmalen, wie viel Unglück und Chaos daraus entstehen könnte! Sind wir nicht über unsere Herde gesetzt, um sie in Liebe und ruhiger Bestimmtheit anzuleiten, damit sie sich in unserer Obhut sicher fühlen kann?«

»Gewiss sind wir das. Aber auch unser Vater Benedikt schrieb, dass die größte Gabe, um die ein Abt bitten kann, die Discretio ist, das hellsichtige Unterscheidungsvermögen. Das bedeutet, die Ordensregeln müssen lebendig werden, wenn man in der Gegenwart Gottes leben will! Die Gründung des Rupertsberger Frauenkonvents geschah von Anfang an auf Geheiß des Heiligen Geistes, nicht nach meinem Plan oder dem irgendeines anderen Menschen. Mit Kuno um jede Kleinigkeit zu kämpfen, war eine unnötige Geißel. Ich – ich hoffe doch sehr, dass du einsichtiger bist, Abt Helenger.«

* * *

Die Klänge des Antifons verloren sich zwischen den Säulenreihen, die das Mittelschiff von den Seitenschiffen trennten, wie in einem geheimnisvollen Wald. Helenger sah noch immer zu mir herüber. In seinen Augen glitzerten Tränen.

Nun betrat der Priester Gernot die Kanzel und begann seine Erntedankpredigt mit den Worten: »Wer von uns hat jemals in seinem ganzen Leben irgendetwas getan, wofür Gott ihm etwas schuldet? Und dennoch schenkte Er uns Seinen Sohn, der unsere Ketten zerbrach; und aus der ganzen Fülle Seiner Macht gibt Er uns jedes Jahr die Feldfrüchte zur Stärkung unserer Leiber …« Während er von der vielfachen Barmherzigkeit des Vaters sprach, traf mich wieder der seltsam erbitterte, triumphierende Blick der Gastwirtin Else, und ich fragte mich, was wohl dahinterstecken mochte.

Sobald der Gottesdienst vorüber war, ergoss sich die Menge schwatzend ins Freie. Vor dem Festmahl für die adeligen Gäste gelang es mir, mich davonzustehlen, um ein wenig zu ruhen; voller Dankbarkeit, dass meine Stellvertreterin Adelgundis bei solch förmlich-feierlichen Gelegenheiten schon seit Jahren den Vorsitz für mich übernahm. Nach der Sext war die Menschenmenge draußen jedoch nicht geringer geworden, und als ich mit meinen Töchtern das Münster durch eine Seitentür verließ, wurde ich sofort von allen Seiten bedrängt und bestürmt. Die Leute lachten und weinten, nannten mich »Sancta Hildegardis«, küssten meine Hände, schütteten mir Herz und Seele aus. Viele baten mich auch um Segen, Heilung, Trost oder Befreiung von der Macht böser Geister.

Ein stürmischer Nordwind zerrte an meinem Gewand, während ich segnend die Hände auf immer neuen Stirnen legte und einen Blick in den Lauf immer neuer Schicksale erhaschte. Wibert schleppte einen Klappstuhl für mich herbei und stellte sich schützend hinter mich. Durch seinen kräftigen Körper hinderte er die Menge daran, mich vor lauter Sehnsucht nach einer Berührung des Heiligen Geistes umzustoßen. Wieder einmal geschah das Wunder, dass ich die Kraft dazu fand, mich jedem Einzelnen ganz zuzuwenden, damit jeder empfing, was der Vater ihm geben wollte.

Dennoch war ich dankbar, als sich Illga, eine meiner jüngeren Töchter, energisch durch die Menge drängte und mir meinen schweren Pelz umlegte. Es war empfindlich kalt geworden; der Himmel hatte sich überzogen und der Nordwind berührte mein Gesicht wie mit eisigen Nadeln. Doch an diesem Tag schenkte mir der Allmächtige gerade durch diesen Wind besondere Kraft. Der Wind, der die vier Elemente barg, barg auch mich, und ich spürte den Geist wie einen Kraftstrom durch meine Hände auf jeden überströmen, den ich berührte. Er schenkte Freiheit; doch geschah dies auf sehr unterschiedliche Weise. Wenn jemand ein verborgenes Leid mit sich herumgetragen hatte, löste sich seine Trauer in Tränen. Wer dagegen von Angst und Sorgen niedergedrückt worden war, dem fiel seine Last von den Schultern, und er brach in kindliches Gelächter aus. Anderen, deren Blick vor Unsicherheit geflackert hatte, leuchtete ein neues, inneres Licht aus den Augen. Unzählige Gesichter veränderten sich so vor meinen Augen, und wieder einmal war ich wie berauscht von der Gnade, Sein Gefäß sein zu dürfen.

Später, als es auf die Vesper zuging, überzogen rauchfarbene Wolken den Himmel. Einzelne Tropfen wehten herab; sie fühlten sich so scharf und hart an, als wären sie mit Eisenspänen vermischt. Die meisten Besucher flüchteten, und auch ich wollte mich gerade zurückziehen, da kniete auf einmal der Fremde vor mir, der morgens so gehetzt als Letzter in die Kirche gestürmt war. Seine Augen sagten mir, dass er nicht gekommen war, um Segen zu empfangen. Tief neigte er den Kopf vor mir und küsste demütig meine Hand mit dem schweren Ring der Abbatissa. Dann reichte er mir ein zusammengerolltes Pergament. Im schwindenden Licht erkannte ich das Siegel meiner Vorgesetzten, der Mainzer Prälaten.

Ich reichte meinem Sekretär die Rolle. »Wibert, erwarten wir Post vom Domkapitel?«

»Nicht dass ich wüsste, Magistra.«

»Merkwürdig. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was das sein könnte.« Mühsam stand ich auf und winkte dem Boten, uns zu folgen. Wibert musste mich beinahe tragen, so steif war ich vom langen Sitzen geworden.

»Du verschwendest dich zu sehr, Mater Magistra«, keuchte er vorwurfsvoll. »Wann wirst du endlich lernen, mit deinen Kräften zu haushalten? Der Andrang der Suchenden ist zu viel für dich. Kannst du nicht wenigstens an Feiertagen feste Besuchszeiten einhalten?«

»Hatte Jesus feste Besuchszeiten?«

»Jesus besaß den Körper eines Mannes in der Fülle seiner Kraft. Aber du, mit Verlaub, besitzt den Körper einer Greisin.«

»Umso mehr Grund, mich zu verschwenden, wie du es nennst. Du meinst es gut, Wibert, aber ich werde genau dann sterben, wenn meine Zeit gekommen ist; keinen Tag früher oder später«, versetzte ich friedlich. »Solange Gott mich benutzen will, wird Er mir auch die Kraft schenken, Ihm nach Seinem Willen zu dienen, dessen kannst du sicher sein.«

Als es zu hageln begann, hatten wir das Kalefaktorium schon erreicht. Dies war der einzige Raum im Kloster, der jemals geheizt wurde – so früh im Herbst allerdings, wie ich zugeben muss, nur mit Rücksicht auf mich. Dankbar reckte ich meine Glieder auf der Ofenbank in die wohlige Wärme und bat Wibert und den Boten, sich ebenfalls zu setzen. Wie stets an hohen Feiertagen, die große Volksmengen anlockten, war ich vom normalen Klosteralltag entbunden. Die Cellerarin hatte mich dennoch nicht vergessen und schickte mir heiße Brühe mit Lauch und Graupen. Illga und Sigewiza brachten einen kleinen Tisch herein, tischten uns dreien auf und ließen uns allein.

»Greif zu«, ermunterte ich den Boten, nachdem ich für Essen und Wein gedankt hatte. »Du hast den ganzen Tag gewartet und mir den Brief erst übergeben, als mich niemand mehr sprechen wollte. Aber heute Morgen, als du in die Kirche gestürmt bist, schienst du es sehr eilig zu haben. Wie geht das zusammen?«

»Nun ja, es ist eigentlich eine eilige Botschaft«, murmelte der junge Mann verlegen. »Aber ich wollte den Gottesdienst nicht stören, ehrwürdige Mutter. Die Musik war so schön …«

»Ja, ich glaube, niemand außer uns begleitet die Liturgie mit Instrumenten«, lächelte ich. »Das ist sehr schade und auch unbiblisch. Denn sogar der Psalmist fordert uns dazu auf, Gottes Herrlichkeit mit Harfe und Zither zu preisen. Übrigens weist die tief klingende Zither auf die Zucht des Leibes und die höher klingende Harfe auf das Streben des Geistes hin.«

»So? Davon verstehe ich nichts … Ich habe noch nie so etwas Schönes gehört, es war – ach, ich weiß auch nicht. Ich habe eine Gänsehaut davon bekommen.«

»Das freut mich sehr. Aber dann hast du auch noch den ganzen Nachmittag in der Kälte abgewartet; obwohl du deinen Auftrag viel schneller hättest erledigen können.«

»Ich weiß.« Schuldbewusst senkte der Bote den Kopf. »Ich dachte: ›Warum soll ich Euch den Tag verderben? Heute Abend ist auch noch früh genug.‹«

»Und warum dachtest du das? Ist die Nachricht unangenehm?«, forschte Wibert beunruhigt. Aber der Bote wollte nichts mehr sagen. Rasch schlang der junge Mönch aus Gembloux sein Essen herunter und wischte sich den Mund.

Wibert zerbrach das Siegel und las: »Der von Gott geliebten, ehrwürdigen Praeposita Hildegard wünschen wir, die unwürdigen Diener unseres allerhöchsten Herrn, allezeit Kraft und Gesundheit. Es ist uns zu Ohren gekommen, dass du einem gewissen Helmut von Gaulsheim, Freiherr zu Bingen am Rhein, in gnädiger Barmherzigkeit Obdach und Pflege in deinem Kloster gewährt hast. Ferner hören wir, du habest besagtem Helmut, da es nun dem Höchsten gefiel, ihn, nach manchem Leiden, den Weg allen Fleisches gehen zu lassen, sowohl die Salbung mit heiligem Öl als auch die Bestattung in heiliger Erde gewährt. Dies aber, obgleich dir die ruchlose Persönlichkeit des Besagten hinlänglich bekannt gewesen sein muss; ebenso wie auch seine, aufgrund des Urteils eines demütigen Dieners des Allerhöchsten ausgesprochene Exkommunikation. Kaum müssen wir dich, höchst ausgezeichnete Abbatissa, daran erinnern, welch peinliche Folgen ein solch unverantwortliches, eigenmächtiges Vorgehen deinerseits nach sich ziehen muss …«

»Helmut von Gaulsheim hat sich vor seinem Tod mit Gott und der Kirche ausgesöhnt und sogar von Gernot die Sterbesakramente empfangen«, unterbrach ich fassungslos. »Ist das dem Domkapitel etwa nicht bekannt?«

Wibert zuckte hilflos die Achseln und überflog rasch den Rest des Dokuments. »Sie schreiben«, fuhr er mit heiserer Stimme fort, »wenn du, ehrwürdige Mutter, den Leichnam Helmuts nicht unverzüglich exhumieren und außerhalb des Klosters in ungeweihter Erde verscharren lässt, wird mit sofortiger Gültigkeit über den ganzen Konvent der Kirchenbann verhängt.«

* * *

»Unter Androhung des Kirchenbannes«, schloss ich, nachdem ich vor der schnell einberufenen Versammlung im Kapitelsaal meinen Töchtern von den jüngsten Ereignissen berichtet hatte. Bestürzung, Verwirrung und nackte Furcht malten sich auf den fünfzig Frauengesichtern, die ich so gut kannte. Ich bemühte mich, dem Blick jeder Einzelnen zu begegnen, und spürte den Sturm in ihren Herzen, dem jede auf ihre Weise tapfer zu begegnen suchte.

Wieder einmal wurde mir bewusst, dass unter den einheitlich schwarzen Nonnenschleiern die individuelle Verschiedenheit viel deutlicher sichtbar wurde als in weltlicher Tracht. Die meisten dieser Frauen hatten von frühester Jugend an unter meiner Obhut gelebt; viele waren mit mir alt und grau geworden. Sie hatten meine Kämpfe mit mir gekämpft, meine Niederlagen mit mir geteilt und meine Siege mit mir gefeiert. Hatten nicht wenigstens sie, wenn schon nicht ich, ein wenig Ruhe und Frieden verdient?

»Meine Töchter«, fuhr ich leise fort, »ihr alle wisst, was das heißt.

Unser täglicher Gottesdienst wird niemandem von außen mehr offenstehen. Unsere Glocken müssen stumm bleiben, unser Gesang …« Fast brachte ich es nicht über die Lippen; wir konnten nur ahnen, was der Verlust unserer Musik für uns bedeuten würde. »Unser Gesang, unsere Gebete und die täglichen Lesungen der Heiligen Schrift dürfen nur noch im Flüsterton erfolgen. Der Segen der Eucharistie, der Verschmelzung mit dem Leib unseres Herrn Jesus, bleibt uns ganz verwehrt. Müssen wir wirklich diesen hohen Preis bezahlen, damit ein reuiger Sünder der Herrlichkeit Gottes nicht ungerecht entrissen wird? Oder ist das die gerechte Strafe dafür, dass wir Schwestern vom Rupertsberg uns trotzig gegen unsere Oberen auflehnen?«

Wieder ließ ich schweigend meinen Blick wandern. In diesem Augenblick glich meine Liebe zu ihnen, zu jeder Einzelnen, einem körperlichen Schmerz. Die meisten ahnten schon, was ich sagen würde; doch niemand konnte mir ersparen, es auszusprechen.

»Ich habe natürlich sofort die Schau befragt«, stieß ich schließlich hervor. »Ich will euch erzählen, was ich sah. Wie durch ein Fenster erblickte ich unseren Klosterfriedhof. Es war heller Mittag, die Sonne schien und die Vögel zwitscherten voller Lust an dem schönen Tag. Wir näherten uns Helmuts Grab und umringten es betend. Solange wir dies taten, zeigte sich am Himmel kein Wölkchen, und die Schwalben jagten bis ins funkelnde Blau hinauf. Im Rhein sprangen sogar die Fische vor lauter Lebenslust, obwohl doch die Mücken so hoch flogen. – Dann stieß eine von uns einen Spaten in die weiche Erde des Grabhügels, um der Weisung unserer Oberen zu gehorchen. Schneller, als ich es begreifen konnte, verdunkelte sich der Himmel! Eine Finsternis näherte sich uns, begleitet von krachenden Donnerschlägen, die vom Feuer des Gerichts erfüllt waren. Statt vom Duft der Erde, des Grüns und des Wassers war die Luft von Schwefelgestank erfüllt … Als ich das schaute, wurde ich bleich vor Schreck. Da sprach die Stimme des Höchsten zu mir: ›Besser ist es für dich, in die Hände der Menschen zu fallen, als das Gesetz deines Gottes zu verlassen.‹«

Jetzt waren auch meine Töchter blass geworden; ich hob hilflos die Hände und fragte mich, womit ich sie trösten sollte. »Ich fürchte, wir müssen das Interdikt auf uns nehmen.« Irgendwie empfing ich die Kraft weiterzusprechen. »Es geht auch nicht an, dass wir die Weisung unserer Oberen einfach ignorieren; und doch habt ihr gehört, dass wir Helmut nicht exhumieren dürfen. Gott hat uns diese Prüfung auferlegt; Er wird uns auch in der Stille nicht verlassen. Ich kann euch aber ein solches Opfer nicht abverlangen, meine Töchter. Manche von euch wissen, dass unsere Schwester, die Äbtissin Noitburgis vom Lubolzberg, vor Kurzem in einem Schreiben Rat von mir erbat. Ich befragte ihretwegen die Schau, und was ich sah, erfüllte mein Herz mit großer Freude. Noitburgis kennt ihre Schwächen und legt sie in Demut vor den Thron; sie blickt ins göttliche Licht wie ein Adler in die Sonne! Wer von euch im Herzen spürt, dass sie nicht berufen ist, diese Prüfung mit uns zu teilen, oder glaubt, dass sie den Kirchenbann nicht wird ertragen können – die mag sich Noitburgis’ Obhut anvertrauen. Noch heute Nacht müsst ihr vor den Schöpfer treten und Seine Weisung erflehen, denn wer zu Noitburgis zieht, muss morgen früh aufbrechen.

Wir wollen jetzt die Vigilien begehen und für jede von uns um Weisheit bitten.«

Wie zur Untermalung unserer Bedrängnis rauschte draußen immer noch der Gewitterregen hernieder.

2. Schuld

Mitternacht war vorüber, doch ich war viel zu aufgewühlt, um Ruhe zu finden. In der Schreibstube diktierte ich Wibert einen Brief an den Mainzer Erzbischof Christian. Dabei ging ich auf und ab, um meine Gedanken in Fluss und meine Glieder durchblutet zu halten. Den jungen Boten Robert hatten wir noch im überfüllten Gästehaus unterbringen können. Wie werden unsere Gäste staunen, wenn kein Glockenklang sie am Morgen weckt?, ging es mir durch den Kopf.

Ich bemühte mich, dem offenbar falsch informierten Erzbischof so sachlich wie möglich den genauen Ablauf der Ereignisse zu schildern, die mit Helmuts Begräbnis im Klosterfriedhof geendet und nun zu unserem Kirchenbann geführt hatten.

»›Aber was hatte er eigentlich verbrochen?‹, wirst du, ehrwürdiger Hirte, mich fragen«, diktierte ich, schwindlig vor Müdigkeit. »Dies fand ich im Lauf der Tage heraus, die er in unserer Obhut verbrachte; teils aus dem Klatsch des Volkes, der mir zugetragen wurde, teils aus einzelnen Bruchstücken, die es mir nach und nach gelang, dem jungen Hugo zu entlocken. Jeder in Bingen kannte die beiden als Saufbolde und Hurenböcke, vor denen kein Rock und keine Schürze sicher war. In jüngster Zeit hatten sie sich darauf spezialisiert, sehr jungen Frauen und sogar Mädchen Gewalt anzutun; weshalb die Bingener Frauen ihnen gegenüber auch besonders unversöhnlich eingestellt waren. Denn waren es zunächst Mädchen im heiratsfähigen Alter von vierzehn oder fünfzehn Jahren, so wählten sie im Lauf der Zeit immer jüngere zu ihren Opfern aus, bis sie endlich einer Achtjährigen Gewalt antaten. Darauf trieb der Bingener Pöbel sie mit Steinwürfen aus der Stadt; denn gerichtlich verurteilen konnte man Helmut als Sohn eines Freiherrn ja nicht. Der Bingener Dekan brachte den Fall vor den Bischof, der die beiden Schuldigen in ihrer Abwesenheit exkommunizierte. Dein vorzüglicher Sohn Gernot, der uns Unwürdigen in der Güte seines Herzens als Priester dient, war bei dieser Urteilsverkündigung zugegen und bestätigte mir all dies.«

Draußen vor dem Fenster zog eine trübe, neblige Morgendämmerung herauf und ich unterbrach mein Diktat. »Es scheint, wir müssen diesen Brief später vollenden, Wibert. Es ist bald Zeit zur Laudes. Wir dürfen auf keinen Fall eine Gebetsstunde versäumen, nur weil unsere Glocken verstummt sind.«

»Leg dich nieder, Meisterin«, bat Wibert fast flehend. »Schlaf, wenigstens eine Stunde. Die Schwestern werden die Laudes auch halten können, wenn du nicht dabei bist; aber was soll aus ihnen werden, wenn dir vor Erschöpfung etwas zustößt?«

Als ich in seine besorgten Augen blickte, musste ich lachen. »Ach, Wibert! Ich werde noch genug Zeit zum Schlafen haben, das verspreche ich dir. Aber nicht jetzt! Vielleicht holst du mir einen Becher heiße Brühe und ein Glas Rotwein, während ich meine Töchter wecke. Ich möchte nicht, dass sie die erste stille Laudes ohne mich begehen.«

In der Kirche war es kalt, klamm und finster, denn die Morgendämmerung hatte kaum eingesetzt. Eine nach der anderen kamen meine Töchter herein, warfen sich vor dem Altar zu Boden und huschten ins Chorgestühl. Ihre Gesichter wirkten aschfahl unter den dunklen Schleiern; sicher hatten die meisten heute Nacht ebenfalls kein Auge zugetan. Als alle versammelt waren, stieg Elisabeth, die heute an der Reihe war, dieses besondere Amt zu erfüllen, nach einer tiefen Verneigung allein die Stufen zum Altar hinauf. Sie verneigte sich vor dem Ewigen Licht, das dort einsam im Dunkeln flackerte wie ein pochendes Herz. Aus den weiten Ärmeln ihrer Kutte zog sie eine Dienerkerze und hielt den kalten Docht in die lebendige Flamme. Ein sanfter Schein erhellte ihr andächtig gebeugtes Gesicht, schimmerte in ihren Augen und ließ ihre Wangen sanft erröten: eine Braut, die den ersten Kuss von ihrem Bräutigam empfängt. Mit der Dienerkerze, deren goldgelbe Flamme sie sorgsam mit der hohlen Hand schützte, entzündete sie nun die sieben armdicken Hauptkerzen, die vor dem Altar einen Halbkreis bildeten. Mit jedem neuen Licht, das aufleuchtete, wurde der Raum um uns ein wenig weiter, und die Finsternis wich immer mehr zurück. Goldene Helligkeit wärmte unsere Herzen. Als alle Kerzen brannten und Elisabeth zu ihrem Platz im Chorgestühl zurückgekehrt war, reichte der Schein bis in die Höhe des Gewölbes hinauf.

»Jubelt zu Gott, alle Völker der Erde! Singt von der Herrlichkeit Seines Namens, preist Ihn mit eurem Lobgesang!«

Üblicherweise wären diese Worte des sechsundsechzigsten Psalms, den die Benediktinerregel uns für den Beginn eines jeden neuen Tages vorschrieb, von allen gemeinsam gesungen worden: in ansteigenden, funkelnden Kaskaden, die uns gleichsam schwerelos zu Gottes Thron emportrugen. Zeit unseres Lebens waren wir daran gewöhnt, dass unser Leib und unsere Seele jeden Morgen durch das herrliche Gefühl des vereinten Lobpreises vom Schlafen zum Wachen geführt wurden: Aus unseren Träumen traten wir gleichsam direkt in den Thronsaal, wo wir uns dem Vater in die Arme warfen, und konnten danach gestärkt das Tagewerk beginnen. Als ich nun die geliebten Worte flüsternd anstimmte, überfiel uns Leere und Dürre wie ein Schock. Die Stimmen gepresst vor unterdrücktem Schluchzen, murmelten meine Töchter im Chor mit mir. Tapfer wie Soldaten trotzten sie ihrer Verzweiflung, und mir war, als umklammerte eine eiskalte Faust mein Herz. »Was hast du uns angetan?«, schrie ich den Vater innerlich ohnmächtig an – doch es kam keine Antwort.

Psalm fünfzig folgte stets als Zweites: »Der Allmächtige beruft die ganze Erde; von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.« Dieses Lied ermahnt uns, nicht nur das Rechte zu tun, sondern dabei auch feurigen Herzens zu sein. Heute erschien es wie bitterer Hohn: Was nützte es, das Rechte zu tun, wenn es in solche Gebundenheit führte! Kaum fand ich die Kraft, flüsternd den fünften Psalm anzustimmen: Worte Davids, mit denen die Laudes an jedem Montag unsere Arbeitswoche einleitete.

»Neige dein Ohr gnädig zu mir, oh Herr, und erhöre mein Seufzen. Höre meinen Hilfeschrei, mein König und Gott, denn ich bete zu dir … Überführe meine Feinde, Herr, denn sie haben gegen Dich rebelliert. Gewisslich segnest du die Gerechten: Du umgibst sie mit Gnade wie mit einem Schild.«

Da war es wieder, das unerwartete Glücksgefühl, das nur der Heilige Geist schenken kann. Selbst in diesem finstersten Augenblick spürte ich plötzlich die Wärme und Zuversicht Seiner überirdischen Gegenwart. Ich war wie blind vor Tränen der Scham, weil Gott mir inmitten meiner blinden Verzweiflung so liebevoll begegnete.

»Falsche Zeugen stehen gegen mich auf, sie vergelten mir Gutes mit Bösem und lassen meine Seele verdursten.« Staunend, als begriffe ich die Worte zum ersten Mal, flüsterte ich den fünfunddreißigsten Psalm, der stets die Montagsrezitation abschloss. »Doch mögen all diejenigen, die sich meines Freispruchs erfreuen, vor Freude und Glück jubeln … Meine Zunge soll von Deiner Gerechtigkeit künden und Dich preisen tagein, tagaus.«

Die Rezitation war zu Ende, und ich sah in lauter aufgewühlte Gesichter. Den meisten Schwestern war Gott wohl ebenso begegnet wie mir. »Wo ist nun der Weise? Wo der Gelehrte? Wo der große Philosoph dieses Zeitalters?« flüsternd stellte ich diese Fragen aus dem ersten Korintherbrief. Auf die Psalmen folgte stets ein kurzer, auswendig gesprochener Vortrag aus den Paulusbriefen, und an diesem Morgen wäre eigentlich Celia damit an der Reihe gewesen. Doch ich sprach aus, was der Geist mir eingab, und meine Töchter lauschten in atemloser Stille; auch Celia war nicht im Mindesten irritiert. »Hat Gott nicht die Weisheit der Welt als Narrheit entlarvt? Denn obwohl die ganze Schöpfung Gottes Weisheit widerspiegelt, haben die Menschen mit all ihrer Weisheit Ihn nicht erkannt. Gott aber gefiel es, durch die Narrheit des Evangeliums jene zu erretten, die an Ihn glaubten. Juden verlangt es nach wundersamen Zeichen und Griechen nach Erkenntnis; wir aber predigen die Kreuzigung Christi: für Juden eine Lästerung, für Griechen eine Narrheit. Jeder, den Gott berufen hat, erlebt in Christus die göttliche Kraft und die göttliche Weisheit; ob Jude oder Grieche. Denn Gottes Narrheit ist weiser als menschliche Weisheit, und Gottes Schwachheit ist stärker als menschliche Stärke.«

Den Rest der Laudes erlebten wir wie von einem starken Wind getragen. Als wir zum Abschluss gemeinsam das Vaterunser flüsterten, durchbrauste uns besondere Stärke. Viel deutlicher, als ich zu hoffen gewagt hatte, war Gott uns an diesem Morgen begegnet und hatte uns bestätigt, dass wir das Richtige taten.

Aufgrund der außergewöhnlichen Situation versammelten wir uns anschließend wieder im Kapitelsaal. Meine Töchter teilten mir ihren Entschluss mit: Jede einzelne von ihnen wollte bleiben. Vor Rührung war mir ganz schwindlig. Ich bestimmte zwei Boten aus dem männlichen Gesinde und schickte sie allein mit meinem Antwortschreiben zur Äbtissin Noitburgis.

Sowohl Wibert als auch meine Töchter bestanden darauf, dass ich bis zur Prim ruhte. Anschließend mussten die Gäste so taktvoll wie möglich verabschiedet werden. Ohne die Hilfe der Schwestern und vor allem der energischen Adelgundis wäre ich sicher in Tränen ausgebrochen. Es war schlimm genug, das Interdikt zu ertragen – vollends unerträglich erschien es, den Sachverhalt ununterbrochen Neugierigen erklären zu müssen!

Auch die Terz verging zwischen wortreichen Abschieden, und als endlich der letzte Besucher unter seiner Pellerine zum Steg hinabschritt wie ein wandelnder Pilz, war es bereits Zeit für die Sext. Wieder nur Geflüster! Das Verbot des jubelnden Lobpreises wäre gewiss einfacher zu ertragen gewesen, hätten wir diesen Mangel nicht alle drei Stunden sozusagen körperlich ertragen müssen. Manche Töchter wichen meinem Blick aus. Es drängte mich, den Brief an Erzbischof Christian zu beenden, damit er das Interdikt möglichst umgehend wieder aufheben konnte. Doch zuvor erwartete mich noch eine andere Aufgabe, die ich nicht aufschieben durfte.

Während aus Bingen und Rüdesheim Glocken wie eine wehmütige Erinnerung zu uns herüberklangen, stand ich mit einem Dutzend der ältesten Töchter um Helmuts Grab. Die Sonne brach in einer breiten Bahn durch die Wolken wie ein Chirurgenmesser durch krankes Gewebe und schleuderte einen Strahl blendenden Lichts auf die durchweichte Erde. Gleichzeitig ging nur wenige Längen von uns entfernt, am Rüdesheimer Ufer, ein solcher Wolkenbruch nieder, dass die Luft von den Wassermassen ganz erdrückt wurde. Auch die Elemente sind uneins, ging es mir durch den Kopf.

Ich hatte meinen schweren Äbtissinnenstab mitgebracht, der höchst offiziellen Anlässen vorbehalten war. Mit seiner eisenverstärkten Spitze furchte ich nun, wie mit einem Pflug, ein Kreuz in den frisch aufgeworfenen Grabhügel. »Christus starb, damit du lebst«, flüsterte ich. »Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.«

»Amen«, flüsterten meine Töchter entschlossen. Unter ihren Umhängen kamen Schaufeln zum Vorschein. Gemeinsam ebneten sie das Grab ein, bis es sich nicht mehr über den umliegenden Erdboden erhob. Danach trampelten sie die lockere Erde so fest, als sei hier seit Langem nicht umgegraben worden. Zuletzt schleppte Klara einen großen Korb voll Herbstlaub herbei, das am Vortag von den Stufen des Münsters gefegt worden war, und die Schwestern verteilten die Blätter über den ganzen Bereich. Niemand, und würde er noch so gründlich suchen, hätte jetzt noch irgendeinen Hinweis auf ein Grab entdecken können.

Schwer atmend, aber zufrieden lächelten wir uns an – wie Verschwörer, wie verstohlene Rebellen, ging es mir durch den Kopf. Mit einem Nicken entließ ich meine Töchter, die aufs Harmloseste vom Friedhof zum Gemüsegarten wanderten, um der für die Gartengeräte zuständigen Schwester die Schaufeln zurückzugeben. Ich aber stieg, auf meinen Stab gestützt, zur Außenmauer hinunter, die am Fuß des Hanges unsere Anlage vor den Fluten des Rheines schützte. Was mich trieb, wusste ich selbst nicht genau. Als gäbe es nichts Wichtigeres zu tun, wollte ich die welken Windenranken vom Dach unseres Beinhauses entfernen, damit die verrottenden Blätter dem Holz nicht schaden konnten. Dieses Beinhaus, das eher einem Schuppen glich, war erst kürzlich aus Holz gezimmert worden und diente behelfsweise zur Aufbewahrung von Gebeinen aus aufgelassenen Gräbern. Im Frühjahr würden wir zu diesem Zweck ein steinernes Gebäude bauen lassen. Dem Adel der Umgegend galt es nämlich als große Ehre, bei uns die letzte Ruhestätte zu finden; aber die landschaftlichen Gegebenheiten des Rupertsberges setzten unserem Friedhof natürliche Grenzen. Deshalb hatten wir die Zeit, in der ein Grab unangetastet bleiben durfte, auf zwanzig Jahre festgelegt.

Mit dem Äbtissinnenstab, der einen solch unwürdigen Einsatz zwar nicht verdiente, sich aber aufgrund seiner Krümme aus getriebenem Messing hervorragend dazu eignete, angelte ich jetzt nach den Ranken und zerrte sie vom Dach. Dabei fiel mein Blick durch das kleine Fenster, und vor Schreck blieb mir fast das Herz stehen. In der Ecke, das Gesicht halb unter einer Kapuze verborgen, kauerte ein Mann.

Ich tat, als hätte ich ihn nicht bemerkt, und rupfte weiter an den welken Winden, während ich fieberhaft überlegte. Falls dies ein Spion des Domkapitels war, dann hatten wir ihn selbst zu Helmuts Grab geführt, und all unsere Mühe war vergebens. Wer aber sollte es sonst sein? Welcher Strauchdieb würde sich ausgerechnet hier, am unwirtlichsten Ort des ganzen Klosters, verbergen, während er doch weiter oben die Wahl zwischen Vorratskellern, Obstgärten und behaglichen Heuschobern gehabt hätte? Mir schoss der Verdacht durch den Kopf, es mit einem Wahnsinnigen zu tun zu haben; oder gar mit einem gedungenen Mörder, der es aufgrund irgendwelcher Familienfehden auf eine meiner Töchter abgesehen hatte. Mein Herz aber sagte Nein – mehr noch, mein Herz riet mir, mich nicht zu fürchten. Da mein Schreien ohnehin niemand gehört hätte und ich auch keine Hilfe holen konnte, wenn ich dem Verdächtigen keine Gelegenheit zur Flucht geben wollte, riss ich ohne weitere Warnung oder Überlegung die kleine Tür weit auf.

»Wer bist du, und was tust du hier?«, herrschte ich den zu Tode Erschrockenen an. Seine vornehme Kleidung ließ auf adlige Abstammung schließen. Er stürzte sich nicht etwa auf mich, sondern warf sich der Länge nach auf den schmutzigen Boden.

»Gott helfe mir, ehrwürdige Mutter«, stammelte er erstickt, »beim Allmächtigen, ich will nichts Böses!« Immer noch liegend, nestelte er an seinem Gürtel und reichte mir einen kostbaren Dolch mit einer tödlich scharfen Damaszenerklinge. »Nimm meine Waffe, Abbatissa, und wisse, dass ich dir kein Leid zufügen werde!«

Staunend umfasste ich den edelsteinverzierten Griff. »Steh auf«, befahl ich dem Fremden. »Sag mir deinen Namen.«

Etwas mühsam erhob sich der Mann vom Boden, um sich mit der gleichen Bewegung vor mir zu verneigen. Als seine Kapuze zurückfiel, gab sie einen eisgrauen Kopf frei. »Friedhelm Gaulsheim«, presste er hervor.

»Nicht etwa Helmuts Vater?«

»Derselbige. Der für immer zutiefst in deiner Schuld steht …«