Einleitung

Menschen auf der Flucht

Seit einigen Jahren gehören sie in Deutschland zum medialen Alltag: verstörende Bilder von Menschen auf der Flucht, die sich im Meer an Boote klammern oder die an Land in Zeltlagern hausen. Familien mit Kindern, Männer, Frauen, Jugendliche. Viele sind seit 2015 schon in Deutschland, beantragen hier Asyl, sind zu Nachbarn in den Asylbewerberunterkünften geworden. Und viele sind noch unterwegs im großen Flüchtlingstreck, in dem die Menschen Schutz vor Bürgerkrieg, Hunger und Verfolgung suchen.

Auf den Fotos der Nachrichtenagenturen und in den Bildberichten der Tagesschau erscheinen diese Flüchtlinge als eine große, einheitliche Gruppe, die sich auf dem Weg befindet. Und der Begriff des Flüchtlings verdeckt die Tatsache, dass es sich bei jedem Migranten um einen Menschen mit eigener Geschichte, mit eigenem Herkunftsland und eigenem kulturellen Hintergrund handelt. Die Unterschiede können dabei sehr groß sein und der Asylbewerber aus dem Osten Äthiopiens hat wenig mit der Flüchtenden aus den Bergen Afghanistans zu tun. Und sie wiederum unterscheidet sich von dem Migranten aus dem Kosovo ebenso wie von der aus dem Norden von Syrien geflohenen Kurdin. Gemeinsam ist ihnen allen ihre Notlage.

Dieses Buch soll helfen, die Flüchtenden kennenzulernen. Wer sind sie, woher kommen sie, was haben sie für eine Mentalität und welchen kulturellen Hintergrund, was ist ihre Religion und was sind die Gründe, warum sie ihre Heimat verlassen haben? Welche Sprache sprechen sie? Wie ist dort die Stellung der Frau und wie ist die Situation der Menschenrechte? Wie sind die Menschen durch die Geschichte ihres Landes geprägt, warum kam es dort zu Bürgerkrieg und Gewalt? Wie ist die soziale und wirtschaftliche Lage in ihren Heimatländern?

Diese Fragen werden in einzelnen Kapitel zu den jeweiligen Flüchtlingsregionen beantwortet. Diese Flüchtlingsregionen sind der Nahe Osten (Irak, Syrien) und Afghanistan; der Maghreb (Libyen, Tunesien und Algerien); Ostafrika (Äthiopien, Eritrea, Somalia) und der Balkan (Kosovo, Albanien).

Drei Szenen

Wer sich vergegenwärtigen will, wie sehr das Thema Flüchtlinge seit zwei Jahren die Menschen und die Politik in Deutschland bewegt, dem seien folgende drei Szenen in Erinnerung gebracht.

München, Montag, 7. September 2015: Normalerweise warten auf dem Platz neben dem Münchner Hauptbahnhof die Taxis auf ihre Fahrgäste und von hier startet der Shuttle-Bus zum Flughafen. Doch seit dem Wochenende stehen da mehrere weiße Zelte mit der Aufschrift »Medizinisches Katastrophen-Hilfswerk Deutschland«, der Platz ist durch Sperrgitter und die Polizei abgeschirmt. Seit Freitagabend sind hier 20 000 Flüchtlinge mit Zügen aus Budapest angekommen, für den heutigen Montag werden weitere 10 000 erwartet. Auch jetzt bewegt sich in der Absperrung eine Gruppe Menschen in Richtung der wartenden Busse, einige haben eine Decke um die Schultern, über Nacht ist es kalt geworden. Nein, sagt einer der Polizisten, er wisse nicht, wohin die Busse führen, irgendwo zu einer Unterkunft in der Stadt. Seit sechs Uhr morgens macht er hier mit den Kollegen seinen Dienst, an diesem Montagvormittag kommen an die 300 Flüchtlinge am Münchner Hauptbahnhof an, die meisten auf Gleis 26, mit dem Zug aus Budapest oder aus Salzburg. Draußen an der Absperrung steht Bastian, seine zwei Lieblingsplüschtiere in der Hand. Bastian ist sechs Jahre alt und kommt aus Ingolstadt, er will die Tiere einem Flüchtlingskind schenken. »Schau, da drüben kannst du sie übergeben«, sagt seine Mutter und zeigt auf eine Lücke in der Absperrung. Ein paar Meter weiter gibt Elizabeth Matzinger, Pressesprecherin der Polizei, den Journalisten einen Überblick. Nein, man könne derzeit noch nicht abschätzen, wie viele Menschen noch kommen würden. Ja, die Polizei sorge dafür, dass alles friedlich und geordnet ablaufe, an die 70 Beamte seien im Einsatz, dazu noch weitere 70 von der Bundespolizei. Nein, die Ankommenden würden nicht registriert, sie erhielten Essen und Trinken sowie medizinische Versorgung, dann würden sie mit Bussen auf die Unterkünfte in München, Bayern und die anderen Bundesländer aufgeteilt. Die Polizistin steht vor dem Starnberger Bahnhof, einem Flügel des Hauptbahnhofes. Hierher werden die Flüchtlinge von den Zügen geleitet und dann in Empfang genommen, auch dieser Bereich ist abgesperrt. »Welcome to München« steht in bunten Lettern auf einem Pappschild, andere Begrüßungsschilder sind auf Arabisch.1

Idomeni in Griechenland an der Grenze zu Mazedonien, Sonntag, 24. April 2016: Der Flüchtlingsort ist ein großes, wildes Zeltlager mit dem alten Bahnhof und den Gleisen als Mittelpunkt, im Norden begrenzt durch den Zaun mit Stacheldraht. Nach der Schließung der Grenze harrten hier bis zu 15 000 Menschen aus, derzeit sind es noch rund 10 000 Flüchtlinge, die auf eine Besserung ihrer Lage hoffen. In den Zelten, den alten Gebäuden und den ausrangierten Eisenbahnwaggons hausen oft ganze Familien, groß ist die Zahl der Kinder, die unbeaufsichtigt durch das Gelände streunen. Heute ist Sonntag und ein seltsamer Frieden liegt mittags über dem Lager. Zwischen den aus alten Brettern und Decken zusammengeflickten Hütten und den bunten Kuppelzelten steigt ab und zu Rauch in den blauen, sonnigen Himmel auf, manche Familien kochen sich ihr Mittagessen auf improvisierten Feuerstellen selbst. Menschen kauern vor ihrem Unterschlupf, Kinder spielen im Sand. »Hello, friend« ist ihr Standardsatz, wenn die Leute aus den NGOs (Nichtregierungsorganisationen) vorbeigehen. Männer sind dabei, irgendwo Holz zu organisieren, sehr gefragt sind die Steckdosen in einem Raum des alten Bahnhofgebäudes, hier können die Akkus der Handys aufgeladen werden – sie sind eines der wichtigsten Dinge im Camp, um Informationen über die aktuelle Lage zu erfahren. Ein paar hundert Meter vom Bahnhofsgebäude entfernt endet das Lager am Grenzzaun. Metallisch glänzt er in der Sonne und im Stacheldraht hängen zerfetzte Wolldecken mit der Aufschrift des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nation und Reste von Kleidungsstücken. Ein verbeultes Blechschild trägt die Aufschrift »Staatsgrenze« und verweist mit einem Pfeil auf einen »Checkpoint« zur Registrierung, das Ganze auch in arabischer Schrift. Von einem Checkpoint ist allerdings nichts zu sehen, nur die Gleise, die hinüber nach Mazedonien führen. Quer über die Schienen versperrt ein schweres Eisengitter den Zugang, direkt dahinter ist ein Militär-Panzerwagen mit Tarnbemalung postiert.2

Das Lager wurde am Montag, 23. Mai 2016 von der Polizei ohne Gewalt geräumt, die Flüchtlinge in vom Militär kontrollierte Camps in Griechenland gebracht.

Irgendwo im Mittelmeer zwischen Libyen und Italien, 27. Mai 2016: Die Hilfsorganisation Seawatch meldet auf Facebook: »Unsere Crew trifft gerade am Schauplatz eines gekenterten Holzbootes mit vielen Menschen an Bord ein. Einige befinden sich noch im Wasser. Anzahl an Toten unklar. Die vorhin geretteten 120 Menschen ruhen sich derweil auf unserem Deck von den Anstrengungen der Flucht aus.«3 Auch ein totes Baby wird aus dem Wasser geborgen. Laut dem Flüchtlingshilfswerk der UNO sind in der vergangenen Woche an die 700 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken.

Zuvor hatte am 13. Mai 2016 das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen gemeldet: »Rund 1000 Flüchtlinge und Migranten verschiedener Nationalitäten sind gestern in mehreren von Frontex koordinierten Operationen gerettet worden, darunter geflüchtete Familien und unbegleitete Minderjährige. In einem Einsatz vor der Küste Siziliens wurden etwa 500 Menschen, die in zwei Fischerbooten einige Tage zuvor von Ägypten aus gestartet waren, südöstlich von Kap Passero gerettet.« Frontex ist eine Behörde der EU, die den Schutz der Außengrenzen koordiniert.

Diese drei Szenen rahmen das sich seit 2015 abspielende Flüchtlingsdrama ein. Warum sich die Flüchtlingssituation in Europa plötzlich verschärfte, hat verschiedene Ursachen. Ein Hauptgrund war sicherlich, dass der Bürgerkrieg in Syrien unvermindert weiterging und die Menschen dort keine Perspektive mehr für sich sahen. Zudem kürzten die Internationalen Organisationen ihre Hilfen für die Flüchtlinge in den Lagern Jordaniens und der Türkei, sodass sich die Lage dort rapide verschlechterte. Daher machten sich die Menschen auf den Weg über den Balkan. Bis zum August 2015 waren rund 160 000 Flüchtlinge insbesondere aus Syrien nach Griechenland gekommen. Die Lage in den Aufnahmelagern dort war katastrophal, viele Flüchtlinge wollten auf der sogenannten Westbalkanroute über Mazedonien, Serbien, Ungarn, Österreich und von dort aus weiter nach Deutschland und Schweden reisen. So kamen mehr als 150 000 Flüchtlinge bis nach Ungarn. Viele wollten von Serbien aus in das Land, bevor der angekündigte ungarische Grenzzaun fertiggestellt war. Ende August 2015 erklärte das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, syrische Flüchtlinge würden nicht mehr in andere EU-Staaten zurückgeschickt. Damit wurde das Dublin-Abkommen praktisch außer Kraft gesetzt, demzufolge Flüchtlinge in dem Land der Europäischen Union Asyl beantragen müssen, das sie als Erstes betreten. Danach versuchten viele Syrer, aus Ungarn über Österreich nach Deutschland zu gelangen: zu Fuß, per Bahn, mit dem Bus. Tausende von Flüchtlingen versammelten sich am Bahnhof in Budapest, Anfang September 2015 ließ man sie mit dem Zug ausreisen. So kamen innerhalb von wenigen Tagen Zehntausende Flüchtlinge nach Deutschland und Österreich.

Eine europäische Lösung der Flüchtlingsfrage erwies sich als schwierig, erst nach langen Verhandlungen einigte man sich auf eine Quote über die Verteilung von Flüchtlingen, aber vor allem die osteuropäischen Länder zogen nicht mit. Im Oktober 2015 schloss Ungarn dann seine Grenzen zu den Nachbarländern Slowenien, Kroatien und Serbien. Tausende Flüchtlinge, die über Mazedonien kamen, reisten nun über Kroatien und Slowenien weiter nach Österreich und von dort nach Deutschland.

In Griechenland war zu dieser Zeit die Grenze zu Mazedonien durchlässig, an die 5000 Migranten zogen pro Tag weiter in Richtung Norden. Im November 2015 beschlossen Serbien, Kroatien, Slowenien und Mazedonien nacheinander, nur noch Syrer, Iraker und Afghanen über die Grenze zu lassen, andere Flüchtlinge wurden zurückgewiesen. Lediglich jeder zehnte Flüchtling kam durch, Mazedonien begann mit dem Aufbau eines Stacheldrahtzauns an der Grenze, mehrere Tausend Flüchtlinge strandeten so im griechischen Grenzort Idomeni. Versuche, die Grenze zu überqueren, wurden von der Polizei verhindert.

Im Dezember 2015 besetzten die Gestrandeten die Eisenbahnschienen und blockierten den Güterzugverkehr nach Griechenland. Im März 2016 stieg die Zahl der Flüchtlinge in Griechenland auf mehr als 47 000, in Idomeni saßen bis zu 15 000 Menschen fest, darunter viele Familien mit Kindern. Am 23. Mai 2016 begann die Polizei mit der Räumung des Lagers.

Wegen der geschlossenen Balkanroute stieg nun die Zahl der Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Europa gelangen wollten. Die Vereinten Nationen schätzen, dass seit Jahresanfang 2016 rund 20 000 Menschen über das Mittelmeer nach Italien kamen. Anfang Juni 2016 ging die UN davon aus, dass weit mehr als 200 000 Menschen in Libyen auf die Überfahrt warteten.

Die Flüchtlingskrise und Europa

Der Zug der Flüchtlinge weg von den Ländern des Bürgerkriegs und den Auffanglagern und hin nach Europa hat seit 2015 die Situation in den Staaten der EU verändert: im Hinblick auf die Innen- und Außenpolitik und im Hinblick auf die einheimische Bevölkerung, die mit Hilfsbereitschaft und Solidarität, aber auch mit Ablehnung bis hin zu Brandanschlägen auf die Migranten reagierte.

Innenpolitik

Es ist bemerkenswert, dass sich die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel trotz enormen politischen Drucks dazu entschied, bei der Flüchtlingsfrage an ihrer Politik der offenen Grenzen auch 2016 festzuhalten und auf eine europäische Lösung zu setzen. Diese sieht Kontrollen an den Außengrenzen des Schengen-Raumes und ein umstrittenes Abkommen mit der Türkei vor, das die zwangsweise Rückführung von Flüchtlingen vorsieht.

Demgegenüber setzte die CSU, Schwesterpartei der regierenden CDU, auf die Schließung der deutschen Grenzen und die Festlegung einer Obergrenze bei der Zahl der Flüchtlinge in Deutschland. Diese unterschiedlichen Ansichten bei der Behandlung der Migranten führte schließlich zu einem handfesten politischen Streit, der von den bayerischen Christsozialen immer wieder aufs Neue angefacht wurde, sodass schließlich von einem tiefen Zerwürfnis der beiden Unionsparteien gesprochen wurde. Hintergrund dazu war auch das Erstarken einer neuen Partei, der Alternative für Deutschland (AfD). Sie setzte auf eine rigide Ausländerpolitik und erreichte damit bei den Landtagswahlen im Frühjahr 2016 aus dem Stand heraus zweistellige Wahlergebnisse.

Außenpolitik

Außenpolitisch und auf EU-Ebene erwies sich die deutsche Position in der Flüchtlingspolitik als wenig durchsetzungsfähig. Die von der Bundeskanzlerin eingeforderte Verteilung der Migranten auf die verschiedenen Staaten der Europäischen Union stieß vor allem bei den osteuropäischen Mitgliedsländern auf vehementen Widerstand. Statt einer gemeinsamen Aktion setzten Ungarn, Polen und schließlich auch Österreich auf nationale Lösungen – wie auch von der bayerischen CSU gefordert –, das heißt, die Grenzen wurden in Alleingängen geschlossen und Zäune zur Abwehr der Flüchtlinge wurden errichtet. Dass Griechenland mit seinen enormen wirtschaftlichen Problemen als Land mit einer Außengrenze des Schengen-Raumes völlig überfordert war, kam hinzu. Für viele politische Beobachter galt das Lager Idomeni als sichtbarer Ausdruck einer gescheiterten gemeinsamen Flüchtlingspolitik in der EU.

Bevölkerung

Im Herbst 2015 wurden die ankommenden Flüchtlinge an den Bahnhöfen von vielen ehrenamtlichen Helfern begrüßt, die Decken, Lebensmittel und Kleidung an die Migranten verteilten. Durch Deutschland rollte eine Welle der Hilfsbereitschaft und in den Städten und Gemeinden sorgten die Mitarbeiter der Verwaltung, von Polizei und Feuerwehr, von Hilfsorganisationen und Rotem Kreuz, von Kirchen und Vereinen für die Unterbringung, Verpflegung und Betreuung der Neuankömmlinge. Deutschland bot den Bürgerkriegsflüchtlingen eine Zuflucht. Allerdings mehrten sich im Laufe der Zeit zunehmend auch Stimmen, die vor einer »unkontrollierten« oder auch ganz grundsätzlich vor einer Zuwanderung warnten. Diese Einstellung zeigte sich in den rasch anschwellenden Demonstrationen der rechtsorientierten »Pegida-Bewegung«. Immer wieder kam es zu Brandanschlägen auf Asylbewerberheime.

Flucht und Vertreibung seit dem 20. Jahrhundert

Der große Andrang der Flüchtlinge seit 2015 ist das bisher jüngste Kapitel einer langen Geschichte von Flucht und Vertreibung. Sie umfasst die Flüchtlingsströme am Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland ebenso wie die sogenannten »­Boatpeople« aus Vietnam in den 1970er-Jahren. Heute aber ist die Zahl der Menschen, die vor Krieg, Konflikten und Verfolgung fliehen, so hoch wie noch nie. Ende 2014 waren knapp 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Im Vergleich dazu waren es ein Jahr zuvor 51,2 Millionen Menschen, vor zehn Jahren 37,5 Millionen. Die Steigerung von 2013 auf 2014 war die höchste, die jemals im Laufe eines Jahres von UNHCR dokumentiert wurde.

UNHCR

UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees) ist das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. Es wurde 1951 von der UN-Generalversammlung gegründet, um Millionen von europäischen Flüchtlingen in der Folge des Zweiten Weltkrieges zu helfen. Da sich in den folgenden Jahrzehnten die Flüchtlingssituation weltweit verschärfte, wurde das UNHCR-Mandat zunächst alle fünf Jahre verlängert. Im Dezember 2003 erhielt UNHCR von der UN-Vollversammlung dann ein unbeschränktes Mandat. An der Spitze des Hilfswerks steht der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen. Die wichtigste Aufgabe der Organisation ist der internationale Schutz von Flüchtlingen. Sie soll sicherstellen, dass die Menschenrechte von Flüchtlingen respektiert werden, dass sie das Recht haben, Asyl zu suchen, und dass keiner zur Rückkehr in ein Land gezwungen wird, in dem er oder sie Verfolgung befürchten muss. Die Organisation stellt in vielen Ländern auch materielle Hilfe für Betroffene zur Verfügung, zum Beispiel Unterkünfte und medizinische Versorgung. Die zweite zentrale Aufgabe von UNHCR neben dem internationalen Schutz ist die Suche nach dauerhaften Lösungen für die Probleme von Flüchtlingen. Wenn eine Rückkehr in die Heimatländer nicht möglich ist, hilft UNHCR ihnen, sich ein neues Leben aufzubauen, entweder im Asylland oder in einem Drittland, das bereit ist, sie aufzunehmen.4

Das deutsche Asylrecht

Im Artikel 16 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland war bis 1993 zu lesen: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.« Entstanden ist dieses Recht auf Asyl für Ausländer aufgrund der Erfahrungen während des Nationalsozialismus, als viele in Deutschland politisch Verfolgte in andere Länder flüchten mussten, um so ihr Leben zu retten. Vor dem Hintergrund dieser Geschichte wird das Asylrecht seit 1949 in Deutschland nicht nur – wie in vielen anderen Staaten – aufgrund der völkerrechtlichen Verpflichtung aus der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 (siehe Seite 24) gewährt, sondern hat als Grundrecht Verfassungsrang.

Was den Gesetzgeber freilich nicht daran hinderte, die Ausführungsbestimmungen zum Asylrecht in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder aufs Neue zu ändern beziehungsweise zu verschärfen. Meist als Reaktion auf die sich vielfach wiederholende Debatte der Flüchtlingsabwehr im Sinne: Das »Boot« sei »voll«. So kam es 1992 nach heftigstem politischen Streit, nach brennenden Asylbewerberheimen und Schlagzeilen über »Asylmissbrauch« schließlich zum sogenannten Asylkompromiss. Das Grundgesetz wurde daraufhin geändert, das Asylrecht in einen eigenen neuen Paragrafen 16a verschoben. Jetzt galt: Ausländer, welche über ein Land der Europäischen Union oder einen »sicheren Drittstaat« einreisen, können sich nicht auf das Asylrecht berufen. Und bei »sicheren Herkunftsstaaten« kann vermutet werden, dass dort keine politische Verfolgung stattfindet, solange der Asylbewerber diese Vermutung nicht entkräftet. Der Rechtsschutz wurde eingeschränkt und schließlich kann das deutsche Asylgrundrecht dadurch vermindert oder ausgeschlossen werden, dass ein anderer Staat im Rahmen europäischer Zuständigkeitsvereinbarungen für die Schutzgewähr des Asylbewerbers zuständig ist und der Asylbewerber, ohne dass sein Asylantrag in der Sache geprüft wird, dorthin verwiesen wird.

Letztendlich bedeutete diese Änderung, dass im Prinzip nur noch diejenigen Flüchtlinge in Deutschland Asyl beantragen konnten, die mit dem Flugzeug landeten oder mit einem Schiff an die Küste kamen – ist Deutschland doch fast vollständig von Ländern der EU umgeben. Weitere Änderungen brachten das Zuwanderungsgesetz vom 30. Juli 2004 und das Richtlinienumsetzungsgesetz vom 28. August 2007.

Das Asylrecht heute

Asylrecht wird bei politischer Verfolgung gewährt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge definiert dies so: »Politisch ist eine Verfolgung dann, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt Menschenrechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen. Das Asylrecht dient dem Schutz der Menschenwürde in einem umfassenderen Sinne.«

Aber nicht jede Verfolgung stellt nach Auffassung der Behörde eine »asylrelevante« Verfolgung dar. Es müsse sich vielmehr einerseits um eine gezielte Menschenrechtsverletzung handeln, andererseits müsse sie in ihrer Intensität darauf gerichtet sein, den Betreffenden aus der Gemeinschaft auszugrenzen. Schließlich müsse es sich um eine Maßnahme handeln, die so schwerwiegend ist, dass sie die Menschenwürde verletzt und über das hinausgeht, was die Bewohner des jeweiligen Staates ansonsten allgemein hinzunehmen haben. Und berücksichtigt werde grundsätzlich nur staatliche Verfolgung, also Verfolgung, die vom Staat ausgeht. Ausnahmen gelten, wenn die nicht staatliche Verfolgung dem Staat zuzurechnen ist oder »der nicht staatliche Verfolger selbst an die Stelle des Staates getreten ist«.

Das bedeutet: Notsituationen wie Armut, Bürgerkriege, Naturkatastrophen oder Perspektivlosigkeit sind damit als Gründe für eine Asylgewährung ausgeschlossen!

Und: Bei einer Einreise über einen sicheren Drittstaat ist eine Anerkennung als Asylberechtigter ebenfalls ausgeschlossen. Dies gilt auch, wenn eine Rückführung in diesen Drittstaat nicht möglich ist, etwa weil dieser mangels entsprechender Angaben des Asylbewerbers nicht konkret bekannt ist.

Das Asylverfahren

Wie funktioniert das Asylverfahren praktisch? In Deutschland kann ein Asylantrag nur beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gestellt werden. Äußert ein Flüchtling das Anliegen, einen Asylantrag zu stellen, wird er an die nächstgelegene Aufnahmeeinrichtung des jeweiligen Bundeslandes verwiesen. Die Erstverteilung erfolgt auf der Grundlage der Herkunftsländerzuständigkeit und eines Quotensystems (»Königsteiner Schlüssel«), das eine Verteilung auf alle Bundesländer vorsieht. Nachdem das zuständige Bundesland ermittelt ist, meldet sich der Asylbewerber bei der entsprechenden Aufnahmeeinrichtung. Sie kümmert sich um seine Unterbringung, versorgt ihn und informiert die nächstgelegene Außenstelle des Bundesamtes. Minderjährige Schutzsuchende, die ohne Begleitung eines für sie verantwortlichen Erwachsenen unterwegs sind, werden vom örtlich zuständigen Jugendamt in Obhut genommen. Vom Gericht wird ein Vormund bestellt. Dieser bespricht im anschließenden Abklärungs- oder Clearingverfahren die Situation des unbegleiteten Minderjährigen mit den beteiligten Behörden auf Landesebene: der Ausländerbehörde und anderen Organisationen wie beispielsweise Wohlfahrtsverbänden oder Kirchen. Unter anderem wird im Clearingverfahren entschieden, ob ein Asylantrag gestellt wird.

Königsteiner Schlüssel

»Nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel wird festgelegt, wie viele Asylsuchende ein Bundesland aufnehmen muss.«5 Dieser Schlüssel richtet sich einerseits nach den Steuereinnahmen (sie gehen zu zwei Drittel in die Bewertung ein) und andererseits nach der Bevölkerungszahl (ein Drittel bei der Bewertung). Die Quote wird jährlich neu vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ermittelt. Im Jahr 2015 hatte das Bundesland Nordrhein-Westfalen die höchste Quote an Asylsuchenden und das Bundesland Bremen die niedrigste Quote aufzunehmen.

Was passiert beim Antrag auf Asyl? Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge informiert dazu: In der Regel muss der Asylbewerber seinen Antrag persönlich bei einer Außenstelle des Bundesamtes stellen. Zu diesem Termin lädt das Bundesamt einen Dolmetscher ein. Während der Antragstellung wird der Asylbewerber über seine Rechte und Pflichten innerhalb des Asylverfahrens aufgeklärt, diese wichtigen Informationen werden ihm in seiner Sprache schriftlich ausgehändigt. Das Bundesamt legt eine elektronische Akte an und erfasst die persönlichen Daten. Alle Asylantragsteller, die das 14. Lebensjahr vollendet haben, werden fotografiert und es werden von ihnen Fingerabdrücke genommen (erkennungsdienstliche Behandlung). Die Maßnahmen geben Aufschluss darüber, ob sich der Asylbewerber bereits zu einem früheren Zeitpunkt – eventuell unter anderem Namen – in Deutschland aufgehalten hat oder ob ein anderer europäischer Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sein könnte. Bei der Antragstellung wird ein Ausweisdokument, die Aufenthaltserlaubnis, ausgestellt, das der Antragsteller immer bei sich tragen und bei Personenkontrollen der Polizei vorweisen muss. Ist Deutschland für die Prüfung des Asylverfahrens zuständig, wird der Asylbewerber von einem Mitarbeiter im Bundesamt – einem sogenannten Entscheider – persönlich zu seinen Fluchtgründen angehört.

Die Entscheider

Asylanträge werden beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge von sogenannten Entscheidern geprüft und bewertet. Um diese Aufgabe übernehmen zu können, müssen sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen. »Dazu zählen vor allem Kenntnisse über das Asyl- und Ausländerrecht sowie Wissen über das jeweilige Heimatland des Asylbewerbers.«6 Auch Erfahrungswissen, das Beherrschen von Befragungstechniken und ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen seien wichtig, so das Bundesamt. Die Entscheider nehmen an regelmäßigen Schulungen und Informationsveranstaltungen teil, um ihren Kenntnisstand zu aktualisieren.

Nicht öffentliche Anhörung

Die Anhörung ist grundsätzlich nicht öffentlich. Beteiligt sind der Antragsteller, sein Verfahrensbevollmächtigter (ein Rechtsanwalt oder Vormund) und der Entscheider. Auch ein Dolmetscher ist mit dabei. Auf Wunsch kann der Asylbewerber einen Vertreter des UN-Flüchtlingskommissariats an seiner Anhörung teilnehmen lassen. Weitere Personen können nur anwesend sein, wenn der Asylbewerber und das Bundesamt zustimmen. Die Anhörung ist der wichtigste Termin des Antragstellers innerhalb seines Asylverfahrens. Sie bietet dem Antragsteller die Gelegenheit, selbst seine Fluchtgründe zu schildern, also alle Tatsachen vorzutragen, die seine Furcht vor Verfolgung oder die Gefahr eines ihm drohenden ernsthaften Schadens begründen. Er muss auch alle sonstigen Tatsachen und Umstände schildern, die einer Rückkehr in sein Heimatland entgegenstehen. Zu Beginn der Anhörung stellt der Entscheider auch Fragen zu den persönlichen Lebensumständen des Antragstellers. Der Asylbewerber ist verpflichtet, wahrheitsgemäße Angaben zu machen und Beweismittel vorzulegen, sofern er solche hat oder beschaffen kann. Wie lange eine Anhörung dauert, hängt maßgeblich vom individuellen Verfolgungsschicksal ab. Über die Anhörung wird eine Niederschrift angefertigt, die alle wesentlichen Angaben des Antragstellers enthält und diesem in Kopie ausgehändigt wird.

Entscheidung über den Asylantrag

Die Entscheidung über den Asylantrag erfolgt schriftlich in Form eines Bescheides des Bundesamtes. Sie wird begründet und den Beteiligten mit einer Rechtsbehelfsbelehrung zugestellt. Wird der Antragsteller nicht von einem Verfahrensbevollmächtigten vertreten, erhält er zudem eine Übersetzung der Begründung und der Rechtsbehelfsbelehrung. Für die Entscheidung über einen Asylantrag ist grundsätzlich das Einzelschicksal maßgebend. Gegen die Entscheidungen des Bundesamtes kann der Asylbewerber klagen. Auf die möglichen Rechtsmittel und die Fristen wird er in der Rechtsbehelfsbelehrung hingewiesen.

Wird der Asylantrag abgelehnt und wird auch die Klage dagegen abgewiesen (und gleichzeitig die Ablehnung aller Schutzarten – siehe Seite 28 – bestätigt), besteht die Verpflichtung zur Ausreise. Kommt der Antragsteller dieser Verpflichtung nicht nach, wird er in sein Heimatland abgeschoben. Zuständig für die Durchführung der Abschiebung ist die jeweilige Ausländerbehörde.

Zahlen zu Asylanträgen im Jahr 2015

Die Hürden für einen erfolgreichen Asylantrag in Deutschland liegen also ziemlich hoch. Wie aber sieht die Anwendung des Asylrechts in der Praxis aus? 2015 wurden insgesamt 476 649 Asylanträge (Erst- und Folgeanträge) in Deutschland gestellt, das waren rund 273 800 oder 135 Prozent mehr als 2014. Vor 23 Jahren gab es eine ähnlich hohe Zahl: 1992 wurden als Folge der Balkan-Kriege 438 200 Asylanträge gezählt.

Hauptherkunftsländer der Antragsteller waren 2015 ­Syrien (162 510), Albanien (54 762), Kosovo (37 095), Afghanistan (31 902) und Irak (31 379).7 Vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wurden in diesem Jahr 282 726 Asylanträge entschieden. Lediglich 2029 Asylbewerber wurden als Asylberechtigte nach Artikel 16a des Grundgesetzes anerkannt, das sind 0,7 Prozent aller Entscheidungen.

Aber: 48,5 Prozent der Antragsteller erhielten den Flüchtlingsstatus laut Genfer Konvention zuerkannt und durften damit in Deutschland bleiben.

Kapitel 1

Fluchtregion Naher ­Osten (Syrien, Irak) und Afghanistan

Das Jahr 2015 markiert eine Wende in der Flüchtlingspolitik in Deutschland. Angesichts der Tausenden von Menschen, die vor Krieg, Hunger und Verfolgung auf der Flucht waren und nach Deutschland kamen, stellte die Bundesregierung das Dubliner Abkommen hinten an: Die Asylsuchenden wurden also nicht mehr in ihr EU-Ankunftsland abgeschoben. Es waren vor allem Menschen aus Syrien, die vor dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat flohen und mit Schlauchbooten die waghalsige Überfahrt von der türkischen Küste zu den griechischen Inseln wagten. Die Bilder der ertrunkenen Kinder gingen um die Welt.

Betrachtet man die Zahlen der Statistik, dann wird klar, dass 2015 die meisten der rund 442 000 Erstanträge (ohne Folgeanträge) auf Asyl in Deutschland von Syrern gestellt wurden: 159 000, das entspricht mehr als einem Drittel. An zweiter und dritter Stelle standen mit insgesamt 87 000 Anträgen Albaner und Kosovaren; deren Zahl aber nahm im Laufe des Jahres deutlich ab. An vierter Stelle registrierte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2015 rund 31 000 Asylbewerber aus Afghanistan, gefolgt von 30 000 aus dem Irak.

Die zwei Staaten des Nahen Ostens – Syrien und Irak – stellten zusammen mit Afghanistan auch in den beiden ersten Monaten des Jahres 2016 mit 76 Prozent das größte Kontingent der Flüchtlinge.