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1. Auflage 2016
 
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Redaktion: Dennis Sand/Antje Steinhäuser
Umschlaggestaltung: Laura Osswald
Umschlagabbildung: © heks one
Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern
 
ISBN Print: 978-3-86883-833-6
ISBN E-Book (PDF): 978-3-95971-138-8
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95971-139-5
 
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Als ich mich selbst zu lieben begann,

habe ich mich von allem befreit, was nicht gesund für mich war,

von Speisen, Menschen, Dingen, Situationen

und von allem, das mich immer wieder hinunterzog, weg von mir selbst.

Anfangs nannte ich das gesunden Egoismus,

aber heute weiß ich, das ist SELBSTLIEBE.

 

Charlie Chaplin

 

Inhalt

PROLOG
KAPITEL 1:
ES WAR EINMAL IN SÜDBERLIN
KAPITEL 2:
ILUVMONEY
KAPITEL 3:
SÜDBERLIN MASKULIN
KAPITEL 4:
WIEDERBELEBT
KAPITEL 5:
VOM ALK ZUM HULK
EPILOG
DANK

PROLOG

Ein kleines Dorf im hessischen Nirgendwo.
September 2015

Man kann einen Kampf nur gewinnen, wenn man lernt, sich selbst zu besiegen. Und diese Fähigkeit entwickelt der Mensch in seinen dunkelsten Stunden. In Momenten, in denen er seinen eigenen Dämonen ausgeliefert ist. Ängsten, denen er nicht mehr entkommt. Sorgen, die ihn ersticken. Meine Dämonen kamen regelmäßig. Ich wusste, dass ich sie irgendwie besiegen musste, damit sie mich nicht eines Tages besiegten.

Und jetzt frage ich mich, ob sie das womöglich längst getan haben.

»Folgen Sie mir, Herr Schulze«, sagt der Pfleger und drückt mir meine Louis-Vuitton-­Tasche in die Hand. Er hat sie eine gefühlte Ewigkeit gefilzt, jedes einzelne T-Shirt abgeklopft und ausgeschüttelt. Nichts Persönliches, reine Routine sei das, meint er. Wie trostlos doch alles ist. Wir laufen durch lange Korridore und es riecht nach Linoleum. Die Fenster sind keine richtigen Fenster. Die Fenster sind bloß undurchsichtige Milchglasscheiben. Echtes Krankenhaus-Feeling. Jeder Gang hier sieht aus wie der nächste. Und überall sind Türen. Einige von ihnen stehen einen Spalt weit offen, andere sind geschlossen.

»Sind das alles Patienten?«, frage ich den Pfleger, der vor mir herläuft. Mit seinen langen Haaren und der Brille sieht er aus wie ein zu spät geborener Hippie.

»Gäste. Wir nennen sie Gäste.«

»Ach so«, sage ich und versuche, in eines der Zimmer zu gucken. Es gelingt mir nicht.

Dann ein kurzer, lauter Schrei.

»Was ist das?«

»Keine Sorge, wir haben alles im Griff«, sagt der Hippie-Pfleger und schlurft ganz entspannt weiter. Plötzlich herrscht Aufregung auf den Gängen.

Drei Krankenschwestern kommen uns entgegen. Sie sind sehr hektisch. »Zur Seite, zur Seite, zur Seite.« Sie stoßen eine Tür auf und ich höre wieder diesen Schrei. Als würde jemandem etwas ganz Schreckliches widerfahren.

»Ist nichts Schlimmes. Machen Sie sich mal keine Gedanken«, sagt mein Pfleger und schließt eine Zimmertür auf. »Und hier wären wir. Das ist Ihr neues Reich, Herr Schulze. Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause.« Ich schaue mich um. Mein Zimmer ist ein fünf Quadratmeter kleines Loch. Es gibt hier fast gar nichts. Einen Wandschrank aus Holz und ein Bett. Nicht mal einen Schreibtisch haben sie mir reingestellt.

Was für ein Absturz.

»Ganz wichtig noch, Herr Schulze: Rauchen ist grundsätzlich erlaubt. Aber für Sie als Neuling erst nach drei Tagen. Entgiftung. Sie wissen. Haben Sie noch Zigaretten in der Jackentasche?«

»Nein«, lüge ich.

»Gut. Wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie einfach.« Der Kerl grinst mich an und verschwindet dann wieder auf den ewig gleichen Fluren.

Wo bin ich hier nur gelandet.

Ich spüre, wie sich ein neuer Schweißausbruch anbahnt. Ganz ruhig, Silla. Du kennst das doch. Es wird nichts passieren. Ich setze mich auf mein neues Bett in meinem neuen Reich und schließe die Augen. Es hört nicht auf. Meine rechte Hand fängt an zu zittern. Ich atme ganz ruhig. Ein und aus. Ein und aus. Das wird schon. Ganz cool bleiben. Komm schon, Silla. Du hast schon ganz andere Scheiße überlebt. Nach ein paar Minuten ist wieder alles in Ordnung, die Panikattacke vorbei. Ich räume meine Tasche aus und ziehe mir den komischen Trainingsanzug an, den ich in meinem Schrank finde.

Dann ziehe ich eine Packung Zigaretten aus meiner Jackentasche und erkunde mein neues Zuhause. Ich habe kein Zeitgefühl mehr. Ich weiß nicht, ob es früh oder spät am Tag ist oder ob wir schon Nacht haben. Es fühlt sich an, als hätte man mich aus meinem normalen Leben rausgerissen und in eine andere Welt versetzt, in der Zeit und Raum keine Rolle mehr spielen. Alles wirkt so surreal.

Als ich über den Flur schlendere, öffnet sich eine Tür. Ein junges Mädchen kommt raus. Sie trägt denselben komischen Trainingsanzug wie ich, ist vielleicht 18 oder 19 und guckt verschüchtert auf den Boden.

»Haste ’ne Kippe für mich?«, fragt sie, ohne mich anzuschauen.

Als sie ihre zitternde Hand ausstreckt, sehe ich, dass ihr Oberarm von Nadelstichen bedeckt ist. Ihr ganzes Gesicht ist komplett eingefallen, sie hat tiefe, schwarze Augenringe und die Zähne, die noch übrig sind, sind gelb.

»Danke«, sagt sie, als ich ihr die Zigarette gebe. Ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich ihre Erscheinung erschreckt.

Nach ein paar Minuten entdecke ich den Aufenthaltsraum. Ein Fernseher läuft und vor diesem Fernseher sitzt ein Mann im Bademantel auf einer Couch. Er zappt durch das Programm. Der Kerl ist vielleicht 50 Jahre alt, hat einen Schnäuzer, wirres graues Haar und einen dicken Bierbauch.

»Na, bisse neu?«, fragt er mich mit rheinischem Akzent.

»Gerade gekommen.«

»Ah, keine Sorge, Jung. De erste Tach is de schwerste. Is bei allen so. Isch bin übrijens der Juppes und isch bin polytox.«

»Was heißt das?«

»Süchtisch nach allem.« Dann fängt der Mann an zu lachen und sein Lachen endet in einem fürchterlichen Hustenkrampf.

Das Ganze kommt mir vor wie ein Albtraum. Die Menschen hier sind wie Zombies. Und dann sackt mein Kreislauf zusammen. Ich muss mich an der Wand abstützen, um nicht hinzufallen.

»Immer sachte mit de jungen Pferde, wa?«, lacht Jupp.

Ich will hier weg. So schnell es geht. Ich stolpere schwitzend und komplett fertig zurück in mein Zimmer.

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Und dann liege ich in meinem kleinen trostlosen Bett und starre die graue Decke an. Wie viel Zeit ist vergangen? Eine halbe Stunde? Ein halber Tag? Mir wird schlagartig bewusst, dass ich innerhalb von nur einer Woche alles verloren habe. Alles, was ich mir so mühsam aufgebaut habe, ist wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen. Nichts ist mehr geblieben. Außer mir. Und meinen Dämonen.

Ich versuche, die Augen zu schließen, will nur einschlafen, alles hinter mir lassen. Doch meine Gedanken lassen mich nicht zur Ruhe kommen. Sie kreisen um Karo. Immer wieder um Karo. Sie sollte doch meine Rettung sein. Wieso hat sie alles kaputt gemacht? Wieso hat sie unsere Zukunft zerstört? Ich sehe ihr Gesicht. Es verschwimmt vor meinen Augen. Nach und nach löst es sich einfach auf. Und dann bin ich wieder zu Hause. In meiner Wohnung. In meinem Bett. In Karos ­Armen.

»Alles wird gut, mein Schatz«, flüstert sie mir ins Ohr. »Wir werden das schaffen.«

Ich sehe mich um. Alles ist, wie es immer war. Unsere Wohnung. Unser Zuhause.

»Was hast du getan?«, frage ich sie. »Warum hast du alles zerstört?«

»Pschhhht«, sagt sie und streicht mir über den Kopf. »Es war alles nur ein böser Traum.«

Ich atme tief ein, atme ihren Duft ein. Ich versuche, mich zu beruhigen. Ist das echt? Ich schaue Karo an. Sie hat die Augen geschlossen und lächelt. Ich streiche ihr über den Bauch. Nur ein böser Traum, hallen ihre Worte nach, und ich spüre, wie meine Hand zittert. Ich versuche, es zu unterdrücken. Doch es wird immer schlimmer. Das Zittern wird stärker. Ich muss … ich muss etwas trinken, sagt eine Stimme in meinem Kopf, die nicht meine ist. Du musst etwas trinken, höre ich sie jetzt stark verzerrt.

»Warte kurz, mein Engel«, sage ich zu Karo und stehe auf.

Sie sitzt unbeweglich auf dem Bett. Ihr Lächeln hat sich in ihr Gesicht eingebrannt, ihre Augen sind noch immer geschlossen. Es sieht auf einmal fürchterlich erstarrt aus. Ich löse meinen Blick von ihr und gehe durch meine Wohnung. Sie ist in einen grünen Nebel gehüllt. Wo kommt der her? Ich gehe zum Kühlschrank und ziehe eine Flasche Whisky raus. Ich nehme einen tiefen Schluck. Als ich mich wieder umdrehe, sehe ich, dass MoTrip und JokA hinter mir stehen.

»Alter! Ich kriege hier gleich einen Herzinfarkt. Was macht ihr hier?«, frage ich die beiden voll geschockt. Sie starren mich nur an.

»Ey!«, versuche ich es noch mal. Sie schweigen. Und dann werden sie von dem grünen Nebel umhüllt und verschwinden nach und nach in ihm. Der Rauch nimmt jetzt den ganzen Raum ein. Alles verschwindet, ich kann nicht mal mehr meine eigenen Hände sehen. Als er sich wieder legt, bin ich im alten Haus meiner Eltern. In Marienfelde. Ich stehe in der Küche. Und vor dem Kühlschrank hockt ein kleiner Junge. Er ist vielleicht sieben oder acht Jahre alt.

»Was ist hier los?«, schreie ich.

Er starrt mich an.

»Wer bist du?«

Er antwortet nicht. Ich höre ein Lachen. Erst ganz leise, dann immer lauter. Ich weiß nicht, wo es herkommt. Es scheint überall zu sein. Es hört sich an, als würden Hunderte von Stimmen gemeinsam lachen.

»Was ist hier los? Was passiert hier?«, frage ich den Jungen und werde immer aggressiver und irgendwie habe ich mich nicht mehr im Griff. Ich habe keine Kontrolle mehr über meinen Körper. Ich packe den Jungen und schlage ihn gegen den Kühlschrank. Es passiert einfach, ich kann nicht aufhören. Dann schlage ich mit meinen Fäusten auf ihn ein. Er wehrt sich nicht. Er starrt mich nur an. Alles läuft automatisch ab. Ich prügele weiter auf ihn ein. Ich fange an zu schreien. Was passiert hier nur?

Meine Hände greifen den Jungen und würgen ihn. Und dann verschwindet auch er im grünen Nebel. Ich schaue auf die Uhr. Sie hat keine Zeiger. Was für ein Albtraum. Und dann geht das Lachen wieder los. Es wird immer lauter. Ich laufe los. Ich reiße die Tür auf und laufe aus dem Haus meiner Eltern. Ich laufe durch Alt-Marienfelde. Ich laufe durch Tempelhof.

Es passiert automatisch. Ich sprinte durch die Stadt. Alles ist menschenleer. Aber hinter den Hochhäusern sehe ich ein grelles Licht. Es wird heller, immer heller. Und plötzlich brennen die Häuser. Die Flammen fressen den Beton auf, sie werden immer heißer, und hinter den Häusern sehe ich zwei überdimensionale Monster. Deformierte Wesen, die sich bekriegen. Sie reißen sich gegenseitig die Gliedmaßen ab. Zerfleischen sich. Und dann entdecken sie mich.

»Herr Schulze …«

Sie kommen auf mich zu. Ich versuche wegzulaufen. Ich laufe, so schnell ich kann. Und dann hebe ich ab.

»Herr Schulze …«

Ich fliege. Wie krass. Ich fliege über die Stadt. Aber es fühlt sich an, als wäre einer meiner Flügel gebrochen. Und dann packt mich eines dieser Monster. Es packt mich und zerreißt mich und der Schmerz ist furchtbar.

»Herr Schulze! Wachen Sie auf!«

Ich reiße die Augen auf und bin auf einen Schlag hellwach. Ich liege wieder in meinem kleinen, grauen Betonzimmer. Neben mir sitzt eine Krankenschwester. Sie trägt einen weißen Kittel und legt ihre Hand auf meine Stirn.

»Herr Schulze! Sind Sie wieder unter uns?«

Mein Atem überschlägt sich. Mein ganzes Shirt, mein ganzes Bett ist nass geschwitzt.

»Was passiert mit mir?«, frage ich die Frau, die neben mir sitzt. Mein Herz pumpt wie verrückt. Drehe ich jetzt durch? Muss ich jetzt sterben?

»Bleiben Sie ruhig, das sind die Entzugserscheinungen.«

»Es war so real.«

»Sie müssen diese Nacht noch durchhalten. Es wird besser werden.«

Die Frau hält meine Hand. Ich lasse meinen Kopf zurück auf das Kissen fallen. Die Krankenschwester hält mir eine Zigarettenschachtel hin.

»Ist das hier erlaubt?«, frage ich sie.

»Nein«, lächelt sie. »Aber es hilft.«

Ich ziehe eine Kippe aus der Packung und lasse mir Feuer geben. Ich inhaliere den Rauch und betrachte meine Retterin. Die Frau müsste Anfang 50 sein, sie hat schon erste graue Haare und trägt einen weißen Kittel.

»Ich bin Schwester Barbara«, sagt sie und reicht mir die Hand.

»Muss ich sterben?«, frage ich erneut.

»Ich hoffe nicht. Sie müssen nur die Nacht überstehen. Die Nächte sind das Schlimmste. Wissen Sie, Herr Schulze, wenn die Engel schlafen, dann ist der Teufel wach.«

Ich versuche, zur Ruhe zu kommen.

»Sie erleben Psychopathen wie mich wahrscheinlich jeden Tag, oder?«

»Das ist mein Job«, sagt Schwester Barbara und lächelt freundlich. »Versuchen Sie jetzt zu schlafen, Herr Schulze.«

Ich schließe meine Augen und versuche, an nichts mehr zu denken. Meinen Kopf einfach freizumachen. Ich spüre, wie mir ganz unwillkürlich Tränen über das Gesicht laufen. Ich kann sie nicht zurückhalten. Das ist der Tiefpunkt, sage ich mir. Noch tiefer kann ein Mensch nicht mehr sinken. Und dann falle ich in einen tiefen, festen Schlaf. Als ich wieder aufwache, steht der Hippie-Pfleger neben mir.

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»Guten Morgen, Herr Schulze. Wie geht es Ihnen heute?«

Ich fühle mich wie ein Stück Scheiße. »Besser«, lüge ich. Der Typ stellt ein Tablett mit Frühstück neben mich. Ein Schwarzbrot. Eine Scheibe Käse. Ein Glas Orangensaft. Das sieht so widerlich aus, denke ich mir, und schiebe den Fraß weg. Ich starre wieder an die Decke. Ich schäme mich so elendig. Ich will hier unbedingt raus. Ich kann das nicht mehr. Ich will das nicht mehr.

Ich stehe auf und gehe zu dem kleinen Holzschrank, der in der Ecke steht. Ich reiße mir diesen ekelhaften Trainingsanzug vom Körper und ziehe meine Klamotten wieder an. Während ich mir meine Jordans zubinde, bekomme ich einen Schweißausbruch. Schon wieder. Mein Puls rast. Scheiß drauf. Ich muss raus, sage ich mir. Während ich meine Tasche packe, kommt Schwester Barbara zu mir.

»Was machen Sie denn da?«

»Schwester, ich muss hier raus. Das ist nicht meins. Ich … kriege das allein hin. Aber auf meine Weise.«

»Auf Ihre Weise?«

»Ich kriege das hin. Ich bin auch bislang ganz gut zurechtgekommen.«

»Ja, das sieht man ja«, sagt sie eiskalt.

Ich halte inne. Ich habe keine Kraft, ihr zu widersprechen.

»Herr Schulze, tun Sie mir einen Gefallen. Nur einen. Sprechen Sie mit unserem Psychologen. Herr Brandt. Er hat bestimmt Zeit für Sie. Nur eine Viertelstunde. Und wenn Sie dann noch gehen wollen, werden wir Sie nicht aufhalten.«

Ich überlege ein paar Sekunden.

»Also gut«, sage ich. »Ich habe ja nichts mehr zu verlieren.« Schwester Barbara führt mich in das Zimmer des Psychologen.

Ein großer, heller Raum. Überall stehen Topfpflanzen und hinter dem Schreibtisch hängt ein abstraktes Bild. Ich glaube, es soll einen Adler darstellen, der im Flug fällt. Dr. Brandt sitzt an seinem Tisch und ist in eine Akte vertieft.

»Sie stehen auf Adler?«, frage ich ihn und er sieht auf.

»Ach, Herr Schulze. Hallo, hallo. Ich habe Sie erwartet. Entschuldigen Sie bitte, ich war … ich war gerade etwas vertieft. Setzen Sie sich. Was für Adler meinen Sie denn?«

Ich zeige auf das Bild. »Na, den da.«

»Nun, Herr Schulze, das ist ein Rohrschach-Test. Wenn man so will ein Tintenklecks. Und jeder Mensch sieht darin das, was er sehen will. Also nehme ich an, dass Sie … einen … einen Adler darin sehen?«

Ich beiße mir auf die Lippe und muss an meinen Traum denken. An meine gebrochenen Flügel. Es ist, als wäre das alles real gewesen. Ich schweige.

»Sie wollen uns also schon wieder verlassen? Sie sind doch gestern erst gekommen …«

»Das hier ist nicht so meins«, sage ich.

»Ich verstehe. Sie … machen das lieber … auf Ihre Art, ja?«

»Ja«, antwortete ich knapp und schaute auf meine Jordans. Ich fixierte sie wie einen Felsvorsprung, an den ich mich klammern könnte, um nicht den Abhang hinunterzustürzen.

Dr. Brandt bleibt ruhig. Als würde ihn nichts aus der Ruhe bringen können. Wenn er spricht, dann spricht er bedacht.

»Herr Schulze, warum schauen Sie mich eigentlich nicht an?«, fragt er mich ganz plötzlich, wie aus dem Nichts. »Kann es sein, dass Sie meinem Blick nicht standhalten können?«

»Wie bitte?«, frage ich. »Das ist doch Unsinn.« Ich schaue ihm in die Augen, aber …er hat recht. Ich kann seinen Blick wirklich nicht lange aushalten. Es ist, als ob er mich, als ob er mein ganzes Elend einfach durchschauen könnte.

»Sie haben wohl ein Problem mit Konflikten, ja?«

Das gibt es doch nicht. Es ist, als hätte dieser Mann mich innerhalb von zwei Minuten geknackt. Er hat ja recht. Ich kann nicht mit Konflikten umgehen. Das ist genau mein Problem. Es war mir nie bewusst. Aber … aber es stimmt.

Ich bin immer nur davongelaufen.

»Herr Schulze, ich sage Ihnen das jetzt knallhart. Sie haben ein Suchtproblem. Sie haben wahrscheinlich jede Menge Probleme. Sonst wären Sie nicht hier. Wenn Sie das nicht in den Griff kriegen, werden Sie das Jahr wahrscheinlich nicht überleben.«

Mein Hals schnürt sich zu.

»Sie sind nicht ohne Grund hier und Sie dürfen nicht den Weg des geringsten Widerstands gehen.«

Ich nicke.

»Herr Schulze, Sie haben jetzt hier die Chance, den Grundstein für Ihr weiteres Leben zu setzen. Sie können hier lernen, Ihre Probleme in der Zukunft anders zu lösen, als Sie es bisher getan haben. Ich appelliere an Ihre Vernunft, dass Sie bitte diese ­Chance wahrnehmen. Es ist die letzte, die Sie haben.«

Er hat mich. Ich werde bleiben. Ich nehme meine Tasche und mache mich auf den Weg zurück in mein Zimmer.

»Herr Schulze«, ruft mir der Psychologe hinterher. »Warten Sie.« Er öffnet die Schublade von seinem massiven Holzschrank und zieht einen dicken Block Papier und einen Füllfederhalter raus. »Ich habe eine Art Hausaufgabe für Sie. Sie sind doch Rapper. Schreiben Sie mir Ihre Geschichte auf. Ihr Leben. Ich denke, das wird mir helfen können, Ihnen zu helfen.«

»Ich soll mein ganzes Leben aufschreiben?«

»Ich will wissen, wer Sie sind. Was Sie bewegt. Schreiben Sie einfach. Seien Sie ehrlich. Schreiben Sie so, wie es für Sie passt. Von vorne bis hinten. Oder in Stichpunkten. Aber fangen Sie an, Ihre Gedanken zu ordnen. Glauben Sie mir, das wird Ihnen helfen.«

Ich nehme den Block mit in mein Zimmer und schmeiße ihn auf mein Bett. Langsam räume ich meine Tasche wieder aus. Fluchtversuch gescheitert, ärgere ich mich. Wieder mal. Ich nehme mir eine Kippe, zünde sie an und setze mich auf mein Bett. Ich starre auf das leere Papier. Dann nehme ich den Füllfederhalter und fange an zu schreiben.