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Franz Stimmer/Harald Ansen

Beratung in psychosozialen Arbeitsfeldern

Grundlagen – Prinzipien – Prozess

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-021143-8

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-030678-3

epub:    ISBN 978-3-17-030679-0

mobi:    ISBN 978-3-17-030680-6

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Inhaltsverzeichnis

  1. 1 Einleitung
  2. 2 Beratungsangebote – Beratungsfelder
  3. 3 Gesellschaft und Beratung
  4. 3.1 Moderne Gesellschaft
  5. 3.1.1 Komplexität
  6. 3.1.2 Individualisierung und Pluralisierung
  7. 3.1.3 Technologisierung, Bürokratisierung und Verrechtlichung
  8. 3.1.4 Soziale Mobilität
  9. 3.1.5 Lebensweltliche Segmentierung
  10. 3.1.6 Bevölkerungsentwicklung
  11. 3.1.7 Armut und soziale Ausgrenzung
  12. 3.1.8 Neue Solidarität
  13. 3.2 »Moderne« Persönlichkeiten
  14. 3.3 Sozialrecht – Beratungspflicht
  15. 3.3.1 Rechtliche Grundlagen
  16. 3.3.2 Pflicht zur Beratung
  17. 3.4 Beratungsbedarf
  18. 3.4.1 Epidemiologie
  19. 3.4.2 Zahlenbeispiele
  20. 4 Grundverständnis von Beratung
  21. 4.1 Beratungsbereiche
  22. 4.1.1 Ziel professioneller Beratung
  23. 4.1.2 Beratungskontinuum
  24. 4.1.3 Beratung und Psychotherapie
  25. 4.2 Beratungsanlässe – Beratungsthemen – Beratungsbedürfnis
  26. 4.3 Beratungsformate
  27. 4.4 Organisation von Beratung
  28. 4.5 Beratung: Profession – Disziplinen
  29. 4.6 Prinzipien und Prozess: Ein Modell
  30. 5 Prinzipien beraterischen Handelns
  31. 5.1 Prinzip »Verständigungsorientiert handeln«
  32. 5.1.1 Verständigung als Beziehungsmodus
  33. 5.1.2 Verständigung versus Erfolgszentrierung
  34. 5.2 Prinzip »Sinn verstehen«
  35. 5.3 Prinzip »Bestätigen«
  36. 5.4 Prinzip »Ressourcen fördern«
  37. 5.4.1 Empowerment
  38. 5.4.2 Methoden-Tools
  39. 5.5 Prinzip »Kontext stabilisieren«
  40. 5.6 Prinzip »Mehrperspektivisch denken und handeln«
  41. 5.6.1 Subjektorientierte Soziologie
  42. 5.6.2 Elemente der Mehrperspektivität
  43. 5.7 Prinzip »Motivieren«
  44. 5.7.1 Motivationale Basis: Bedürfnisse
  45. 5.7.2 Motivation als Prozess
  46. 5.7.3 Motivierende Gesprächsführung
  47. 5.8 Prinzip »Moralisch handeln«
  48. 5.8.1 Ethik und Moral
  49. 5.8.2 Ethiken
  50. 5.9 Prinzip »Netzwerkorientiert denken und handeln«
  51. 5.9.1 Theoretische Konzepte
  52. 5.9.2 Netzwerktypen
  53. 5.9.3 Unterstützung und Konflikt
  54. 6 Zirkulärer Beratungsprozess
  55. 6.1 Zugänge zur Beratung
  56. 6.2 Erstkontakt
  57. 6.3 Erstgespräche
  58. 6.3.1 Ziele
  59. 6.3.2 Freiwilligkeit und angeordnete Beratung
  60. 6.3.3 Stabilität und Instabilität
  61. 6.3.4 Beziehung und Ort
  62. 6.3.5 Komplexität
  63. 6.3.6 Zuständigkeit, Arbeitsbündnis und Protokoll
  64. 6.4 Soziale Diagnostik: Datenerhebung – Beschreibung – Analyse – Diagnose
  65. 6.4.1 Datensammlung und Situationsbeschreibung
  66. 6.4.2 Situationsanalyse
  67. 6.4.3 Soziale Diagnosen – Diagnostizieren
  68. 6.4.4 Diagnostische Moral
  69. 6.4.5 Drei Fallbeispiele
  70. 7 Tools: Verfahren der Situationsanalyse
  71. 7.1 Biographie
  72. 7.1.1 Narrationen
  73. 7.1.2 Lebenslinien: Das Life-Events-Diagramm
  74. 7.1.3 Biographischer Zeitbalken
  75. 7.1.4 Genealogie: Das Genogramm
  76. 7.2 Netzwerkorientierte Verfahren
  77. 7.2.1 Beziehungsnetzwerke
  78. 7.2.2 Rollennetzwerke
  79. 7.2.3 Gruppenbezogene Netzwerke
  80. 7.3 Mehrperspektivorientierung: Person-in-Environment-System (PIE)
  81. 7.4 Persönlichkeitsanalyse: Gießen-Test
  82. 7.5 Verhaltensanalyse
  83. 7.6 Ressourcenanalyse
  84. 7.7 Krisenanalyse
  85. 8 Ziele
  86. 8.1 Zielfindung
  87. 8.2 Regeln der Zielformulierung
  88. 8.3 Methoden-Tools
  89. 9 Hypothesen
  90. 9.1 Hypothesenbildung
  91. 9.2 Beratungsrelevante Hypothesen
  92. 10 Interventionen: Beratungsansätze und -methoden
  93. 10.1 Konzept – Methode – Verfahren
  94. 10.2 Einzelberatung
  95. 10.2.1 Klientenzentrierte Beratung
  96. 10.2.2 Tiefenpsychologische Beratung
  97. 10.2.3 Verhaltensberatung
  98. 10.2.4 Systemische Beratung
  99. 10.2.5 Ressourcenorientierte Beratung
  100. 10.3 Beratung in Gruppen
  101. 10.3.1 Soziale Gruppe
  102. 10.3.2 Themenzentrierte Interaktion (TZI)
  103. 10.3.3 Psychodramatische Beratung
  104. 11 Soziale Beratung
  105. 11.1 Grundverständnis
  106. 11.2 Arbeitsbeziehung
  107. 11.3 Soziale Diagnose und Hilfeplanung
  108. 11.4 Intervention zur sozialen Sicherung
  109. 12 Evaluation
  110. 13 Beratungsrecht
  111. 13.1 Schweigepflicht
  112. 13.2 Anzeigepflicht
  113. 13.3 Zeugnisverweigerungsrecht
  114. 13.4 Weitere Rechtsfragen
  115. 14 Kompetenzenprofil
  116. 14.1 Strukturorientierte Kompetenzen: Wissen/Kennen
  117. 14.2 Prozessorientierte Kompetenzen: Vermögen/Können/Gestalten
  118. 15 Beratung von Fachkräften
  119. 15.1 Supervision in der Beratung
  120. 15.2 Coaching
  121. 16 Exkurs: Beratung – ein Beruf, eine Profession, eine Disziplin?
  122. 16.1 Beratung als Beruf
  123. 16.2 Beratung als Profession
  124. 16.3 Beratung als Disziplin
  125. Literatur

1         EINLEITUNG

»Dialog … Dialog … D i a l o g …« – mit diesen Worten soll Thales von Milet (* um 624 v. Chr.; † um 547 v. Chr.) verstorben sein.

»Beratung in psychosozialen Arbeitsfeldern« umfasst ein vielfältiges Themenspektrum (Kap. 2), was eine Schwerpunktsetzung in mehrfacher Hinsicht erforderlich macht, um ein einführendes Lehrbuch nicht zu überfrachten. Grundlegend ist die Orientierung an den transversalen Themen der Beratung über die unterschiedlichen Ansätze hinweg: Grundverständnis, Prinzipien und Prozess. Dieser Teil wird erweitert durch die Darstellung einzelner Ansätze in ihrer je eigenen Ausrichtung und wechselseitigen Ergänzung; dies in einer so ausführlichen Form, dass jeweils deren Axiologie, Theorie und Praxeologie als notwendige Teile eines methodisch Ganzen berücksichtigt werden. Nicht aufgenommen wurde eine detaillierte Darstellung einzelner Beratungsbereiche (Kap. 2), was der Intention des Buches widersprechen würde. Zudem gibt es dazu viele je differenzierte Veröffentlichungen und Sammelbände (z. B. Nestmann u. a. 2007). Allerdings sind die vielen Beispiele in diesem Buch auf unterschiedliche Beratungsfelder bezogen.

Eine weitere Einschränkung betrifft die Beratungsformate (Abb. 2), von denen lediglich die »Personale Beratung« oder »Personzentrierte Beratung« behandelt wird, in deren Mittelpunkt Menschen stehen mit ihren körperlichen, psychischen, kognitiven und sozialen Möglichkeiten, ihren Lebensstilen/Lebensweisen, ihrer alltäglichen Lebensführung und in ihrer Abhängigkeit von ihren jeweiligen Lebenslagen und gesellschaftlichen und kulturellen Einbindungen; dies in Abgrenzung zur organisationsbezogenen und sozialraumbezogenen Beratung mit ihrem Fokus auf Veränderungen und eine humanere Gestaltung von Organisationen und Sozialräumen – natürlich auch mit Auswirkungen auf die dort tätigen Menschen.

Bei der Personalen Beratung wird wiederum eine verhaltensorientierte, lebensstilspezifische (Fokussierte) Beratung von einer verhältnisorientierten, lebenslagenspezifischen (Soziale) Beratung unterschieden.

Des Weiteren sind zwei übergreifende Sichtweisen grundlegend für die Aussagen in diesem Buch:

•  Die zentrale Bedeutung des Dialogs (Buber, Moreno) als handlungsleitendes Prinzip und

•  der Idealtypus (Weber) oder der Konstruierte Typ (Becker) als wissenschaftstheoretische Perspektive.

Das dialogische Prinzip (Kap. 5.1) ist, so die Annahme, die Basis jeglichen Handelns in der Beratung und bildet den Gegenpol zu einem erfolgsfixierten Vorgehen.

Die Konstruktion von Idealtypen ist eine wissenschaftstheoretische Perspektive, die von Max Weber im Rahmen seiner Verstehenden Soziologie eingeführt wurde, um die Vielfalt sozialer Erscheinungen – wie Beratung – erfassbar zu machen, indem die wesentlichen Aspekte des zu Beschreibenden, manchmal auch überbetonend, modellartig benannt werden, wohl wissend, dass die Realität komplexer, bunter und manchmal auch verwirrender ist und sie – als Realtypen – immer nur als mehr oder weniger stark den neutralen idealtypischen Formulierungen – als Grenzfall – annähernd vorstellbar ist. Das heißt, dass die Formulierungen und diversen Modelle in diesem Buch in diesem Sinn idealtypisch sind, für das praktische Handeln allerdings wegweisend.

Im Folgenden werden wesentliche Inhalte des Buches einleitend zusammengefasst:

Organisierte professionelle Beratung, unabhängig von der inhaltlichen und methodischen Ausrichtung, ist eine sozialgeschichtlich recht neue gesellschaftliche Reaktion auf überlastende Herausforderungen, die häufig mit gesellschaftlichen Lebensbedingungen von Menschen zusammenhängen. Die Verbindung zwischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Beratung wird auf unterschiedlichen Ebenen beleuchtet (Kap. 3). Zunächst geht es um Entwicklungen wie soziale Mobilität, Individualisierung, Komplexität und Armut, die den Alltag der Menschen belasten. Beratung ist insofern eine gesellschaftliche Veranstaltung, die dazu dient, die Folgen von überfordernden Lebensumständen aufzufangen. Der wachsende Beratungsbedarf dokumentiert diesen Zusammenhang eindrucksvoll. Zu den gesellschaftlichen Einflüssen gehören auch die Rahmenbedingungen, unter denen Beratung erfolgt, vor allem beratungsrechtliche Regelungen, die zu beachten sind.

Befasst man sich mit Beratung, fällt eine Begriffsvielfalt auf, die den Dialog über Beratung erschwert. Umfänglich wird das Grundverständnis der Beratung aufgegriffen (Kap. 4) und der Versuch unternommen, etwas Ordnung in die zuweilen verwirrende Diskussion zu bringen. Dafür werden Beratungsformate unterschieden und es wird eine erste Einordnung in den wissenschaftlichen Diskurs vorgenommen. Auf diese Grundlage des vorgestellten Beratungsverständnisses beziehen sich die weiteren Ausführungen.

Einen breiten Raum nimmt die Auseinandersetzung mit Beratungsprinzipien ein (Kap. 5). Diese reichen von Verständigung über Sinnvermittlung, Bestätigung, Ressourcenorientierung, Empowerment, Kontextualisierung, Perspektivenvielfalt und Motivation, Netzwerkorientierung bis zu moralischen und ethischen Erwägungen. Die Beratungsprinzipien stehen für einen nicht-technologischen Zugang zur Beratung, sie stellen Berater_innen eine Reflexionsgrundlage zur Verfügung, die in vielen Beratungssituationen benötigt werden, um das eigene Handeln zu begründen.

Beratung ist eine Variante des methodischen Handelns, deren Etappen in einem zirkulären Prozess angesiedelt sind (Kap. 6). Das methodische Vorgehen erstreckt sich vom Erstkontakt über den Aufbau einer Beratungsbeziehung, die Fallanalyse und Zielentwicklung sowie die Hilfeplanung bis zur Auswahl beraterischer Interventionen sowie deren Umsetzung und End-Evaluation. Dieser Prozess verläuft selten linear. Immer wieder ist je nach Beratungsverlauf die Rückkehr in frühere Etappen erforderlich, deshalb ist hier auch die Rede von einem zirkulären Prozess.

Unabhängig davon, welcher Beratungsrichtung man folgt, sind umfängliche Situationsanalysen erforderlich, die einen Eindruck in bestehende Probleme vermitteln. Nicht selten müssen die hier aufgenommenen Instrumente (Kap. 7) je nach Ausgangs- und Problemsituation kombiniert eingesetzt werden. Auf dieser Basis ist eine gezielte Auswahl beraterischer Interventionen möglich. Für die Beratung sind insbesondere Zugänge tauglich, die dazu beitragen, biographische Entwicklungen, die Qualität sozialer Netze, die Person-Umwelt-Beziehungen, die Persönlichkeit, das Verhalten und die vorhandenen sowie aktivierbaren Ressourcen zu erfassen bzw. zu rekonstruieren.

Ein weiteres übergreifendes Element der Beratung findet sich in den Zielen, die als Bindeglied zwischen den Situationsanalysen und der Auswahl von Beratungsansätzen fungieren (Kap. 8). Ziele stehen für einen Zukunftsentwurf, sie haben, gemeinsam mit Ratsuchenden entwickelt, eine motivierende Funktion, sie erlauben es überdies, den Gang der Beratung zu evaluieren und bei Bedarf Korrekturen vorzunehmen. Die Ausrichtung der Beratung an dynamischen Zielen erfordert eine regelmäßige Auseinandersetzung über die bereits erreichten und noch zu realisierenden Schritte der Problemlösung.

Aus den Zielen können die in Frage kommenden Beratungsansätze nicht unmittelbar abgeleitet werden, davor stehen noch Annahmen über die weitere Entwicklung, die in Form von Hypothesen formuliert werden (Kap. 9). Hypothesen enthalten Vermutungen über den bisherigen und den zukünftigen Verlauf der beratungsrelevanten Probleme. Die Offenlegung der theoretisch fundierten, auf die konkreten Situationen bezogenen Hypothesen trägt zu einem transparenten Beratungsprozess bei. Wie die Ziele müssen auch die Hypothesen fortlaufend hinsichtlich ihrer Tragfähigkeit im Licht des je erreichten Zustandes überprüft werden.

Mittlerweile liegen zahlreiche Beratungsvarianten vor, die sich teilweise nur graduell, in anderen Fällen fundamental voneinander unterscheiden. In Bezug auf die Einzelberatung und die Gruppenberatung werden breit rezipierte und erforschte Ansätze aufgenommen (Kap. 10). In den Ausführungen über die Klientenzentrierte Beratung, die Tiefenpsychologische Beratung, die Verhaltensberatung, die Systemische Beratung und die Ressourcenorientierte Beratung werden jeweils die zentralen wissenschaftlichen Grundlagen referiert, ehe methodische Aspekte in den Mittelpunkt gestellt werden. Das gilt auch für die gruppenbezogenen Verfahren, hier die Themenzentrierte Interaktion und das Psychodrama.

Die Soziale Beratung (Kap. 11) nimmt insoweit eine Sonderstellung ein, als in ihr ausdrücklich auf das System der sozialen Sicherung in vor allem armutsgeprägt prekären Lebenslagen zurückgegriffen wird. Die Soziale Beratung ist in diesem Zuschnitt eine Variante der fallbezogenen angewandten Sozialpolitik.

In den Hinweisen auf den zirkulären Prozess wurde bereits darauf aufmerksam gemacht, dass der Beratungsprozess evaluiert werden muss, um mögliche Fehlentwicklungen rechtzeitig zu entdecken und die Weichen neu zu stellen (Kap. 12). Unterschieden werden eine formative, also prozessbegleitende Evaluation und eine summative Evaluation, die am Ende der Arbeit steht und den gesamten Verlauf bewertet. Die summative Evaluation dient im Ergebnis der Weiterentwicklung des untersuchten Beratungsansatzes, dessen jeweilige Stärken und Schwächen erkennbar werden. Gerade die enge Rückkoppelung der Beratung mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die heute als fluide charakterisiert werden, erfordert eine ständige Weiterentwicklung, die ohne eine wissenschaftlich fundierte Evaluation nicht vorstellbar ist.

Ebenfalls übergreifend werden rechtliche Aspekte der Beratung erläutert (Kap. 13). Hierbei handelt es sich in erster Linie um Fragen der Schweigepflicht, der Anzeigepflicht und der Zeugnisverweigerung. Für eine auf Vertrauen basierende Beratung sind diese Regelungen besonders wichtig. Ratsuchende müssen sich darauf verlassen, dass Gesprächsinhalte nicht weitergegeben werden – und wenn doch, können sie sich dagegen rechtlich zur Wehr setzen.

Der komplexe Beratungsprozess erfordert umfängliche Kompetenzen, die sowohl auf der Strukturebene als auch der Prozesssteuerungsebene liegen (Kap. 14). Damit verbundene Fragen sind beratungsschulenübergreifend bedeutsam. Sie unterstreichen die hohen Anforderungen an Berater_innen, die neben ihren spezifischen Fertigkeiten auch eine Vorstellung darüber brauchen, wie ein Beratungsgespräch auf den genannten Ebenen gestaltet werden soll.

Berater_innen sind in der unmittelbaren Beratung auf sich verwiesen. Es wäre vermessen, Beratung zu betreiben, ohne sich regelmäßig über die Beratung austauschen zu können, in einigen Ansätzen wäre es sogar ein Kunstfehler, keine Supervision durchzuführen (Kap. 15). Heute werden »Supervision« und »Coaching« unterschieden. Üblich ist es mittlerweile, Supervision für die psychosoziale Beratung zu reservieren und Coaching der Beratung von Führungskräften zuzuordnen.

Abschließend steht die Frage im Raum, inwieweit bei Beratung schon von einer Beratungswissenschaft als Grundlage gesprochen werden kann (Kap. 16). Die Einordnung der Beratung in die Themen »Beruf«, »Profession« und »Disziplin« ist gegenwärtig virulent. Das sich abzeichnende Ziel besteht darin, eine eigenständige Beratungswissenschaft zu konzipieren, deren erste Konturen schon erkennbar sind.

Auch Autoren brauchen Beratung und konstruktive Kritik. Dafür danken wir Dr. Peter Busch für erste Diskussionen bei der Entstehung dieses Bandes, Fabio Casagrande (M.A. Soziale Arbeit) für die sorgfältige Gestaltung der Abbildungen und Dipl.-Sozialpäd. Antje Kohlschmidt für die konsequenten Korrekturarbeiten.

2         BERATUNGSANGEBOTE – BERATUNGSFELDER

»Beraten« und »beraten werden«, »einen Rat geben«, »jemandem etwas raten«, »einen Rat holen« und ähnliche Begriffe gehören zum alltäglichen Sprachgebrauch. »Beratung« bezeichnet darüber hinaus aber ein spezialisiertes Interaktionsmedium in vielen Arbeitsfeldern der modernen Gesellschaft (Kap. 3). Daraus resultiert eine lange Reihe von Beratungsangeboten durch Einrichtungen der öffentlichen und freien Träger sowie von privatwirtschaftlich organisierten Beratungspraxen (dort häufig als »Coaching« angeboten):

•  Allgemeine Lebensberatung

•  Altenberatung

•  Ausländerberatung

•  Beratung für Alleinerziehende

•  Beratung für Dialysepatienten

•  Beratung für Herzkranke

•  Beratung für Trauernde

•  Beratung von Kriminalitätsopfern

•  Beratung von Missbrauchsopfern

•  Berufsberatung

•  Berufslaufbahnberatung

•  Chat-Beratung

•  Drogenberatung

•  Eheberatung

•  Eignungsberatung

•  Erziehungsberatung

•  Familienberatung

•  Feministische Beratung

•  Freizeitberatung

•  Führungskräfteberatung (Coaching)

•  Gesundheitsberatung

•  Internet-Beratung

•  Karriereberatung

•  Patientenberatung

•  Mail-Beratung

•  Mieterberatung

•  Migrationsberatung

•  Mitarbeiterberatung (Supervision)

•  Mobbing-Opfer-Beratung

•  Netzwerkberatung

•  Online-Beratung

•  Opfer- und Zeugenberatung

•  Organisationsberatung

•  Paarberatung

•  Rentenberatung

•  Schuldnerberatung

•  Schullaufbahnberatung

•  Schwangerschaftskonfliktberatung

•  Sexualberatung

•  Sozialberatung

•  Soziale Beratung

•  Sozialraumberatung

•  Studierendenberatung

•  Studienberatung

•  Suchtberatung

•  Telefonseelsorgeberatung

•  Trennungs- und Scheidungsberatung

•  Verbraucherberatung

•  Verhütungsmittelberatung

•  Vermittelnde Konfliktberatung (Mediation)

•  Wohnungslosenberatung

•  u. a. (vgl. auch Nestmann u. a. 2007, S. 207 ff., 857 ff.).

Eine solche Auflistung legt die Vermutung nahe, dass Beratung alle Lebensbereiche von Menschen in modernen Gesellschaften durchzieht. Sie signalisiert wechselwirkend dazu einen hohen Grad eines individuellen Beratungsbedürfnisses (Kap. 4.2) und ein erhebliches Ausmaß eines kollektiven Beratungsbedarfs (Kap. 3.4). Inwiefern diese Annahme zutrifft, wird in den erwähnten Kapiteln hinterfragt, ebenso die Bedeutung der Beratungspflicht, die in Deutschland sozialrechtlich verankert ist (Kap. 3.3).

Um die unsortierte Vielfalt von Beratungsangeboten zu strukturieren, sind Ordnungsmodelle zu entwickeln wie die der »Beratungsanlässe« bzw. »Beratungsthemen« (Kap. 4.2) und der »Beratungsformate« (Kap. 4.3). Hierzu gehört etwa auch ein Modell von Sander (1998 in Barabas 2003, S. 22), in dem »Problem-Erfahrungsfelder« (Lebenswelt-, Beziehungs- und Selbsterfahrungen) mit jeweiligen Lösungsangeboten verbunden werden. Solche Modelle bilden auch Teilaspekte einer künftig möglichen Beratungswissenschaft ab (Kap. 16).

3         GESELLSCHAFT UND BERATUNG

3.1       Moderne Gesellschaft

Wie kommt es, dass Menschen in die Lage geraten, sich in manchen Situationen nicht mehr selbst ausreichend helfen zu können? Neben individuellen körperlichen, kognitiven, psychischen und sozialen Problemen sind es – so die Annahme – die Struktur und die Dynamik moderner Industriegesellschaften, die durch ihr hohes Verunsicherungspotenzial quasi naturgegeben Beratungsbedürfnisse einzelner Menschen und Gruppen erzeugen, einen hohen Grad eines kollektiven Beratungsbedarfs bewirken und als Merkmal sozialstaatlicher Aufgaben Beratungspflichten bedingen.

Als beschreibende Kennzeichen moderner Gesellschaften werden häufig genannt: »Komplexität«, »Individualismus«, »Desintegration«, »Technologisierung«, »Bürokratisierung«, »Globalisierung« u. a. Diese Merkmale charakterisieren zunächst nur prägende Eigenschaften moderner europäischer Gesellschaften, wie sie sich seit der Renaissance in einem langen Prozess herausgebildet haben. Sie sind aber auch Anlass, der Frage nachzugehen, welche Konsequenzen sich daraus – wechselwirkend zu diesem Prozess der Modernisierung – für die Gesellschaftsmitglieder ergeben und inwiefern sich aus dieser Entwicklung das Potenzial für Probleme ableiten lässt, für Konflikte, die dann wiederum subjektiv ein Bedürfnis nach Unterstützung und eben auch nach Beratung auslösen. Und es ist auch danach zu fragen, wer die Gewinner und wer die Verlierer dieser Entwicklung sind. Dies und der allgemeine Blick auf die Gesellschaft und ihre Organisationen haben Konsequenzen für das praktische Beratungshandeln und für die Entwicklung einer Beratungswissenschaft jenseits allgemeiner Proklamationen.

Grundsätzlich gilt es, bei der Diskussion von Kennzeichen moderner Gesellschaften Einschränkungen zu beachten. Selbst wenn nur über europäische Gesellschaften nachgedacht wird, sind grundlegende Entwicklungen sicherlich vergleichbar, die Unterschiede jedoch teilweise auch gravierend, z. B. in der Sozialpolitik, im Sozialrecht, im Gesundheitswesen, in der Zuwanderungspolitik. Das heißt dann auch, dass neben dem Allgemeinen das Spezifische zu beachten ist, für das Thema dieses Buches also die »typisch« moderne Gesellschaft und die spezifisch deutsche Variante zugleich. Es geht im Folgenden darum, ausgewählte gesellschaftliche Grundlagen dahingehend zu befragen, inwiefern sie Hinweise geben für ein steigendes subjektiv empfundenes Beratungsbedürfnis und damit auch für einen gesellschaftlich erhöhten Beratungsbedarf.

Zwischen »Gesellschaft und Individuum« besteht natürlich kein unilinearer Bezug in Form direkter deterministischer Verknüpfungen. Es geht vielmehr darum, Anhaltspunkte zu finden, wie gesellschaftliche Prozesse menschliches Denken, Fühlen und Handeln in der Weise beeinflussen, dass sich ein zunehmendes Bedürfnis nach Beratung daraus ableiten lässt. »Gesellschaft« wirkt nicht unreflektiert auf ihre Mitglieder ein (zu Wechselwirkungen vgl. Kap. 5.6.1). Historische Gesellschaftsprozesse beeinflussen die Persönlichkeitsbildung, die Lebensstile und die Lebensführung über die jeweiligen Lebenswelten mit ihren je unterschiedlichen Lebenschancen und Lebensrisiken (Lebenslagen) (Kap. 5.6.2); dies verbunden mit vielfältigen Lebensformen, in die Menschen eingebunden sind und in deren Rahmen sie ihre Identität bilden und in (post-)modernen Zeiten immer wieder aufs Neue »erfinden« müssen.

Beim Thema »Individuum und Gesellschaft« sind im vorliegenden Themenzusammenhang zumindest zwei Stränge differenzierend zu beachten:

•  erstens, dass in ein und derselben Gesellschaft »vertikal« mehrere Generationen unterschiedlichen Geschlechts mit differenten historischen Wurzeln leben sowie verschiedene Alterskohorten (Jahrgänge oder Gruppen von Jahrgängen), die aufgrund der jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Situation und der damit zusammenhängenden Sozialisationsprozesse spezifische Verhaltensstrukturen und Einstellungsmuster entwickelt haben;

•  zweitens zusätzlich, dass zugleich »horizontal« differenzierte Lebenswelten nebeneinander existieren, teilweise sich korrespondierend ergänzend, teilweise aber auch konträr zueinander stehend und die darüber hinaus jede für sich genommen auch noch mehr oder weniger stark ausgeprägt in einzelne Segmente (s. unten) unterschieden sind.

Es kann dann auch unschwer abgeleitet werden, dass gleichzeitig wohl mehrere »Modulpersönlichkeiten« simultan in Erscheinung treten; dies wie in den Simultandarstellungen der Bildenden Kunst, wo auf demselben Gemälde zeitlich oder auch räumlich nicht identische Ereignisse in den Blick geraten. Für den vorliegenden Zusammenhang bedeutet dies, dass es Menschen in einer scheinbar gleichen Gesellschaft, ja selbst in vordergründig homogen erscheinenden Lebenswelten gibt, die sich bezüglich ihrer Probleme und ihrer Beratungsbedürfnisse quantitativ wie qualitativ erheblich unterscheiden können: Wohnungslose, Suchtkranke, Psychiatriepatient_innen, Heimbewohner_innen, Führungskräfte, Slumbewohner_innen, Villenbesitzer_innen, Arme, Jugendliche, Alte, Lehrer_innen, Schüler_innen, Frauen, Männer etc. Noch bunter wird das Bild, wenn Menschen aus unterschiedlichen Kulturen mit ihren jeweils verschiedenartigen Sozialisationserfahrungen und Wertvorstellungen sowie Menschen aus zunächst fremden Kulturen, die jetzt in zweiter oder dritter Generation im Migrationsland leben, sich in derselben Umwelt befinden.

Neben den unterschiedlichen Generationen, den lebensweltlichen Differenzierungen und den kulturellen Besonderheiten wäre – was hier nicht zu leisten ist – zusätzlich das Spezifische von Frauen und Männern, verbunden mit den genannten Kriterien, zu untersuchen. Bezüglich der Beratung liegen dazu themenzentriert spezielle Ansätze vor (vgl. z. B. McLeod 2004, S. 175 ff., 217 ff.; Nestmann u. a. 2007, Band 1 und 2013, Band 3).

Zum Thema »Gesellschaft und Beratung« können in diesem Buch nur ausgewählt bedeutsame Kennzeichen moderner Gesellschaften diskutiert werden, und zwar unter der Annahme, dass die Identitätsbildung und die Aufrechterhaltung des Selbstbildes und des Selbstwerterlebens sowie die Bewältigung kognitiver, emotionaler und sozialer Verunsicherungen in modernen Industriegesellschaften ein schwieriges Unternehmen geworden sind. Im Folgenden werden daher einige folgenreiche wesentliche Kennzeichen, die die gesellschaftlich-kulturelle Basis moderner Gesellschaften bilden, beschreibend diskutiert. Diese Merkmale beeinflussen sich wechselseitig, sodass ihre Wirkung eigentlich erst spürbar wird, wenn sie als Teile eines historisch-dynamischen Ganzen gesehen werden. Idealtypisch können bezüglich ihrer Bedeutsamkeit als gesellschaftlich-kulturelle Grundlage – wie im Folgenden behandelt – für die Entwicklung eines zunehmenden Beratungsbedürfnisses gebündelt werden:

•  Komplexität,

•  Individualisierung und Pluralisierung,

•  Technologisierung, Bürokratisierung und Verrechtlichung,

•  soziale Mobilität,

•  lebensweltliche Segmentierung,

•  Bevölkerungsentwicklung sowie

•  Armut und soziale Ausgrenzung.

3.1.1        Komplexität

Globale Interdependenzen erweitern den »lebenswichtigen Beziehungskreis« (Behrendt 1962, S. 93) in der Weise, dass »[…] nirgends etwas Wesentliches geschehen kann, das nicht alle angeht« (Jaspers 1949, S. 178). Der Begriff »Exonetzwerke« verdeutlicht diesen Prozess (Kap. 5.9.2). Relativ harmlos sind dabei Erscheinungen der »cultural mobility« (Sorokin 1959), nämlich die Ausbreitung unterschiedlicher – auch egalisierender – künstlerischer, religiöser, wissenschaftlicher, therapeutischer sowie auch alltäglicher Moden über kulturelle und gesellschaftliche Grenzen hinweg. Ein Paradebeispiel dafür ist die Übernahme vieler Beratungsansätze aus den USA in Deutschland. Soziale, politische und ökologische Krisen irgendwo auf der Welt verstärken durch ihr manchmal auch unerwartetes Auftreten sowie durch die nicht mehr durchschaubaren Verflechtungen das Erleben von Unsicherheit, Abhängigkeit und Angst. Subjektiv wahrgenommen wird dies nicht selten als individuelles Schicksal, verbunden mit einem Gefühl von Hilflosigkeit und der Befürchtung, sowieso nichts ändern zu können.

Die Vorteile von Verteidigungsbündnissen, politischen Blockbildungen und einer internationalen Arbeitsteilung für das soziale, ökonomische und ökologische Überleben sind aufgrund der Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte in der Wahrnehmung und dem Bewusstsein vieler Menschen brüchig geworden. Die eigentlichen Verursacher von Bankenzusammenbrüchen, die das Geld von Kleinanleger_innen vernichten, von Kernschmelzen in Kraftwerken, von der Ausbreitung tödlicher Krankheiten, von Luftverschmutzung, von grausamen Bürgerkriegen etc. bleiben im Dunkeln. Dies sind universelle Risiken, die, so die Befürchtung, am Ende alle Menschen mehr oder weniger sowie früher oder später einholen. Die »Risikogesellschaft« (Beck 1986) in ihrer hypertrophen globalen Ausdehnung hinterlässt so ihre Spuren.

Die Undurchschaubarkeit der Globalisierung fördert als Abwehrmechanismus die Mythenbildung, da Erklärungen benötigt werden, um zu überleben: Konstruiert werden Stereotype, wie z. B. die Islamist_innen, die Amerikaner_innen, die Reichen, die Kapitalist_innen, die Politiker_innen, die Asylbewerber_innen, die Arbeitslosen, die für die vermeintlich akuten Bedrohungen verantwortlich gemacht werden. Solche Mythen dienen der »[…] Bewältigung des ›Bösen‹ in der Welt, wie immer es sich zeigt, als äußere oder innere Not, Krankheit, Unsicherheit, Angst, Sinnlosigkeit, Tod, Ungerechtigkeit, Unmenschlichkeit oder auch Untauglichkeit von Institutionen, den zwischenmenschlichen Bereich zu regeln« (Stimmer 1987, S. 135). Wenn Religion und Wissenschaft ihre richtungsweisenden Funktionen verlieren, erfüllen moderne Mythen – wie in archaischen Kulturen – die »einheitsstiftende Funktion von Weltbildern« (Habermas 1981, S. 73). Die Benennung, die Namensgebung für das zunächst Undurchschaubare kann als Schutzmaßnahme der Anfang für dessen Beeinflussung oder gar Bewältigung sein, jedoch nur, soweit über die Bewusstmachung der Ursachen diese Zuordnung der Realität entspricht und nicht Zuflucht in aus der Not heraus geborenen Vorurteilen gesucht wird.

»Im Kleinen« hat Beratung eine aufklärende Funktion als Grundlage für mögliche Veränderungen – soll sie nicht selbst zum Mythos werden. Dazu ist zu konstatieren, dass Komplexität auch auf die unübersichtlichen theoretischen Grundlagen von Beratung zutrifft, zudem aber auch auf die Probleme einer theorieschwachen eklektizistischen Beratungspraxis. Die Entwicklung einer »Beratungswissenschaft« könnte hier der Gefahr einer Suche nach mythologisierend vereinfachenden Antworten begegnen.

3.1.2        Individualisierung und Pluralisierung

Die Geschichte des Individualismus beginnt sicher nicht erst im 20. Jahrhundert, sondern hat eine lange Tradition, deren moderne Variante mit der Renaissance ihren Anfang findet. Das Neue des modernen Individualismus ist das Bekenntnis dazu: »Persönlichkeiten aber, die sich ihrer Individualität nicht nur bewusst sind, sondern diese bejahen und absichtlich steigern oder zu steigern trachten, gibt es erst seit der Renaissance« (Hauser 1979, S. 33). Dieses Bewusstsein und die Bejahung einer ausschließlichen Zuständigkeit und Verantwortung des Einzelnen für seine Lebensführung und allgemein für sein Handeln – u. U. auch gegen das Kollektiv – zeigt sich heute in einer individualistischen Ethik (Kap. 5.8.2) als Kennzeichen moderner Gesellschaften, verbunden mit und verstärkt durch »Individualisierungsschübe« (Beck 1983; 1986, S. 116; Elias 1987) der vergangenen 50 Jahre mit ihren – zunächst durchaus positiven – Zielen der Emanzipation, der individuellen Autonomie und der Selbstverwirklichung.

Der Übergang von einer gentilizistischen zu einer individualistischen Orientierung bzw. Ethik (vgl. Vierkandt 1931, S. 157) blieb nicht ohne Konsequenzen. Er war wechselwirkend begleitet von einem Übergang der Fremdkontrolle zur Selbstkontrolle (vgl. Elias 1969/1978), von der Notwendigkeit der Eigenverantwortung, der »Privatisierung der Religion« (Berger u. a. 1975, S. 73) sowie der Erhöhung von Wahlmöglichkeiten. Moderne gesellschaftliche Strukturen und Prozesse führen einerseits gefährdend zur Auflösung sozialer Bezüge bis hin zur Entfremdung – als Gegenpol zum Dialog oder zur Begegnung –, beinhalten andererseits aber zugleich ein hohes Reservoir an Wahlmöglichkeiten. Letzteres heißt auch, dass es in dieser komplexen Situation für das Individuum »[…] stets mehr Möglichkeiten des Erlebens und Handelns [gibt], als aktualisiert werden können« (Luhmann 1971, S. 32), was nicht zuletzt heißt, sich im Rahmen einer Pluralisierung der Werte entscheiden zu müssen; und dies auch noch unter der Prämisse der (philosophischen) Kontingenz: »alles, was weder notwendig noch unmöglich ist« (Luhmann 1992, S. 96).

Da übergreifende, allgemein anerkannte ethische Vorstellungen weitgehend fehlen, aus denen heraus deduktiv moralisches Handeln verbindlich abgeleitet werden könnte, ist es die Aufgabe einzelner Gesellschaftsmitglieder, aus der Fülle von Möglichkeiten eigenverantwortlich, induktiv zu allgemeineren Erkenntnissen zu kommen. Die Suche nach handlungsleitenden Gelegenheiten bringt eine Fülle von Angeboten hervor: wissenschaftliche Erklärungen, Sekten, extreme politische Gruppierungen sowie therapeutische und beraterische Ordnungsversuche. Aufgrund der Überforderung des Wählen-müssens wird dadurch aber auch ein Rückzug aus sozialen Beziehungen angeregt, wie er in Form narzisstischen Verhaltens zum Ausdruck kommt (vgl. Stimmer 1987).

Dahrendorf (1979, S. 50 ff.) hat mit seinem Konzept der »Lebenschancen« auf die zwei Seiten dieser Entwicklung hingewiesen. Auf der einen Seite steht die Zunahme der Optionen, der gesellschaftlich eröffneten Wahlmöglichkeiten und Handlungsalternativen, auf der anderen zugleich die Reduzierung der Ligaturen, der Zugehörigkeiten, der sozialen Bezüge und Bindungen. Wenn einer hypertrophen Ausdehnung von Optionen eine hypertrophe Schrumpfung oder gar Zerstörung von Ligaturen gegenübersteht, sind Lebenschancen zunehmend gegen Null reduziert. Die Frage ist dann, ob neue, »moderne« Zugehörigkeiten (»Neue Solidarität« s. unten) die alten Bindungen ersetzt oder, besser, ergänzt haben.

Bei all dem Gefährdungspotenzial moderner Entwicklung sind zugleich erhebliche Chancen für die Selbstbestimmung der Lebensstile und der Lebensführung eröffnet worden. »Individualismus« als Kennzeichen moderner Gesellschaften ist bezüglich seiner Inhalte und Potenziale ambivalent, ein Gewinn und Verlust zugleich. Die »Freiheit für« Alternativen, für Selbstbestimmung und Autonomie ist einerseits kombiniert mit einer »Freiheit von« tief verwurzelten sozialen Verbundenheiten und Sicherheiten, die sich in Begriffen von »Familie«, »Heimat«, »Sippe«, »Zünfte« u. a. ausdrücken, die andererseits aber auch rigide Zwänge beinhalteten (vgl. Vierkandt 1931, S. 157). Ein Gewinn- und Verlustkonto bezüglich der Vor- und Nachteile dieser historischen Entwicklung lässt sich dabei sicher nicht erstellen. Gesamtgesellschaftlich mit dem Blick von oben ist es, etwas lapidar ausgedrückt, »heute also zugleich besser und schlechter« (Luhmann 1987, S. 139).

3.1.3        Technologisierung, Bürokratisierung und Verrechtlichung

Moderne Technologien und eine bürokratische Sozialorganisation prägen das Bewusstsein von Menschen in modernen Industriegesellschaften grundlegend. Sie beeinflussen die unbewussten Einstellungen und viele Routinen in den alltäglichen Beziehungen. Letzteres wird dann zum Problem, wenn eigentlich kommunikativ zu gestaltende Beziehungen von zweckrationalen Medien rein strategischen Handelns, deren Ziel die Effektivität ist, in einem Ausmaß unterwandert werden, dass sie scheinbar zur Normalität werden. Max Weber hat bereits 1920 (S. 202 ff.) in seiner These vom Freiheitsverlust – als eine Folge des »Entzauberungsprozesses« vom magischen Denken hin zum modernen Rationalismus – auf die Probleme verwiesen, die durch die freiheitsbedrohende horizontale Übertragung (bei Habermas: »Kolonialisierung der Lebenswelt« 1981, Band 2, S. 522) von ökonomischen, bürokratischen und rechtlichen Prinzipien und ihres Organisationsstils auf alle Lebensbereiche entstehen.

Spezielle Prinzipien, die innerhalb der Produktion und der Bürokratie sinnvoll, weil effektiv, sein mögen, haben im allgemeinen Wissensfundus moderner Menschen weitgehend Anerkennung gefunden und formen auch die zwischenmenschlichen Beziehungen: Zweckrationalität, Machbarkeit, Effektivität, Messbarkeit, Maximierung, Versachlichung, Normierung, Verrechtlichung, Anonymität. Diese Prinzipien, wie sie sich auch in den Non-Profit-Organisationen der Sozialen Arbeit spiegeln, sind dort zudem durch das Attribut Sachlichkeit »ohne Ansehen der Person« charakterisiert, was einerseits positiv Gleichbehandlung signalisiert, andererseits aber auch Anonymisierung beinhaltet. Weitere Kennzeichen solcher Organisationen sind u. a. Amtshierarchie, Amtsgeheimnis, Regelgebundenheit, Verrechtlichung, Fachwissen, Instanzenzug bei Rechtsstreitigkeiten, Kompetenzabgrenzung. Dort, wo Menschen sich beispielsweise im Sozialamt Zuwendung und Verständnis für ihre Nöte erhoffen, sind sie häufig – nicht ausschließlich – mit dieser Übermacht von bürokratischen Prinzipien und Rechtsvorschriften konfrontiert, die manchen von einem/einer Antragsteller_in zum/zur Bittsteller_in regredieren lässt. Beratungspflicht durch die Mitarbeiter_innen wird nicht selten zum gnädigen Almosen umgepolt, wobei die Undurchschaubarkeit solcher Organisationen die Hilflosigkeit bei Menschen verstärkt, die auf diese angewiesen sind, um zu überleben, Krankheiten zu meisten oder neue Möglichkeiten der Lebensbewältigung zu finden (»Soziale Beratung«, Kap. 11 und das Fallbeispiel »Jenny«, Kap. 3.3.2). Die andere Seite sind die Berater_innen solcher Einrichtungen, die ebenso in das Prokrustesbett dieser Prinzipien eingezwängt sind. Supervision (Kap. 15.1) und Organisationsberatung sind hier die Mittel der Wahl, um Belastungen abzubauen.

3.1.4        Soziale Mobilität

Wenn Menschen in der modernen Gesellschaft der vergangenen 50 Jahre unter den Voraussetzungen der individualistischen Ethik, der Komplexität und Pluralisierung und der lebensweltlichen Segmentierung idealtypisch als »offen«, »unabgeschlossen«, »veränderungswillig« und »ökonomisch-wachstumsorientiert« beschrieben werden (s. unten), dann ist auch das zusätzliche Label »mobil« als notwendige Bedingung für eine gesellschaftskonform gelingende Lebensführung die konsequente Folge. Die Beschreibungen machen schon deutlich, dass es in dieser Gesellschaft Gewinner und Verlierer dieser Entwicklung geben muss und zwar auch jenseits einer rein ökonomischen und ökologischen Ungleichheit, ganz besonders – damit aber auch gekoppelt – bezüglich der Bildungschancen, die individuell und als Gruppe zur Verfügung stehen oder vorenthalten werden. Selbst denen, die zu den Bevorzugten gehören, wie Studierende und künftige Akademiker_innen, wird durch beschleunigte Verfahren und »Verschulung« Bildung vorenthalten, wenn Bildung verstanden wird im Sinne eines Wissens über kulturelle und gesellschaftliche Zusammenhänge und der Entwicklung einer reflektierten Haltung zu sich selbst, zu Mitmenschen und zur Welt – also einer Erweiterung personaler und sozialer Kompetenzen.

»Mobil sein« ist zunächst für viele Menschen sehr positiv besetzt, soweit es Freizeit oder Reisen betrifft. In diesen Bereichen besteht geradezu ein Mobilitätszwang, um mit den aktuellen Trends mithalten zu können. Anders sieht es aus, wenn es um berufliche Entscheidungen oder Zwänge geht, wobei diese wiederum fast ausschließlich gut ausgebildete Fachkräfte unterschiedlicher Sparten betreffen. Verbunden ist das allerdings oft mit einer Schwächung, manchmal auch mit einem Abbruch bisher bedeutsamer Beziehungen mit Partner_innen, Familie, Freund_innen, Kolleg_innen, was bekanntermaßen wiederum nicht selten Anlass für Trennungen oder Scheidungen ist oder aber bestenfalls für Partner- und Familienberatungen.

Für eine Bevölkerungsgruppe stellt sich die Frage nach beruflicher Mobilität meist überhaupt nicht, sie bleibt eine Schimäre für Menschen, die in Armut leben, die ohne Schul- und Berufsausbildung sind, Empfänger_innen von Sozialhilfe, Menschen mit Beeinträchtigungen, Langzeitarbeitslose, also Anwärter_innen für die Soziale Beratung (Kap. 11.4).

Dies wird noch deutlicher, wenn bei dem Begriff »soziale Mobilität« zwischen »horizontaler« und »vertikaler Mobilität« differenziert wird. Die erstere bezeichnet die erwähnte geographische Veränderungsbereitschaft (Reisen) bzw. -notwendigkeit (Beruf). Die »vertikale Mobilität« benennt das Phänomen des sozialen Auf- und Abstiegs. Mobil sein heißt also einerseits, reisefreudig oder beruflich einsatzbereit zu sein – für manche Fachkräfte weltweit –, andererseits aber aufstiegskompetent und abstiegsertragend und dennoch zukunftsorientiert zu sein. Für viele Menschen der erwähnten Bevölkerungsgruppen wäre ein weiterer Abstieg der Schritt in die Verelendung. Ein möglicherweise vorhandenes Mobilitätsstreben nach »oben« stößt in der Realität auf erhebliche Begrenzungen bezüglich der Mobilitätschancen, vor allem dann, wenn negative ökonomische Umbrüche Mobilitätsbedürfnisse ins Leere laufen lassen.

Hier greifen die Artikel 20 und 28 Grundgesetz (GG), aus denen sich das Sozialstaatsprinzip ableiten lässt: a) die Verpflichtung zur sozialen Gerechtigkeit (Angleichung unterschiedlicher Lebenschancen) und b) das Schaffen sozialer Sicherheit (Schutz gegenüber üblichen Lebensrisiken). Daraus abgeleitet sind wiederum die Notwendigkeit des Aufbaus und der Organisation spezieller sozialer Dienste und die Formulierung ihrer Aufgaben im Sozialrecht. Wie im Kapitel 3.3 ausgeführt, beinhaltet dies ein Fülle von Pflichten zur Beratung, im Zusammenhang mit der vertikalen Mobilität etwa den Ausbau von Schullaufbahnberatung und Ausbildungs-, Berufsberatungen in Jugendämtern und den Agenturen für Arbeit sowie die Arbeitslosenberatung und die Soziale Beratung.

3.1.5        Lebensweltliche Segmentierung

Makrosoziologisch sind für moderne Gesellschaften deren Komplexität und ihre funktionale Differenzierung (vgl. Luhmann 1970, S. 73 und 1983, S. 242) kennzeichnend. Komplexität (Arbeitsteilung, erhöhte Mobilität etc.) wird damit zu einer Haupteigenschaft moderner Gesellschaften; die Reduktion von Komplexität auf ein erträgliches Maß eine zentrale Herausforderung. Mit »funktionaler Differenzierung« wird die segmentierende Aufteilung wesentlicher gesellschaftlicher Systeme (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Erziehung, Soziales) bezeichnet, die in sich immer weiter differenziert werden und dabei allerdings untereinander in einem funktionalen Zusammenhang stehen, also nicht gegeneinander abgeschottet sind. Die Komplexität moderner Gesellschaften ist die Folge dieser Differenzierung. Die Ökonomisierung des Sozialsystems lässt allerdings zweifeln, ob zu den anderen Subsystemen noch ein funktionaler Zusammenhang besteht oder nicht deren Kolonialisierung stattgefunden hat. Ähnliches gilt für die Wissenschaft bezüglich der Politik, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse von der Politik nicht zur Kenntnis genommen werden. Im Endeffekt würde dies heißen, dass die funktionale Differenzierung zur monadischen Segmentierung geworden ist. Die zunehmende Abspaltung der Geldwirtschaft der vergangenen Jahre von der Realwirtschaft steht als Beispiel dafür.

Die Differenzierung bzw. Segmentierung der makrosozialen Netzwerke spiegelt sich auch wider in den mesosozialen Netzwerken der Lebenswelten, an denen Menschen direkt teilnehmen (Arbeit, Freizeit, Schule), die in modernen Gesellschaften in sich wiederum erheblich differenziert und untereinander segmentiert sind (Abb. 12). Dies verlangt von den Mitgliedern der einzelnen Netzwerke, den jeweils gängigen Rollenansprüchen zu genügen und zugleich die Fähigkeit zu entwickeln, beim notwendigen Übergang von einem Netzwerk zum anderen – oft nur innerhalb weniger Stunden – einen flexiblen Rollenwechsel zu bewältigen. Der »Bürokrat« mag im Sozialamt erfolgreich sein, die »Buchhalterin« im Betrieb, die »Psychologin« in der Beratung, diese Rollen aber in die Familie oder den Freizeitbereich zu übertragen und dort zu spielen, hat die Zerstörung von Kommunikation zur Folge. »Moderne« Menschen müssten, um sich in dieser Vielfalt einigermaßen zurechtzufinden, die Kompetenz entwickeln, eine Vielzahl von sozialen Rollen zu spielen – teils nur vorübergehend, teils langfristig – und zusätzlich auf die Mitspieler_innen zu achten. Daraus ergeben sich zwangsläufig Konflikte, nämlich Interrollenkonflikte zwischen den Anforderungen an die unterschiedlichen Rollen, die ein Mensch spielt, und Intrarollenkonflikte, wenn an eine Rolle von verschiedenen Personen oder auch Bezugsgruppen divergierende Erwartungen gestellt werden (Kap. 7.2.2 und Abb. 14). Hinzu kommt, dass viele Rollennormen unklar bleiben und je individuell definiert werden müssen, was neben der durchaus positiven Seite einer realitätsangemessenen flexiblen Rollengestaltung allerdings auch – besonders in Konfliktsituationen – schnell zu Überforderungen führt. Voraussetzung für eine positive Rollengestaltung wären interaktionsfördernde Fähigkeiten zu role-taking und role-acting (Mead und Moreno), role-playing und role-creating (Moreno), Rollendistanz und Identitätsdarstellung (Goffman) sowie Ambiguitätstoleranz (Frenkel-Brunswik) (vgl. »Kasten« Kap. 5.1.1).

Die Differenzierung betrifft auch die Privatsphäre und fordert je individuelle Definitionsleistungen. Bei der Frage, was Partnerschaft, Ehe, Familie, Sexualität, Kindererziehung, Freizeit sein soll, existieren vielfältige und teils widersprüchliche Antworten, die Anlass zu vielerlei Konflikten bieten, wie sie beispielsweise in der Partner- und Familienberatung zum Inhalt werden.

3.1.6        Bevölkerungsentwicklung

Bis in die 1970er Jahre ähnelte die Graphik der altersspezifischen Bevölkerungsentwicklung einer Zwiebel. Heute hingegen kennzeichnet die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland eine auf dem Kopf stehende Pyramide. Dies schafft einerseits neue Spannungen. Waren es früher die Jugendlichen, sind es heute die Alten (»Überalterung der Gesellschaft«, »Rentnerschwemme«). Andererseits entstehen daraus neuartige Aufgaben für die wissenschaftliche Forschung bezüglich der unterschiedlichen Lebensalter sowie besonders für die medizinische und psychotherapeutische Behandlung und nicht zuletzt für die Beratung zur Gestaltung des Lebens im höheren Alter, sollte nicht der »soziale Tod« und als Folge davon der »psychische« und letztendlich der »physische Tod« (Moreno 1947/1981) riskiert werden. Der medizinische Fortschritt, der auch für alte Menschen ein längeres und gesünderes Leben ermöglicht, ist allemal beeindruckend, wenn auch nicht allen zugänglich (Altersarmut s. unten); zudem bleibt offen, was in 20, 30 Jahren zu erwarten ist, wenn nach ökonomischen Krisen Fragen auftauchen – die heute schon zaghaft gestellt werden –, wie lange einem alten Menschen eine Dialyse oder ein neues Hüftgelenk zugestanden werden soll. Diese mögliche Entwicklung betrifft die heute 40-Jährigen, kann aber bisher noch verdrängt werden.

In traditionellen Gesellschaften waren die Lebensalter – zusätzlich bezogen auf den jeweiligen Status – streng geregelt, in der modernen Gesellschaft sind sie individuell zu regeln, da Vorgaben weitgehend fehlen. Die Norm der 1950er und 1960er Jahre ist durchbrochen; Schule (Volksschule, Mittelschule, Oberschule) als Voraussetzung für eine gediegene Ausbildung im Handwerk, einen »Büroberuf« oder ein Studium mit darauf folgendem Berufseintritt war die Regel. Dieser lineare Weg ist längst Vergangenheit. Insbesondere die mit dem Ausbau des Bildungswesens verbundenen Versprechungen auf eine flächendeckende Verbesserung der beruflichen und ökonomischen Lebensperspektiven haben sich für teilweise über Generationen hinweg bildungsbenachteiligte Menschen nicht erfüllt.

Aber auch älteren Menschen wird die grundsätzlich gegebene Optionenvielfalt vorenthalten, wenn die Finanzierung mancher Möglichkeiten nicht gewährleistet