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2. Auflage 2020
 
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Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern
 
ISBN Print 978-3-86882-719-4
ISBN E-Book (PDF) 978-3-86415-985-5
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Inhalt

Anselm Grün
Die hohe Kunst des Älterwerdens
Einleitung

Joachim Fuchsberger
Altwerden ist nichts für Feiglinge
Vom Boandlkramer und Weisswursthimmel
Das hat’s früher nicht gegeben …?
Altwerden ist nichts für Feiglinge

Jane Fonda
Selbstbewusst älter werden
Bogen und Treppe
Der dritte Akt: Ganzwerdung
Lebensbilanz: Rückblick und Vorschau

Ruth Maria Kubitschek
Anmutig älter werden
Die Chance erkennen

Sven Kuntze
Altern wie ein Gentleman
Das Recht auf Müssiggang

Bill Mockridge
In alter Frische
Vital und Fit
Der Griff nach dem Strohhalm
Alles aus einem (Auf-)Guss
Heidelberg und der Rest der Welt

Sissi Perlinger
Ich bleib dann mal jung
Der dritte Akt
Wo gehöre ich hin?
Ü50 als Chance

Seneca
Von der Seelenruhe/Vom glücklichen Leben
Von der Kürze des Lebens

Wilhelm Schmid
Gelassenheit
Vorwort
Gedanken zu den Zeiten des Lebens

Dr. med. Eckart von Hirschhausen
Glück kommt selten allein …
Alter Verwalter
Zukunft jetzt!
Stille halten

Vorwort

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Alt werden – ja bitte, doch alt sein – nein danke. Diesem Zwiespalt der Gefühle begegnet man immer wieder, wenn man sich mit dem Alter und dem Älterwerden beschäftigt. Spricht man aber mit den vermeintlich Alten, dann wird schnell klar, dass alt sein und sich alt fühlen zwei vollkommen unterschiedliche Ansätze sind. Die Menschen, die sich die Fähigkeit bewahren, Glück zu fühlen, Freude, Liebe und Lebenslust, haben nie das Gefühl, alt zu sein. Ihnen steht auch mit 80 oder 90 und darüber hinaus die Welt noch offen.

Es ist eine Frage der Einstellung. Das bedeutet nicht, dass diesen Menschen ihr Alter nicht bewusst ist. Es beeindruckt sie nur nicht. Sie sagen nicht: In meinem Alter kann ich das nicht mehr. Sie tun es einfach. Sie probieren aus, was möglich ist und was nicht. Und sie blicken voller Freude und Dankbarkeit auf das zurück, was sie erleben durften, was ihr Leben reich macht. Wenn man das Glück hat, als noch nicht Alter mit solchen Menschen in Kontakt zu kommen, dann weiß man plötzlich: Die Sonne scheint auch auf das alte Haupt und wärmt. Man erfährt vom Glück der späten Jahre und lernt, dass es Wege gibt, sich diesen Schatz zu bewahren. Alt sein? Ja bitte. Solange ich mich nicht alt fühle!

Ich wünsche Ihnen Glück in jeder Ihrer Lebensphasen,

Ihre Susanne Oswald

Anselm Grün

Die hohe Kunst des Älterwerdens

© 2007 Vier-Türme GmbH, Verlag
97359 Münsterschwarzach Abtei

Ungekürzte Ausgabe 2010
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

(S. 7–22)

Abdruck mit freundlicher Genehmigung

Einleitung

Henri Nouwen, der Theologe und geistliche Schriftsteller, beginnt sein Buch über das Älterwerden mit einer balinesischen Legende:


»Es wird erzählt, dass in einem entlegenen Bergdorf einstmals ein Volk seine alten Männer zu opfern und dann zu essen pflegte. Es kam der Tag, an dem kein einziger alter Mann übrig war und die Überlieferungen verloren gegangen waren. Nun wollten sie ein großes Haus für die Versammlungen ihres Rates bauen, aber da sie die Baumstämme betrachteten, die für diesen Zweck geschlagen worden waren, konnte keiner sagen, was unten und was oben war: Würden nämlich die Balken verkehrt herum aufgestellt, würde das eine ganze Kette von Verhängnissen auslösen. Ein junger Mann sagte, er könnte wohl eine Lösung finden, wenn sie versprächen, keine alten Männer mehr zu essen. Sie versprachen es. Er führte seinen Großvater herbei, den er versteckt gehalten hatte; und der alte Mann sagte der Gemeinschaft, wie man das obere vom unteren Ende unterscheiden kann.«

Diese Legende ist heute aktueller denn je. Denn auch wir sind in Gefahr, unsere Alten zu »verzehren« und zu opfern. Die heute weitverbreitete Klage über die Überalterung der Gesellschaft hat oft einen aggressiven Unterton. Wir sondern die Alten zugleich ab und schließen sie aus der Gemeinschaft der Jüngeren aus. Manche Veröffentlichungen und Stimmen in der öffentlichen Diskussion sehen die vielen Alten als Zumutung für unsere Gesellschaft und als Last für die nachwachsende Generation.

Die Legende aus Bali zeigt uns, dass wir die Alten nicht auf dem Altar finanzieller Berechnungen opfern dürfen. Würden wir dies tun, dann würden uns alte Weise fehlen, die in den Fragmenten unserer Existenz noch wissen, was oben und was unten ist. Wir brauchen auch heute alte Menschen, die uns sagen, wie die Bruchstücke unseres Lebens zusammengehören und wie wir für unsere Gemeinschaft und Gesellschaft ein tragfähiges Haus bauen können. In der Legende weiß der Großvater, was oben und was unten ist, welches die Maßstäbe sind, nach denen das Leben gelingt. Wenn uns die alten weisen Menschen abhandenkommen, dann verliert die Gesellschaft das Gespür für das rechte Maß.

Frühere Zeiten haben die Alten hoch geschätzt. Sie waren der Reichtum eines Volkes. Als Mose auf dem Weg ins Gelobte Land vor dem Volk ein Lied singt und es auf Gottes Willen verweist, lenkt er ihren Blick auf die alten Menschen im Volk:

»Frag die Alten, sie werden es dir sagen.«

(Dtn 32,7)

In den Alten – so weiß es Mose – ist ein Wissen, das das Volk braucht, um gut leben zu können. Heute dagegen wird die Jugend als alleiniges Ideal gesehen: Wir sollten immer jung bleiben. C. G. Jung meint, es sei eine Perversion der Kultur, wenn sich die Alten wie Junge gebärden und meinen, sie müssten die Jungen an Arbeitseifer und Leistung übertreffen.

Wir brauchen heute in unserer Gesellschaft ein neues Gespür für die Weisheit und für den Sinn des Alters. Damit heben und schützen wir den Schatz, den die Gesellschaft in sich birgt. Und zugleich lässt uns die Wertschätzung des Alters auch unser eigenes Älterwerden positiv betrachten. Jeder Mensch wird täglich älter. Das Nachdenken über das Alter ist daher nicht nur für die alten Menschen wichtig, sondern für jeden Menschen. Sein Leben gelingt nur, wenn er sich dem Prozess des Älterwerdens stellt. Altern ist eine Grunderfahrung des Menschen. Über das Alter zu reflektieren ist daher immer auch ein Nachdenken über das Geheimnis des Menschseins an sich.

Der Mensch wird von allein alt. Aber ob sein Altern gelingt, hängt von ihm ab. Es ist eine hohe Kunst, in guter Weise älter zu werden. Kunst kommt von »können«, das ursprünglich mit »wissen«, »verstehen« und mit »kennen« zusammenhängt. Die Kunst des Älterwerdens verlangt ein Wissen um das Geheimnis des Alters. Und sie braucht Übung. Kunst gelingt nicht von allein. So geht es darum, das Älterwerden in einer guten Weise einzuüben. Es muss aber nicht alles perfekt sein. »Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen«, sagt das Sprichwort. Wer die Kunst des Älterwerdens erlernen will, darf dabei auch Fehler machen. »Durch Fehler wird man klug«, sagt ein anderes Sprichwort.

Für den griechischen Philosophen Platon hat Kunst immer etwas mit Nachahmung zu tun. Der Mensch ahmt das nach, was er in der Natur sieht und was er in den Ideen schaut, die Gott ihm eingibt. Und für Platon braucht es die Gestaltungskraft des Menschen, um im Nachahmen etwas Kunstvolles zu schaffen. Das Älterwerden will gestaltet werden. Es orientiert sich am Wissen um das Geheimnis des Menschen und an der Kenntnis seiner inneren Entwicklung. Aber es verlangt auch die Lust, das nach eigenem Geschmack zu gestalten, was mir in meinem Menschsein vorgegeben ist. Der Medizinhistoriker Heinrich Schipperges spricht von der je eigenen Gestaltung und dem je eigenen Weg in der Kunst des Altwerdens:

»Den Weg zu dieser Kunst des Altwerdens und zum Kunstwerk des Altgewordenseins freilich muss letztlich jeder für sich selber finden. Sein Alter nimmt einem keiner ab.«

(Schipperges 113)

Es gibt Grundregeln für die Kunst des Altwerdens, die für jeden gelten. Dazu gehören die Schritte des Annehmens, des Loslassens und des Über-sich-Hinausgehens. Wer diese Kunst erlernen will, der muss diese Tugenden des Alters einüben. Aber bei allen gemeinsamen Regeln muss jeder schließlich doch seinen ganz persönlichen Weg finden. Er muss selbst entscheiden, wie er mit seinem Älterwerden umgeht, mit dem, was ihn da von außen trifft, mit der Krankheit, mit den Verlusterfahrungen und mit der Erfahrung der eigenen Grenze.

In einer Gesprächsrunde mit Mitbrüdern und Freunden der Abtei Münsterschwarzach haben wir uns Gedanken gemacht, was wir in der hohen Kunst des Älterwerdens nachahmen wollen. Wir haben nach Bildern gesucht, die das Altwerden ausdrücken. Eine Frau meinte, für sie seien die Jahreszeiten ein wichtiges Bild für das Leben des Menschen. Der Frühling – die Kindheit und Jugend – habe sein aufblühendes Leben, der Sommer – das Erwachsenenalter – seine sonnigen Tage. Das Alter sei dagegen wie der Herbst in seiner Schönheit. Dem kann ich zustimmen: Auch der Herbst ist schön. Er ist geprägt durch die wunderbaren Herbstfarben, durch die Milde des Sonnenlichts und durch das Feiern der Ernte, das Genießen der Gaben der Schöpfung.

Während des Berufslebens und in der Arbeit kann man vieles nicht wahrnehmen. Im »Herbst« des Lebens geht es darum, das Schöne zu schauen und es zu genießen. Statt zu leisten, genügt es, einfach da zu sein. Aber so wie der Herbst Neues in der Schöpfung hervorbringt, so ist es auch die Aufgabe im Alter, Neues zu probieren. Man kann etwa mit den Händen etwas tun, stricken, malen, töpfern, basteln, gestalten …

Nach dem Herbst kommt der Winter. Auch er hat seine Schönheit. Er ist voller Ruhe und Stille. Wenn Schnee die Landschaft bedeckt, entsteht ein eigener Zauber. In der Kunst des Älterwerdens ahmen wir Herbst und Winter nach und gestalten sie so, dass es ein schöner und fruchtbarer Herbst und ein ruhiger und stiller Winter wird, der erfüllt ist von der Wärme der Liebe.

Aber sowohl Herbst wie auch Winter können auch von negativen Erfahrungen geprägt sein. Da gibt es die Herbststürme, die Bäume entwurzeln und uns das Vertraute nehmen. Es gibt den Winterfrost, der uns frieren lässt. Schneemassen schneiden uns dann unter Umständen von der Außenwelt ab. Zur Kunst des Altwerdens gehört es, Herbst und Winter in ihrer Schönheit, aber auch in ihrer Rauheit anzunehmen und bei allem Bedrängenden doch auch die Liebe zu entdecken, die jede Zeit des Lebens zu wandeln und zu wärmen vermag.

Ein anderes Bild für das Alter, das einem Mitbruder einfiel, ist das des Traubenstocks. Die Früchte, die im Herbst am Weinstock hängen, tun nichts mehr. Sie setzen sich einfach nur der Sonne aus und reifen, bis sie geerntet und für andere zu einer Quelle der Freude werden. Der alte Mensch muss nichts mehr leisten, er muss sich nicht durch Leistung Anerkennung verschaffen. Er ist einfach da. Allerdings zeigt der Weinstock auch, dass dies kein passives Dasein ist. Er hat ja noch den inneren Trieb, der ihn am Leben hält. So wird das Alter dann fruchtbar, wenn der alte Mensch das, was in ihm ist, ausdrücken kann: in Worten, in Erzählungen oder in Bildern oder Musik. Künstler wie Pablo Picasso und Marc Chagall oder Musiker wie Pablo Casals oder Sergiu Celibidache haben bis ins hohe Alter den Reichtum ihrer Seele zum Ausdruck gebracht und damit zahlreiche Menschen beglückt.

Viele alte Menschen haben der Welt Wichtiges zu sagen. Doch die meisten haben kein Forum, vor dem sie es zur Sprache bringen und ausdrücken können. Wenn alte Menschen das, was in ihnen an echtem Reichtum liegt, thematisieren können und wenn sie dabei Zuhörer oder Betrachter finden, dann gelingt die hohe Kunst des Älterwerdens.

Ein anderes Bild für das Alter ist der Lehnstuhl, in dem der alte Mensch sitzt. Er kann dann einfach zuschauen, was um ihn herum geschieht. Oft blickt er auch mehr nach innen. Er sitzt einfach da und strahlt für seine Umgebung Ruhe und Zuversicht aus. In Dörfern ist das Bild der Bank, die vor dem Haus steht, ein schönes Bild für das Altwerden. Wenn alte Menschen auf der Bank sitzen und einfach nur schauen und schweigen, kommen sie oft ins Gespräch mit den Vorübergehenden. Sie müssen sich kein Forum schaffen. Sie sind trotz ihrer vordergründigen Einsamkeit mitten im Geschehen – und immer wieder werden sie von Vorbeigehenden angesprochen. Sie hören zu, sie sagen das, was sie bewegt. Sie erzählen von früher, wenn sie gefragt werden. So gehören sie zum Leben und zur Gemeinschaft. Und doch lassen sie die anderen Menschen agieren. Sie greifen nicht in das Geschehen ein, sondern geben nur ihren Kommentar, wenn sie gefragt werden. Sie lassen die Menschen los und werden gerade so für die anderen zum Segen.

Über das Älterwerden nachzudenken heißt immer auch, über das Leben zu reflektieren. Heinrich Schipperges hat diesen Zusammenhang von Altwerden und der Kunst des rechten Lebens beschrieben:

»Was wüsste man vom Leben, solange man nicht weiß, was Altern meint. Altern aber meint: mit den Jahren in die Jahre kommen, um die Zeit wissen, mit der Zeit gehen, in der Zeit stehen und auch gegen die Zeit. Altern heißt: gehen und vergehen, sich wandeln, ohne sein Inbild zu verlieren, ein winziges Stück Erfahrung jeweils und immer wieder von neuem hinüberreißen in ein großes Stück Hoffnung.«

(Schipperges 9)

So gilt es, beim Nachdenken über das Älterwerden immer auch zu bedenken, worin ich den Sinn meines Lebens sehe und wie es mir gelingt, heute – in meiner Situation und in meinem Alter – bewusst und achtsam zu leben.

Der Sinn des Alters

Bevor ich über die Kunst des Älterwerdens schreibe, möchte ich zunächst über den Sinn des Alters nachdenken. Denn wenn der alte Mensch den Sinn des Alters nicht versteht, wird er voller Groll auf die Jungen schauen. Denn dann neidet er

»der Jugend ihr Jungsein, ihre Zukunft, ihr Planen und Hoffen und sucht es ihr zu verleiden – sei es auch nur dadurch, dass er alles Neue verwirft und alles Alte verklärt«

(Guardini 91).

Älterwerden ist nicht nur ein Phänomen, das uns alle äußerlich betrifft. Es trägt in sich auch einen Sinn. Und nur wenn wir diesen Sinn erkennen, werden wir in guter Weise unser Älterwerden annehmen können. C. G. Jung vergleicht das Leben mit dem Weg der Sonne:

»Der Sinn des Morgens ist unzweifelhaft die Entwicklung des Individuums, seine Festsetzung und Fortpflanzung in der äußeren Welt und die Sorge für die Nachkommenschaft.«

(Jung, Werke 456)

Doch der Lebensnachmittag kann nicht bloß ein Anhängsel an den Morgen sein. So wie die Sonne ihre Strahlen einzieht, um sich selbst zu erleuchten, so soll auch der alte Mensch nach innen gehen, sich seinem Selbst zuwenden und den Reichtum im eigenen Innern entdecken.

In vielen Völkern sind die Alten »die Hüter der Mysterien und Gesetze« (Jung, Werke 456). Sie prägen die Kultur eines Volkes. Auf gute Weise alt werden kann jedoch nur, wer bewusst gelebt und seine Lebensschale bis zum Überfließen gefüllt hat. Wer schon in der Jugend nicht wirklich lebt, der ist auch im Alter nicht dazu fähig. Denn es bleibt zu viel Ungelebtes zurück.

»So betreten sie die Schwelle des Alters mit einem unerfüllten Anspruch, der ihnen den Blick unwillkürlich rückwärts lenkt.«

(Jung, Werke 457)

Sie kreisen immer nur um ihre Vergangenheit, werden geizig, empfindlich, verbittert und gönnen den Jungen ihr Leben nicht. Ja, sie versuchen selbst

»gar ewig Junge zu werden, ein kläglicher Ersatz für die Erleuchtung des Selbst, aber eine unausbleibliche Folge des Wahnes, dass die zweite Lebenshälfte von den Prinzipien der ersten regiert werden müsse«

(Jung, Werke 455).

Der Sinn des Alters besteht nach C. G. Jung daher darin, das Abnehmen der körperlichen und geistigen Kräfte anzunehmen und den Blick nach innen zu lenken. In der Seele liegt der Reichtum des Menschen. Das Alter lädt uns ein, in uns hineinzuschauen und dort den Schatz der Erinnerungen und den inneren Reichtum zu entdecken, der in den vielen Bildern und Erfahrungen zum Ausdruck kommt.

Auch der Dichter Hermann Hesse, der bei einem Schüler Jungs eine Therapie gemacht und manches Gedankengut des Schweizer Therapeuten in seine Dichtung übernommen hat, spricht vom besonderen Wert des Alters:

»Das Altwerden ist ja nicht bloß ein Abbauen und Hinwelken, es hat, wie jede Lebensstufe, seine eigenen Werte, seinen eigenen Zauber, seine eigene Weisheit, seine eigene Trauer, und in Zeiten einer einigermaßen blühenden Kultur hat man mit Recht dem Alter eine gewisse Ehrfurcht erwiesen, welche heut von der Jugend in Anspruch genommen wird. Wir wollen das der Jugend nicht weiter übel nehmen. Aber wir wollen uns doch nicht aufschwatzen lassen, das Alter sei nichts wert.«

(Hesse 54)

Um den Wert des Alters und seinen Sinn zu leben, ist es nach Hermann Hesse notwendig, das eigene Alter und alles, was es mit sich bringt, anzunehmen und damit einverstanden zu sein:

»Ohne dieses Ja, ohne die Hingabe an das, was die Natur von uns fordert, geht uns der Wert und der Sinn unsrer Tage – wir mögen alt oder jung sein – verloren, und wir betrügen das Leben.«

(Hesse 69)

Auch der katholische Theologe Romano Guardini hat sich mit dem Alter beschäftigt und einen zweifachen Sinn angenommen. Der erste Sinn ist, dass der alte Mensch die Zusammenhänge des Lebens sieht. Er

»erkennt, wie darin die verschiedenen Anlagen, Leistungen, Gewinne und Verzichte, Freuden und Nöte durch einander bestimmt werden und so jenes wunderbare Gefüge entsteht, das wir ›ein Menschenleben‹ nennen«

(Guardini 95).

Wer im Alter das Geheimnis des Lebens durchschaut und im Blick auf das Lebensganze sein Leben versteht, der wird weise. So ist der erste Sinn – und die erste Aufgabe – des Alters, weise zu werden.

Weise kommt von »wissen« und wissen hängt mit »schauen« zusammen. Der weise Mensch sieht tiefer. Er blickt in den Grund, der unser Leben zusammenhält. Für mich kommt dieses Zusammensehen aller Gegensätze in dem letzten Wort Jesu am Kreuz zum Ausdruck: »Es ist vollbracht.« (Joh 19,30) – Es ist vollendet, ganz gemacht. Viele Menschen haben Angst, am Ende ihres Lebens vor einem Scherbenhaufen zu stehen. Sie fürchten sich vor der eigenen Brüchigkeit. Jesus vollendet am Kreuz alles, was er gelebt hat. Sein Tod ist kein Scheitern, sondern vielmehr ein Zusammenfügen von allem, was ihn ausmacht. Und sein Tod ist Vollendung der Liebe. Ja, die Liebe ist letztlich das, was die eigene Brüchigkeit zusammenfügt und den Torso des Lebens vollendet.

Der zweite Sinn des Alters besteht für Guardini darin, dass der alte Mensch eine besondere Nähe zum Ewigen hat. Im Blick auf das Ewige – auf Gott und sein Reich – relativiert sich alles Irdische.

»Die Dinge und Geschehnisse des unmittelbaren Lebens verlieren ihre Vordringlichkeit. Die Gewalttätigkeit, mit der sie den Raum der Gedanken, die Fühlkraft des Herzens in Anspruch nehmen, lässt nach. Vieles, das ihm größte Bedeutung zu haben schien, wird unwichtig; anderes, das er für geringfügig gehalten hatte, nimmt an Ernst und Leuchtkraft zu.«

(Guardini 97)

Guardini versteht die Nähe zum Ewigen nicht nur als Vertrautwerden mit dem Sterben, sondern als die Fähigkeit, sein Leben für das Ewige zu öffnen, das unvergänglich ist und das allen Wandel überdauert.

Für Romano Guardini hängt das Gelingen des Alterns nicht nur vom Einzelnen ab – von seiner Annahme des Alters und von seinem Verstehen des Sinns –, sondern auch von der Gesellschaft und ihrer Einstellung zum Alter. Die Gesellschaft muss dem alten Menschen auch den Raum geben, in dem er gut alt werden kann. Wenn man nur besorgt und vorwurfsvoll über die älter werdende Gesellschaft spricht, macht man es den Alten schwer, ihr Altwerden anzunehmen und einen eigenen Sinn darin zu sehen.

»Es hängt viel, auch in soziologischer und kultureller Beziehung, davon ab, dass verstanden werde, was der alternde Mensch im Zusammenhang des Ganzen bedeutet.«

(Guardini 99)

Und Guardini warnt vor dem Infantilismus, der nur das jugendliche Leben für wertvoll hält. In so einer Haltung muss das Alter notwendig nur als Abfall gesehen werden. In so einem Raum kann die Weisheit des Alters nicht gedeihen. Es hilft nicht nur, den alten Menschen medizinisch das Leben zu verlängern und zu erleichtern. Wir müssen den Wert und den Sinn des Alters neu entdecken. Dann werden die Alten auch zum Segen für unsere Gesellschaft.

In der Diskussion, die uns die Medien heute vor Augen halten, geht es oft nur um die finanzielle und psychologische Belastung der Gesellschaft durch die Zunahme alter Menschen, aber nicht um den Sinn, den das Älterwerden in sich trägt: Doch gerade das Älterwerden und die konstruktive Auseinandersetzung mit dem Altern möchte uns allen einen Weg zeigen, wie unser Leben hier und jetzt schon gelingt – und nicht erst, wenn wir selbst alt geworden sind.

Die Bibel schätzt das Alter und seine Weisheit. Ich möchte dies nur anhand einiger Gedanken aus dem Lukas­evangelium über den Sinn und die Bedeutung des Alters darlegen. Lukas führt uns zu Beginn seines Evangeliums vier alte Menschen vor Augen. In diesen vier Gestalten leuchtet etwas vom Sinn des Alters auf. Die Alten haben eine besondere Nähe zum Heiligen. Sie haben ein Gespür für das Wirken Gottes im Menschen. Und sie verweisen uns auf das, was uns wirklich hilft und heilt. Sie erkennen das Geheimnis Jesu Christi und werden zu seinen ersten Zeugen. Sie zeigen uns, wie auch unser Leben gelingen kann.

Da sind Zacharias und Elisabeth. Zacharias sagt von sich, er sei ein alter Mann und auch seine Frau sei in vorgerücktem Alter. Ihnen verheißt der Engel, dass sie ein Kind bekämen und dass ihr Leben so Frucht tragen würde. Doch der Weg zu dieser Fruchtbarkeit geht durch eine Krise. Zacharias verstummt zunächst einmal, weil er nicht an die Verheißung des Engels glaubt. Damit etwas Neues im Alter aufbrechen kann, braucht es oft eine Phase des Verstummens, damit Gott am alten Menschen wirken kann und sein Leben verwandelt. Und der alte Mensch muss im Schweigen lernen, an die Frucht zu glauben, die Gott seinem Alter verheißen hat.

Zacharias und Elisabeth bezeugen vor allen Freunden und Verwandten, dass Gott Barmherzigkeit an ihnen erwiesen hat. Und Zacharias wird vom Heiligen Geist erfüllt. Er deutet nicht nur die Frucht, die seinem Alter geschenkt wurde, sondern in einer prophetischen Rede beschreibt er vielmehr das ganze heilende und erlösende Wirken Gottes an seinem Volk. Dieser alte Mann hat uns ein wunderbares Lied geschenkt, das die Kirche in ihr tägliches Morgenlob aufgenommen hat. Zacharias sieht tiefer. Er spürt in dem Geschehen, das ihm und seiner Frau widerfährt, das Wirken Gottes – das aber nicht nur ihm gilt, sondern dem ganzen Volk: Er preist Gott:

»Denn er hat sein Volk besucht und ihm Erlösung geschaffen.«

(Lk 1,68)

Der alte Mann sieht schon vor der Geburt Jesu, was Gott in diesem Kind für alle Menschen wirken wird:

»Durch die barmherzige Liebe unseres Gottes wird uns besuchen das aufstrahlende Licht aus der Höhe, um allen zu leuchten, die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes, und unsre Schritte zu lenken auf den Weg des Friedens.«

(Lk 1,78–79)

Lukas beginnt die Kindheitsgeschichte Jesu mit Zacharias und Elisabeth. Er beendet sie mit zwei anderen alten Menschen: mit Simeon und Hanna. In ihnen malt er das Bild von Weisheit, das gerade alte Menschen auszeichnet. Sie erfüllen, was das Alte Testament vom weisen Alten geschrieben hat:

»Bei den Wohlbetagten findet man Weisheit, und langes Leben ist Einsicht.«

(Ijob 12,12)

Die beiden alten Menschen, Mann und Frau, erkennen in ihrer Weisheit das Geheimnis Jesu Christi. Sie sehen tiefer und sie bekennen das, was sie geschaut haben, vor allem Volk. So werden sie zu den ersten Verkündern der Frohen Botschaft über Jesus Christus. Den Hirten hatten die Engel die Geburt Jesu verkündet. Die Hirten reagierten, indem sie nachsahen, was in Bethlehem geschehen war. Sie erzählten den Eltern, was der Engel ihnen über das Kind gesagt hatte. Und sie kehrten zu ihren Schafen zurück, um dort Gott zu loben. Doch den beiden Alten ist es vorbehalten, von Jesus in der Öffentlichkeit und vor allem Volke zu sprechen und das Geheimnis seines Wesens zu bezeugen.

Die Lebensalter

Hesse, Hermann, Mit der Reife wird man immer jünger. Betrachtungen und Gedichte über das Alter, Frankfurt 1990. (Entnommen aus: Hermann Hesse, Sämtliche Werke, © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002.)

Jung, Carl Gustav, Gesammelte Werke Bd. VIII, Zürich 1967.

Schipperges, Heinrich, Sein Alter leben. Wege zu erfüllten späten Jahren, Freiburg 1986.