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Es ist nicht egal, wie wir geboren werden

Der Autor

Michel Odent, französischer Arzt und Geburtshelfer, wurde als Vertreter der von Frédérick Leboyer entwickelten „sanften Geburt“ international bekannt. Er propagierte als einer der ersten Wasserbecken für die Geburt und Geburtsräume, die einem häuslichen Umfeld nachgebildet sind. 1987 gründete er das Primal Health Research Centre in London, das den Einfluss vorgeburtlicher Erfahrungen auf die Gesundheit erforscht.

Michel Odent

Es ist nicht egal, wie wir
geboren werden

Risiko Kaiserschnitt

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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3. Auflage 2016

Titel der englischen Originalausgabe:

© der dt. Übersetzung: 2010 Patmos Verlag der Schwabenverlag AG, Ostfildern. Übersetzung aus dem Englischen von Sonja Schuhmacher. Zuerst erschienen 2005 im Walter Verlag.

Inhalt

Dank

1Eine großartige Notoperation

Mein Kommentar als Beobachter

Mein Kommentar als Praktiker

2Zwei Wege

Ein globales Phänomen

Freiheit der Wahl

3Immer sicherer

Der indirekte gegen den direkten Weg

Pfannenstiel und die Bikinirevolution

Das Zeitalter der Periduralanästhesie

Skalpell oder Finger?

Lässt sich die Sicherheit des Kaiserschnitts messen?

4Ausbruch aus dem Teufelskreis

Vergessene Bedürfnisse

Eine Wiederentdeckung

Was wäre wenn?

Eine Faustregel

5Wenn Träume wahr werden

Von Äskulap zur Barbiepuppe

Von Ikarus zum Segelflieger über dem Kanal

6Vom Homo sapiens zum Superhirn?

Unüberschreitbare Grenzen

Auflösung der Grenzen

7Kriterien des 21. Jahrhunderts

Zwei Antworten

Drei Fragen

8Langfristiges Denken

Ein Werkzeug zur Neuprogrammierung

Durch Kaiserschnitt geboren

Beeinträchtigte Liebesfähigkeit

Wege aus der Sackgasse

Eine weitere Lektion

9Eine nie dagewesene kulturelle Vielfalt?

Rücksicht auf die Zivilisation

Die Erweiterung unseres Horizonts

Auf dem Weg zu unterschiedlichen »Geburts«-Kulturen?

10Das Reich der Mikroben

Zwei Tore zum Reich der Mikroben

Darmflora und Gesundheit

11Das Reich der Düfte

Anekdoten

Im wissenschaftlichen Kontext der Gegenwart

12Stillen nach dem Kaiserschnitt

Der Milchfluss beginnt vor der Geburt

Länder im Vergleich

Aus praktischer Sicht

13Tausendundein Grund, warum der Kaiserschnitt angeboten wird

Absolute Indikationen

Fragwürdige Indikationen

14Einmal Kaiserschnitt, immer Kaiserschnitt?

Nach 1950

Eine häufig gestellte Frage

Eine häufige Reaktion

Eine weitere häufig gestellte Frage

In der Praxis

15Wenn der Kaiserschnitt unumgänglich wird

Von der Zustimmungserklärung bis zum Bepinseln mit antiseptischer Lösung

Wenn der Chirurg erscheint

16Was die Mütter sagen

Grenzenlose Vielfalt

Superlative

17Der Damm und die Geburt

Veröffentlichte Fakten

Interpretationen

Der Fötusejektionsreflex

18Entweder … oder …

Zukunftsorientierte Strategien

Der Unterwassertest

Interpretationen

Einfache Empfehlungen

Pam England

19Die Angstvorsorge

In einer idealen Welt

Ist ein Ende der medizinischen Vorsorge-Routine abzusehen?

Worum geht es bei der Vorsorgeuntersuchung?

Die Zukunft

20Althergebrachte Ideen

Sie brauchen Energie!

Sie müssen laufen!

Sie brauchen Unterstützung!

Die Früchte am Baum

21Die künftige Beziehung zwischen Hebamme und Geburtshelfer

Ein unverzichtbares langfristiges Ziel

Verzicht auf Political Correctness

22Zu vernünftig, um zu überleben?

Wird die Menschheit durch Exzesse der Rationalität bedroht?

Anmerkungen und Literaturhinweise

Dank

Besonderen Dank schulde ich den Hebammen und OP-Schwestern des Krankenhauses von Pithiviers, mit denen ich bei etwa 1000 »Kaiserschnitten während der Wehen« zu jeder Tagesund Nachtzeit Erfahrungen sammeln konnte.

Außerordentlich hilfreich waren die stetige konstruktive Kritik, die Sylvie Donna geleistet hat, sowie die Gespräche und der Briefwechsel mit Jane English, der Verfasserin des Buches Different Doorway.

Ganz herzlich möchte ich mich auch bei Liliana Lammers bedanken, die mir mit ihrem Enthusiasmus den Rücken gestärkt hat.

1Eine großartige Notoperation

Von November 1953 bis April 1954 arbeitete ich ein halbes Jahr als Praktikant auf der Entbindungsstation eines Pariser Krankenhauses. Damals konnten Medizinstudenten im Rahmen eines solchen Praktikums erste Erfahrungen in der Klinikarbeit sammeln. Dass ich damals zur Geburtshilfe kam, war reiner Zufall. Das Thema Geburt interessierte mich nicht besonders, und ich hatte auch nicht vor, Gynäkologe zu werden. Weil ich mich überdies auf wichtige Prüfungen vorbereiten musste, verbrachte ich so wenig Zeit wie möglich auf der Entbindungsstation. Allerdings reichte es aus, um die Grundlagen der Geburtshilfe zu lernen und zu erkennen, dass eine neue Epoche in der Geschichte der Geburt anbrach.

Mein Kommentar als Beobachter

Immer wieder stelle ich fest, dass ich mich nach einer Fachkonferenz nur noch an das erinnere, was ich beiläufig auf dem Korridor oder im Restaurant erfahren habe. Dasselbe könnte ich über meine Arbeit auf den Stationen verschiedener Krankenhäuser behaupten. Einmal aß ich mit dem Assistenzarzt der Entbindungsstation, auf der ich Praktikant war, zu Mittag. In den 50er-Jahren hatte ein Assistenzarzt in einem Pariser Krankenhaus eine Menge Verantwortung. Wir unterhielten uns über die rasante Entwicklung der Medizin seit dem Zweiten Weltkrieg, und er schilderte mir seine Vision von der Zukunft seines Metiers. »Die Entwicklung der Geburtshilfe wird dahin gehen, dass man bei einer leichten, schnellen Geburt den vaginalen Weg in Betracht zieht. Ist sie aber lang und schwierig, besteht kein Grund zu zögern. Dann kann man ohne weiteres einen Kaiserschnitt im unteren Uterinsegment ansetzen.« Das »untere Uterinsegment« wird bei der neuen sicheren Technik, die in den 50er-Jahren allmählich Verbreitung fand, durch einen Querschnitt geöffnet. Während meines sechsmonatigen Praktikums hatte ich einmal Gelegenheit, eine solche Schnittentbindung mitzuverfolgen. Das reichte, um die wesentlichen Schritte der Operation zu verstehen. Die Kaiserschnittrate lag damals auf dieser Station bei ungefähr einem Prozent.

Dem Einsatz der neuen Technik standen jedoch erhebliche Hindernisse im Wege. Das größte Problem war, dass nur wenige Geburtshelfer über chirurgische Erfahrung verfügten. Die meisten mussten Chirurgen zu Hilfe holen, die aber die neue Technik auch noch nicht beherrschten. Die Gynäkologen aber griffen mit Vorliebe auf die Zange zurück, die drei Jahrhunderte lang das Symbol ihrer Zunft gewesen war. Die Plauderei mit dem klugen Assistenzarzt verhalf mir also zu der Einsicht, dass viele Ärzte die neue sichere Technik der Schnittgeburt ignorierten – wohl weil sie sich von den Chirurgen und deren Prestige bedroht fühlten. Weil ich selbst Chirurg werden wollte, konnte ich in der Geburtshilfe als neutraler Beobachter Milieustudien betreiben und die halbbewussten Beweggründe der älteren und jüngeren Ärzte mit ihren unterschiedlichen Kenntnissen besser beurteilen. Im Rückblick erscheint es mir bezeichnend, dass sich der Chef der Entbindungsstation – der sich der Zange verschrieben hatte – beim Thema Kaiserschnitt in geheimnisvolles Schweigen hüllte. Er machte nie eine Anspielung auf die Zukunft dieser Technik.

Mein Kommentar als Praktiker

Meine gesamte Ausbildung als Assistenzarzt absolvierte ich auf chirurgischen Stationen, weil ich schon zu Beginn meines Studiums diese Fachrichtung eingeschlagen hatte. Mein Wunsch, mich nützlich zu machen und den Menschen sinnvolle Hilfe zu leisten, konnte sich auf Stationen, die sich vor allem der Diagnose widmeten, nicht erfüllen. (Im Studium waren wir vom ersten Tag an in die Krankenhausarbeit einbezogen, deshalb fiel mir diese Entscheidung nicht schwer.) Mir fiel auf, dass brillante Ärzte, die komplizierteste Diagnosen erörterten, von der Therapielehre nicht viel hielten und den Verlauf einer Krankheit häufig nicht beeinflussen konnten. In der Chirurgie war das anders. Eine der ersten Patientinnen, die ich dort zu Gesicht bekam und die mir unvergesslich blieb, litt nach einem Leistenbruch unter einer Brucheinklemmung. Eine einfache Notoperation rettete ihr das Leben.

Als ich einmal auf der chirurgischen Station Nachtschicht hatte, rief mich ein Freund aus der Entbindungsstation, weil ich ihm bei einem Notfalleingriff, also einem Kaiserschnitt, zur Hand gehen sollte. Auf diese Weise lernte ich die neue Technik. Damals ahnte ich noch nicht, dass dieser zufällige Hilferuf eines Freundes mitten in der Nacht meiner Laufbahn eine neue Richtung geben sollte.

Von 1958 bis 1959 leistete ich im algerischen Unabhängigkeitskrieg meinen Militärdienst ab. Den Großteil meiner Dienstzeit arbeitete ich im Krankenhaus von Tizi-Ouzou, der Hauptstadt der Kabylei, wo vor allem algerische Berber leben. Dort hatten wir Tag und Nacht mit kriegsbedingten Notfalloperationen alle Hände voll zu tun. Gelegentlich kamen aber auch Frauen aus den Bergdörfern zu uns, weil die Geburt nicht voranging. Durch eine Schnittentbindung im unteren Uterinsegment konnte ich die Babys retten. Am Tag nach der Notoperation wusste meist das ganze Dorf über das vermeintliche Wunder Bescheid. Im Sommer 1960 erhielt ich die Möglichkeit, im westafrikanischen Guinea den dortigen Chirurgen zu vertreten – ebenfalls eine Gelegenheit, die neue Technik einzuführen.

1962 erfuhr ich, dass ein Krankenhaus 50 Kilometer außerhalb von Paris einen Leiter für die chirurgische Abteilung suchte. Spontan bewarb ich mich für den Posten. Ich wollte außerhalb von Paris, aber nicht zu weit entfernt von der Hauptstadt leben. So kam ich nach Pithiviers. Neben der chirurgischen Abteilung lag die kleine Entbindungsstation, mit zwei Hebammen, die mich begeistert willkommen hießen, als sie erfuhren, dass ich die moderne sichere Technik des Kaiserschnitts beherrschte. Vor Ort gab es einen älteren Kollegen, der immer noch mit dem so genannten klassischen Schnitt arbeitete. Als ich dann, zwischen einer Bruchoperation und einer Gallenblasenoperation, zum ersten Mal einen Kaiserschnitt in Pithiviers durchführte, rief die leitende OP-Schwester anschließend: »Was für eine großartige Notoperation!«

2Zwei Wege

Ein globales Phänomen

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben die Enkelinnen der Frauen, die während meiner medizinischen Ausbildung ihre Kinder zur Welt brachten, eine »moderne« Einstellung zum Kaiserschnitt. Für die meisten ist er einfach eine von zwei Arten, wie ein Baby zur Welt kommen kann. An manchen Orten der Erde ist er inzwischen sogar das üblichere Verfahren – er ist sozusagen zum Konsumartikel geworden. In einem so großen Land wie Brasilien, in dem so viele Menschen leben wie in Deutschland, Frankreich und Spanien zusammengenommen, liegt die Kaiserschnittrate bei über 50 Prozent. Natürlich gibt es hier Unterschiede zwischen Stadt und Land, zwischen privaten und öffentlichen Krankenhäusern: In den Privatkliniken großer Städte wie São Paulo und Rio kommen vier von fünf Babys durch Kaiserschnitt auf die Welt – 80 Prozent! Auf manchen Geburtshilfestationen wird der operative Eingriff routinemäßig durchgeführt, es sei denn, die Frau verlangt explizit nach einer Vaginalentbindung. Eine Kultur »pro Kaiserschnitt« greift um sich. Wenn arme Frauen die Schnittentbindung wünschen, steht dahinter oft die Befürchtung, mit einer Behandlung abgespeist zu werden, die nicht der Norm entspricht.1 In den staatlichen Krankenhäusern Brasiliens kommen »nur« 40 Prozent der Kinder durch Schnittentbindung zur Welt. Die Praxis und die Statistiken anderer großer lateinamerikanischer Städte wie Mexiko City oder Santiago de Chile sowie der südlichen Landesteile Italiens sehen ähnlich aus.

Wenn sich der gegenwärtige Trend fortsetzt, werden in naher Zukunft viele Städte und sogar ganze Länder überall auf der Welt die 50-Prozent-Marke überschreiten. Die lange Liste der Kandidaten umfasst einen Großteil Asiens: Indien (insbesondere Neu-Delhi), das gesamte China, Taiwan, Thailand, Singapur und Südkorea. Die Mehrheit der lateinamerikanischen Länder (darunter Kuba, nicht aber Bolivien) gehört ebenso zu den Anwärtern wie die Türkei (besonders Istanbul), Griechenland, Spanien und Portugal. Auch in Ländern, die nicht in dieser Liste aufgeführt sind, gilt der Kaiserschnitt inzwischen als normales Geburtsverfahren. Zum Beispiel kommen in den Vereinigten Staaten 26 Prozent aller Kinder durch Kaiserschnitt auf die Welt. In den meisten westlichen, europäischen Ländern wie Großbritannien, Frankreich, Deutschland, der Schweiz, Ungarn, aber auch in Australien und Neuseeland wird bei mindestens einer von fünf Geburten eine Schnittentbindung durchgeführt.

Freiheit der Wahl

Sobald sich der Kaiserschnitt als normale Geburtsmethode etabliert hatte, gestand man den Frauen die Entscheidungsfreiheit zu und das Zeitalter des Wunschkaiserschnitts brach an. Seit 1997 wurde dieses Thema immer wieder in maßgebenden medizinischen Fachzeitschriften diskutiert.2, 3, 4, 5 Das Phänomen des Kaiserschnitts auf Verlangen nahm seinen Ausgang in Italien sowie den größten lateinamerikanischen Städten und griff dann auf den Rest der Welt über. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts erwogen Ärzte, ob sie bereit wären, den Eingriff auf Verlangen durchzuführen.4 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts überlegt man, ob man allen Frauen die Schnittentbindung auf Wunsch anbieten sollte.6 Der Anteil der Schnittgeburten auf Wunsch der Gebärenden steigt stetig. In den Vereinigten Staaten waren es 1999 noch 1,56 Prozent aller Entbindungen, 2001 bereits 1,87 Prozent.

Einige Frauenärzte sind direkt oder indirekt an der rapiden Entwicklung dieser neuen Tendenzen beteiligt. Bei einer Umfrage unter Geburtshelfern gaben interessanterweise 31 Prozent der Londoner Gynäkologinnen an, sich im Fall einer komplikationslosen eigenen Schwangerschaft eher für eine geplante Kaiserschnittentbindung zu entscheiden.7 Ähnliche Angaben machten Geburtshelferinnen aus Nordamerika.8 Professor Steer, ein einflussreicher Experte für Geburtshilfe in London, führt Überlegungen an, die diese neue Haltung stützen. Er betont, dass die Größe des menschlichen Gehirns die wesentliche Herausforderung beim Geburtsprozess darstelle. So wertet er den Kaiserschnitt als »sich entwickelndes Verfahren«, das eine technische Lösung für den »Konflikt zwischen der Notwendigkeit zu denken und der Notwendigkeit zu laufen« darstelle.9 In Zukunft, so Steer, seien die unvorhersehbaren Risiken der Wehen für die meisten Frauen nicht mehr zu rechtfertigen. Falls der Kaiserschnitt zur Norm werde, werde jedoch künftig das durchschnittliche Geburtsgewicht nicht mehr durch die Größe des mütterlichen Beckens begrenzt, sodass langfristig gesehen die Kaiserschnittgeburt für die Mehrheit der Frauen unumgänglich werden könnte.

Vergleichbare Meinungen werden diesseits und jenseits des Atlantiks laut. Die Ethikkommission des American College of Obstetricians and Gynecologists veröffentlichte im Oktober 2003 eine Erklärung, die den Kaiserschnitt auf Wunsch als ethisch vertretbar darstellte. W. Benson Harer jr., der medizinische Leiter des Riverside County Regional Medical Center in Moreno Valley, Kalifornien, bemerkte zu dieser Erklärung: »Ich glaube, das ist ein Schritt in die Richtung, die wir bereits eingeschlagen haben. Und sobald weitere Untersuchungen vorliegen, wird es wahrscheinlich zu einem anerkannten Verfahren werden.«10 Gleichzeitig gab in Großbritannien das National Institute of Clinical Excellence (NICE) vorläufige Richtlinien heraus, die klarstellten, dass Ärzte einer Frau das Recht auf den Kaiserschnitt nicht verweigern dürften, die Gründe für ihr Ansinnen sollten aber erfragt, dokumentiert und erörtert werden. In Ländern, in denen die Gesundheitskosten von der Allgemeinheit getragen werden, besteht allerdings die Tendenz, Zusatzausgaben zu vermeiden, indem man nicht auf alle Wünsche der Mütter eingeht.

»Geburt von oben« oder »Geburt von unten«? Diese nie dagewesene Entscheidungsfreiheit, die sich den künftigen Generationen bietet, ist ein Meilenstein in der Geschichte der … Säugetiere. Innerhalb weniger Jahrzehnte hat sich aus einer Notfalloperation eine übliche Form des Gebärens entwickelt. Wie ist es dazu gekommen?

3Immer sicherer

Der Hauptgrund, warum die Kaiserschnittraten in der ganzen Welt gestiegen sind, besteht darin, dass diese Operation ungefährlich geworden ist.

Der indirekte gegen den direkten Weg

Der Wendepunkt kam kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als die neue, nun sicher gewordene Technik ihren Siegeszug antrat. Zuvor hatte man den direktesten Weg gewählt, um die Gebärmutter zu öffnen. Haut, Muskelhaut und Gebärmuttermuskel wurden durch senkrechte Schnitte durchtrennt, die drei Zentimeter über dem Nabel ansetzten und drei Zentimeter über dem Schambein endeten. Aus zahlreichen Gründen griff man auf diesen klassischen Schnitt jedoch nur im äußersten Notfall zurück. Blutungen der Gebärmutterwand waren zu befürchten und das Infektionsrisiko war zu hoch; Verwachsungen mit der Narbe konnten zu Darmverschluss führen; häufig heilte die Narbe der Gebärmutter nicht richtig zusammen, sodass bei weiteren Schwangerschaften das Risiko einer Narbenruptur bei 2 Prozent lag.

Mit der neuen Technik wurde der Gebärmuttermuskel durch einen quer verlaufenden Schnitt im unteren Segment des Uterus geöffnet. Der Gebärmutterhals liegt halb in der Vagina, halb in der Gebärmutterhöhle. Der in der Gebärmutter gelegene Teil vergrößert sich gegen Ende der Schwangerschaft und wird zum so genannten unteren Segment. Er wird ebenso wie die anderen Unterleibsorgane vom Bauchfell (einer beweglichen Schleimhaut) bedeckt. Das Risiko verschiedenster Komplikationen hatte sich durch den Schnitt im unteren Segment drastisch verringert. Zur gleichen Zeit wurden ungefährlichere Anästhesiemethoden entwickelt, die ersten Antibiotika standen zur Verfügung, Bluttransfusionen wurden möglich und durch die Verwendung von Plastikstatt Gummischläuchen wurden intravenöse Infusionen erheblich sicherer. So entwickelte sich durch das Zusammenspiel verschiedener Faktoren innerhalb weniger Jahre aus einer riskanten Notfalloperation ein ungefährlicher Eingriff.

Die Schnitttechnik, die heute Verwendung findet, unterscheidet sich nicht wesentlich von der in den 50er-Jahren entwickelten Methode, wobei der Begriff »entwickelt« betont werden muss, weil verschiedene Gynäkologen in der Vergangenheit mit quer verlaufenden Schnitten im unteren Uterinsegment experimentiert hatten. Dieser indirekte Weg wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von Munro Kerr1, Professor für Geburtshilfe an der Universität Glasgow, verfochten und von einflussreichen amerikanischen Geburtshelfern wie Joseph DeLee bekannt gemacht. Aber erst in den 50er-Jahren konnte die neue Technik nach und nach den so genannten klassischen Schnitt verdrängen.

Pfannenstiel und die Bikinirevolution

Seither wurde der Kaiserschnitt durch mehrere Verbesserungen noch sicherer und wurde dadurch immer mehr akzeptiert. Bis Ende der 60er-Jahre blieb der Schnitt durch die Haut – der sichtbare Teil der Operation – unverändert, das heißt, er verlief senkrecht vom Nabel zum Schambein. Das ging schnell und war überdies unkompliziert und sicher. Obwohl die Narbe eines solchen senkrechten Schnitts gelegentlich dick, groß und rot blieb, schien dieser Schnitt durch die Bauchdecke akzeptabel, weil man den Kaiserschnitt als seltene Notoperation ansah. Als die »Geburt von oben« größere Verbreitung fand, mussten auch ästhetische Erwägungen berücksichtigt werden, zumal damals am Strand die »Bikinirevolution« stattfand.

Bereits im Jahr 1900 beschrieb Hermann Pfannenstiel, ein Chirurg und Gynäkologe aus Breslau, den Querschnitt oberhalb der Schambehaarung.2 Schon bald wurde der Pfannenstielschnitt in allen Lehrbüchern zur Chirurgie erwähnt und von vielen Operateuren bei verschiedenen gynäkologischen Eingriffen an ge wendet. Lange Zeit dachte jedoch kaum jemand daran, auf diesem Weg ein Baby zu holen. Auch Ärzte, die mit der Technik vertraut waren, glaubten, sie eigne sich nicht für Schnittentbindungen. Der erste Grund für diese zögernde Haltung war, dass man so schnell wie möglich handeln musste. Wir dürfen nicht vergessen, dass über Jahrzehnte hinweg die Hauptsorge der Chirurgen war, dass die für die Vollnarkose eingesetzten Medikamente das Kind nicht erreichten. Es war eine Art Wettrennen zwischen dem Arzt, der an das Baby herankommen musste, und dem Medikament, das zur Plazenta vordrang. Und es gab noch einen zweiten, nur halb bewussten Grund, der in den 60er-Jahren auch mich beeinflusste. Wir konnten uns nicht ohne weiteres vorstellen, dass ein Baby durch einen solch kleinen Querschnitt oberhalb der Schamhaare geholt werden konnte. Erst Ende der 60er-Jahre wagte ich persönlich diese Technik. Nach einem halben Dutzend Eingriffen mit dieser Methode erkannte ich, dass sie fast genauso schnell durchzuführen war wie der herkömmliche Längsschnitt. Ohne dass ich es mitbekam, hatte eine Krankenschwester festgehalten, dass ich nach dem Schnitt durch die Haut zwei Minuten und zehn Sekunden brauchte, bis ich das Neugeborene in Händen hielt. Die Frauen bemerkten natürlich auch den Unterschied zwischen der winzigen, fast unsichtbaren Narbe in der Schambehaarung und den nicht selten hässlichen vertikalen Narben des Längsschnitt-Verfahrens. Und damit gewann der Kaiserschnitt im unteren Uterinsegment immer größere Akzeptanz.

Das Zeitalter der Periduralanästhesie

Seit den 80er-Jahren gab es eine rege Interaktion zwischen den Neuerungen in der Krankenhausorganisation und den Gesundheitsberufen einerseits und den technischen Fortschritten andererseits.

Dieses Zusammenspiel zeigt sich auch in der Geschichte der Periduralanästhesie (PDA). Die Idee einer Nervenblockade und insbesondere einer Periduralblockade (rückenmarksnahe Betäubung) ist nicht neu. Neu ist lediglich die Beliebtheit der Periduralanästhesie in der Geburtshilfe. Dabei wird das Narkosemittel durch ein dünnes Röhrchen, das mittels einer Nadel in den Rücken der Frau eingeführt wird (nachdem der Bereich zuvor durch Lokalanästhesie betäubt wurde), in den Periduralraum zwischen Rückenmark und Rückenwirbel gespritzt. Nach 1980 erfreute sich dieses Verfahren wachsender Beliebtheit, und immer mehr Anästhesisten machten sich mit seinem Einsatz in der Geburtshilfe vertraut. So entstand als eine Art Fachgebiet der Zunft die Anästhesie der Geburtshilfe. Auf manchen Geburtshilfestationen kam die Periduralanästhesie während der Wehen täglich zum Einsatz, sodass eine völlig neue Situation entstand. Wenn man sich für den Kaiserschnitt entschied, standen viele Frauen bereits unter dem Einfluss der Periduralanästhesie. Die Vorteile einer Nervenblockade im Vergleich zu einer Vollnarkose lagen auf der Hand: Die Mutter war während der Schnittentbindung und auch danach wach und munter.

Die Entwicklung der Anästhesie der Geburtshilfe trieb wiederum erhebliche technische Fortschritte voran. Bei der herkömmlichen Periduralanästhesie betäubt ein Lokalanästhetikum die Nerven, die die Muskulatur der unteren Körperhälfte steuern, sodass die Frau in den Wehen in der Regel ihre Beine nicht bewegen kann. Aus diesem Grund wurden in jüngster Zeit einige Neuerungen eingeführt. Die Dosis des Lokalnarkosemittels kann erheblich vermindert werden, wenn es mit einem Opiat wie Fentanyl kombiniert wird. Diese Kombinationsbetäubung wurde unter dem Begriff »Walking-PDA« oder »mobile PDA« bekannt. Eine weitere beliebte Methode ist die kombinierte Spinal- und Periduralanästhesie, wobei, mit oder ohne Lokalanästhesie, eine einmalige Dosis eines Opiats am unteren Ende des Rückenmarkskanals injiziert wird. Dadurch wird der Schmerz für etwa zwei Stunden betäubt, und falls eine weitere Linderung nötig ist, erfolgt sie über die PDA. Weil sich im Rückenmark keine Blutgefäße befinden, gelangen die Narkosemittel nicht in den Blutkreislauf der Mutter. Heute wird beim geplanten Kaiserschnitt häufig die Spinalanästhesie eingesetzt.

All diese Fortschritte in der Anästhesie hatten zur Folge, dass der Kaiserschnitt immer beliebter und sicherer wurde.

Skalpell oder Finger?

Auch die Technik der Schnittentbindung entwickelt sich weiter. In den 90er-Jahren führten Michael Stark und sein Team am Misgav-Ladach-Krankenhaus in Jerusalem eine Methode ein, die auf der Joel-Cohen-Inzision aufbaut, einem ursprünglich für Gebärmutteramputationen entwickelten Verfahren.3 Dabei wird auf scharfe Instrumente weitestgehend verzichtet und das Gewebe stattdessen mit der Hand auseinander gezogen und gedehnt. Unter anderem sollen damit alle während der Operation unnötigen Schritte vermieden werden. Es lohnt sich, diese Technik an dieser Stelle in allen Einzelheiten zu erläutern, damit ihre Vorteile im Hinblick auf Geschwindigkeit und Blutverlust für Fachleute und Laien gleichermaßen verständlich werden.4

Der Schnitt durch die Haut erfolgt wie üblich horizontal oberhalb der Schambehaarung. Der erste Unterschied im Vergleich zum gewöhnlichen Vorgehen ist, dass der Schnitt durch die Fettschicht unter der Haut an der Mittellinie nur drei Zentimeter lang ist, sodass das Gewebe seitlich davon mit zwei Fingern gedehnt werden kann. Auf diese Weise wird eine Durchtrennung kleiner Blutgefäße vermieden. Ebenso verfährt man mit der Muskelhaut, die die Muskeln bedeckt und die in Richtung der Fasern manuell geöffnet wird. Die Muskeln werden durch Zerren voneinander getrennt, und das Bauchfell wird durch Dehnen mit den Zeigefingern auseinander gezogen. Die Gebärmutter öffnet der Arzt mit dem Zeigefinger, die Öffnung wird anschließend mit dem Zeigefinger der einen und dem Daumen der anderen Hand vergrößert. Nachdem das Baby und die Plazenta geholt wurden, wird die Gebärmutter durch die Operationsöffnung herausgeholt und auf die verhüllte Bauchdecke gelegt. Auf diese Weise kann der Uterusmuskel optimal genäht werden. Der Chirurg behält sozusagen die perfekte visuelle Kontrolle über den Vorgang. Genäht werden danach nur noch die Muskelhaut und die Haut, denn man weiß heute, dass das Bauchfell schneller und besser heilt, wenn es nicht genäht wird.5

Die inzwischen vorliegenden Daten bestätigen, dass Michael Starks Methode den Blutverlust vermindert und die Operationszeit verkürzt. Eine schwedische Studie ergab zum Beispiel, dass der durchschnittliche Blutverlust durch das neue Verfahren von 400 ml auf 250 ml gesenkt werden konnte. Die durchschnittliche Operationszeit betrug 20 Minuten, bei der herkömmlichen Methode 28 Minuten.6 Auch das ist ein Hinweis darauf, dass der Kaiserschnitt immer sicherer wird. Bei HIV-positiven Müttern steht im Vordergrund, das Baby vor der Ansteckung mit dem Virus zu schützen. Inzwischen wird eine weiterentwickelte Technik empfohlen (der hämostatische Kaiserschnitt), durch die das Baby vollkommen sicher, ohne mit dem Blut der Mutter in Kontakt zu geraten, zur Welt kommen kann.

Lässt sich die Sicherheit des Kaiserschnitts messen?