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Psychodynamische Psychotherapie mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen

 

Perspektiven für Theorie, Praxis und Anwendungen im 21. Jahrhundert

 

Herausgegeben von Arne Burchartz, Hans Hopf und Christiane Lutz

Arne Burchartz, Hans Hopf, Christiane Lutz

Psychodynamische Therapien mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen

Geschichte, Theorie, Praxis

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-029863-7

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-029864-4

epub:    ISBN 978-3-17-029865-1

mobi:    ISBN 978-3-17-029866-8

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Vorwort

 

 

 

Die Psychoanalyse blickt mittlerweile auf eine 120-jährige Geschichte zurück. Fast ebenso alt ist die analytisch-therapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. In dieser langen Zeit sind wesentliche wissenschaftliche Erkenntnisse hinzugekommen, ebenso wurde die Praxis ständig erweitert und modifiziert. Heute stehen wir vor einer Vielfalt wissenschaftlicher und methodologischer Ansätze und klinischer Praxis, die ein breites Spektrum von Behandlungsmöglichkeiten eröffnet. Die »Psychodynamische Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen« stellt sich im 21. Jahrhundert anders dar als um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert – es spricht für sie, dass sie auf die gewaltigen Veränderungen in diesem Jahrhundert mitsamt ihren Einflüssen auf die Entwicklung und Struktur der individuellen Psyche eingegangen ist und sich der steten Aufgabe gestellt hat, Altes zu überarbeiten, Neues zu entwerfen und zu integrieren, ohne freilich die Grundlagen, die in der Psychoanalyse wurzeln, zu verlassen. Die Anwendungsgebiete des psychodynamischen Denkens und Arbeitens haben sich parallel dazu enorm erweitert.

Die Buchreihe Psychodynamische Psychotherapie mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Perspektiven für Theorie, Praxis und Anwendungen im 21. Jahrhundert, die mit dem vorliegenden Band eröffnet wird, will den gegenwärtigen Stand dieses Prozesses beleuchten. Dabei geht es auch um die Darstellung unterschiedlicher Perspektiven, wie dies für die heutige Psychoanalyse typisch ist.

Eine Bemerkung zur Wortwahl: Auf der Psychoanalyse beruhen heute zwei psychotherapeutische Verfahren: Die Analytische Psychotherapie und die Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Daneben gibt es eine Vielzahl von Methoden und Settings, in denen therapeutisch gearbeitet wird. Diese Vielfalt wird heute unter dem Oberbegriff »Psychodynamische Psychotherapie«, der dem anglo-amerikanischen Sprachraum entlehnt ist, zusammengefasst. Dieser Begriff findet darin seine Berechtigung, dass alle diese Therapieformen von dem dynamischen Unbewussten ausgehen, wie es Sigmund Freud entdeckt und beschrieben hat und das zu den Grundannahmen der Psychoanalyse zählt.

Der vorliegende »Eröffnungsband« enthält in konzentrierter Darstellung eine Geschichte der Psychodynamischen Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen und die verschiedenen Ansätze aus einigen wesentlichen psychoanalytischen »Schulen«, wie sie sich heute darstellen. Dabei wird auf den Bezug zur klinischen Relevanz Wert gelegt, wie auch umgekehrt nachgezeichnet wird, wie aus der klinischen Arbeit Modifikationen der metapsychologischen Modelle erwachsen. Allein schon aus Platzgründen, aber auch durch eine didaktische Reduktion musste in diesem Band auf manches verzichtet werden – die Verfasser erhoffen sich, dass dadurch umso mehr die Neugier auf die übrigen Bände geweckt wird, die sich den Themen vertieft zuwenden.

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

 

  1. Vorwort
  2. Teil I Geschichte der psychodynamischen Therapien mit Kindern und Jugendlichen
  3. 1 Die Anfänge
  4. 1.1 Die Kinderpsychoanalyse beginnt bei Sigmund Freud
  5. 1.2 Kinder assoziieren kaum …
  6. 1.3 Alles, was in der Therapie inszeniert wird, hat mit der Symptomatik zu tun …
  7. 1.4 Die Behandlung einer adoleszenten Jugendlichen in der Berggasse
  8. 1.5 Der kleine Hans: eine erste Therapie über die Bezugspersonen
  9. 1.6 Welche von Freuds Behandlungsnotwendigkeiten sind heute noch gültig?
  10. Zwischen Patient und Psychoanalytiker entsteht eine Beziehung
  11. Die Grundlage jeder Psychotherapie ist das Arbeitsbündnis
  12. Abstinenz und Neutralität
  13. Übertragung und Gegenübertragung
  14. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  15. Weiterführende Fragen
  16. 2 Das Spiel ersetzt die Traumerzählung (Hermine Hug-Hellmuth, Anna Freud, Melanie Klein)
  17. 2.1 Am Beginn der Kinderpsychotherapie steht eine Tragödie
  18. 2.2 Anna Freud, die Verwalterin von Sigmund Freuds Werk
  19. 2.3 Melanie Klein, die Begründerin der Kinderanalyse
  20. 2.4 Das Spiel
  21. 2.5 Regeln und Rahmen
  22. 2.6 Weitere Entwicklungen und die Gründung verschiedener Ausbildungsinstitute
  23. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  24. Weiterführende Fragen
  25. Teil II Theoretische Grundlagen und therapeutische Implikationen
  26. 3 Die Triebtheorie
  27. 3.1 Einführung
  28. 3.2 Metapsychologie
  29. 3.3 Die Entwicklung der Triebtheorie bei Sigmund Freud
  30. 3.3.1 Das erste topische Modell
  31. Was ist ein Trieb?
  32. Das Unbewusste
  33. 3.3.2 Lust- und Realitätsprinzip, Primär- und Sekundärprozess
  34. 3.3.3 Das zweite topische Modell
  35. 3.3.4 Todestrieb (zweiter Triebdualismus)
  36. 3.3.5 Die infantile Sexualität
  37. 3.3.6 Objektfindung
  38. 3.3.7 Die Phasen der infantilen Sexualentwicklung
  39. 3.3.8 Der Ödipuskomplex
  40. 3.3.9 Entwicklungspsychologie
  41. 3.3.10 Übertragung, Gegenübertragung, Widerstand
  42. 3.4 Zur Kritik der Triebtheorie
  43. 3.5 Klinische Relevanz
  44. Literatur zur vertiefenden Lektüre:
  45. Weiterführende Fragen:
  46. 4 Das Ich und seine Aktivität
  47. 4.1 Einführung
  48. 4.2 Das »schwache Ich«
  49. 4.3 Anna Freud: Die Abwehrmechanismen
  50. 4.4 Kinderanalyse
  51. 4.5 Das starke Ich: die Ich-Psychologie Heinz Hartmanns
  52. 4.6 Entwicklungspsychologie
  53. 4.7 Säuglingsforschung
  54. 4.8 Noch einmal: Die Abwehrmechanismen
  55. 4.9 Ich-Struktur bei Kindern und Jugendlichen
  56. 4.10 Zur Kritik der Ich-Psychologie
  57. 4.11 Klinische Relevanz
  58. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  59. Weiterführende Fragen
  60. 5 Die Bedeutung der Objekte
  61. 5.1 Einführung
  62. 5.2 Der Objektbegriff
  63. 5.3 Sandor Ferenczi und Michael Balint
  64. 5.4 Melanie Klein
  65. 5.4.1 Paranoid-schizoide und depressive Position
  66. 5.4.2 Projektive Identifizierung
  67. 5.4.3 Neid und Dankbarkeit
  68. 5.4.4 Kinderanalyse
  69. 5.5 Wilfred Bion: Container-Contained
  70. 5.6 Donald W. Winnicott
  71. 5.6.1 Mütterliche Fürsorge
  72. 5.6.2 Die »genügend gute Mutter«
  73. 5.6.3 Übergangsphänomene und Übergangsobjekt
  74. 5.6.4 Das Spiel
  75. 5.6.5 Die Fähigkeit zum Alleinsein
  76. 5.6.6 Wahres und falsches Selbst
  77. 5.7 Die Bindungstheorie
  78. 5.8 Zur Kritik der Objektbeziehungstheorien
  79. 5.9 Klinische Relevanz
  80. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  81. Weiterführende Fragen
  82. 6 Das Selbst
  83. 6.1 Einführung
  84. 6.2 Was ist das Selbst?
  85. 6.3 Selbstobjektbedürfnisse
  86. 6.4 Empathie und Introspektion
  87. 6.5 Zur Kritik der Selbstpsychologie
  88. 6.6 Klinische Relevanz
  89. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  90. Weiterführende Fragen
  91. 7 Die Sicht der Analytischen Psychologie (C. G. Jung)
  92. 7.1 Das Menschenbild bei C. G. Jung
  93. 7.2 Das persönliche Unbewusste
  94. 7.2.1 Die Manifestation des persönlichen Unbewussten im Schatten
  95. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  96. Weiterführende Fragen
  97. 7.2.2 Prägungen und Komplexe
  98. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  99. Weiterführende Fragen
  100. 7.3 Das Kollektive Unbewusste
  101. 7.3.1 Die Manifestation des Kollektiven Unbewussten im Märchen
  102. Altersgemäße Auswahl von Märchen
  103. Konfliktbewältigung im Märchen
  104. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  105. Weiterführende Fragen
  106. 7.3.2 Die Manifestation des Kollektiven Unbewussten in Mythen
  107. Die Auseinandersetzung mit Macht und Ohnmacht
  108. Der Zwiespalt zwischen autonomen Notwendigkeiten und Bedürfnissen nach Abhängigkeit
  109. Die Auseinandersetzung mit Schuld und der Generationenkonflikt
  110. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  111. Weiterführende Fragen
  112. 7.3.3 Die Arbeit mit Träumen aus der Sicht der Analytischen Psychologie
  113. Die Objektstufe
  114. Die Subjektstufe
  115. Die archetypische Perspektive
  116. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  117. Weiterführende Fragen
  118. 7.4 Die Einstellungsweisen und die Typologie in der Analytischen Psychologie
  119. 7.4.1 Die introvertierte Haltung
  120. 7.4.2 Die extravertierte Haltung
  121. 7.4.3 Die Funktionen
  122. Die irrationalen, wahrnehmenden Funktionen Intuition und Empfindung
  123. 7.4.4 Personen und Funktionen: eine Annäherung über bedeutende Persönlichkeiten
  124. Der praxisnahe Bezug in der Arbeit mit Patienten und deren Familien
  125. Literatur zu vertiefenden Lektüre
  126. Weiterführende Fragen
  127. 7.5 Die Bilderwelt der Symbole
  128. 7.5.1 Der Symbolbegriff
  129. Die Symbolik der Erscheinung und der spontanen Geste
  130. Die Symbolik des Symptoms
  131. Die Symbolik des kindlichen Spiels
  132. Die Symbolik im Gruppengeschehen
  133. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  134. Weiterführende Fragen
  135. 7.6 Die Archetypen
  136. 7.6.1 Das Phänomen der Archetypen
  137. Die Doppelnatur des Mutterarchetyps
  138. Der Archetyp des Männlichen
  139. Die gegengeschlechtlichen Inbilder Animus und Anima
  140. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  141. Weiterführende Fragen
  142. 7.7 Die psychotherapeutische Behandlung
  143. 7.7.1 Malen und Zeichnen
  144. 7.7.2 Der Umgang mit ungestaltetem Material
  145. Die therapeutische Wirksamkeit von Spielen mit Feuer
  146. Die therapeutische Wirksamkeit von Spielen mit Wasser
  147. Die therapeutische Wirksamkeit von Spielen mit Sand
  148. 7.7.3 Der therapeutische Umgang mit figürlichem Material
  149. 7.7.4 Das Wesen der Übertragung
  150. Persönliche Projektionen
  151. Archetypische Übertragungen
  152. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  153. Weiterführende Fragen
  154. 7.8 Der Begriff des Selbst
  155. 7.8.1 Der Individuationsweg und das Göttliche Kind
  156. 7.8.2 Das Labyrinth und das Einhorn als Ganzheitssymbol
  157. 7.8.3 Die transzendente Funktion
  158. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  159. Weiterführende Fragen
  160. Literatur
  161. Register

 

 

 

 

 

Teil I   Geschichte der psychodynamischen Therapien mit Kindern und Jugendlichen

1          Die Anfänge

 

 

 

1.1       Die Kinderpsychoanalyse beginnt bei Sigmund Freud

 

Im Folgenden soll die Geschichte von einigen methodischen Grundlagen referiert werden, die bis heute in Behandlungen von Kindern und Jugendlichen eingesetzt werden. Wir werden versuchen, aufzuzeigen, wie fast alle bereits in Freuds Behandlungen von Kindern und einer Jugendlichen zur Verwendung kamen: Alle wesentlichen Essentials jeder psychodynamischen Therapie hat Freud geschaffen, auch jene für eine Psychoanalyse von Kindern und Jugendlichen. Später wurden diese Grundlagen ergänzt, modifiziert, weiterentwickelt, doch sind die Kernaussagen unumstößlich gültig. Darum ist es so wichtig, dass Studierende der psychodynamischen Therapien von Anfang an Freud lesen und in sich aufnehmen. Und natürlich ist auch tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (TFP) eine psychoanalytische Variante, sie basiert genauso wie die analytische Psychotherapie auf dem Fundament der Freud’schen Psychoanalyse, auch wenn in manchen Veröffentlichungen der Bezug auf Freud als eine »konservative Position«, als »rückwärtiger Bezug« oder gar als »Dogmenperspektive« bezeichnet wird (Jäggi & Riegels 2008, S. 54). Aber ohne ein stabiles Fundament ist ein Haus nicht standfest. Wir gehen davon aus, dass jene Kinder- und Jugendlichenpsychotherapien psychodynamisch genannt werden können, die ein Unbewusstes und die zentralen Essentials der Psychoanalyse (Neutralität und Abstinenz, Übertragung und Gegenübertragung etc.) anerkennen und in ihrer Behandlungspraxis anwenden. Mertens zeigt übrigens auf, dass auch der Begriff ›dynamisch‹, aus dem sich ›psychodynamisch‹ entwickelt hat, von Freud herrührt (2015, S. 16).

An den Beginn dieses Kapitels wollen wir den Traum der kleinen Anna stellen, mit dem Freud erste Überlegungen zum Kindertraum verdeutlicht hat. Danach folgt eine Szene mit einem 13-jährigen Jungen, anhand derer Freud eine entstehende therapeutische Beziehung darstellt. Mit der Fallgeschichte vom kleinen Hans zeigt Freud auf, wie mit Eltern gearbeitet werden kann, um Konflikte eines Kindes zu beeinflussen. Und die Behandlung der Dora führt zur Entdeckung von Übertragung, Gegenübertragung und Widerstand. Wir wollen uns dabei auf Freuds Entdeckungen und theoretische Erkenntnisse für die Entwicklung eines Behandlungssettings für eine Psychoanalyse des Kindes begrenzen.

 

1.2       Kinder assoziieren kaum …

 

Träume von Kindern und Jugendlichen finden in der Psychotherapie nicht jene Beachtung, wie das bei Erwachsenen geschieht, weil kleinere Kinder noch kaum assoziieren können. Die Geschichte des Kindertraums beginnt bei Freud mit einer Reihe von Träumen, zum Teil von seinen eigenen Kindern, die typische infantile Wunscherfüllungen enthalten. Das jüngste Kind unter den kleinen Träumerinnen und Träumern war die neunzehnmonatige Anna, deren Traum Freud in seiner unübertrefflichen Sprache wie folgt wiedergegeben hat:

»Wenn man mir zugibt, dass das Sprechen aus dem Schlaf der Kinder gleichfalls dem Kreis des Träumens angehört, so kann ich im Folgenden einen der jüngsten Träume meiner Sammlung mitteilen. Mein jüngstes Mädchen, damals neunzehn Monate alt, hatte eines Morgens erbrochen und war darum den Tag über nüchtern erhalten worden. In der Nacht, die diesem Hungertag folgte, hörte man sie erregt aus dem Schlaf rufen:

›Anna F.eud, Er(d)beer, Hochbeer, Eier(s)peis, Papp. Ihren Namen gebrauchte sie damals, um die Besitzergreifung auszudrücken; der Speisezettel umfasste wohl alles, was ihr als begehrenswerte Mahlzeit erscheinen musste; dass die Erdbeeren darin in zwei Varietäten vorkamen, war eine Demonstration gegen die häusliche Sanitätspolizei und hatte seinen Grund in dem von ihr wohl bemerkten Nebenumstand, dass die Kinderfrau ihre Indisposition auf allzu reichlichen Erdbeergenuss geschoben hatte; für dies ihr unbequeme Gutachten nahm sie also im Traume ihre Revanche‹« (Freud 1900a, S. 148).

Indirekt hat Freud beschrieben, dass der Traum der kleinen Anna auch einen Wunsch des Mädchens darstellt, Autonomie und Loslösung auszuprobieren, wenn sie sich trotz Verbots der ›häuslichen Sanitätspolizei‹ mit allerlei Leckereien bedient. Überwiegend betrachtete Freud diese Sorte von Träumen jedoch als simple, unverkleidete Wunscherfüllungen, die er im Gegensatz zu den Träumen Erwachsener gar nicht interessant fand (a.a.O., S. 145). In seiner Theorie ging er auch nicht vom geträumten Traum aus, sondern vom so genannten ›manifesten Trauminhalt‹, indem er Traum, Traumtext und manifesten Trauminhalt gleichsetzte. Der manifeste Trauminhalt umfasst entsprechend seiner Definition »alle Aspekte dessen, woran der Träumer sich nach dem Erwachen bewusst erinnert und das ihm in jeder beliebigen Form im Gedächtnis haften bleibt, in Form von Bildern, widersinnigen Situationen, gegensätzlichen Gefühlen usw.«. Mittlerweile betrachten wir eine Traumerzählung auch als spezielle Form einer Erzählung, als ein so genanntes ›Narrativ‹. Mit der Traumerzählung wird der vergangene Traum aktualisiert und neu erlebt. Die sprachliche Form der Traummitteilung lädt den Hörer zur Klärung und Aufklärung, zur Enträtselung ein, was eine Alltagserzählung zumeist nicht tut (vgl. Boothe 2011, S. 69).

Die Träume von Kindern charakterisierte Freud bis etwa zum fünften Lebensjahr als kurz, klar, kohärent, leicht zu verstehen und unzweideutig. Er verstand sie als einfache, meist an ein Vortagsereignis anknüpfende unverhüllte Wunscherfüllungen, und er erwähnte auch, dass bis zum fünften Lebensjahr manifester und latenter Trauminhalt zusammenfielen. Erst von diesem Alter an setze in der Regel die Traumentstellung ein, und die Träume würden komplizierter.

Die Übergänge zwischen Traumbericht, Tagtraum und Phantasien sind fließend und daher ist es bei Kinderträumen oft nicht möglich, den Unterschied zwischen eigentlichem Traumbericht und im Nachhinein produzierten Phantasien und Ausschmückungen auszumachen.

Innerhalb der Kinderpsychoanalyse wiegt diese Tatsache letztlich jedoch gering; denn nach psychoanalytischem Verständnis gelten auch Phantasien und Tagträume als mehr oder weniger verkleidete Wunscherfüllungen, als Ersatz für Versagungen in der Realität und besitzen darum die gleiche Funktion wie nächtliches Träumen, um psychische Spannungen abzureagieren (vgl. Freud 1978, S. 2834). Der entscheidende Grund für die stiefmütterliche Behandlung des Traumes in der Psychoanalyse des Kindes resultiert aus einer anderen Tatsache: Es war weniger die Weigerung von Kindern, Träume zu berichten, noch ihre Neigung zur konfabulatorischen Ausschmückung; es war der Ausfall der freien Assoziation, der die Psychoanalyse auf die konsequente Nutzung des Kindertraumes verzichten ließ: Kinder verweigern die analytische Grundregel, ihre Träume kritiklos mitzuteilen. Wenn sie gelegentlich Träume in die psychoanalytische Behandlung bringen, liefern sie im Gegensatz zu Erwachsenen selten und weniger Einfälle zu den einzelnen Traumelementen. Anna Freud (1965) beschrieb dies in folgender Weise: »Sie teilen ihre Erlebnisse mit dem Analytiker, vorausgesetzt, dass ein Vertrauensverhältnis innerhalb der Analyse hergestellt ist; aber ohne das Mittel der freien Assoziation können ihre Mitteilungen nicht über den Rahmen des Bewusstseins hinausgehen« (S. 2149f.). Darum herrschten anfänglich große Zweifel, ob eine Psychoanalyse von Kindern vor diesen Hindernissen überhaupt möglich sei, denn es erschien schwer vorstellbar, dass Kinder auf der Couch liegend Träume berichten würden.

 

1.3       Alles, was in der Therapie inszeniert wird, hat mit der Symptomatik zu tun …

 

Kinder können noch nicht assoziieren und ihre Konflikte sprachlich nicht mitteilen. Wie kann dieses Problem bewältigt werden? Die erste Therapievignette über psychoanalytische Arbeit mit einem Kind hat Freud in seinem Buch »Psychopathologie des Alltagslebens« veröffentlicht. Damit ist dies überhaupt die erste Mitteilung von einer kinderanalytischen Behandlung, die Freud – anders als beim kleinen Hans – sogar selbst durchgeführt hat. Es handelte sich um einen noch nicht 13-jährigen Jungen, der seit zwei Jahren massive hysterische Symptome zeigte. Freud deutet an, dass der Junge, von dem wir keinen Namen erfahren, wahrscheinlich sexuelle Erfahrungen gemacht habe, vermutlich also missbraucht worden war. Während der Sitzung formte der Junge aus Brotkrumen Männchen »wie die rohesten prähistorischen Idole«. Freud wollte dem Jungen zeigen, dass und wie er ihn verstanden hatte und erzählte ihm die Geschichte des Tarquinius Superbus. Nach Müller (2012, S. 108f.) ging Freud in jenem Moment davon aus, dass alles in der Therapie Inszenierte mit der Symptomatik zu tun habe – eine wahrlich revolutionäre Auffassung. Er beobachtete die Inszenierungen des Patienten und verwies ihn auf die Verkleidung des Problems mittels einer Symbolhandlung. Auf diese Weise lud er den Kinderpatienten zur Rückübersetzung und Selbstanalyse ein, ohne direkt inhaltlich zu deuten, die wesentlichen Erkenntnisse waren nur für ihn selbst. Damit sind Anfänge von Verstehen als szenisches Geschehen zu erkennen, die therapeutische Begegnung ist eine unbewusste Inszenierung, an der Patient und Therapeut beteiligt sind. Auch in seiner Fallgeschichte »Bruchstück einer Hysterie-Analyse« hat Freud darauf hingewiesen, dass die Sterblichen kein Geheimnis verbergen können: »Wessen Lippen schweigen, der schwätzt mit den Fingerspitzen: aus allen Poren dringt ihm der Verrat« (Freud 1905, S. 148).

C. G. Jung hat bekanntlich ein solches Vorgehen, die Verknüpfung mit einer allgemeingültigen Bildersprache, etwa mit Märchen und Mythen, später als Amplifikation bezeichnet. Der persönliche Kontext eines Traumes (oder wie hier, einer Szene) erfährt so eine Erweiterung. Müller hat darauf hingewiesen, dass dieser erfinderische »Freud als Praktiker« besonders bedeutungsvoll für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie sei. Mit seinem Handeln gebe er einen Weg vor, sich auf kindliches Spielen, auf Spontaneität und Vitalität so einzulassen, dass die Analyse des Unbewussten nicht wegfällt. Vielmehr werde sie sogar gefördert, indem Therapie sowohl therapeutisch-hilfreich als auch die Mentalisierungsfähigkeit fördernd und analytisch-aufklärend wirken kann, was den neuen Ergebnissen der Psychotherapieforschung entspräche (Müller 2013, S. 111f.). Als Fazit betont Müller, dass wir bei unserer Arbeit ein breites Repertoire von Methoden und Techniken einsetzen können, die zu uns und zum konkreten analytischen Feld passen, und dies in einer Vielzahl von sinnvollen Settings. Dieses Verständnis können wir nur unterstreichen: Erkenntnisse der gesamten Psychoanalyse sollten verinnerlicht werden und wir sollten unsere Arbeit immer neu erfinden.

 

1.4       Die Behandlung einer adoleszenten Jugendlichen in der Berggasse

 

Die wohl emotional am leidenschaftlichsten diskutierte Falldarstellung Freuds ist die Behandlung der – zu Therapiebeginn – 17-jährigen Dora, eigentlich Ida Bauer. Ida hatte einen Brief herumliegen lassen, in dem sie einen Suizid ankündigte, was als unbewusster Hilferuf zu verstehen ist. Nach einem Wortwechsel mit dem Vater wegen dessen Affäre mit Frau K. war sie bewusstlos geworden. Darum leitete der Vater, einst selbst Patient bei Freud, bei diesem eine Behandlung der Tochter ein. Das Ehepaar K. spielte eine unheilvolle Rolle in der Familie; Frau K. hatte mit Idas Vater ein Verhältnis. Herr K. hatte die damals 14-jährige Ida in seinem Büro an sich gepresst und sie leidenschaftlich geküsst. Zwei Jahre später hatte er Ida nach einer Bootsfahrt sogar eine Liebesbeziehung vorgeschlagen, was das damals 16-jährige Mädchen sehr verwirrt hatte und als auslösendes Ereignis für den Ausbruch der Symptomatik gesehen werden kann. Als Ida diese Vorfälle dem Vater erzählte, leugnete Herr K. seine Attacke, Frau K. bezeichnete ihre verzweifelten Aussagen als Erfindung der »liebestollen« Ida, und der Vater glaubte ihr nicht (Stroeken 1992, S. 47f.). Ida erlebte sich sowohl von den Eltern als auch vom Ehepaar K. verraten und begann ihre Zweifel an der Solidarität sukzessive auf Freud zu »übertragen«. Indem dieser äußeres Geschehen kaum einbezog, sondern fast leidenschaftlich überwiegend mit den intrapsychischen Konflikten Idas befasst war, schürte er zwangsläufig eine aggressive Übertragung. Gay schreibt: Freud hatte »noch nicht erkannt, daß es ein technischer Fehler ist, den Patienten unter Druck zu setzen«, er hatte damals auch noch nicht die Bedeutung des Widerstands ausreichend verstanden (2006, S. 285).

Die vielschichtige Problematik dieser psychoanalytischen Behandlung kann im Folgenden nur teilweise aufgerollt werden. Die vorhandenen literarischen Auseinandersetzungen mit dieser Fallgeschichte sind geradezu unübersichtlich. Nach Sichtung der wichtigsten Literatur kann gesagt werden, dass es eine kleinere Gruppe von Autoren gibt, die Freud verteidigen und Ida entwerten (Deutsch 1957 zit. n. Grotjahn 1976), jedoch übt eine weitaus größere Gruppe heftige Kritik an Freud (u. a. Marcus 1974, Grotjahn 1976, Cremerius 1989, Gay 2006, Stephan 1992, King 1995). Vera King hat hierzu angemerkt: »Im ganzen betrachtet, scheint vom Text und in der in ihm entfalteten Thematik eine Verführung auszugehen, sich entweder auf Doras oder Freuds Seite gleichsam schiedsrichterlich verorten zu müssen« (King 1995, S. 58).

Freud wollte die beträchtliche Bedeutung der Analyse von Träumen für die analytische Arbeit aufzeigen, aber auch mit Hilfe der Behandlung die Ursachen der Hysterie weiter enträtseln. Ida brach die Behandlung jedoch relativ abrupt ab, was Freud erkennbar kränkte. Er deutete ihr Agieren als einen Racheakt, von dem neurotischen Wunsch geleitet, sich selbst zu schaden. Selbstkritisch merkte er an, dass er die Vorsicht vergaß, auf die ersten Zeichen der Übertragung zu achten. Freud begann erst nach Abschluss der Behandlung Idas das Übertragungsphänomen in seiner ganzen Wirkung zu entdecken. Er stellte vor allem fest, dass man sich der Übertragung nicht entziehen könne. »Die psychoanalytische Kur schafft die Übertragung nicht, sie deckt sie bloß, wie anderes im Seelenleben Verborgene auch, auf. … Die Übertragung, die das größte Hindernis für die Psychoanalyse zu werden bestimmt ist, wird zum mächtigsten Hilfsmittel derselben, wenn es gelingt, sie jedes Mal zu erraten und dem Kranken zu übersetzen« (Freud 1905e, S. 281) – was ihm im Fall der Ida Bauer gerade nicht gelungen war. Freud hatte die vielfältigen Übertragungskonstellationen Idas nicht ausreichend erkannt und er hatte sie vor allem nicht rechtzeitig analysiert.

Gay weist darauf hin, dass Freud vor allem seine eigene Übertragung auf Ida nicht erkannt hatte: »Was er später Gegenübertragung nennen sollte, war seiner analytischen Selbstbeobachtung entgangen« (2006, S. 288). Lange galten diese subjektiven Reaktionen des Analytikers als Störvariable, die mit den eigenen Konflikten zusammenhängend, den Erkenntnisprozess ausschließlich beeinträchtigen würden (vgl. auch Mertens 2015, S. 169).

Selbstredend ist es leicht, eine Fallgeschichte aus der Frühzeit der Psychoanalyse einer kritischen Bewertung zu unterziehen und sich – gleichsam auf die Schulter klopfend – wissender, auch moralisch überlegen zu geben. Wir sollten dabei nicht vergessen, dass es Freud gelungen ist, mit dieser Fallgeschichte das Zusammenwirken von Traum, Neurose und Sexualität aufzuzeigen, und dass er gleichzeitig die Bedeutung von Übertragung und Gegenübertragung herausgearbeitet hat. Fasse ich die Hauptkritikpunkte zusammen, so ist es vor allem zu folgenden Einwänden gekommen:

•  Freud beschreibt Dora offensichtlich sehr abfällig, was schon daran ersichtlich wird, dass er Ida mit dem Namen seines eigenen Dienstmädchens versehen hat. Steven Marcus (1974, S. 78) betont in seiner Arbeit, dass Freud Dora ganz offensichtlich nicht mochte. »Er bedauert ihre negative Sexualität, ihre Unfähigkeit, sich ihren erotischen Impulsen zu überlassen. Er vermerkt ihr unerträgliches Benehmen, ihre Vorwurfshaltung. Vor allem aber bemängelt er ihre Unfähigkeit, sich ihm zu ›überlassen‹«.

•  Cremerius schreibt kritisch: »Freud, der für den Fortschritt der Freiheit, für sexuelle Emanzipation, für aufgeklärtes bewusstes Leben so viel getan hat, war in seinen Vorstellungen vom Wesen der Frau weitgehend mit den entwertenden Vorurteilen seiner Schicht identifiziert.« (Cremerius 1989, S. 114).

•  Die sorgfältigste Analyse des Falles Dora hat King (1995) unternommen. Sie verdeutlicht, dass es sich bei Freuds Patientin um eine adoleszente junge Frau gehandelt hat, wie vor ihr bereits Blos angemerkt hat. Freud hat allerdings keine Adoleszente mit ihren gewaltigen Veränderungen und spezifischen Konflikten (Entwicklung der Sexualität, Autonomie, Identität) behandelt, sondern eine Erwachsene mit der Diagnose Hysterie. King sieht die »Fallgeschichte Dora« darum als einen Ausgangspunkt für eine psychoanalytische Weiblichkeitstheorie. Sie hat Dora aber auch als einen ›psychischen Ort‹ innerhalb die Theoriediskussion wahrgenommen, aus der bestimmte Themen ausgelagert sind: Die Auseinandersetzung mit weiblicher Adoleszenz und Genitalität sowie später mit der erwachsenen Frau.

•  Obwohl Ida bereits 17 Jahre alt war, hat Freud fast ausschließlich den Behandlungsauftrag der Eltern zu erfüllen versucht, die hysterischen Symptome des Mädchens zu heilen. Idas Wunsch an die Behandlung war jedoch, dass die Wahrheit erkannt und die Kumpanei der Erwachsenen aufgedeckt werden sollte, welche sie zur Kranken gemacht hatte. Die entscheidenden Behandlungsziele sind selten identisch mit jenen, welche Eltern vorgeben.

 

1.5       Der kleine Hans: eine erste Therapie über die Bezugspersonen

 

Freud hatte Herbert Graf, wie der kleine Hans eigentlich hieß, an seinem dritten Geburtstag besucht und ihm ein Schaukelpferd geschenkt (!). Noch in seiner ersten Erwähnung des Falls (1907c) hatte Freud übrigens vom kleinen Herbert gesprochen, ich will im Folgenden bei dem tatsächlichen Vornamen bleiben. Freud arbeitete – bis auf eine Ausnahme – ausschließlich mit dem Vater, Dr. Max Graf. Dieser war Schriftsteller, Theaterkritiker, Musiker und Professor am Konservatorium. Seine Frau, Olga Boenig, war einst Patientin von Freud gewesen und hatte wahrscheinlich die Verbindung zu ihm hergestellt, so dass Max Graf Mitglied der psychoanalytischen Mittwoch-Gesellschaft wurde, in der Herberts Geschichte ausführlich diskutiert wurde.

Im Januar 1908 entwickelte Herbert Angst davor, von einem Pferd gebissen zu werden. Auch fürchtete er, große Lastpferde könnten stürzen, und er begann, Orte zu meiden, wo er ihnen begegnen könnte. Auslösendes Ereignis war ein Unfall, dessen Zeuge Herbert in Begleitung seiner Mutter wurde. Ein schwerbeladener geschlossener, hoher Wagen kippte mitsamt zwei Pferden um. Herbert erschrak sehr und dachte, eines der beiden Pferde sei tot (Stroeken 1992, S. 69). Aus heutiger Sicht würden wir eine Phobie diagnostizieren: Die gegen Mutter, Vater und Schwester gerichteten Aggressionen werden auf die Pferde projiziert, erfahren so eine Pseudoobjektivierung, um ungestört mit seinen Bezugspersonen leben zu können. Es ist aber auch schon Vermeidungsverhalten zu erkennen. Max Graf begann seinen Sohn zu befragen und berichtete Freud häufig und ausführlich. Freud nahm Berichte über psychische Zustände ernst, »gleich wie absurd und scheinbar trivial sie erscheinen mochten« (Gay 2006, S. 292). Freud kritisierte jedoch, dass Herberts Vater zu viel fragen und forschen würde, »anstatt den Kleinen sich äußern zu lassen«. Freud ging davon aus, dass Psychoanalyse geduldiges Zuhören bedeuten würde. Erkennbar wird bei Freuds Arbeitsweise die Betonung einer abstinenten Haltung.

Herbert besuchte Freud einmal gemeinsam mit dem Vater. Freud ging davon aus, dass Herbert Angst hatte, sein Vater könnte auf ihn böse sein, weil er seine Liebe zu seiner Mutter und seine Todeswünsche gegen seinen Vater nicht beherrschen könnte. Freud deutete, und interessanterweise stimmte Herbert nur jenen Deutungen zu, die er ›einsah‹. Damit überwand Herbert seine Phobie, und die Ängste lösten sich auf. Gegen den Vorwurf, es habe eine Suggestion stattgefunden, betonte Freud in seiner Epikrise, dass eine Psychoanalyse keine tendenzlose wissenschaftliche Untersuchung sei, sondern ein therapeutischer Eingriff; »sie will an sich nichts beweisen, nur etwas ändern« (Freud 1909b, S. 339). Der kleine Herbert hat aber Freuds Hypothesen zu den Träumen und zur Sexualtheorie überzeugend bestätigt: »Er ist wirklich ein kleiner Ödipus, der den Vater ›weg‹, beseitigt haben möchte, um mit der schönen Mutter allein zu sein, bei ihr zu schlafen« (Freud 1909b, S. 345). Dreizehn Jahre später besuchte Herbert Graf Freud, seine Eltern hatten sich mittlerweile scheiden lassen. Er hatte seine Pubertät gut durchgestanden, aber die Behandlung durch seinen Vater und Freud vollständig vergessen. War die Angststörung des kleinen Hans eine Phobie im definitorischen Sinn? Die Psychodynamik dieses Falles reizte verschiedene Psychologen und Psychoanalytiker zu immer wieder neuen Interpretationen, Kritiken und Deutungen (vgl. auch Anselm 1979, Mertens 2012).

Hier einige Bespiele:

•  Die Verhaltenstherapeuten Wolpe und Rachman (1960 zit. n. Stroeken 1992, S. 69) sehen die Ursache für die Phobie in dem von Herbert erlebten Unfall mit nachfolgender Generalisierung der Angst.

•  Bowlby wies auf die Trennungsangst des kleinen Jungen hin, die durch die Drohungen der Mutter, die Familie zu verlassen, ausgelöst worden war. Die Eltern hatten sich wenig später wirklich getrennt (Bowlby 1976, S. 314).

•  Maciejewski sieht die Entstehung der Symptomatik vor dem Hintergrund einer traumatischen Verarbeitung der Beschneidung, mit der er die Kastrationsängste des kleinen Hans in einen Kontext bringt (Maciejewski 2003, S. 523). Die Mutter hatte damit gedroht, sie werde den Doktor holen, der den Penis abschneiden würde.

•  Plänkers erkennt mütterliche Innenräume, die über projektive Identifizierung betreten, okkupiert und feindlich bedroht werden (Plänkers 2003, S. 500).

•  Neidhardt hat in einer Abhandlung mit der Fallgeschichte des kleinen Hans die Entstehung des Denkens und die Bildung eines Denkraumes vor dem Hintergrund von Bions Erkenntnissen beschrieben. Vater und Sohn ziehen Nutzen aus dieser Erfahrung und gelangen dadurch zu seelischem Wachstum (Neidhardt 2008, S. 54).

Würden wir heute psychodynamische Zusammenhänge für die Entstehung der Phobie des Herbert Graf erörtern, so würden wir alle jene Überlegungen einbeziehen. Der kleine Junge hatte ein Trauma erlitten, vielleicht nahm er auch schon eine mögliche Trennung seiner Eltern wahr. Die Trennungsängste haben wahrscheinlich die Bindung erschüttert, und sie wurden phobisch verarbeitet. Aber Herbert litt auch an Schuld- und Kastrationsängsten, die ebenfalls durch phobische Verarbeitung unkenntlich gemacht wurden. Die mannigfachen Interpretationen bestätigen letztendlich die Vielschichtigkeit der Fallgeschichte, die bis heute zu vielfältigen Phantasien und theoretischen Überlegungen anregt. Aus jetziger Sicht kann gesagt werden, dass alle weiteren Interpretationen auch richtig sind – aus anderen Perspektiven und vor dem Hintergrund anderer Theoriebildungen. Symptome sind Ergebnis von vielerlei unbewussten intrapsychischen und interpersonalen Konflikten und daher immer überdeterminiert. Die jeweilige Bildung von Symptomen ist das Resultat mehrerer Ursachen, so dass eine einzige nicht genügt, sie zu erklären (Laplanche & Pontalis 1973, S. 144). Wesentliche Überlegungen zur Krankengeschichte des Kleinen Hans und der Psychogenese seiner Angst hat Mertens (2012, S. 83f.) auf originelle Weise in Gestalt einer Diskussion aufgezeigt und gleichzeitig die verschiedenen psychoanalytischen Schulen anschaulich dargestellt.

Die Behandlung von Herbert Graf war eine Kinderbehandlung, auch wenn sie fast ausschließlich mit dem Vater und über ihn durchgeführt wurde. Sie war aber auch eine erste begleitende Behandlung von Bezugspersonen, in der im Mittelpunkt die problematischen Eltern-Kind-Interaktionen standen, und sie war psychoanalytische Pädagogik, denn die Behandlung wurde durch pädagogische Maßnahmen ergänzt.

Freud war anfänglich skeptisch, was eine Analyse von Kindern anging, da er zunächst keine therapeutischen Mittel sah, welche die Sprache ersetzen könnten. Später schloss er sich den Erkenntnissen von Anna Freud an. Er ging davon aus, dass das Kind ein günstiges Objekt für analytische Therapie sei, die Erfolge seien gründlich und hielten an. Natürlich müsse man die für Erwachsene ausgearbeitete Technik der Behandlung für das Kind weitgehend abändern (vgl. 1933a, S. 576f.). Dieser Kampf um die Technik zog sich durch alle kinderanalytischen Versuche der Anfangszeit.

Ferenczi schien ganz nahe an der Bewältigung dieses Problems zu sein. 1913 stellte er in seiner Fallgeschichte »Ein kleiner Hahnemann«, parallel zum »kleinen Hans«, wie zu vermuten ist, den 4-jährigen Arpád vor. Dessen eigenartiges Symptom des ständigen Krähens interpretierte er als Folge von Kastrationsdrohungen wegen seiner Onanie und der Wut auf den Hahn (der ihn in sein wertvollstes Teil gebissen hatte) bzw. den Vater. Interessant ist, dass Ferenczi dem Jungen Bleistift und Papier gab, damit er seine Ängste in Gestalt des bedrohlichen Hahns aufzeichnen könnte. Ein psychoanalytisches Gespräch »langweilte« den kleinen Patienten jedoch rasch, und er wollte »zu seinen Spielsachen zurück« (1913, S. 166). Jene deutlichen Hinweise auf eine dem Kind gemäße Sprache und seinen Wunsch nach Kommunikation konnte Ferenczi damals weder erkennen noch aufgreifen: Im Anschluss an die Sitzung ging er davon aus, dass eine direkte psychoanalytische Untersuchung des Arpád nicht möglich gewesen sei.

 

1.6       Welche von Freuds Behandlungsnotwendigkeiten sind heute noch gültig?

Zwischen Patient und Psychoanalytiker entsteht eine Beziehung

In seiner ersten Fallgeschichte »Tarquinius Superbus« zeigt Freud auf, dass alles in der Therapie Inszenierte mit der Symptomatik zu tun hat – was eine wahrlich revolutionäre Auffassung darstellt. Patient und Therapeut werden somit zu Mitspielern eines Aktes, dessen Beginn und Ausgang niemand kennt. In einer solchen Szene richtet sich das Interesse des Psychoanalytikers vornehmlich auf alle Interaktionen, um die Sinnzusammenhänge von Phantasien, Vorstellungen und Äußerungen des Patienten verstehen zu können, wie Lorenzer schrieb (2000, S. 148). Mit den beiden vorherigen Aussagen Freuds wird erkennbar, dass Kinder ihre Konflikte auch anders als über Sprache mitteilen können. Im »Kleinen Hans« wird mit den Eltern sowohl an bestimmten Szenen als auch mit den Träumen Herberts gearbeitet und versucht, die unbewussten Konflikte, welche die Symptome erzeugt haben, die pathogenen Komplexe und den Kern der Neurose zu verstehen. Freud macht auch deutlich, dass zwischen »nervösen« und normalen Kindern keine schafe Grenze gezogen werden könne und dass Disposition und Erleben zusammentreffen müssten (Freud 1909b, S. 121).

Die Grundlage jeder Psychotherapie ist das Arbeitsbündnis