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Kohlhammer Standards Psychologie

 

 

 

 

 

Begründet von

Theo W. Herrmann (†)

Werner H. Tack

Franz E. Weinert (†)

Weitergeführt von

Marcus Hasselhorn

Herbert Heuer

Frank Rösler

Herausgegeben von

Marcus Hasselhorn

Wilfried Kunde

Silvia Schneider

Mike Rinck

Lernen

Ein Lehrbuch für Studium und Praxis

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-026040-5

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-026041-2

epub:    ISBN 978-3-17-026042-9

mobi:    ISBN 978-3-17-026043-6

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Widmung

Für meine Mentoren, von denen ich lernen durfte:
Ulrich Glowalla, Gordon Bower, Winfried Hacker

Inhalt

 

 

 

 

  1. Vorwort
  2. 1 Einleitung
  3. 1.1 Was ist Lernen?
  4. 2 Einfachste Lernformen: Habituation und Sensitivierung
  5. 2.1 Was ist Habituation?
  6. 2.2 Was ist Sensitivierung?
  7. 3 Klassische Konditionierung: Das Lernen von Signalen
  8. 3.1 Was ist Klassische Konditionierung?
  9. 3.2 Einflüsse auf die Effektivität der klassischen Konditionierung
  10. 3.3 Weitere wichtige Aspekte der klassischen Konditionierung
  11. 3.4 Der »kleine Albert«: Fakten und (Fehl-)Interpretationen
  12. 3.5 Evaluative Konditionierung
  13. 3.6 Klassische Konditionierung im Alltag
  14. 3.7 Therapeutische Anwendungen der klassischen Konditionierung
  15. 3.7.1 Effekte von Medikamenten und Drogen
  16. 3.7.2 Bettnässer-Therapie durch die Klingelhose
  17. 3.7.3 Aversionstherapie
  18. 3.7.4 Therapie von Schlafstörungen durch Stimuluskontrolle
  19. 4 Operante Konditionierung: Das Lernen von Verhaltenskonsequenzen
  20. 4.1 Was ist operante Konditionierung?
  21. 4.2 Verstärkung und Bestrafung von Verhalten
  22. 4.3 Problematische Aspekte der Bestrafung
  23. 4.4 Löschung
  24. 4.5 Differentielle Verstärkung von anderem Verhalten
  25. 4.6 Verstärkungspläne
  26. 4.7 Arten von Verstärkern
  27. 4.8 Kurzfristige und langfristige Konsequenzen
  28. 4.9 Aberglauben: Erlernt durch zufällige Verstärkung
  29. 4.10 Diskriminative Hinweisreize
  30. 4.11 Das Lernen neuer Verhaltensweisen: Shaping
  31. 4.12 Das Lernen neuer Verhaltensweisen: Chaining
  32. 4.13 Latentes Lernen: Das Lernen kognitiver Karten
  33. 4.14 Die allgegenwärtige operante Konditionierung im menschlichen Alltag
  34. 4.15 Operante Konditionierung in der Klinischen Psychologie: Die Entstehung von Störungen
  35. 4.16 Operante Konditionierung in der Klinischen Psychologie: Die Therapie von Störungen
  36. 4.17 Klassische und operante Konditionierung im Vergleich und zusammen
  37. 4.18 Klassische und operante Konditionierung zum Ausprobieren: »Sniffy the Virtual Rat«
  38. 5 Modelllernen: Lernen durch das Beobachten von anderen
  39. 5.1 Was ist Modelllernen?
  40. 5.2 Die Bobo Doll Experimente: Lernen von aggressivem Verhalten
  41. 5.3 Macht Gewalt in den Medien aggressiv?
  42. 5.4 Modelllernen von Angst
  43. 5.5 Therapeutische Anwendungen des Modelllernens
  44. 6 Komplexes kognitives Lernen
  45. 6.1 Was ist kognitives Lernen?
  46. 6.2 Lernen und Schlafen
  47. 6.3 Allgemeine Aspekte von Lerntechniken und -methoden
  48. 6.3.1 Elaboration
  49. 6.3.2 Organisation
  50. 6.3.3 Vorstellungsbilder
  51. 6.3.4 Abruf üben
  52. 6.3.5 Zeitliche Verteilung des Lernens
  53. 6.4 Studier- und Mnemotechniken
  54. 6.4.1 Schlüsselwort-Methode
  55. 6.4.2 Loci-Methode
  56. 6.4.3 PQRST-Methode
  57. 6.4.4 Lernkarteien und Lernprogramme
  58. 6.5 Motivation und Selbstmotivation
  59. 7 Ein Tag im Leben der Studentin Lara: 24 Stunden voller Lernen
  60. 8 Literatur
  61. 9 Ein Tag im Leben der Studentin Lara: 24 Stunden voller Lernen
  62. Stichwortverzeichnis
  63. Personenverzeichnis

Vorwort

 

 

 

 

Wir alle lernen ständig und überall, und zuweilen auch, ohne es zu merken. Die Fähigkeit des Lernens hat zum phänomenalen evolutionären Erfolg der Spezies Homo Sapiens beigetragen. Aber auch alle anderen Lebewesen, die den Kampf ums Überleben bisher gut überstanden haben, sind mehr oder weniger lernfähig. Es muss sich also um eine wirklich nützliche und wichtige Fähigkeit handeln. Warum also wissen wir so wenig darüber, und warum ist das Lernen oft so schwierig? Nun, eigentlich wissen wir schon sehr viel über das Lernen beim Menschen und bei vielen anderen Lebewesen. Immerhin gibt es schon seit mehr als 130 Jahren wissenschaftliche Untersuchungen des Phänomens »Lernen«. Und ein gut gesichertes Ergebnis dieser vielen Untersuchungen ist, dass das Lernen häufig gar nicht schwierig ist, sondern fast »von allein« abläuft, ohne dass wir uns dabei groß anstrengen müssten. Warum aber klagen wir oft darüber, dass das Lernen immer wieder so schwierig ist? Dieser Widerspruch dürfte dadurch zu erklären sein, dass wir beim Klagen nur eine ganz bestimmten Form des Lernens im Sinn haben: das Lernen, wie es in der Schule, an der Universität, und in vielen anderen Bildungseinrichtungen gefragt ist. Diese Form des Lernens, das sogenannte kognitive Lernen, ist in der Tat oft nicht einfach, und dieses Lernen ist in der Geschichte der Menschheit auch relativ spät aufgetaucht (zumindest sind bisher noch keine Höhlenmalereien mit Hausaufgaben des frühen Homo Sapiens oder versteinerte Schulbänke des Neandertalers gefunden worden).

Es gibt aber noch viele andere Arten des Lernens, die für das Überleben der Einzelnen, und damit für das Überleben der ganzen Menschheit enorm wichtig sind. Wir lernen zum Beispiel, Signale zu erkennen, die wichtige Dinge ankündigen (angenehme ebenso wie unangenehme). Wir lernen auch, unser eigenes Verhalten danach auszurichten, dass es möglichst viele positive und möglichst wenige negative Konsequenzen hat. Und wir lernen durch die Beobachtung von anderen, so dass wir nicht alle schmerzhaften Fehler selbst machen müssen. Diese Arten des Lernens haben meist Namen, die auch nicht so einfach zu erlernen sind (schon wieder ein Grund zum Klagen!), wie Klassische Konditionierung, Operante Konditionierung (auch Instrumentelle Konditionierung genannt: noch ein Grund zur Verwirrung), und Modelllernen.

Diese Formen des Lernens – vor allem die Konditionierungen – sind wissenschaftlich recht gut erforscht, und Lehrbücher mit dem Thema »Lernen« sind (genau wie dieses Buch) voll davon. Was dabei leider häufig fehlt, ist der Bezug zum Alltag der Leser und Leserinnen, und eine überzeugende Antwort auf die Frage »Was hat das mit mir zu tun?«. Diese Bücher werden deshalb gern als langweilig und schwer verständlich empfunden. Informationen über das kognitive Lernen mit vielen Tipps und Anwendungsbeispielen für den Alltag finden sich hingegen eher in populär-wissenschaftlichen Büchern, die leichteres Lernen in Schule, Universität, Beruf und Alltag versprechen. Leider sind diese Bücher oft eher populär-unwissenschaftlich, denn ihre Rezepte für müheloses Lernen haben kaum eine gesicherte empirische Grundlage. Sie zeigen wohl eher, dass die Autoren schon etwas gelernt haben (nämlich mit enthusiastisch formulierten Empfehlungen Geld zu verdienen), als dass die Leser etwas wirklich nützliches lernen werden.

Dieses Buch soll weder wissenschaftlich-langweilig noch unseriös-interessant sein. Natürlich werden in diesem Buch alle wichtigen Inhalte der Lernpsychologie beschrieben, so wie Studierende der Psychologie sie kennen sollten. Zusätzlich gibt es aber viele Beispiele und Seitenbemerkungen, die das Thema hoffentlich nicht nur leichter »erlernbar« machen, sondern auch zeigen, dass »Lernen« ein spannendes und alltagsrelevantes Thema ist. Und schließlich enthält das Buch auch einige der empirisch besser abgesicherten Erkenntnisse darüber, wie man besser lernen kann. Diese Erkenntnisse werde ich nicht nur beschreiben und zur Nachahmung empfehlen; ich habe auch versucht, sie im Buch selbst zu benutzen. Damit sollte es hoffentlich leichter fallen, mit Hilfe dieses Buchs etwas über das Lernen zu lernen und dies auch zu behalten (vielleicht sogar über die nächste Klausur hinaus). Zu den Methoden, mit denen das Lernen aus diesem Buch verbessert werden soll, gehören u. a. viele Alltagsbeispiele, z. B. aus einem prototypischen Tag der fiktiven Studentin Lara. Außerdem gibt es ergänzende Boxen mit Definitionen, Erklärungen und Exkursen sowie Boxen mit biographischen Informationen und Anekdoten zu wichtigen Lernforschern. Auch Verweise auf YouTube gibt es: Dort kann man eine ganze Reihe interessanter Videos zu Themen des Lernens finden. An den passenden Stellen habe ich deshalb einige Links zu guten Videos angegeben. Leider veralten diese Links relativ schnell. Für diesen Fall habe ich auch Suchwörter angegeben, die man verwenden kann, um die Videos zu finden. Aber Vorsicht: Mit den Suchwörtern kann man auch Videos finden, in denen zuweilen Unsinn erzählt wird. Deshalb: Bleiben Sie kritisch!

Meine Kollegen werden es mir hoffentlich verzeihen, wenn ich ihnen wichtig erscheinende Themen verkürzt, vereinfacht, oder gar überhaupt nicht dargestellt habe. Natürlich könnte man jedes einzelne Thema ausführlicher darstellen, und die hier getroffene Auswahl und Ausführlichkeit spiegelt nichts Besseres wider als meine persönlichen Vorlieben. Leser, die über bestimmte Themen mehr wissen möchten, finden diese vermutlich beschrieben in den Lehrbüchern von Domjan (2010), Baldwin und Baldwin (2000), Mazur (2006), oder Edelmann und Wittmann (2012). Sollte ich einzelne Dinge jedoch unzutreffend beschrieben haben, verspreche ich, das bei nächster Gelegenheit zu korrigieren! Und sollte ich etwas wider alle Bemühungen unklar oder langweilig beschrieben haben, so bitte ich erst recht um Rückmeldung, denn das wird ganz bestimmt verändert!

Jetzt aber müssen wir uns erst mal einer naheliegenden, aber gar nicht so einfach zu beantwortenden Frage zuwenden: Was ist eigentlich Lernen?

1          Einleitung

 

 

 

 

 

Orientierungsfragen

 

•  Was ist Lernen, wie kann man es definieren?

•  Was bedeuten die einzelnen Komponenten der Definition von Lernen?

•  Was ist der Unterschied zwischen Kompetenz und Performanz, und warum ist der Unterschied für die Lernpsychologie wichtig?

•  Welche Verhaltensänderungen würde man nicht als Lernen bezeichnen?

1.1       Was ist Lernen?

»Lernen ist die Art der Ignoranz, welche die Fleißigen auszeichnet.«

Ambrose Bierce, The Devil’s Dictionary.

Die Definition von Ambrose Bierce hat sicherlich den Reiz, etwas boshaft zu sein, wie alle Definitionen in seinem »Lexikon des Teufels«. Als wissenschaftliche Definition taugt sie allerdings weniger, denn von Wissenschaftlern wird erwartet, dass sie genau wissen und sagen, was sie untersuchen. Wir brauchen deshalb eine wissenschaftliche Definition des Lernens. Man sollte meinen, dass diese leicht zu finden wäre, denn schließlich wissen wir ja alle, was Lernen ist, lesen Bücher darüber, reden miteinander darüber, und verstehen einander auch meist. In Wirklichkeit ist es aber so, dass eine allgemein akzeptierte Definition des Lernens nicht existiert, weil das Lernen – wie wir im Rest dieses Buches noch sehen werden – doch viel komplexer ist, als man gemeinhin annehmen würde. Es gibt allerdings einige Definitionen, mit denen zwar nicht alle, aber doch sehr viele Forscher übereinstimmen würden. Eine davon gefällt mir am besten:

Definition: Lernen

Lernen ist eine auf Erfahrung basierende, dauerhafte Veränderung in den Verhaltensmöglichkeiten eines Individuums.1

Diese Definition unterscheidet sich sicherlich deutlich vom umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes Lernen, und auch von Definitionen, die Nicht-Psychologen formulieren würden. Gehen wir sie einmal Stück für Stück durch, um zu sehen, warum viele Psychologen Definitionen wie diese bevorzugen.

Ein wichtiger Aspekt der Definition besteht darin, dass sie auf das Individuum, also das einzelne Lebewesen, bezogen ist. Das ist einerseits umfassender, als manche Laien es formulieren würden, denn nach dieser Definition lernen nicht nur Menschen, sondern auch die meisten anderen Lebewesen. Dazu gehören nicht nur die in der Lernforschung beliebten Ratten, Tauben und Hunde, sondern auch viel einfachere Lebewesen, z. B. Würmer. Andererseits ist die Definition auch enger, als Wissenschaftler aus anderen Disziplinen als der Psychologie es formulieren würden. Dies liegt daran, dass wir uns auf Lebewesen beschränken. Wenn also z. B. Wirtschaftswissenschaftler von »lernenden Organisationen« sprechen oder Informatiker von »lernenden Programmen«, dann macht das aus der Sicht dieser Disziplinen Sinn, für Psychologen allerdings nicht.

Ein zweiter wichtiger Aspekt der Definition ist der Begriff »Verhaltensmöglichkeiten«. Wir sprechen nicht davon, dass sich das Verhalten verändern muss, sondern es reicht, wenn sich die Fähigkeit oder Neigung zu einem bestimmten Verhalten verändert. Das ist wichtig, weil Lernen nicht sofort und direkt zu einer sichtbaren Veränderung des Verhaltens führen muss. Vielmehr reicht es aus, wenn eine Verhaltensänderung möglich wird. Dies bedeutet nicht mehr als die Alltagsweisheit, dass wir nicht alles tun müssen, was wir gelernt haben. Wenn wir beispielsweise gelernt haben, ein Gedicht aufzusagen, Fahrrad zu fahren, oder Quadratwurzeln auszurechnen, dann bedeutet das nicht, dass wir es auch ständig tun müssten. Es reicht, dass wir die Fähigkeit dazu erlernt haben und es tun könnten.

Lernforscher unterscheiden hier zwischen zwei Begriffen, die uns in diesem Buch noch häufiger begegnen werden: Einerseits Kompetenz (was wir tun können) und andererseits Performanz (was wir tatsächlich tun). Von Lernen sprechen wir, wenn sich die Kompetenz verändert, und das ist ein großes Problem: Wissenschaftler können die Kompetenz genau so wenig messen, wie man sie im Alltag sehen kann, sie ist ein theoretisches Konstrukt. Beobachten oder messen kann man nur die Performanz, also das Verhalten selbst, nicht die Verhaltensmöglichkeit. Und das ist nun wirklich doof: Wir können das, wovon wir reden, was wir wissenschaftlich untersuchen wollen, und worüber wir Bücher schreiben (u. a. dieses) gar nicht selbst erfassen. Stattdessen müssen wir uns damit zufrieden geben, Verhalten zu beobachten und zu messen, durch welches sich unser Konstrukt zeigen soll. Ein gewisser Trost besteht darin, dass dieses Problem weit verbreitet ist: Auch psychologische Konstrukte wie Intelligenz, Persönlichkeit, Temperament und physikalische Konstrukte wie Schwerkraft oder ähnliches sind nicht direkt beobachtbar. Zum Glück für die Lernpsychologie ist hier der Zusammenhang zwischen Konstrukt und Verhalten sehr eng, so dass es nicht so abwegig ist, von einer genau definierten Veränderung des Verhaltens auf Lernen zu schließen, z. B. wenn ein Verhalten wie Hebeldrücken unter bestimmten äußeren Umständen häufiger wird und unter anderen Umständen seltener. Man sollte jedoch immer im Hinterkopf behalten, dass Kompetenz und Performanz nicht das gleiche sind: Nicht jede Verhaltensänderung muss auf einer Veränderung der Kompetenz beruhen, und wenn ein Verhalten nicht gezeigt wird, bedeutet das keineswegs, dass es nicht gezeigt werden könnte.

Definition: Kompetenz versus Performanz

Kompetenz bezeichnet die Fähigkeit eines Lebewesens, ein bestimmtes Verhalten zu zeigen, Performanz bezeichnet hingegen die tatsächliche Ausführung des Verhaltens. Es kann Kompetenz ohne Performanz geben, aber nicht Performanz ohne Kompetenz. Ein Problem der Lernpsychologie besteht darin, dass sie sich mit Veränderungen der Kompetenz beschäftigt, aber nur Veränderungen der Performanz beobachten kann.

Das Beispiel des Hebeldrückens zeigt noch etwas Wichtiges: Mit »Veränderung der Verhaltensmöglichkeiten« ist nicht gemeint, dass sich das Verhalten selbst verändern muss, z. B. indem das Hebeldrücken kräftiger wird. Es reicht vollkommen aus, wenn ein und dasselbe Verhalten häufiger oder seltener gezeigt wird. Solch eine Veränderung in der Verhaltenshäufigkeit oder -wahrscheinlichkeit kann ebenso eine Form des Lernens darstellen wie das Erlernen eines neuen Verhaltens. Und tatsächlich beschäftigen sich viele Lernpsychologen nicht mit dem Erlernen neuer Verhaltensweisen, sondern mit der Frage, wie man lernt, ob man ein bestimmtes Verhalten zeigen oder besser unterlassen sollte.

Ein weiterer wichtiger Teil der Definition besagt, dass wir bei Veränderungen der Verhaltensmöglichkeiten nur von Lernen sprechen, wenn sie einigermaßen dauerhaft sind und auf Erfahrungen beruhen. Diese Einschränkung ist wichtig, weil es viele Veränderungen der Verhaltensmöglichkeiten gibt, die nichts mit Lernen zu tun haben, weil sie nur kurzzeitig sind und/oder nicht durch Erfahrung entstanden sind. Dazu gehören zum Beispiel zufällige Veränderungen oder Veränderungen, die auf Reifung, Medikamenten, Drogen, Müdigkeit etc. beruhen. Zum Beispiel gilt es nicht als Lernen, wenn ein Kind vor einem Jahr einen Klingelknopf nicht drücken konnte, in diesem Jahr aber wohl: Vermutlich hat es in der Zwischenzeit nichts über das Drücken von Klingeln gelernt, sondern ist einfach so weit gewachsen, dass es den Knopf nun erreichen kann. Fast alle Menschen zeigen auch regelmäßige, tägliche Wechsel des Verhaltens, welche nicht durch Lernen zu erklären sind, weil sie weder auf Erfahrungen beruhen noch dauerhaft sind: Nachts verhalten wir uns anders als tagsüber, weil wir nachts schlafen. Ebenso sind die von vielen Menschen gern hervorgerufenen Veränderungen des Verhaltens durch den Konsum von Alkohol (z. B. lallende Sprache) ebenso wenig auf Lernen zurückzuführen wie die Veränderungen, die auftreten, wenn der Alkoholspiegel wieder sinkt (z. B. das Klagen über Kopfschmerz). Trotz dieser Einschränkungen ist die wissenschaftliche Definition von Lernen aber in mancherlei Hinsicht umfassender als umgangssprachliche Definitionen: Zum einen umfasst sie auch Lernformen, die dem Laien eher ungewöhnlich erscheinen, z. B. die weiter unter erklärte Habituation. Zum anderen schließt sie Veränderungen zum Schlechteren ein, d. h. Lernen führt keineswegs immer zu einer Optimierung von Kompetenz und Performanz. Hiermit wird die Lernpsychologie für andere Disziplinen relevant, z. B. für die Klinische Psychologie, wo sich viele klinische Störungen zumindest teilweise durch Lernprozesse erklären lassen. Deshalb beziehen sich auch viele Beispiele in diesem Buch auf klinisch relevante Lernprozesse.

Das Thema Lernen findet man in vielen verschiedenen Bereichen der Psychologie, allerdings verstreut und merkwürdig beziehungslos. Die sogenannte Lernpsychologie beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Lernen und Verändern von Gewohnheiten (»learning habits«). Das Erlernen von Fähigkeiten (»prozedurales Lernen«) ist eher Gegenstand der Arbeits- oder Sportpsychologie. Und das Erlernen von Bedeutungen (»semantisches Gedächtnis«) und persönlichen Erfahrungen (»episodisches Gedächtnis«) findet sich meist in Büchern der Gedächtnispsychologie wieder. Diese Einteilung ist sehr künstlich, denn alle vier Varianten stellen wichtige Arten des Lernens dar und deshalb sollen sie auch alle in diesem Buch behandelt werden.

Zu guter Letzt muss noch erwähnt werden, dass natürlich auch eine sehr enge Beziehung zwischen Lernen und Gedächtnis besteht. Da wir nur von Lernen sprechen können, wenn eine Verhaltensmöglichkeit durch eine Erfahrung verändert wird, dann muss diese Erfahrung irgendwo im Gedächtnis gespeichert werden, um später die Verhaltensmöglichkeit beeinflussen zu können. Wäre die Erfahrung nicht in der einen oder anderen Form gespeichert, dann wäre sie nicht in der Lage, nach einer gewissen Zeit immer noch einen Einfluss auszuüben. Wie wird die Erfahrung gespeichert, wie gut können wir uns daran erinnern, und wie lange bleibt sie abrufbar? Dies sind alles Fragestellungen der Gedächtnispsychologie, die wichtig für das Lernen sind. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die Themen Lernen und Gedächtnis häufig zusammen in einem Lehrbuch oder einer Vorlesung behandelt werden. Der Rahmen dieses Buches würde durch eine gemeinsame Darstellung aber gesprengt, deshalb werde ich nur da auf das Thema Gedächtnis zu sprechen kommen, wo es für das Verständnis der Lernprozesse nötig ist.

 

 

1     Ich würde mich über jeden Vorschlag einer besseren Definition freuen! Also, liebe Leser und Leserinnen: Ab in die Bibliotheken und ran an die Bücher, finden Sie bessere Definitionen und schicken Sie sie mir, zusammen mit einer Begründung, warum die gefundene Definition besser ist als meine!

2          Einfachste Lernformen: Habituation und Sensitivierung

 

 

 

 

Orientierungsfragen

 

•  Was ist Habituation; was wird dabei gelernt?

•  Wie wurde das Phänomen der Habituation von Epstein und Kollegen (1992; 2005) untersucht?

•  Wie lässt sich das Phänomen der Habituation bei entwicklungspsychologischen Studien nutzen?

•  Welche Reaktionsverringerungen sind nicht durch Habituation zu erklären?

•  Wie unterscheiden sich Habituation und Löschung?

•  Was ist Sensitivierung; was wird dabei gelernt?

•  Warum gelten Habituation und Sensitivierung als Formen des Lernens?

2.1       Was ist Habituation?

Wo lesen Sie gerade dieses Buch? Vermutlich sitzen Sie auf einem Stuhl oder einer anderen Sitzgelegenheit. Haben Sie beim Lesen auch bemerkt, wie sich der Stuhl anfühlt? Vermutlich haben Sie es beim Hinsetzen gefühlt, aber kurz darauf nicht mehr bewusst wahrgenommen. Und wie steht es mit ablenkenden Geräuschen? Stellen sie sich vor, dass im Nebenraum regelmäßig, z. B. alle 15 Minuten, der Gong einer alten Uhr zu hören ist. Vermutlich hören Sie den Gong zu Beginn der Lektüre noch, schrecken evtl. sogar auf und werden kurz abgelenkt. Dieses Aufschrecken ist eine sogenannte Orientierungsreaktion, d. h. eine automatische Wendung der Aufmerksamkeit hin zu unerwarteten Reizen. Mit zunehmender Zeit werden Sie sich aber wahrscheinlich an den Gong gewöhnen und nach einiger Zeit werden Sie ihn vermutlich gar nicht mehr bewusst wahrnehmen, so dass er Sie nicht mehr von der Lektüre ablenken wird. Diese Form der Verhaltensveränderung nennt man Habituation: Zu Beginn wird noch eine Reaktion auf einen Reiz gezeigt (hier: das Aufschrecken beim Gong), doch mit der Zeit wird diese Reaktion immer schwächer und/oder immer seltener.

Definition: Habituation

Eine der einfachsten Lernformen: Die Abnahme der Reaktion (meist eine Orientierungsreaktion) auf einen wiederholt dargebotenen, irrelevanten Reiz. Es wird also quasi gelernt, dass ein Reiz keine Reaktion erfordert.

Warum ist ein so simpler Gewöhnungsprozess eine Form des Lernens? Ganz einfach: Weil er alle Anforderungen der Definition erfüllt, denn wir haben es hier mit einer Lernerfahrung zu tun, die die Verhaltensmöglichkeiten verändert: Das regelmäßige Wahrnehmen des Gongs führt dazu, dass man immer weniger auf den Gong reagiert. Vereinfacht gesagt, lernt man bei der Habituation, auf unwichtige Reize nicht mehr zu reagieren; es wird sozusagen die Irrelevanz von Reizen erlernt. Das klingt zwar etwas merkwürdig, aber das Verlernen einer Reaktion ist genau so eine Form des Lernens wie das Erlernen einer Reaktion.

Images Hierzu gibt es Videos auf YouTube. Suchwort: Habituation.

Zum Beispiel: https://www.youtube.com/watch?v=dN-CIU3O76E

Habituation lässt sich beim Menschen wie bei vielen anderen Lebewesen auf viele verschiedene Weisen zeigen. Eine alltagsrelevante Form der Habituation, nämlich die Habituation an einen Geschmack, haben Epstein, Rodefer, Wisniewski und Caggiula (1992) untersucht. Sie gaben ihren Versuchspersonen entweder Zitronensaft oder Limonensaft zum Probieren, indem sie immer nur einen einzelnen Tropfen auf die Zunge bekamen. Eine Gruppe bekam 10x einen Zitronensafttropfen zum Probieren, die andere Gruppe 10x einen Limonensafttropfen. Nach jedem Tropfen wurden die Probanden gefragt, wie gut ihnen der Saft schmeckte, und es wurde ihre Speichelproduktion gemessen (jawohl, das geht nicht nur bei Hunden!). Die Ergebnisse dieses Experiments sind in Abbildung 2.1 gezeigt. Sie belegen sehr deutlich, wie die Reaktion auf den Saft immer schwächer wurde: Die Speichelproduktion nahm immer weiter ab; der zehnte Tropfen bewirkte nicht halb so viel Speichel wie der erste Tropfen (Images Abb. 2.1, links). Und der Saft schmeckte auch immer weniger gut: Vom ersten bis etwa zum sechsten Tropfen wurde die Beurteilungen immer neutraler und blieben so bis zum zehnten Tropfen (Images Abb. 2.1, rechts). Epstein et al. (1992) zeigten auch, dass diese Habituation geschmacksspezifisch war, indem sie die Säfte beim elften Tropfen vertauschten: Die Zitronensaft-Probierer bekamen nun einen Tropfen Limonensaft, und umgekehrt. Das Ergebnis dieser Manipulation ist in Abbildung 2.1 gut zu erkennen: Sowohl die Speichelproduktion (links) als auch die Beurteilungen (rechts) gingen steil wieder nach oben, so dass der elfte Tropfen fast so viel Speichel und Wohlgeschmack auslöste wie der erste Tropfen.

Diese Studie hat interessante praktische Implikationen für alle Hobby-Köche, die ihre Speisen attraktiver machen möchten: Wenn man vermeiden will, dass das Essen schon nach wenigen Bissen langweilig wird und fade schmeckt, dann muss man dafür sorgen, dass auf dem Teller sauber getrennte Zutaten liegen, die man abwechselnd zu sich nehmen kann. Auf diese Weise bietet jeder Bissen einen neuen Geschmack, an den man sich während des bisherigen Essens noch nicht gewöhnt hat. Und das genaue Gegenteil ist empfehlenswert, wenn man z. B. im Rahmen einer Diät eher weniger essen möchte: Das Essen wird schneller unattraktiv, wenn man alle Zutaten zu einem homogenen Brei vermischt, so dass der Geschmack von Bissen zu Bissen gleich bleibt. Die niederländische Küche hat dieses Prinzip mit dem sogenannten »stampot« perfektioniert.

Images

Abb. 2.1: Ergebnisse der Studie von Epstein et al. (1992): Speichelproduktion (links) und subjektive Bewertung (rechts) nach 10 Tropfen desselben Safts (Limone oder Zitrone) in den Durchgängen 1 bis 10, und nach dem jeweils anderen Saft (Zitrone oder Limone) in Durchgang 11.

Eine weitere interessante praktische Implikation bzgl. der Habituation ergab sich aus einer anderen Studie von Epstein und Kollegen (Epstein, Saad, Giacomelli, & Roemmich, 2005). In dieser Studie wurde der Einfluss der Aufmerksamkeit auf die Habituation untersucht: Kinder mussten während der Darbietung der Geschmacksproben entweder (a) eine schwierige Aufgabe lösen, die ihre Aufmerksamkeit erforderte, oder (b) die Aufgabe war leicht und mehr oder minder nebenher zu absolvieren, oder (c) es gab keine zusätzliche Aufgabe. Die Kinder, die durch eine aufmerksamkeitsfordernde Aufgabe von den Geschmacksproben abgelenkt wurden, zeigten weniger Habituation an den Geschmack als die anderen Kinder. Dieser Befund erklärt vielleicht zumindest teilweise, warum wir dazu tendieren mehr zu essen, wenn wir durch interessante Gesellschaft oder durch Fernsehen vom Essen abgelenkt werden.

Die frühe Studie von Epstein et al. (1992) zeigte neben der Habituation noch ein anderes Ergebnis: Die Probanden konnten offensichtlich zwischen Zitronen- und Limonengeschmack unterscheiden. Na und? Das ist wohl kaum überraschend, und bestimmt hätte man es auch herausfinden können, indem man die Probanden einfach gefragt hätte. Dieses Ergebnis ist aber keineswegs so trivial, wie es zuerst erscheinen mag. Der enorm nützliche Aspekt des Ergebnisses liegt darin, dass es zwar möglich, aber nicht nötig war, die Probanden zu fragen. Damit ergibt sich eine faszinierende Möglichkeit: Man kann das Phänomen der Habituation benutzen, um Wahrnehmungs- und Unterscheidungsleistungen zu messen bei Probanden, die man nicht fragen kann, was sie wahrgenommen haben. Das allgemeine Vorgehen ist dabei sehr simpel: Vereinfacht gesagt, bietet man einen Reiz immer wieder dar, bis er langweilig geworden ist (d. h. Habituation ausgelöst hat), dann bietet man einen zweiten Reiz dar. Stoppt dies die Habituation und zeigt das Individuum wieder eine Reaktion, dann war der zweite Reiz subjektiv ein neuer Reiz, und das Individuum kann offensichtlich zwischen den beiden Reizen unterscheiden. Hält die Habituation an (bleibt die Reaktion also weiter schwach oder fehlt weiterhin), dann hat das Individuum offensichtlich keinen relevanten Unterschied zwischen den beiden Reizen bemerkt.

Vor allem Entwicklungspsychologen haben sich diese Möglichkeit zu Nutze gemacht und damit zahlreiche Erkenntnisse über die Wahrnehmungsfähigkeiten von kleinen Kindern erlangt. Vor allem die visuelle Wahrnehmung wurde intensiv untersucht.

Images Hierzu gibt es Videos auf YouTube. Suchwörter: Infant Looking Time Habituation.

Beispiel: https://www.youtube.com/watch?v=dlilZh60qdA

Beispielweise konnten Hayden, Bhatt, Joseph und Tanaka (2007) zeigen, dass Babys schon mit 3,5 Monaten zwischen ähnlichen, aber doch leicht unterschiedlichen Gesichtern unterscheiden können: Ein Gesicht wurde ihnen immer wieder gezeigt, und es wurde gemessen, wie lange sie es betrachteten, bevor sie woanders hinschauten. Wie man sich leicht vorstellen kann, wurde das Gesicht bald langweilig und bei jedem neuen Auftreten nur noch kurz betrachtet. Wenn dann aber ein leicht verändertes, aber doch immer noch recht ähnliches Gesicht gezeigt wurde, schauten die Kinder wieder länger darauf. Interessanterweise zeigten diese weißen Kinder die Fähigkeit zur Unterscheidung aber nur bei Gesichtern ihrer eigenen Rasse; bei asiatischen Gesichtern hielt die Habituation auch nach einer Veränderung des Gesichts an. Dieser sogenannte »Other Race Effect« ist bei Erwachsenen wohlbekannt, und wir alle haben vermutlich schon die Erfahrung gemacht, dass es uns schwerer fällt, Individuen einer anderen Rasse auseinanderzuhalten (so wie vermutlich viele Chinesen finden, dass die Europäer alle gleich aussehen). Dass dieser Effekt aber so früh auftritt, dass ihn auch schon kleine Babys zeigen, konnte nur entdeckt werden, indem die Habituation als Forschungsmethode verwendet wurde.

Auch in der Klinischen Psychologie wird von Habituation gesprochen, aber damit ist meist etwas gemeint, was nicht ganz das gleiche ist wie die Habituation der Lernpsychologen. Wenn Klinische Psychologen von Habituation sprechen, dann meist bei Reizkonfrontationsverfahren im Rahmen der Verhaltenstherapie von Phobikern. Es geht dabei vor allem um die körperliche Erregung, die die Angstpatienten zeigen, d. h. das Zittern, Herzklopfen und Schwitzen, wenn sie mit den Reizen konfrontiert werden, vor denen sie starke Angst haben. Dies passiert z. B., wenn Spinnenphobiker eine Spinne vor sich haben oder Höhenängstliche auf einen Turm steigen. Bleiben sie aber länger in der Nähe der Spinne bzw. oben auf dem Turm, wird die ängstliche Erregung irgendwann abnehmen. Dieser »Gewöhnungsprozess« wird als Habituation bezeichnet. Damit ist diese Definition von Habituation etwas enger als die Definition der Lernpsychologen, denn bei denen ist es im Grunde unwichtig, welche Reaktion es ist, die immer weiter abnimmt.

Achtung: Nicht immer, wenn die Reaktion auf einen Reiz abnimmt, handelt es sich um Habituation. Die Abnahme kann auch auf einer Anpassung der wahrnehmenden Rezeptoren beruhen (die sog. »sensorische Adaptation«).Dies ist z. B. der Fall, wenn man von intensivem Sonnenschein geblendet ist, und die Stäbchen und Zapfen in den Augen deshalb nicht auf schwache Lichtreize reagieren. Ebenso kann das Abnehmen einer Reaktion auf einer Ermüdung der Systeme beruhen, mit denen die Reaktion gezeigt wird, wenn also z. B. die Muskeln von Hand und Arm so ermüdet sind, dass es schwer fällt, weiterhin Tasten zu drücken. Von Habituation würden wir nur sprechen, wenn es weder sensorische Adaptation noch Ermüdung gibt. Bei Habituation funktionieren also sowohl die Wahrnehmung als auch die Reaktion, aber ihre Verbindung wird immer schwächer. Genau dieses Abschwächen der Verbindung ist es, was Habituation zu einer Form des Lernens macht. Habituation lässt sich meist durch ihre hohe Spezifität von der sensorischen Adaptation und der Ermüdung abgrenzen: Es sind nur bestimmte Reize, die zur Abnahme der Reaktion führen (nämlich die Reize, die wiederholt dargeboten werden), nicht generell alle Reize. Bei einer Ermüdung der Reaktionssysteme müsste die Reaktion hingegen generell abgeschwächt sein (z. B.: Muskelkater beim Bewegen tut immer weh, egal worauf ich mit der Bewegung reagiere). Und es ist bei der Habituation nur eine bestimmte Reaktion, die abnimmt, nicht generell alle Reaktionen. Bei einer sensorischen Adaptation müssten hingegen alle Reaktionen abnehmen, denn alle wären von der verschlechterten Wahrnehmung des Reizes betroffen.

Habituation wird auch gern mit der sogenannten Löschung verwechselt, weil sich beide darauf beziehen, dass ein Verhalten immer seltener gezeigt wird. Bei der Habituation ist dies häufig eine Orientierungsreaktion, d. h. eine Zuwendung der Aufmerksamkeit auf einen äußeren Reiz. Das ist eine Reaktion, die zuvor nicht gelernt werden musste, denn sie erfolgt automatisch. Bei der Löschung ist es hingegen immer eine gelernte Reaktion, die wieder verschwindet. Dies kann sowohl bei der sogenannten klassischen Konditionierung als auch bei der sogenannten operanten Konditionierung passieren, wie wir weiter unten sehen werden.

2.2       Was ist Sensitivierung?

Das Gegenteil von Habituation ist die sogenannte Sensitivierung: Hier führt die wiederholte Darbietung eines Reizes dazu, dass die Reaktion auf den Reiz nicht schwächer, sondern stärker wird. Ein gutes Beispiel für Sensitivierung ist die Reaktion auf Schmerz: Ein Schmerz, der immer wieder kurz auftritt, z. B. wiederkehrender Zahnschmerz, lässt sich zunächst noch ignorieren. Nach und nach wird er aber als immer störender und schmerzhafter wahrgenommen (auch wenn er objektiv nicht stärker wird) und ihm wird immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt, eventuell werden auch immer mehr Schmerzmittel genommen. Ist die Sensitivierung so weit fortgeschritten, findet man meist auch den Weg zum Zahnarzt, um den Schmerz loszuwerden.

Definition: Sensitivierung

Eine der einfachsten Lernformen: Die Zunahme der Reaktion auf einen wiederholt dargebotenen, relevanten Reiz, z. B. einen Schmerzreiz.

Im Vergleich zur Habituation gibt es nur wenige Studien, die sich speziell mit der Sensitivierung beschäftigt haben. Die meisten Studien behandelten auf die eine oder andere Weise die Frage, wovon es abhängt, ob die wiederholte Darbietung eines Reizes zu Habituation oder zu Sensitivierung führt, d. h. ob die Reaktion auf den Reiz ab- oder zunimmt. Eine dieser Studien wurde mit Kindern durchgeführt, und ähnlich wie in der oben beschriebenen Studie wurde gemessen, wie lange Kinder (hier 4 Monate alt) auf wiederholt gezeigte Schachbrettmuster schauen (Bashinski, Werner & Rudy, 1985). Ob dabei sofort Habituation auftrat oder erst einmal Sensitivierung und danach Habituation, hing von der Komplexität der Muster ab: Bei vergleichsweise einfachen Mustern aus 4 x 4 Feldern trat sofort Habituation auf; die Betrachtungszeit verringerte sich von der ersten Darbietung kontinuierlich bis zur letzten. Bei etwas komplexeren 12 x 12 Mustern trat erst Sensitivierung auf: Die Babys schauten bei der zweiten Darbietung länger auf das Muster als bei der ersten Darbietung. Danach verflog das Interesse aber: Habituation setzte ein, und die Betrachtungszeit wurde auch hier von Darbietung zu Darbietung immer kürzer. Sie blieb allerdings immer länger als die Betrachtungszeit der 4 x 4 Muster. Damit scheint Komplexität ein Faktor zu sein, der zumindest kurzzeitig zu Sensitivierung führen kann und danach gegen Habituation wirkt. Die Kurzlebigkeit der Sensitivierung wurde übrigens häufiger berichtet: In vielen Studien trat Sensitivierung nur am Beginn der wiederholten Reizdarbietung auf, danach trat mit steigender Anzahl von Darbietungen immer stärker Habituation in Erscheinung.

Images Hierzu gibt es Videos auf YouTube. Suchwort: Sensitization.

Zum Beispiel: https://www.youtube.com/watch?v=cSCS7yslK-w