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Bildnachweis

Privatarchiv Agnes Hirschi: 1, 7, 10–13, 16, 19–27

Paul M. Fleischer: 17

Carl Lutz-Archiv, Münchenbuchsee: 8

Carl Lutz-Stiftung, Budapest: 9

Erika Rosenberg: 2–6, 18

Zoltán Seidner: 15

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© für die Originalausgabe und das eBook: 2016 F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

Umschlagfoto: Privatarchiv Agnes Hirschi

Satz und eBook-Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-7766-8248-9

Inhalt

1 Spurensuche: Wer war Carl Lutz?

2 Lebenslinien: Ein Mann auf dem Weg zu seiner Berufung

Ein in der Wolle gefärbter Pietist – Amerika: Traum oder Albtraum? – Berufliche Neuorientierung

3 Palästina: Feuertaufe wider Willen

Begegnung mit einer fremden Welt – Die Kehrseite der bunten Folklore – Im Spannungsfeld der Politik – Im Dienst von Nazideutschland

4 Eine verhängnisvolle Allianz: Ungarn und das Dritte Reich

Hitlers Europa – Ungarns unbewältigte Vergangenheit – Ungarn und seine Juden

5 Trügerische Ruhe: Die ersten Jahre in Budapest

Alles bestens in Budapest? – Horthy, Hitler und die Juden – Die Rettung der Kinder – Am Vorabend der Katastrophe

6 In der Falle: Der Einmarsch der Wehrmacht

Tag eins der Besetzung – Eichmanns letzter Auftrag – Das Ende der Illusionen

7 Die Schweizer Schutzbriefe: Wie ein Licht in dunkler Nacht

Besuch in der »Höhle der Löwen« – Die Reorganisation des Palästinaamts – Eine geniale Erfindung – Ein Sommer des Hoffens und Bangens

8 Eine Phalanx der Aufrechten: Diplomaten, Zionisten, Pioniere

Das diplomatische Corps – Rudolf Kasztner und sein Hilfs- und Rettungskomitee – Oskar Schindler und das Budapester Netz – Die zionistischen Pioniere

9 Das Glashaus: Logistikzentrale und letzte Zuflucht

Ein Haus mit Vergangenheit – Intensivierung der Schutzmaßnahmen – Die Inflation der Schutzbriefe – David Gur und Kollegen – Paul M. Fleischer: eine Pionierbiografie

10 Der Pfeilkreuzlerterror: Schreckensherrschaft made in Ungarn

Das Vorspiel zum Putsch – Im Gleichschritt mit der SS – Straßenterror und Jagd auf Juden – Häuser unterm Schweizer Kreuz – Das Trauma des Carl Lutz – Die Todesmärsche

11 Im Angesicht des Todes: Leben und Überleben im Glashaus

Voll vom Keller bis zum Dach – Körperpflege, Verpflegung und andere Probleme – Gefahren überall

12 Endzeitstimmung: Zwischen Belagerung und Befreiung

Auflösungserscheinungen und Bandenterror – Endstation Großes Ghetto – Bis an die Grenzen des Erträglichen – Befreiung und Heimkehr

13 Worte, die bleiben: Das Vermächtnis des Carl Lutz

Über Schweigen, Scham und Schuld – Über Verantwortung und Versäumnisse

Literaturhinweise

Dank

1 Spurensuche: Wer war Carl Lutz?

Freitag, der 21. Oktober 2015. Der ICE nach Bern fuhr pünktlich ab. Während vor den Fenstern die regenfeuchte Landschaft an mir vorbeizog, wanderten meine Gedanken zu meinem neuen Projekt. In Bern würde ich aus erster Hand kompetente Auskünfte über eine spektakuläre, mutige und eigenwillige, ja trickreiche Rettungsaktion erhalten, die sich im Jahr 1944 in Budapest abspielte, im von Hitlerdeutschland besetzten Ungarn.

Im Auge des Sturms und unter den Augen der zum Äußersten entschlossenen Besatzer gelang es damals einem bis dahin eher unauffälligen Schweizer Konsularbeamten, dem Cheforganisator des Holocaust Adolf Eichmann das Leben eines Teiles der Budapester Juden abzutrotzen und immer wieder Sand in das Getriebe der bereits angelaufenen Mordmaschinerie zu streuen. Wenngleich sich die genauen Zahlen nicht exakt eruieren lassen, geht man von etwa 60.000 Menschen aus, die dank der Initiative dieses Beamten vor dem sicheren Tod bewahrt wurden.

Es handelte sich unbestritten um die größte Rettungsaktion im Dritten Reich, und dennoch geriet sie weitgehend in Vergessenheit. Ebenso wie der Name des Mannes: Carl Lutz. Nur wenige Historiker und Publizisten beschäftigten sich mit ihm. Einem anderen, dem Schweden Raoul Wallenberg, schrieb die Nachwelt das Verdienst an der spektakulären Rettungsaktion zu, und so wurde Lutz zum »vergessenen Helden«.

Eine gleichermaßen unverständliche wie unerträgliche Situation. Und für mich ein Ansporn, mich mit dem Leben und Wirken dieses Mannes zu beschäftigen, der mehr jüdische Leben als jeder andere gerettet hat.

Seit ich mich vor einigen Jahren mit Oskar und Emilie Schindler zu befassen begann, ist es für mich zu einem Herzensanliegen geworden, Menschen nachzuspüren, die wie diese beiden trotz Gefährdung des eigenen Lebens nach Mitteln und Wegen gesucht haben, in Europas dunkelster Stunde denjenigen beizustehen, die durch absurde Rassengesetze willkürlich ausgegrenzt wurden aus einer Gemeinschaft, in der sie seit Jahrhunderten zu Hause gewesen waren, deren Kultur, Literatur, Kunst und Wissenschaft sie bereichert und befördert hatten.

Und denen man mit einem Mal selbst das Recht zu leben absprach.

Was das bedeutete, habe ich als Kind indirekt durch meine Eltern erfahren. Zwar gelang ihnen in letzter Minute die Flucht aus Nazideutschland nach Argentinien, doch wirklich glücklich wurden sie nie mehr – beraubt ihrer Wurzeln, ihrer Sozialisation und vor allem ihrer Familien, von denen niemand mehr aus den Konzentrationslagern zurückkehrte. Sie haben nicht viel darüber geredet. Das Wissen um das, was damals in Deutschland geschah, hat sie wohl stumm gemacht, aber ich konnte das Trauma ihrer zerstörten Identität spüren.

Und das hat mich vermutlich sensibilisiert für die Leiden der Verfolgten und für das Heer der Heimatlosen und Entwurzelten, die auch heute wieder auf der Suche nach Schutz und einer sicheren Zuflucht herumirren, und lenkte zugleich meine Aufmerksamkeit auf jene Menschen, die ohne nachzudenken halfen. Einfach so, weil sie sich den Geboten der Menschlichkeit verpflichtet fühlten. Ob nun in kleinem oder großem Maßstab – ein jeder von ihnen verdient es, zu den »Gerechten unter den Völkern« gezählt und vor allem dem Vergessen entrissen zu werden.

Auf den Namen Carl Lutz stieß ich zum ersten Mal vor ein paar Jahren, als ich Recherchen für ein Buchprojekt über die argentinische Politik im Zweiten Weltkrieg und in der Vorkriegszeit anstellte.

Bekanntlich hegte der damalige Staatspräsident Juan Domingo Perón durchaus Sympathien für das nationalsozialistische Deutschland. Dass er dem Dritten Reich 1945 kurz vor Toresschluss noch den Krieg erklärte, geschah wohl lediglich auf Druck der USA und hinderte ihn nicht daran, Nazitäter jeder Couleur nach Kriegsende über die sogenannte Rattenlinie in sein Land einschleusen zu lassen und sie damit dem Tribunal der Siegermächte zu entziehen. Sein Beispiel machte Schule: Auch spätere argentinische Regierungen sowie andere südamerikanische Staaten bewahrten die geflohenen NS-Verbrecher vor einer Auslieferung an die Bundesrepublik oder etwa an Israel, das zumindest im Fall Eichmann die Sache auf seine Weise löste und den Organisator des Holocaust 1960 entführte, um ihn nach einem aufsehenerregenden Prozess zum Tode zu verurteilen.

1 Carl Lutz im Sommer 1944 in Budapest

Ich weiß nicht mehr, in welchem Zusammenhang genau mir der Name Carl Lutz seinerzeit begegnete, doch er ist mir im Gedächtnis geblieben. So nachhaltig, dass ich irgendwann beschloss, über ihn zu schreiben. Zudem reizte mich die Parallele zu Schindler. Nicht allein wegen der Rettungsaktion selbst, sondern ebenfalls wegen der Vorwürfe, die sich beide machten, weil sie nicht mehr jüdische Leben zu schützen vermochten. Dabei war bei Lutz die Zahl der Geretteten ohnehin unermesslich groß.

2 Bei Agnes Hirschi, der Stieftochter von Carl Lutz

Von diesem Moment an stand für mich fest: Dieser Mann war eine der seltenen Sternstunden der Menschheit.

Ich konnte es also kaum erwarten, endlich in Bern seine Stieftochter und Nachlassverwalterin zu treffen, die es nach eigenem Bekunden als »ihre Mission« betrachtet, das Andenken an Carl Lutz wachzuhalten oder, richtiger gesagt, dafür zu sorgen, dass seine Leistung wenigstens posthum von einer breiteren Öffentlichkeit gewürdigt wird. Viele Überlebende, die selbst Zeugnis ablegen könnten, gibt es nicht mehr.

Ein paar wenige habe ich kontaktiert, und sie stellten mir ihre Erinnerungen zur Verfügung. Es sind bewegende Zeugnisse, die nicht mit diesen Menschen sterben dürfen. Genauso wenig wie die teilweise minuziösen Berichte und Aufzeichnungen von Carl Lutz, die Agnes Hirschi mir zur Einsicht überließ. Sie alle lassen jene dramatischen Monate in Budapest zwischen April und Dezember 1944 wiedererstehen, in denen ein Schweizer Konsularbeamter für ein wachsendes Heer von Hoffnungslosen zur einzigen, zur letzten Hoffnung und für einen Großteil zum rettenden Engel wurde.

Nun also Agnes Hirschi.

Wir hatten ein paar Tage zuvor telefoniert und dieses Treffen bei ihr zu Hause vereinbart. Sie lebt in der Nähe von Bern, in dem kleinen Ort Münchenbuchsee. An der Tür empfing mich eine zierliche Mittsiebzigerin, die mich freundlich mit ihren wachen dunkelblauen Augen anschaute. Ihrem Mann stellte sie mich als »die Dame aus Buenos Aires« vor, die ein Buch über Carl Lutz schreiben wolle. Sie sagte wirklich sehr sachlich, respektvoll fast »Carl Lutz«, nicht etwa »mein Stiefvater«.

»Was soll ich Ihnen erzählen, wollen Sie mir Fragen stellen?, erkundigte sich Agnes Hirschi.

Nein, sie solle lieber frei erzählen, was ihr so in den Sinn komme, schlug ich vor. Angesichts der Tatsache, dass ich bislang nicht allzu viel über Carl Lutz, seinen Background und seine Beweggründe wusste, schien mir dieses Vorgehen zielführender. Immerhin saß ich der Frau gegenüber, die diesen Mann seit ihrer frühesten Kindheit kannte und ihm bis zu seinem Tod 1975 eng verbunden blieb – das Verhältnis zwischen einem Vater und seinem leiblichen Kind hätte nicht besser gewesen sein können.

An diesem Nachmittag und am folgenden Tag hat sie mir so vieles erzählt, dass ich nach und nach begann, die Geschichte hinter der Geschichte zu verstehen, und das ist, hoffe ich, in die einzelnen Kapitel dieses Buches eingeflossen.

Darüber hinaus versorgte sie mich mit allen möglichen Niederschriften ihres Stiefvaters, mit Korrespondenzen, mit Berichten an seine Berner Dienststelle und mit Tagebuchnotizen, teilweise unveröffentlichten Quellen – nicht gehobenen Schätzen also, die wenig beachtet in Archiven liegen. Außerdem zeigte sie mir ganz persönliche Dinge, darunter ein Gebilde, das ich nicht zu identifizieren vermochte. Es handelte sich um ein verschmortes Kristallglas, das den Brand der ehemaligen britischen Botschaft in Budapest, wo Carl Lutz privat wohnte, zumindest in dieser Form überstanden hatte. Sie habe es unter der Asche gefunden, als sie mit den anderen den Luftschutzkeller nach zwei Monaten verlassen konnte. Das Glas gehörte zu einem großen Service für besondere Anlässe.

Vieles weiß Agnes Hirschi naturgemäß mehr aus Erzählungen denn aus eigener Erinnerung. Schließlich war sie in jenem schicksalhaften Jahr 1944 gerade mal sechs Jahre alt. Außerdem schirmten die Erwachsenen sie weitgehend von allen unangenehmen Dingen ab. Dass sie Weihnachten 1944 unter einem schönen Baum in der Residenz feierten, daran haben sie Fotos erinnert. Dass sie ihren siebten Geburtstag ein paar Tage später, am 3. Januar 1945, bereits im Keller begehen musste, hat sie nicht vergessen, weil sie von ihrem späteren Stiefvater eine ganz besondere weiße Schokolade geschenkt bekam, die bis auf den heutigen Tag ihre Lieblingssorte ist.

Agnes gehörte übrigens selbst zu den Schutzbefohlenen von Carl Lutz. Als Jüdin und britische Staatsbürgerin war sie nämlich in Ungarn seit dem deutschen Einmarsch doppelt gefährdet.

»Ich bin in London geboren worden«, erzählte sie, »und meine Mutter ging eines Tages in Budapest zur schweizerischen Gesandtschaft, wo Carl Lutz als Leiter der Abteilung fremde Interessen die Bürger jener Länder vertrat, die sich mit Deutschland im Krieg befanden. So haben er und meine Mutter sich kennengelernt. Er verliebte sich Hals über Kopf in sie und stellte sie in seiner Residenz als Hausdame ein.«

Ja, das war mir bekannt. Ebenso, dass es sich um eine ziemlich verzwickte Situation handelte, eine Ménage-à-trois, denn Lutz war seinerzeit noch verheiratet. Und zwar mit einer Frau, die ihn bei seiner Arbeit, speziell bei seinen Rettungsaktionen, tatkräftig unterstützte. Eine Konstellation, die so gar nicht zu dem korrekten und frommen Mann passte. Aber vielleicht war er hier ebenfalls schlicht der Stimme seines Herzens gefolgt. Jedenfalls trennte er sich nach Kriegsende von seiner Frau Gertrud, heiratete Magda, und Agnes wurde seine Stieftochter.

Nachdem wir am ersten Tag mehr über Persönliches und die beruflichen Stationen von Carl Lutz gesprochen hatten, berichtete sie mir am nächsten Tag über das raffinierte System der Schutzbriefe und Kollektivpässe, das so undurchsichtig war, dass niemand es wirklich durchschaute. Zum Glück für alle Betroffenen. Die verworrene politische Situation im Jahr 1944, kurz vor dem Untergang des »Großdeutschen Reiches«, tat ein Übriges.

Auch über das Glashaus wusste Agnes anschaulich zu erzählen. Desgleichen über die Schutzhäuser und über die Razzien, die entgegen allen Zusicherungen immer wieder durchgeführt wurden, sodass Lutz und seine Frau oftmals nachts aufbrachen, um unter Schweizer Schutz stehende Juden aus den Fängen der deutschen oder ungarischen Behörden zu befreien. Ferner vermittelte sie mir einen lebhaften Eindruck davon, welchen Drahtseilakt ihr Stiefvater oft wagen musste, um Adolf Eichmann Zugeständnisse zu entlocken oder ihn zumindest hinzuhalten.

Und es war zutiefst berührend zu hören, wie sehr es diesen Mann bis an sein Lebensende umgetrieben hat, dass er nicht alle zu retten vermochte. Je mehr sie erzählte, desto klarer wurde mir, wie gefährlich und riskant für Carl Lutz und seine Helfer dieser Einsatz für die ungarischen Juden gewesen war.

Eigentlich müsste so ein Mensch von Natur aus doch sehr mutig, sehr entschlossen gewesen sein, sagte ich.

Nein, meinte Agnes, im alltäglichen Leben sei er das ganz und gar nicht gewesen. Da habe sie ihn eher als scheu erlebt.

Wie das denn zusammenpasse, wollte ich wissen.

Ganz einfach, erklärte sie. Er sei damals schlicht über sich hinausgewachsen. »Hineingerutscht« in eine Situation, mit der er nie gerechnet und die er nicht herausgefordert hatte. Er folgte seinem Gewissen – oder, um es anders auszudrücken, Gott. Selbst wenn er dafür Gesetzesparagrafen und Dienstvorschriften mehr als einmal übertreten musste und häufig mit gezinkten Karten spielte, trickste und täuschte.

Ein Kommentar von Carl Lutz zu diesem oftmals schwierigen Spagat ist seiner Stieftochter besonders in Erinnerung geblieben. »Die Gesetze des Lebens sind nun einmal stärker als menschliche Paragrafen … Wenn jemand am Ertrinken ist, kann ich nicht auf die Bewilligung warten, ihn retten zu dürfen.«

Und in diesem Sinne war, ist und bleibt er für Agnes ein Held. Und hoffentlich beginnen ihn andere ebenfalls so zu sehen.

2 Lebenslinien: Ein Mann auf dem Weg zu seiner Berufung

Ein Held, ja, das ist Carl Lutz ganz sicher gewesen. Auch wenn er es nicht darauf angelegt hatte, nahm er die Herausforderung an, als sie sich ihm stellte. Ohne Wenn und Aber. Ohne Zögern.

Warum tat er das?

Nichts könnte das besser beantworten als sein von Agnes Hirschi überlieferter Vergleich mit dem Ertrinkenden, den man schließlich nicht seinem Schicksal überlassen könne, weil man zuerst nach Kompetenzen oder Zuständigkeiten fragen müsse. So hat er das wohl von Anfang an gesehen.

Dabei war er von seiner Veranlagung, von seinem Auftreten her eigentlich ein absolut korrekter Mensch. Wirkte sogar wie der Prototyp eines durch und durch zuverlässigen Beamten: ein wenig bieder, ein wenig langweilig, jedoch sehr loyal. Den Eindruck vermitteln zumindest die Fotos, die ihn mit Brille, ordentlichem Scheitel, im Anzug und mit Krawatte, häufig zudem mit Regenmantel zeigen.

Aber in seiner Brust wohnten zwei Seelen, denn dieser treue Staatsdiener, der Recht und Gesetz achtete, wurde in der Stunde der Not zum Verfechter zivilen Ungehorsams, der die Gebote der Menschlichkeit und seines Glaubens über alles andere stellte. Fast möchte ich sagen, ohne große Skrupel zu empfinden. Und somit war Carl Lutz letztlich ein Überzeugungstäter im besten Sinne.

Eine Entwicklung, die allerdings trotz seiner nach außen hin gezeigten Political Correctness nicht von ungefähr kam.

Sein Leben entwickelte sich nämlich alles andere als geradlinig, plätscherte lange Zeit eher ziel- und orientierungslos dahin. Vielleicht typisch für einen Jugendlichen, der früh aus der heimatlichen Enge ausbrach, um sein Glück im Land der angeblich unbegrenzten Möglichkeiten zu suchen. Eine Erfolgsgeschichte wurde seine Auswanderung, vordergründig betrachtet, allerdings nicht, war vielmehr gekennzeichnet durch eine Kette von Misserfolgen und Enttäuschungen.

Und dennoch: Schaut man genauer hin, dann erkennt man, dass in dieser Zeit Weichen gestellt wurden, dass die Lebenslinien gar nicht so willkürlich verliefen, wie sie auf den ersten Blick zu sein scheinen, sondern dass ihnen eine gewisse Folgerichtigkeit innewohnte.

Ein Wirken des Schicksals? Eine göttliche Fügung?

Egal, wie man es nennen mag – trotz allem Zufälligen und Planlosen nahm der junge Lutz in jenen Jahren des vergeblichen Suchens unbewusst Dinge auf, die ihm später in Budapest halfen, souverän eine ungewöhnliche Rettungsaktion zu organisieren. Kühl und überlegt, listig und zugleich aus vollem Herzen.

Ob er selbst in seinen jungen Jahren daran geglaubt hat, dass er einmal etwas so Großes vollbringen würde?

Schwer zu sagen bei einem Mann, der zeitweise viel von sich erwartete und zugleich immer wieder in Zweifel und Depressionen verfiel. Auf hoch gespannte Pläne folgte allzu oft die Ernüchterung.

»Die Zukunft wird zeigen, ob ich für etwas tauglich bin«, notierte er nach fünf Jahren in Amerika.

Optimistisch klingt das nicht.

Ein in der Wolle gefärbter Pietist

Ungeachtet dieses stimmungs- und gefühlsmäßigen Auf und Ab, das wohl in seiner Natur lag, verlor er nie den Glauben, dass Gott ihm irgendwann einen Hinweis geben werde. Ein Urvertrauen, das ihm durch schwere Zeiten half und ihm gewissermaßen in die Wiege gelegt worden war.

Die Familie, in die Carl Lutz am 30. März 1895 als zweitjüngstes von zwölf Kindern hineingeboren wurde, gehörte den Methodisten an, einer religiösen Richtung, die zu jener Zeit in den Dörfern des Appenzeller Vorderlands weitverbreitet war. So auch in Walzenhausen, seinem Geburtsort, der in der Nähe des Bodensees oberhalb von Sankt Margrethen liegt und selbst heute kaum mehr als 2000 Einwohner zählt.

Viel Arbeit gab es dort nicht, Ausbildungsmöglichkeiten noch weniger. Man lebte arm und bescheiden. Solange der Vater, der einen Steinbruch besaß, lebte, war es erträglich, doch nach seinem Tod – Sohn Carl war vierzehn – ging es eher kärglich zu in der Großfamilie. Man war in erster Linie angewiesen auf das bisschen Geld, das Mutter Ursula als Sonntagsschullehrerin heimbrachte. Viel dürfte das nicht gewesen sein – die kleinen Glaubensgemeinschaften waren und sind schließlich eher auf Spenden und ehrenamtliche Mitarbeit angewiesen, als dass sie nennenswerte Gehälter zahlen.

Vermutlich kam die Familie lediglich deshalb über die Runden, weil die meisten Kinder bereits aus dem Schulalter heraus waren und zum Lebensunterhalt ihren bescheidenen Beitrag leisten konnten. 1910 war Carl Lutz ebenfalls an der Reihe. Obwohl ganz offensichtlich begabt, stand niemals der Besuch eines Gymnasiums zur Diskussion. Nicht nur weil es in unmittelbarer Nähe keines gab und Bildung zudem zu viel kostete, sondern auch weil höhere Schulen und Universitäten den Reichen vorbehalten waren. Arme Schlucker machten eine Lehre. Begabung war nebensächlich, das Geld entschied über die berufliche Zukunft.

Vielleicht nicht zuletzt deshalb, mangels anderer erfüllender Lebensperspektiven, wandte man sich in der Familie Lutz dem Glauben zu, in der Hoffnung oder gar der Zuversicht, mit Gottes Hilfe einen Weg zu finden, um die Mühsal des Alltags zu meistern. Wie auch immer: Jedenfalls bezog die Familie Kraft aus ihrer Religion, zumal die pietistisch geprägten Gemeinschaften im Gegensatz zu den Amtskirchen nicht theologische Fragen in den Mittelpunkt stellten, sondern eine schlichte Gottgläubigkeit und praktische Frömmigkeit. So ist von der Mutter überliefert, dass sie ihren Kindern mit auf den Weg gab, es sei besser, eine gerechte Tat zu tun, als »jeden Tag in die Kapelle zu springen«.

Zugleich lag hinsichtlich der Erwartungen an den Einzelnen die Messlatte hoch. Die Gläubigen setzten sich selbst und andere gewaltig unter Druck – ob es nun darum ging, ein gottgefälliges Leben zu führen, sich im Beruf – der einem von Gott gewiesen wurde – zu beweisen oder sich in tätiger Nächstenliebe zu üben. Fromm, fleißig, fürsorglich, damit könnte man die methodistischen Kardinaltugenden jener Zeit umschreiben. Ergänzt natürlich durch tägliche Bibellektüre, Beten und Singen, daheim und in der Gemeinschaft.

Carl Lutz wuchs auf mit solchen Prägungen. Sie waren sein Lebenselixier. Das Streben, sein Bestes zu geben, wurde ihm sozusagen eingeimpft, aber niemand lehrte ihn, wie er mit Zweifeln und Versagensängsten umgehen sollte. Trotzdem folgte er sein Leben lang diesen Postulaten, die sich aus der protestantischen Arbeitsethik herleiteten, machte sie sich zu eigen und lebte danach. Hat er je diesen fordernden, strengen Gott grundsätzlich infrage gestellt?

Vermutlich nicht, denn er strebte stets danach, sein Bestes an dem Platz zu geben, der ihm zugedacht war. So besuchte er neben seiner kaufmännischen Lehre, die er nach Ende der Schule in einem Textilgeschäft in Sankt Margrethen absolvierte, Abendkurse, um sich in organisatorischen und verwaltungstechnischen Fragen fit zu machen. Dass er damit einen ersten Grundstein für seine spätere Tätigkeit im konsularischen Dienst legen würde, daran hat er zu diesem Zeitpunkt mit Sicherheit nicht gedacht.

Amerika: Traum oder Albtraum?

1913, nach Ende seiner Lehrzeit reichte es dem frischgebackenen Kaufmannsgehilfen. Er strebte nach Höherem, und weil das in der dörflichen Enge seiner Heimat nicht zu verwirklichen war, zog es ihn in die Ferne. Amerika erschien ihm, wie zu jener Zeit vielen unzufriedenen jungen Europäern, als ein Land, in dem Milch und Honig fließen.

Später, vom »Land der unbegrenzten Möglichkeiten« bitter enttäuscht, würde Carl Lutz die provinzielle schweizerische Idylle, der er doch entfliehen wollte, fast pathetisch idealisieren. Allerdings kommentierte er seinen naiven jugendlichen Überschwang erst nachträglich in seinem in den Staaten begonnenen Tagebuch, als die Euphorie bereits der Desillusionierung gewichen war. Ebenfalls im Rückblick beschrieb er seine anfängliche Schwärmerei.

Damals war ich ein typischer Jüngling mit allen dazugehörenden Eigenschaften. Meine Blicke waren schon in die weite Welt gerichtet. Es wurde mir zu eng im häuslichen Kreise. Ich wollte meinen Gesichtskreis erweitern. Schon hatte ich eine Ahnung, dass ich den neunzehnten Geburtstag in Amerika, dem Land der goldenen Freiheit und der unbeschränkten Möglichkeiten, feiern würde. So sehe ich mich noch im Geiste dort stehen …, meine hoffnungsvollen Blicke nach Westen gerichtet.

Am 6. August 1913 war es so weit. Carl Lutz ging mit großen Hoffnungen, kleinem Gepäck und null Englischkenntnissen in Hamburg an Bord des brandneuen HAPAG-Passagierdampfers Imperator, der bis 1914 als größtes Schiff der Welt galt und erst im Juli seine Jungfernfahrt nach New York absolviert hatte.

Die Probleme begannen gleich nach der Ankunft in der Neuen Welt.

Während die wohlhabenden Passagiere der ersten und zweiten Klasse mit ihren Einreisevisa sogleich an Land gehen durften, musste Lutz mit all den anderen Habenichtsen an Bord bleiben. So großzügig wie erhofft präsentierte sich das Land seiner Träume nämlich nicht.

Die USA, inzwischen nach eigenem Verständnis überrollt von Einwanderungswellen, hatten zu restriktiven Maßnahmen gegriffen. Ins Land durfte lediglich, wer der Allgemeinheit nicht zur Last fiel. Wer mit anderen Worten jemanden hatte, der für ihn im Ernstfall finanziell aufkam.

Und um das zu überprüfen, wurden sämtliche Reisenden aus der dritten Klasse am Tag nach der Ankunft erst einmal nach Ellis Island verfrachtet, der zentralen Sammelstelle für Immigranten im weitläufigen Hafenbecken des Hudson River. Bis zu ihrer Schließung im Jahr 1954 haben sie zwölf Millionen Zuwanderer aus der Alten Welt durchlaufen. Oft mit bangem Herzen, denn hier wurde über so manches Schicksal entschieden. Was würde am Ende stehen: eine Aufenthaltsgenehmigung oder die Zwangsrepatriierung?

Ein Problem, das auch den Träumen von Carl Lutz um ein Haar ein vorzeitiges Ende bereitet hätte, weil jene Schweizer Familie, die für ihn bürgen wollte, nicht vor Ort war und er nicht einmal eine schriftliche Zusage vorlegen konnte. Bange Tage brachen an, in denen Lutz mit anderen Schicksalsgenossen, deren Zahl er auf etwa 2000 schätzte, in verwanzten Schlafräumen ausharren musste.

Endlich, nach fünf langen Tagen wurde mein Name gerufen. Ich wurde wieder einmal in ein Büro gebracht. Nachdem ich geschworen hatte, die Wahrheit zu sagen, wurde ich über mancherlei ausgefragt, und das Endurteil lautete: »Die Herren haben beschlossen, Sie nicht landen zu lassen, denn sie fürchten, Sie würden der Öffentlichkeit zur Last fallen.

Noch eine weitere Woche musste er sich gedulden, bis endlich auf Vermittlung eines Einwandererpfarrers die Bürgschaft der Familie Gisler aus Saint Louis eintraf. Es sei ein herrliches Gefühl der Befreiung gewesen, so Lutz, den Mühlen der Bürokratie mit Glück entronnen zu sein. Ob er Jahre später an diese Situation des Ausgeliefertseins gedacht hat, als er derjenige war, von dessen Votum Schicksal und sogar Leben eines Menschen abhingen? Vermutlich schon – zumindest lassen sich seine Selbstvorwürfe, nicht alles Menschenmögliche getan zu haben, dahingehend interpretieren.

Ellis Island blieb nicht der einzige Schock für Carl Lutz. Um ein besseres Leben als in der Heimat führen zu können, brauchte er einen besseren Beruf. Doch vor diesen war eine bessere Ausbildung gesetzt, und die kostete Geld. Viel Geld. Dem Neuankömmling blieb keine andere Wahl, als erst einmal zu arbeiten.

Er landete in Granite City, einer wild wachsenden Industriestadt am Mississippi im Staate Illinois, nur wenige Kilometer von Saint Louis in Missouri entfernt, wo seine Einwanderungsbürgen lebten und wo er sich in einer der zahllosen Fabriken verdingte. Die Arbeit dort war körperlich schwer, der Umgangston unter den Kollegen rau und ungewohnt, vermutlich für einen feinsinnigen Menschen wie ihn sogar zotig.

1914, im Juni, begann er ein Tagebuch zu schreiben, von dessen ursprünglich erstem Eintrag lediglich die Überschrift erhalten blieb: »Auswürfe aus einem Hexenkessel«. Der erste erhaltene Eintrag hingegen liest sich wesentlich frommer, wenngleich weniger ehrlich. »Ganz für Jesum …, alles sei dem Herrn geweiht, soll mein Motto sein«, beteuerte er und fügte hinzu, er habe seinen inneren Frieden gefunden.

Damit aber scheint es in Wahrheit nicht weit her gewesen zu sein, denn die folgenden Tagebucheintragungen sprechen von Heimweh und Sehnsucht nach den Bergen und den landschaftlichen Schönheiten des Appenzeller Landes sowie von seinem Leiden unter den Arbeitsbedingungen und den ihm fremden gesellschaftlichen Bedingungen.

Ähnlich wie später in Palästina ließ Carl Lutz sich sogar zu Äußerungen hinreißen, die man zumindest heute als rassistisch bezeichnen würde, was in seinem Fall jedoch wohl seiner Jugend und seiner Unkenntnis anderer Völker und Rassen geschuldet war. So urteilte er beim Besuch eines Elendsquartiers in Saint Louis:

Was man da nicht alles sieht … Gefallene, im Schlamm der Sünde stehende Menschen, wandelnde Leichen, bleiche Neger, Sklaven der Unzucht … Es scheint mir, der Teufel liebt die Schwarzen mehr als die Weißen. Er kann bei ihnen in Körpergestalt auftreten, man sieht ihn nicht, er fällt einem kaum auf.

Unqualifizierte, vorschnelle Äußerungen eines frömmelnden Provinzlers? Sicher, irgendwie schon. Wie sollte ein Schweizer Dorfjunge auch den Zusammenhang zwischen sozialem Elend und einem ungerechten Gesellschaftssystem erkennen? Wie sollte er, der wenig wusste von anderen Kulturen, umgehen mit deren manchmal befremdlichen Manifestationen? Besonders wenn sie sich mit massiven sozialen Unterschieden verbanden.

Allerdings bewirkte diese Erfahrung zugleich, dass er wieder über einen alten, bereits von der Mutter geförderten Wunsch nachzudenken begann, als Pfarrer oder Missionar für eine bessere Welt zu sorgen. Aber noch zögerte und zauderte er, konnte sich nicht wirklich zu einem Entschluss durchringen.

Hinzu kam der Kriegseintritt der Vereinigten Staaten im April 1917. Das amerikanische Versprechen, den erschöpften europäischen Verbündeten ein riesiges Heer mit unverbrauchten Kräften zuzuführen, versetzte Lutz in Panik. Aus Furcht vor einer Zwangsrekrutierung flüchtete er aus Granite City und hielt sich mit Gelegenheitsarbeiten in den verschiedensten Bundesstaaten über Wasser. In seinem Tagebuch heißt es lapidar: »Meinen so sehnlichen Wunsch, etwas aus mir zu machen, konnte ich verschiedener Umstände wegen nicht durchsetzen.«

1919 war es endlich so weit.

Nachdem er sich neben seinen diversen Jobs privat weitergebildet und damit die Voraussetzungen für einen Collegebesuch geschaffen hatte, schrieb sich Lutz am Central Wesleyan in Warrenton, Missouri, ein und belegte vor allem Kurse in Theologie, zu denen neben der wissenschaftlichen Ausbildung die praktische Seelsorge gehörte. Konkret bedeutete das, mit einem sogenannten Gospelteam übers Land zu ziehen und in den Dörfern der Umgebung Gottesdienste abzuhalten.

Auf Lutz, der sich am Ziel seiner Wünsche wähnte, wartete die nächste herbe Enttäuschung. Bald, sehr bald musste er feststellen, dass er kein guter Redner war. Nicht einmal bei einem winzig kleinen Auftritt von drei Minuten wurde er seinen eigenen Erwartungen gerecht. Dennoch finden sich aus jener Zeit auch überschwängliche Beschreibungen, in denen von »unvergesslichen Erinnerungen«, von gemeinsamer Andacht und gemeinsamem Singen die Rede ist.

Trotz solcher Pfadfinderromantik holte ihn die Wirklichkeit im Jahr darauf ein, und er warf das Handtuch. Was sollte die Kirche mit einem Prediger, der die Gläubigen nicht mitzureißen verstand, nicht das Feuer des Glaubens in ihnen zu entfachen vermochte?

Er habe in Warrenton unnütz Zeit verschwendet. Weder sei er gesprächiger noch geselliger geworden, konstatierte Lutz und fügte kryptisch hinzu, dass selbst die beschwingteste Fantasie nichts nütze, wenn das »unvollkommene, unverbesserliche Erdental« in solchem Gegensatz zur Vollkommenheit der oberen Regionen stehe.

Berufliche Neuorientierung

Was als Debakel begann, sollte zur Schicksalswende werden. Der Not gehorchend, hielt Carl Lutz im Sommer 1920, nachdem er das College verlassen hatte, nach einem Ferienjob Ausschau und wurde fündig bei der schweizerischen Gesandtschaft in Washington, D.C.. Endgültig hängte er alle Wünsche nach einer geistlichen Laufbahn an den Nagel.

Was ihn an der neuen Tätigkeit reizte?

Schwer zu sagen. Nach Meinung von Agnes Hirschi war es nicht der Wunsch, andere Länder und Kulturen kennenzulernen, dazu sehnte er sich sein Leben lang zu sehr nach seiner Schweizer Heimat. Nein, sie meint, dass ihm die Arbeit in einem Konsulat als solche behagte, weil er dort seine organisatorische Effizienz beweisen konnte und darüber hinaus mit Landsleuten zusammentraf.

Wie auch immer. Jedenfalls wurden aus den drei Monaten am Ende Jahre. Man konnte den jungen Schweizer, der inzwischen sehr gut Englisch sprach und sich privat fortgebildet hatte, gut gebrauchen.

Zunächst als Übersetzer eingestellt, wurde dem anstelligen neuen Mitarbeiter bereits nach wenigen Wochen ein Dauerjob in der Pass- und Registraturabteilung angeboten. Wieder so eine Sache, die man im Nachhinein als Fügung betrachten möchte. Lutz selbst hingegen dürfte seinerzeit höchstens eine Verbindung zu seinen Abendkursen in Sankt Margrethen hergestellt haben, in denen er sich organisatorisches Know-how erworben hatte.

In welcher Weise er sich hingegen der Geheimnisse des Passwesens, in die er hier eingeführt wurde, dereinst bedienen würde – das lag im Jahr 1920 noch in weiter Ferne.

Etwas anderes, das sich desgleichen als unschätzbar wertvoll erweisen sollte, nämlich diplomatisches Geschick und juristische Finessen, erlernte er an der George Washington University, einer weltweit anerkannten Kaderschmiede für Diplomaten, wo er Jura und Geschichte studierte. Der Dorfjunge aus Walzenhausen, der in der Heimat keinerlei Chancen auf eine höhere Bildung gehabt hatte, war angekommen: 1923 erhielt er neben den akademischen auch seine diplomatischen Weihen und wurde hochoffiziell in den höheren Dienst der Eidgenossenschaft aufgenommen. Mit Anrecht auf Heimaturlaub, was für den nach wie vor oft heimwehkranken Lutz eine nicht geringe Zusatzvergünstigung darstellte.

Allerdings genoss er es in Washington erstmals wirklich, in Amerika zu leben. Nach den tristen Provinzstädten, in denen er die letzten Jahre unter kärglichen Bedingungen dahinvegetiert hatte, kam ihm die US-Hauptstadt wie der Inbegriff von Luxus und Eleganz vor. Natürlich fehlten ihm entsprechende Vergleiche – die großen europäischen Metropolen Paris, Rom oder London kannte er schließlich nicht. Und das, was er von New York gesehen hatte, war eher abschreckend gewesen. Mit einem Satz: Carl Lutz war von Washington hin und weg.

Hier angekommen machte ich die seltene Erfahrung …, dass ich alles so vorfand und besser noch, als ich es mir vorgestellt hatte. Zum ersten Mal also hat mich meine Fantasie nicht betrogen! Meine Wünsche sind nun … alle in Erfüllung gegangen. Soli Deo Gloria! Es bietet sich hier die großartige Gelegenheit, etwas aus mir zu machen.

Washington prägte ihn mehr, als ihm vielleicht selbst bewusst war. Der von Haus aus bescheidene, puritanische Methodist legte sich eine fast weltmännische Attitüde zu – ja, sogar dem Luxus war er nicht mehr abgeneigt. Später, in Budapest, würde sich das bei der einen oder anderen Gelegenheit erneut zeigen.

Sein Biograf Theo Tschuy hat ihn als »Weltmenschen« und »Pietisten« in einer Person bezeichnet – eine Kombination, die bisweilen zu Problemen führte, Lutz aber gleichzeitig zu außergewöhnlichen Leistungen befähigte und seinen teilweise unkonventionellen Arbeitsstil geprägt haben mag. Doch trotz aller Erfolge stellte sich erneut ein Gefühl der Unzufriedenheit bei ihm ein. Es zog ihn wieder einmal weiter, und es sollte nicht das letzte Mal sein. Eine Angewohnheit, die ihn im Übrigen bei seinen Vorgesetzten nicht gerade beliebt machte.

1926 erreichte er seine Versetzung nach Philadelphia, aber dort gefiel es ihm nicht wirklich. Nach einem Heimaturlaub, den er für ausgedehnte Reisen in der Alten Welt nutzte, spürte er, dass er sich mehr und mehr zurück nach Europa sehnte. Und dass seine Gesuche in Bern auf taube Ohren stießen, verdross ihn. Dennoch ließ er nicht locker, machte kein Geheimnis daraus, wie unzufrieden er mit seiner Position als Kanzleisekretär in Philadelphia war und wie sehr er das dortige feuchte Klima hasste. Bereits jetzt trat deutlich zutage, dass Lutz und die Bürokraten im Schweizer Außenamt, dem Eidgenössischen Politischen Departement, wohl kaum je ein Herz und eine Seele sein würden.

1930 versetzte man ihn nach New York. Nicht gerade das, was Lutz als neuer Wirkungsstätte vorgeschwebt hatte. Gut, das Klima war in der nördlicher gelegenen Stadt etwas günstiger für ihn – ansonsten aber kam er, seiner Einschätzung nach, vom Regen in die Traufe. Vielleicht hatte man ihn ja in Philadelphia einfach loswerden wollen, argwöhnte er gar.

Jedenfalls muss die Megacity für den physisch wie psychisch angeschlagenen Lutz ein Horror gewesen sein – besonders die Fahrten in der U-Bahn, wo er unter ständiger Platzangst litt. Während eines Heimaturlaubs im gleichen Jahr attestierte ihm ein Berner Arzt massive gesundheitliche Einschränkungen und nervöse Störungen: »Durch langjährigen Aufenthalt in Großstädten, in Verbindung mit der Grippeerkrankung vom Jahre 1930, ist eine hochgradige Nervosität entstanden, die die Verdauung behindert und viel und oft die Ursache von heftigen Magenschmerzen ist.«

Der Rat des Arztes: ein ausgedehnter Aufenthalt in den Bergen, da ansonsten Tuberkulosegefahr bestehe.

Bern schien das weniger dramatisch zu sehen – oder sehen zu wollen – und schickte Lutz statt in die kühle Bergluft heimatlicher Gefilde in das schwül-feuchte Klima des amerikanischen Südens, nach Saint Louis. Alle Proteste halfen nichts, desgleichen keine Hinweise auf seine angegriffene Gesundheit und seine schwache Konstitution. Man versuchte schlicht, seine Beschwerdeflut mit einer Beförderung zum Kanzleisekretär erster Klasse einzudämmen.

Sonst tat sich vorerst nichts. Außer dass Lutz in seiner Verbannung, als die er seine Versetzung betrachtete, endlich die Frau fürs Leben fand, nach der er seit Langem vergeblich Ausschau gehalten hatte: Gertrud Fankhauser, genannt »Trudi«, eine Angestellte des Konsulats in Saint Louis, die ihm später bei allen diffizilen und gefährlichen Aktionen unbeirrbar zur Seite stehen sollte.

Im Spätherbst des Jahres 1934 zeigte Bern endlich ein Einsehen und berief Lutz aus Saint Louis ab. Heim nach Europa. Allerdings nicht an die Stelle, auf die er gehofft hatte.