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Inhaltsverzeichnis
Vorwort von Thomas Vollmoeller
Einführung
Teil 1: Warum wir New Work brauchen
Depression, Angst, Burn-out – Psycholeiden auf dem Vormarsch
Kinder, Kino, Karriere – Das Ende der Work-Life-Balance
Der Mensch im Mittelpunkt? – Profitstreben versus Humanismus
Ich Chef, du nix – Steinzeit-Management und seine Folgen
Teil 2: Was New Work bedeutet
Die Vermessung der neuen Arbeit
Von Freiheit und Arbeit – Die Anfänge von New Work
Wer rastet, der rostet – Zur Dialektik von Arbeit und Nicht-Arbeit
Weniger ist mehr – Arbeit und Produktivität
Vom Sinn und Unsinn der Arbeit
Ich arbeite, also bin ich – Zum Begriff »sinnvoller« Arbeit
Werden, wer man ist – Das selbstwirksame Ich
Projekt Ich – Vom Arbeitszwang zur Selbstausbeutung
Arbeit als entgrenzte Erfahrung
No size fits all – Die vielen Gesichter der Entgrenzung
Menschsein reloaded – Entgrenzung als psychologisches Phänomen
Die Quadratur des Kreises – Vom Mitarbeiter zum Arbeitskraftunternehmer
Die organisatorische Revolution
Vom Silo zum Netzwerk – Das systemisch integrierte Unternehmen
Vom Büroregal zum Cloudworking – Zur Psychologie der Digitalisierung
Der König ist tot – Demokratisierung in Organisationen
Teil 3: Wie New Work gelingt
Life-Blending als neue Lebensphilosophie
Glaube, Freunde, Herkunft – Verwurzelung als Lebensgrundlage
Die sinnhafte Aufgabe – Vom Finden der beruflichen Bestimmung
Der Manager meines Lebens – Zur Integration der Lebensbereiche
Kompetenzen für die Arbeitswelt von morgen
Vom Kennen zum Können – Personale Kompetenzmodelle
Vom Ich zum Wir – Zum Begriff systemrelevanter Kompetenzen
Reif für die INSEL – Fünf systemrelevante Kompetenzen
Chancen und Impulse für Organisationen
Play it safe – New Work als harte Nuss für Unternehmen
Sinn, Organisation, Personal – Die Verwaltung des Mangels
Die Ruhe vor dem Sturm – Was Organisationen jetzt tun können
Arbeit als Aufgabe für Politik und Gesellschaft
Das Ende des Kapitalismus? – New Work als Wirtschaftskritik
New-Work-Deal – Der Auftrag der Politik
Die Zukunft der Arbeit – New Work als Chance für die Gesellschaft
Anhang
Literaturhinweise
Anmerkungen
Über den Autor
Social-Media-Links
Impressum

Einführung

Die 50er- und 60er-Jahre waren für Deutschland die Zeit des Wirtschaftswunders, gekennzeichnet von Aufbruchsstimmung und stetig wachsendem Wohlstand. Das Land vibrierte vor Energie und Ideen, man wollte etwas: für sich, seine Familie und sein Unternehmen. Deutschland kam geschichtlich aus der Nacht des Nationalsozialismus, tastete sich durch die Morgendämmerung und freute sich auf den Tag. 1980 fasste die Band Fehlfarben das damalige Lebensgefühl in ihrem Song »Ein Jahr« ironisch zusammen: »Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran.«1

Heute ist die Situation in vielem gleich und doch in vielem anders. Auch heute brechen wir in neue Zeiten auf; die Wegmarkierungen sind gesetzt und werden immer wieder ausgerufen: Digitalisierung, demografischer Wandel, Industrie 4.0, flexible Arbeitszeiten, Generation Y. Verglichen mit den Wirtschaftswunderjahren sind die Herausforderungen also nicht kleiner geworden. Vor 50 Jahren waren wir noch nicht konfrontiert mit einer umfassenden Globalisierung, einer entfesselten Finanzwelt, dem erschreckenden Klimawandel oder einer schnell alternden Gesellschaft. Genau wie unsere Eltern und Großeltern täten wir gut daran, uns heute optimistisch und mit Tatkraft auf die Bewältigung dieser Aufgaben zu konzentrieren.

Doch etwas ist anders. Gut, die Herausforderungen sind vielfältiger geworden, das Spielfeld schwerer zu überschauen, das Wort »Krise« beschreibt schon fast einen Dauerzustand. Doch das ist nicht der entscheidende Punkt. Der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog sprach schon 1997 in seiner berühmten Berliner Rede von einem »Ruck«, der durch Deutschland gehen müsse. Mit fast prophetischer Eindringlichkeit bekniete er die Deutschen, die Probleme der Moderne im 21. Jahrhundert tat- und willenskräftig anzugehen: »Der Verlust wirtschaftlicher Dynamik, die Erstarrung der Gesellschaft, eine unglaubliche mentale Depression – das sind die Stichworte der Krise. Sie bilden einen allgegenwärtigen Dreiklang […]. Es ist ja nicht so, als ob wir nicht wüssten, dass wir Wirtschaft und Gesellschaft dringend modernisieren müssen. Trotzdem geht es nur mit quälender Langsamkeit voran. Uns fehlt der Schwung zur Erneuerung, die Bereitschaft, Risiken einzugehen, eingefahrene Wege zu verlassen, Neues zu wagen. Ich behaupte: Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. […] Ich meine, wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag zugunsten der Zukunft. Alle, wirklich alle Besitzstände müssen auf den Prüfstand. Alle müssen sich bewegen. Wer nur etwas vom anderen fordert – je nach Standort von den Arbeitgebern, den Gewerkschaften, dem Staat, den Parteien, der Regierung, der Opposition –, der bewegt gar nichts. Zuerst müssen wir uns darüber klar werden, in welcher Gesellschaft wir im 21. Jahrhundert leben wollen. Wir brauchen wieder eine Vision. Visionen sind nichts anderes als Strategien des Handelns. Das ist es, was sie von Utopien unterscheidet.«2

Doch von Visionen, einer Kultur des Aufbruchs, einer neugierigen Spannung und einer heiteren Wagnisbereitschaft ist auch 20 Jahre nach Herzogs Rede wenig zu spüren. Ein passiv gestimmtes »Weiter so« in wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und politischer Hinsicht ist die Strategie der Wahl. Die berüchtigte »Alternativlosigkeit« merkelscher Entscheidungen wurde hierfür zum geflügelten Wort. Das hat sich bereits auf die nächste Generation übertragen. So fand die Beratungsfirma EY 2014 in einer Befragung unter 4300 Studienabgängern heraus: 32 Prozent wollen ausdrücklich einen Job in der Verwaltung, nur knapp die Hälfte spricht sich klar für eine Karriere in der Privatwirtschaft aus. Jobsicherheit war mit 61 Prozent der wichtigste Faktor bei der Stellensuche – im Gegensatz zur Möglichkeit der selbstständigen Arbeit, die nur für 31 Prozent die entscheidende Rolle spielte.3 Interessant wäre noch die Frage gewesen, wie viele Studenten ein eigenes Unternehmen gründen wollen.

Die Einstellung dieser jungen Menschen, die künftig unser Land führen und voranbringen sollen, die wichtige Entscheidungen auch für andere im Arbeitsleben treffen werden und deren Mentalität wiederum ihre Kinder prägen wird, scheint mir symptomatisch für die allgemeine Stimmung hierzulande: Risikobereitschaft wie auch (wirtschaftliche) Selbstbestimmung scheinen out zu sein. Wir leben in einem Klima der Fremdbestimmung und lassen als politische Bürger, als arbeitende Menschen oder auch als Privatpersonen immer mehr Dinge für uns bestimmen: vom Mindestlohn über die Frauenquote bis zum kurzlebigen »Paternoster-Gesetz«. Wenn dagegen elementare Bürgerrechte ausgehöhlt werden, wenn beispielsweise der amerikanische Geheimdienst ganze Politikerflure in Brüssel oder Berlin ausspäht, bleiben wir seltsam dumpf und unbeteiligt. Es ist, als ob wir nicht nur nicht erkennen könnten, was wichtig ist, sondern als wäre uns das Wichtige egal.

Was hat dieser Befund nun mit einem Schlagwort wie »New Work« zu tun, mit der Art und Weise, wie wir arbeiten, damit, wer die Spielregeln bestimmt, welche beruflichen Chancen wir haben, wie motivierend Arbeit sein kann? Arbeit ist ein wesentlicher, wenn nicht der wichtigste Teil im Leben eines Menschen. Daher prägen die Umstände unseres Arbeitslebens unser Denken auch in anderen Lebensbereichen. Wer ständig restrukturiert oder entlassen (Personaler-Deutsch: »freigesetzt«) wird, dem geht irgendwann das Selbstbewusstsein flöten. Er erlebt, dass er nicht mehr gebraucht wird. Wer in ständiger Angst um seinen Arbeitsplatz lebt – und das trifft Putzfrauen genauso wie Doktoranden an der Universität –, wird unsicher und erpressbar. Alles wird zweitrangig, Hauptsache, der (schlecht bezahlte) Arbeitsplatz bleibt erhalten. Wer in seiner Abteilung auf Dauer zwei Jobs machen muss statt nur seines eigenen (weil der Kollege wegrationalisiert worden ist), wird irgendwann seelisch und körperlich krank.

Natürlich gibt es auch die Menschen, die fröhlich ihrer Arbeit nachgehen, die morgens gern ins Unternehmen kommen, die gut bezahlt werden oder deren negativer Stress sich in Grenzen hält. Solche Einzelbeispiele können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass unser altes Arbeitssystem an seine Grenzen gekommen ist. Damit beschäftigt sich Teil 1 des Buches. Immer mehr arbeitende Menschen werden psychisch krank, sind dauerhaft gestresst und gehetzt. Mittlerweile haben Psychotherapeuten mehrmonatige Wartelisten. Das System der abhängigen Lohnarbeit inklusive aller Instrumente der Arbeits- und Tarifpolitik hat nicht dafür gesorgt, dass sich Einkommen angleichen. Im Gegenteil geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auf. Die permanent beschworene Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist in unserer heutigen Arbeitswelt oft nicht umsetzbar. Die individuellen Wünsche prallen an der gelebten Realität der Unternehmen ab. Die bisherige Organisation von Arbeit ist für den Einsatz digitaler Technologien und Produktionsmethoden ungeeignet. Das gilt auch für Managementtheorien, die auf einem veralteten Menschenbild beruhen.

Das System der »alten Arbeit«, das gekennzeichnet ist von vorhersehbaren Karrierepfaden, (unbefristeten) Vollzeitstellen, dem alten Verteilungsmodell »Er Karriere, sie Kinder«, einer geringeren Arbeitsdichte und einer überschaubaren Kommunikation, hatte seine Wurzeln im Aufbruchsdeutschland der 50er- und 60er-Jahre, mit allen Vor- und Nachteilen. Typisch war das »Normalarbeitsverhältnis« als Dreh- und Angelpunkt unseres wirtschaftlichen Alltags, aber die »allgemeine Fixierung auf das Normalarbeitsverhältnis war eine Notlösung des 20. Jahrhunderts. Es ging halt offenbar nicht anders, die meisten haben das irgendwie eingesehen und so getan, als käme das nächtliche Zähneknirschen von irgendetwas anderem als ihrem Job. Aber das Normalarbeitsverhältnis war nur ein Waffenstillstand, bei dem Existenzangstminderung und Karriereversprechen eingetauscht wurden für acht Stunden Lebenszeit am Tag.«4 Und dieses Modell hat Deutschland bis zur Perfektion verinnerlicht. Mit beeindruckenden Ergebnissen: Von 2003 bis 2008 war Deutschland Exportweltmeister.5 Allein der Siemens-Konzern hat 2013 rund 4000 Patente angemeldet – das sind 18 pro Arbeitstag.6 Warum also meckern? Uns geht es doch gut.

Der Himmel mag blau sein, doch die Zeichen eines Sturms mehren sich. »Der Blick auf unseren Anteil an den weltweiten Exporten bescheinigt leider, dass wir an Boden verlieren«, so Anton Börner, Präsident des Verbandes Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen e.V. »Nüchtern müssen wir festhalten, dass die Politik in den vergangenen guten Jahren trotz zahlreicher Mahnungen nicht für unvorhersehbare, doch garantiert kommende, schwierigere Zeiten vorgesorgt hat. Das fällt uns nun auf die Füße.«7 Noch einmal Roman Herzog: »Innovationsfähigkeit fängt im Kopf an, bei unserer Einstellung zu neuen Techniken, zu neuen Arbeits- und Ausbildungsformen, bei unserer Haltung zur Veränderung schlechthin. Ich meine sogar: Die mentale und die intellektuelle Verfassung des Standorts Deutschland ist heute schon wichtiger als der Rang des Finanzstandorts oder die Höhe der Lohnnebenkosten. Die Fähigkeit zur Innovation entscheidet über unser Schicksal. 20 Jahre haben wir gebraucht, um den Ladenschluss zu reformieren. Die zentralen Herausforderungen unserer Zeit werden wir mit diesem Tempo ganz gewiss nicht bewältigen.«8

Die Politik reagiert auf diese zentralen Herausforderungen langsam und auf ihre Weise. Sie entwirft ein Grünbuch Arbeiten 4.0 als Startpunkt einer gesellschaftlichen Debatte, das schließlich in ein Weißbuch Arbeiten 4.0 münden soll.9 Dieses Projekt zeigt das Problem wie unter einem Brennglas: Die Gesellschaft diskutiert ihre Zukunft nicht mehr von sich aus. Es braucht eine staatliche Initiative, um Deutschland mit seiner Zukunft zu konfrontieren. Als ob man Innovationskraft und Lust auf Neues politisch verordnen könnte. Und andererseits: Was für ein Armutszeugnis für unsere intellektuelle Neugier und unsere Lust an der Debatte! Wenn man nicht gerade auf Branchenmessen des Personalwesens geht oder einschlägige Fachbücher und Blogs liest, bekommt man wenig mit von dem fundamentalen Wandel der Arbeitswelt, der uns bevorsteht: ökonomisch, sozial, kulturell. Indem Arbeit als wesenhaft Definierendes auf unser ganzes Menschsein durchgreift, können und dürfen wir die Debatte um unsere zukünftige neue Arbeitswelt und Arbeitskultur weder ignorieren noch staatlich bestellten Beamten überlassen. Wir selbst sollten die Dinge prüfen und entscheidende Fragen stellen: Welche Rolle spielt Arbeit in unserem eigenen Leben? Was am Konzept der »Neuen Arbeit« ist sinnvoll? Und wie wollen wir es individuell, wirtschaftlich und gesellschaftlich umsetzen? All diese Fragen greift New Work auf, bietet neue Perspektiven für die Zukunft der Arbeit und präsentiert Ideen und Impulse – auf individueller, organisatorischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene. New Work als Leitgedanke, als »Vision« im herzogschen Sinne ist daher zu verstehen als eine »vertikal integrierte Strategie«: Diese strukturiert und interpretiert die Arbeitswelt von unten nach oben, von klein nach groß, vom einzelnen Menschen über die Organisation bis hin zu einem gesellschaftlichen Entwurf. Ob New Work zu einer echten Vision wird, zu einer kraftvollen Handlungsstrategie oder ob es als Utopie verkümmert und in einem verstaubten Bücherregal langsam stirbt – das entscheiden wir alle. Mit unserem Mut, unserer Neugier und unserer Zuversicht. Um New Work als Vision zu hinterfragen und tatsächliche Strategien abzuleiten, beschäftigen wir uns in Teil 2 des Buches mit wichtigen Dimensionen von New Work.

Zunächst geht es um die Definition: Worauf bezieht sich New Work eigentlich? Welche Art von Arbeit soll denn »neu« werden? Reden wir hier nur von der bezahlten Arbeit oder müssen wir den Arbeitsbegriff insgesamt neu definieren? Davon hängt vieles ab. Wir machen es uns zu einfach, wenn wir sagen: In dem Moment, in dem man ausstempelt, gilt New Work nicht mehr. Denn mit New Work ist es wie mit echtem Zeitmanagement: Entweder man praktiziert es über alle Lebensbereiche hinweg (und nicht nur im Berufsleben) oder man lässt es.

Auch die viel diskutierte Sinnsuche in der Arbeit sollten wir kritisch betrachten. Ist dieser Trend tatsächlich angemessen oder überfrachten wir damit das Wesen der Arbeit, stellen es in den quasireligiösen Kontext einer »Berufung«, der wir folgen sollten, um glücklich zu werden? Hierzu kann man den parallelen Trend zur Spiritualisierung und Esoterik in der Gesellschaft sicherlich hinzurechnen und dementsprechend beleuchten.

Natürlich geht es auch um die Erfahrung der zeitlichen, örtlichen und technischen Entgrenzung in der Arbeitswelt. Der arbeitende Mensch organisiert nicht mehr seinen Job, sondern sein Job organisiert ihn und gibt Tempo und Volumen vor. Dieser Aspekt von New Work wird in der Regel am prominentesten behandelt und bestimmt dessen Darstellung in der Presse, unter Tarifpartnern oder in der Politik. Dennoch ist er eben nur ein Teil von New Work, und vielleicht nicht einmal der wichtigste.

Schließlich fragen wir: Wie wirkt sich New Work auf die Organisation aus, auf die Zusammenarbeit der Menschen? Was macht New Work mit der Führung, mit Abläufen und Prozessen? Wie passt der Mensch in diese neuen Organisationen? Auch hierzu gibt es aktuelle Stichworte wie »Demokratisierung der Arbeitswelt«, »virtuelle Führung« oder »flache Hierarchien«.

Erst mit einer solchen Bestandsaufnahme können wir die Tauglichkeit und Bedeutung von New Work richtig einordnen – zumal sich New Work im Lauf der Jahre verändert hat. Heute sehen wir uns gewaltigen Kräften gegenüber, etwa der Globalisierung, allgegenwärtiger Kommunikation, umfassender Digitalisierung und politischen Umbrüchen. Auch darauf will New Work Rücksicht nehmen und nimmt dafür in Kauf, vom Original abzuweichen. Um diese »zweite Generation« New Work, um aktuelle Strömungen und Initiativen geht es in Teil 3 des Buches. Im Zuge der vielen Umwälzungen, die uns in Wirtschaft und Arbeit begegnen, ergeben sich Dimensionen des New Work, die man nicht mehr mit dem Originalkonzept erfassen kann und die wir entsprechend neu kartografieren müssen.

In der psychologischen Dimension ist dies eine neue Qualität der (tatsächlichen oder behaupteten) Selbstverwirklichung des Menschen in der Arbeit, auch als »Subjektivierung« bezeichnet.

In der sozialen Dimension sind dies neue Formen der Zusammenarbeit, etwa verstärkte Teamarbeit, Demokratisierung von Entscheidungsprozessen oder neue Führungsansätze.

In der technologischen Dimension ist dies ein neues, noch nie dagewesenes Ausmaß an Digitalisierung von Arbeitsprozessen sowohl im Produktions- als auch im Dienstleistungssektor.

In der organisatorischen Dimension sind dies neue Formen der strukturellen Gestaltung: Wegfall von Hierarchien, teilautonome Teams, virtuelle Führung etc.

In der politischen Dimension sind dies neue Bewertungen der Bedeutung menschlicher Arbeit: Arbeitsschutz, Gesundheit, Lohnentwicklung, soziale Gerechtigkeit.

Insgesamt erleben wir einen Innovationsschub in allen fünf Dimensionen. Noch nie gab es so viele Ideen, Diskussionen und Projekte zur Bewertung und Weiterentwicklung der menschlichen Arbeit wie heute. Das ist grundsätzlich gut so. Wir brauchen diese denkerischen, technologischen und organisatorischen Experimente und die damit gemachten Erfahrungen, um uns in der sich stetig wandelnden Welt zu orientieren. Andererseits geraten in diesen Diskussionen der Ursprungsgedanke des New Work und die originalen Anliegen manchmal aus dem Blick. Umso wichtiger ist auch hier eine sorgfältige Analyse und, daran anknüpfend, eine Auflistung konkreter Impulse für Menschen, Organisationen und die Gesellschaft, wie man heute New Work gestalten und leben kann.

Menschen gehen in der Regel nur zum Arzt, wenn sie krank sind. Trainer wechseln Stammspieler nur aus, wenn es unbedingt nötig ist. Und ein Unternehmen ändert seine Produktpalette in der Regel nur, wenn das bisherige Angebot beim Kunden nicht mehr zieht. So ist das mit der Veränderung: Sie kostet Kraft und wird daher meist angegangen, wenn es wirklich notwendig ist – und nicht aus Jux und Dollerei. Was im Kleinen für den Patienten gilt, für den Fußballtrainer und das Unternehmen, gilt im Großen für die Arbeitswelt und das kapitalistische Wirtschaftssystem. Auch hier müssen wir uns großen Veränderungen und ihren Folgen stellen: dem Vormarsch arbeitsbedingter psychischer Krankheiten, dem Verlust der Work-Life-Balance, der Neupositionierung des Menschen als echtes Subjekt der Wirtschaftswelt sowie dem Ende überkommener Managementmethoden und Menschenbilder.

Diese vier großen Veränderungen, die sich in einem globalen Maßstab abspielen, zwingen uns, das Wesen der Arbeit in der Gesellschaft, unsere Haltung zu ihr und die entsprechende Gestaltung in Organisationen und der Gesellschaft zu überprüfen. Es ist an der Zeit, Arbeit neu zu denken. Es ist an der Zeit für New Work. Die New-Work-Bewegung stellt die großen Fragen:

Was ist menschenwürdige Arbeit?

Was ist sinnvolle Arbeit?

Wie kann man seine arbeitsrelevanten Fähigkeiten optimal entwickeln?

Wie müssen moderne Organisationen aufgestellt sein?

Wie sieht eine gerechte, effektive, maßvoll kapitalistische Arbeitsgesellschaft aus?

Und wie kommen wir dahin?

New Work geht über isolierte Maßnahmen hinaus, es will den Menschen in der Arbeit neu denken. Es geht nicht nur um gesundes Essen in der Kantine oder eine Führungskräftewahl. Es geht auch nicht um »agiles«, das heißt flexibles Projektmanagement oder um das Planieren von Hierarchien. Es geht ums Ganze.

Das Revolutionäre an New Work ist, dass es die wichtigen Fragen stellt. Das Nützliche an New Work ist, dass es sich den Hauptproblemen der heutigen Arbeitswelt widmet. Und das Schöne an New Work ist, dass es eine Zukunftsvision bietet für eine echte »Menschwerdung der Arbeit«. Lohnt es dafür nicht, Veränderung zu riskieren und Kraft zu investieren? Lohnt es dafür nicht, nachzudenken über eine Zukunft, die Arbeit qualitativ verbessert, die für mehr Menschen Arbeit sinnvoll macht, die Alternativen aufzeigt zu den Extremformen des Kapitalismus? Die Hoffnung gibt, Würde und eine Stärkung der Solidargemeinschaft?

Wer New Work für den Tummelplatz von Romantikern, Philosophen und Theoretikern hält, verkennt überdies dessen wirtschaftliche und soziale Sprengkraft. New Work mag noch im Stadium der Erprobung stecken, doch es wird seinen Weg machen, weg vom Nice to have hin zur Hauptoption für erfolgreiche Unternehmen und sozial-marktwirtschaftliche Gesellschaften. Mindestens jedoch bekämpft es einige Symptome unseres fehlerhaften Arbeitssystems an der Wurzel: den Vormarsch arbeitsbedingter psychischer Krankheiten, den Verlust der Work-Life-Balance, das wirtschaftliche Selbstverständnis vom Menschen als reinem Produktionsfaktor und den schädlichen Einfluss überkommener und fehlerhafter Managementmethoden.

New Work ist eine Idee, die 30 Jahre nach ihrer Entstehung noch auf den Durchbruch wartet. Man kennt das aus der Wirtschaft: Manche Produkte und Dienstleistungen sind zur Zeit ihrer Erfindung so innovativ, dass die Menschen sie nicht verstehen und sie nicht am Markt andocken können. Doch das Verständnis für die Idee des New Work wächst, das Murmeln der Unzufriedenen wird lauter, die Wirtschaft sucht nach Wegen der Fachkräftesicherung und selbst die Politik startet Projekte zum New Work. Daher gilt in diesem Fall der von Victor Hugo inspirierte Satz: »Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.«10 Die Idee ist da. Gestalten wir die Zeit.

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Teil 1
Warum wir New Work brauchen

Arbeitszeit ist Lebenszeit – Wertewandel in der Arbeitswelt
Ein Vorwort von Thomas Vollmoeller

Die Arbeitswelt erlebt derzeit einen Paradigmenwechsel, wie es ihn seit der industriellen Revolution nicht gegeben hat. Erfolgte seinerzeit der Übergang von der Agrar- in die Industriegesellschaft während vieler Jahrzehnte, geschieht der heutige Wandel deutlich schneller. So verändert der heutige zentrale Treiber des Wandels, die Digitalisierung, unsere Arbeitsrealität in einer Radikalität, dass vielen Beobachtern mitunter schwindelig wird. Vormals grundsolide Unternehmen müssen aufgeben, andere, die erst seit wenigen Jahren existieren, sind Weltmarktführer. Traditionelle Tätigkeiten verschwinden, neue Jobs entstehen. In praktisch allen Branchen muss der einzelne Mitarbeiter Schritt halten und sich in früher ungeahnter Weise fortbilden und neuen Techniken anpassen.

Dieser Wandel bietet Herausforderungen und Risiken genauso wie Chancen und neue Möglichkeiten. Ein banaler Satz – aber er zeigt, dass jeder Einzelne von uns genauso wenig nur Spielball großer tektonischer Verschiebungen ist, wie wir es als Gesellschaft sind. Ich bin davon überzeugt: Wir haben die Möglichkeit, die Arbeitswelt zu einer besseren zu machen. Wir müssen es nur richtig anstellen. Was mich ermutigt, sind einige Entwicklungen der vergangenen Jahre. So erleben wir nicht nur einen Paradigmenwechsel, sondern gerade bei dem immer größer werdenden Heer der Wissensarbeiter eine Veränderung ihrer Werte. Standen früher klassische Insignien des Erfolgs im Mittelpunkt des Strebens junger Talente, etwa ein hohes Gehalt, ein eindrucksvoller Titel, ein großes Büro und ein schnittiger Dienstwagen, so sind es heute eher Dinge wie Sinnstiftung, Arbeitsatmosphäre, Flexibilität und Selbstverwirklichung, die als erstrebenswert gelten, wie eine Vielzahl von Studien belegt. Das Sabbatical ist gewissermaßen der neue Dienstwagen geworden.

Die gute Nachricht: Der gerade im deutschsprachigen Raum in vielen Branchen grassierende Fachkräftemangel führt dazu, dass diese Anforderungen auch immer leichter durchsetzbar werden. Die Machtverhältnisse haben sich gerade bei den Unternehmen zugunsten der Talente verschoben, die im internationalen Innovationswettbewerb stehen. Dort bewerben sich vielfach die Firmen bei den Talenten und nicht umgekehrt. Wer innovative Köpfe will, muss innovative Arbeitsbedingungen bieten. Arbeitsbedingungen ohne starre Hierarchien, mit weitgehender Autonomie der Mitarbeiter, hoher Flexibilität, was Arbeitszeit und -orte betrifft, um nur ein paar Aspekte zu nennen.

Ich glaube, das ist gut so. Und ich glaube auch, dass diese Entwicklung nicht nur den Menschen, sondern auch den Unternehmen guttut. Denn Ideen, Einfälle und Geistesblitze der Mitarbeiter lassen sich nur erschließen, wenn es eine entsprechende Kultur gibt. Innovationen kann man schließlich nicht befehlen. Kreative Köpfe brauchen Freiräume, müssen Ideen äußern und selbstständig weiterentwickeln können. Müssen die Möglichkeit haben, Auszeiten zu nehmen, sei es zur Regeneration oder um sich ihrem Privatleben zu widmen. Kurz: Soziale und technische Innovationen bedingen einander.

Doch warum gibt es nach wie vor viele Menschen, die nichts spüren von diesen wünschenswerten Arbeitsbedingungen? Ich glaube, dass viele Unternehmen in Deutschland die Zeichen der Zeit noch nicht erkannt haben. Ich glaube auch, dass es kein Zufall ist, wenn deutsche Unternehmen in Rankings der Innovationsfähigkeit viel schlechter abschneiden, als es unserem Selbstverständnis entspricht.

Mein Appell an alle Unternehmer und Personalverantwortlichen: Begeben Sie sich auf die Reise. Trauen Sie sich, Neues auszuprobieren. Es gibt dabei kein absolutes Richtig oder Falsch, denn jedes Unternehmen muss seinen eigenen Weg finden, sein eigenes Modell entwickeln, das für sich, die Branche und seine Mitarbeiter funktioniert. Warum nicht mit der Vier-Tage-Woche experimentieren? Mit Homeoffice für alle? Warum nicht den Abteilungschef wählen lassen? Vertrauensarbeitszeit einführen, nach dem Motto »Erreichbarkeit ist die neue Anwesenheit«? Im Zuge des New Work Awards, den wir jedes Jahr an Unternehmen vergeben, die innovativ und zukunftsweisend arbeiten, sehen wir unterschiedlichste Konzepte und Ansätze, wie es anders geht – und besser als in der Vergangenheit. Und zwar nicht nur in Start-ups, sondern zunehmend auch in mittelständischen Betrieben und sogar Großkonzernen, die sich trauen, neu zu denken. Die Buntheit, Unterschiedlichkeit und Diversität lieber sehen wollen als stromlinienförmige Lebensläufe, die eben auch nur zu stromlinienförmigen Ergebnissen führen. Das macht mich optimistisch. Als führendes Businessnetzwerk im deutschsprachigen Raum engagieren wir uns intensiv dafür, Best Practices aufzuzeigen, Denkanstöße zu geben und den Diskurs zum Thema New Work voranzutreiben – damit die Arbeitswelt für alle ein bisschen besser wird. Denn schließlich ist Arbeitszeit auch Lebenszeit. Zu diesem wichtigen Diskurs liefert das Buch von Markus Väth einen wertvollen Beitrag. Bleibt mir, Ihnen viel Spaß beim Lesen zu wünschen!

Dr. Thomas Vollmoeller
Vorstandsvorsitzender, CEO XING AG

Depression, Angst, Burn-out – Psycholeiden auf dem Vormarsch

Für die allermeisten Menschen ist Arbeit etwas Selbstverständliches. Sie stehen auf, gehen zur Arbeit, kommen irgendwann wieder nach Hause, erzählen vielleicht ihrem Partner von ihrem Tag, bringen die Kinder ins Bett und suchen sich eine sinnvolle Abendbeschäftigung. Sogar für Menschen ohne Arbeit ist Arbeit etwas Selbstverständliches – als etwas, was zum Leben dazugehört, was sie jedoch nicht haben. Genau wie ein Leben ohne Atmung oder ohne Steuern können sich viele Menschen ein Leben ohne Arbeit nicht vorstellen. Von daher hat das Vorhandensein von Arbeit, aber auch ihre Gestaltung oder ihr Wesen eine enorme Wirkung auf unser Leben, unser Selbstbild, unseren Wohlstand und auch auf unsere Gesundheit. Im Allgemeinen wird unterstellt: Hat man Arbeit, fühlt man sich gebraucht, verdient genug Geld zum Leben, ist sozial integriert und hebt damit auf breiter Front sein Wohlbefinden.

Aber kann Arbeit auch krank machen? Immerhin ist Gesundheit ein sogenanntes »multifaktorielles« Geschehen. Ob jemand gesund ist oder krank, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab, unter anderem von Lebensgewohnheiten, Alter, Ernährung und genetischer Veranlagung. Außerdem zeigen uns Forschungen der Positiven Psychologie und die moderne Motivationsforschung, dass Arbeit einen gesundheitsförderlichen, manchmal geradezu lebensverlängernden Effekt haben kann. Der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi hat das in seinem Konzept des Flows festgehalten. »Im Flow vergisst der Ausführende teilweise die Zeit und erlebt quasi eine ›zeitlose‹, erfüllende Qualität in seiner Tätigkeit. Das Flow-Konzept wurde ursprünglich für Extrem- und Risikosportarten entwickelt und erst später auf die Alltagsarbeit übertragen. ›Im Flow zu sein‹ bedeutet, spielerisch in einer Tätigkeit aufzugehen, in der idealen Balance zwischen Über- und Unterforderung. […] Der Flow ist der Zenit, der Olymp der Arbeitseffizienz und in diesem Sinne nicht nur ein theoretisches Liebhaberstück für Weltverbesserer, sondern ebenso eine handfeste Größe für Personaler und Führungskräfte.«11

Das Flow-Konzept definiert Bedingungen, unter denen Menschen Freude an ihrer Arbeit und Produktivität entwickeln. Unter anderem sind dies das Gefühl der Kontrolle über unsere Arbeit, die Fähigkeit, uns auf unsere Arbeit zu konzentrieren, deutliche Ziele der Aufgabe und ein unmittelbares Feedback zu unseren Erfolgen und Misserfolgen. Und genau diese Faktoren des Gelingens, der Freude am eigenen Tun, eben des Flows, sind in unserer heutigen Arbeitswelt massiv in Gefahr.

Ein entscheidender Faktor hierfür liegt in dem Anteil an Arbeitsaufkommen und Prozessen, den wir nicht kontrollieren können – und dieser Anteil steigt stetig. Ob man raucht oder nicht, ist eine persönliche Angelegenheit. Ob man Sport treibt oder nicht, ebenso. Aber gilt das auch für den Aufgabenbereich, für Arbeitsziele, für die Erreichbarkeit via Telefon und E-Mail, für die Einteilung von Arbeitsschichten? Hier sind Zweifel angebracht. Über einige Faktoren des Arbeitsalltags hat man schlicht keine Kontrolle. Manchmal ist dies für das eigene Wohlbefinden oder die Gesundheit egal, manchmal aber eben auch nicht. Und wenn Glück, Produktivität und Flow die positive Seite der Arbeitsmedaille darstellen, haben wir es gleichzeitig mit Stress, ungünstigen Arbeitsbedingungen und Perspektivlosigkeit zu tun – der anderen Seite der Medaille. Diese Medaille hängt uns umso schwerer um den Hals, je mehr Zeit unsere Arbeit in Anspruch nimmt. Als Faustregel gilt immer noch: Wir verbringen mehr Zeit auf der Arbeit als mit unserem Partner. Und jetzt stelle man sich einmal vor, wie einen der Partner jahrelang beeinflusst, einen prägt, aufregt, aber auch beglückt. Und den Schreibtisch sieht man noch öfter als den eigenen Partner! Daher kann man ruhigen Gewissens die These aufstellen, dass Arbeit unsere geistige und körperliche Gesundheit wesentlich beeinflusst.

Dies hat der Gesetzgeber mittlerweile ebenfalls erkannt, wobei er mitunter schon übers Ziel hinausgeschossen ist, so etwa mit dem unsinnigen »Anti-Stress-Gesetz«12. Positiv ist jedenfalls, dass auch politisch die Gesundheit der arbeitenden Menschen immer stärker in den Vordergrund rückt. Als eine der wichtigsten Maßnahmen dürfte hier die Erweiterung des § 5 Arbeitsschutzgesetz gelten: Unternehmen müssen nicht nur »physikalische, chemische und biologische Einwirkungen« am Arbeitsplatz analysieren, sondern auch »psychische Belastungen bei der Arbeit«.13 Denn wenn man vom Zusammenhang zwischen Arbeit und Krankheit spricht, ist ein Trend der postmodernen Lebens- und Arbeitswelt offensichtlich: Das Gehirn wird immer mehr zum zentralen Leidensorgan. Neben der Unkontrollierbarkeit der Arbeitsbedingungen ist dies der zweite Hauptgrund für die Zunahme arbeitsbedingter Krankheiten.

Betrachtet man die Entwicklung der Arbeitsanforderungen über die letzten Jahrzehnte, lässt sich die grobe Formel aufstellen: Es geht immer weniger um Körperkraft und immer mehr um Geisteskraft. Dementsprechend gibt es immer mehr Arbeitsplätze für brain worker (»Kopfarbeiter«). Das Fraunhofer-Institut hat 2013 sogar einen speziellen »Kopfarbeiter-Index« (KAI) geschaffen, um Fähigkeiten, Ressourcen und Belastungen speziell von Kopfarbeitern zu untersuchen.14 In dieselbe Richtung geht der zunehmend lautere Ruf der Wirtschaft nach akademisierten Ausbildungsmodellen. Handwerk ist out, der maßgefertigte Bachelor ist in. Mit 522.200 geschlossenen Ausbildungsverträgen wurde im Jahr 2014 folgerichtig ein neuer Tiefstand seit der Wiedervereinigung gemessen.15

Eine Studie der ING-DiBa berechnet für Deutschland, dass »Bürokräfte und verwandte Berufe« mittelfristig mit einer Wahrscheinlichkeit von 89 Prozent durch Roboter bzw. automatisierte Prozesse ersetzt werden, »Anlagen- und Maschinenbediener, Montageberufe« immerhin noch mit einer satten Wahrscheinlichkeit von 69 Prozent.16 Egal, ob diese hohen Zahlen tatsächlich erreicht werden: Die Stoßrichtung ist klar. Was automatisiert werden kann, wird automatisiert. Nicht automatisiert werden können bislang »unkopierbare« menschliche Fähigkeiten, etwa Kreativität, Wärme und Mitgefühl, Improvisationsgeschick, zum Teil auch komplizierte handwerkliche Tätigkeiten. Weil sich solche menschlichen Fähigkeiten auf absehbare Zeit eben nicht künstlich erzeugen und damit durch Digitalisierung und Automation ersetzen lassen, haben Akademiker und Führungskräfte, eben Kopfarbeiter, laut der ING-DiBa-Studie auch nur eine »Ersetzungswahrscheinlichkeit« von zwölf Prozent. Dafür sind diese Berufsgruppen besonderen mentalen Belastungen ausgesetzt – ein reichhaltiges Tätigkeitsfeld für medizinische Anbieter wie Neurologen, Psychiater und Pharmavertreter.

Eine Überlastung des menschlichen Gehirns und damit ein permanenter neuropsychologischer Ausnahmezustand sind für viele arbeitende Menschen heute Alltag. Arbeitsverdichtung, ständige Erreichbarkeit und Hyperkommunikation fordern vom Einzelnen darüber hinaus ein hohes Maß an Selbststeuerung und geistiger Disziplin. Führungskräfte finden es bequem oder schick, ihren Mitarbeitern möglichst wenig Vorgaben zu machen, allein ein Arbeitsergebnis zu vereinbaren und dann auf dessen Präsentation zu warten. Das verkauft man als Freiheit und Selbstbestimmung, als das Ende von manipulativer, kleinteiliger Kontrolle. Diese als »Kontrolle durch Autonomie« bekannte Mogelpackung setzt lediglich Rahmenbedingungen des Arbeitsprozesses und lässt den Mitarbeiter allein. Psychologisch gesehen, brauchen diese ungeführten Mitarbeiter ein hohes Maß an Selbstorganisation, Überblick, Widerstandsfähigkeit gegen Stress und eine hohe Toleranz gegenüber Unsicherheit.

Das bringt nicht jeder mit. Schlimmer noch: Ebendiese Fähigkeiten verlieren wir immer mehr. Beispiel Konzentration: Einer Auswertung der App »Menthal« zufolge »nutzen Menschen ihr Smartphone drei Stunden täglich und nehmen es im Schnitt alle 15 Minuten zur Hand, mal für ein paar Sekunden, meistens länger. Viel Zeit und Aufmerksamkeit für das Leben jenseits des Maschinchens bleibt da nicht mehr.«17 Amerikanische Untersuchungen bringen Ähnliches an den Tag: Wir werden immer impulsiver, ablenkbarer, ignorieren teilweise anwesende Menschen zugunsten virtueller Chats und Likes. Neue Technologien haben in 20 Jahren die anspruchsvollsten Funktionen unserer Großhirnrinde erheblich beeinträchtigt: Impulskontrolle, Konzentration, Planung.18 Neuropsychologische Forschungen zeigen, dass unser Geist für die Anforderungen der postmodernen Arbeitswelt schlecht gerüstet ist. Unser 100.000 Jahre altes Gehirn mit seiner bis heute bewährten Konstruktion muss manchmal vor den Gegebenheiten der Arbeitswelt kapitulieren, die den Wirkprinzipien des menschlichen Denkens und Erlebens zuwiderlaufen. Dabei geht es nicht um Kulturpessimismus, sondern um Evolution. Nicht um Esoterik, sondern um biologische Notwendigkeiten:

Multitasking reduziert die Produktivität und erhöht die Fehlerraten – geschlechterübergreifend.

Chronischer Stress erhöht den Cortisolspiegel im Gehirn, lässt es schrumpfen und beeinträchtigt die höheren Hirnfunktionen wie Kreativität, Planung und Problemlösung.

Ständige Erreichbarkeit versetzt uns in einen permanenten Alarmzustand, selbst wenn wir das nicht bewusst wahrnehmen.

Arbeitsverdichtung und Termindruck lassen keine Zeit für Pausen – die wiederum Voraussetzung sind für hohe Produktivität in den Stoßzeiten.

Kleinteiliges Spezialistentum verwehrt uns den Blick aufs »große Ganze« unserer Aufgabe. Geringere Motivation und subjektive Sinnlosigkeit des eigenen Tuns sind die Folge.

Das sind nur einige Phänomene, die unseren Arbeitsalltag prägen, die aber große Auswirkungen haben auf unser Wohlbefinden und unsere geistige Gesundheit. So schreibt die Bundespsychotherapeutenkammer bereits 2013: »Knapp 14 % aller betrieblichen Fehltage gingen 2012 auf psychische Erkrankungen zurück. Damit hat sich der Anteil von betrieblichen Fehltagen, die durch psychische Erkrankungen bedingt sind, seit 2000 fast verdoppelt. Diese Zunahme läuft der allgemeinen Entwicklung entgegen, dass der Anteil betrieblicher Fehlzeiten aufgrund körperlicher Erkrankungen seit Jahren stetig abnimmt. 2012 waren psychische Erkrankungen die zweithäufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeitstage.«19

Belastungen, Stress und Neuropsychologie hin oder her: Will unser Geist nicht geprüft werden? Menschen lieben doch die Herausforderung, das Problemlösen! Ewige Entspannung wäre doch eine Qual! Genau hier liegt in der Tat auch die Chance von Arbeit als glückspendendem Element des Lebens. Herausforderungen meistern, Probleme lösen, immer weiter gehen – auch das ist Menschsein. Auch das können wir in der Arbeit verwirklichen. Nur darf man einen Aspekt nicht vergessen: den Faktor Zeit.

Man stelle sich einen uralten, klapprigen Opel Kadett vor. Auf der Autobahn kann man damit in der Regel nur 100 km/h fahren (außer es geht bergab), und wenn man einen LKW überholt, hat man sofort jemanden hinter sich, dem es nicht schnell genug geht. Was tun? Man tritt das Gaspedal durch, schickt ein Stoßgebet an den Schutzengel der Gebrauchtwagenfahrer und versucht, so schnell wie möglich wieder einzuscheren. Einmal zu überholen, ist okay. Zweimal bereits ein Wagnis, und ständig auf der linken Spur zu bleiben, würde einer Todessehnsucht wohl ziemlich nahe kommen. Übertragen auf unsere Arbeitsleistung bedeutet das: Die Arbeitswelt zwingt unser Gehirn, nicht nur einmal oder zweimal zu überholen, sondern permanent auf der linken Spur zu bleiben. Und das Tage, Wochen, Monate, Jahre. Kein Gehirn, kein Motor macht so etwas lange mit.

Wenn man bei sich selbst überprüfen will, ob der »mentale Motor« bereits heiß läuft, geht das ganz einfach: Machen Sie Urlaub. Ihr Körper wird Ihnen sehr schnell zeigen, wo Sie stehen. Leisure sickness (»Freizeitkrankheit«) nennt sich dieses Phänomen. Viele Menschen wundern sich, dass sie gerade dann krank werden, wenn der Urlaub beginnt. Nach ihrer Logik müsste die Auszeit den Organismus entlasten. Man sollte nicht müde werden oder krank, sondern im Gegenteil frischer, vitaler, ausgeruhter. Aber so funktioniert unser Organismus nicht. Der Körper merkt bei Urlaubsbeginn: Ich kann loslassen, muss nicht mehr brutal funktionieren. Die Folge: Das Immunsystem fährt herunter, die Anspannung lässt nach, man fühlt sich schwach, bekommt Schnupfen oder Kopfschmerzen. Auch die mentale Unruhe, das Getriebensein legt sich erst nach einer Weile. In der Regel brauchen Menschen vier bis zehn Tage, um geistig in den Urlaubsmodus zu schalten. Doch dann ist der Urlaub meist schon wieder vorbei und die Anspannung fängt von vorne an. In diesem Zyklus aus ständiger Anspannung in der Arbeit und zu kurzer Ruhephase im Urlaub ermüdet und verschleißt unser Gehirn immer mehr. Das Ende vom Lied ist dann manchmal ein handfestes Burn-out, das eine längere Pause buchstäblich erzwingt. Der Organismus wählt das (vorläufige) Ende mit Schrecken statt des Schreckens ohne Ende. Dieser Schrecken ist mittlerweile in vielen Bereichen gut dokumentiert, beispielsweise in der Zahl von Frühverrentungen aufgrund von Depression, in den immer längeren Wartezeiten bei Psychiatern und Psychotherapeuten, im erhöhten Gebrauch von Psychopharmaka oder dem Phänomen des Neurodopings.

In unserem Leben verbringen wir sehr viel Zeit mit Arbeit. Das kann beglückend sein, aber auch belastend. Wenngleich jeder von uns mit Belastungen anders umgeht: Den negativen Einfluss der Arbeitswelt und ihrer Bedingungen insgesamt können wir nicht mehr ignorieren. Die Unkontrollierbarkeit von Arbeitsbedingungen, das Gehirn als zentrales Leidensorgan und Stress durch Arbeitsverdichtung, Termindruck und Hyperkommunikation lassen Dinge wie Glück, Freude an der Arbeit oder gar ein Flow-Erleben sehr schwer aufkommen. Unser Geist kapituliert und reagiert mit Burn-out, körperlichen Krankheiten, Depression, Rückzug oder einer ganz anderen, individuellen »Lösung«. Wären all diese Probleme nur auf die Arbeitswelt beschränkt, könnten wir eine Kompensation aufbauen, zum Beispiel mit einem erfüllten Familienleben. Doch hier deutet sich das zweite Konfliktfeld an. Denn die viel zitierte und viel geforderte Vereinbarkeit von Beruf und Familie lässt sich in unserer Arbeitswelt nur schwer verwirklichen. Man könnte auch sagen: Sie ist eine Lüge.

Kinder, Kino, Karriere – Das Ende der Work-Life-Balance

Stechuhren sind die Scharfrichter der Arbeitsgesellschaft. Jedenfalls waren sie das. Sie urteilten über Arbeit und Freizeit, drinnen und draußen, Werkhalle oder Fußballfeld. Mit einem kalten, klaren Druck protokollierten sie die Anwesenheit eines Arbeitnehmers und damit seine Berechtigung, in den Feierabend zu gehen oder eben nicht. Auch kulturell war der Rhythmus aus Arbeit und Feierabend fest verankert. So sang Sheena Easton im Jahr 1980: »My baby takes the morning train, he works from nine till five and then he takes another home again to find me waitin’ for him.« Der Song »9 to 5« über den festen Bürojob ihres Geliebten wurde ihr größter Hit und zum musikalischen Symbol des industriellen Taktes.20 Bis in die Mitte der 1990er-Jahre hinein dominierte dieser feste Arbeitsrhythmus und bildete mit der Vollzeitstelle und der Tarifbindung den harmonischen Dreiklang sozialer Marktwirtschaft. Doch spätestens mit Beginn der 2000er-Jahre klang der Dreiklang schief, disharmonisch. Das Gefüge von Arbeit und Privatleben lockerte sich, wurde kräftig durcheinandergewirbelt und setzte sich anders wieder zusammen.

Verantwortlich hierfür ist eine einzigartige Kombination mehrerer Faktoren: Globalisierung, Digitalisierung, Subjektivierung und Emanzipation. Ein Faktor allein wäre womöglich schon stark genug, eine Gesellschaft umzuwälzen. Doch diese vier Trends verstärken sich gegenseitig und höhlen – als eine von vielen Folgen – unser Verständnis von Work-Life-Balance aus. Die allgemein akzeptierte Entgrenzung der Arbeitswelt in ihrer zeitlichen, räumlichen und funktionalen Dimension bedeutet im Ergebnis, dass die strikte Trennung von Arbeit und Privatleben Geschichte ist, ein abgeschlossenes Kapitel der Managementliteratur, Abteilung »Relikte des 20. Jahrhunderts«.

Zunächst sorgt die Globalisierung dafür, dass zeitzonenübergreifend gearbeitet wird. Egal, ob Indien oder Hamburg, irgendwer arbeitet immer. Die Arbeitsteiligkeit der Prozesse, das Outsourcing über Länder- und kontinentale Grenzen hinweg und Konzepte wie Lean Production sorgen dafür, dass der Einzelne immer flexibler verfügbar sein muss. War schon die normale Schichtarbeit nicht gerade gesundheitsförderlich, doch immerhin berechenbar, lösen sich die Ruhezeiten mehr und mehr in nichts auf. 22 Uhr in München? Egal, in New York ist es gerade 16 Uhr, das Meeting ist wichtig, also geht da noch was. Globalisierte Prozesse wurden nicht nur ein fester Bestandteil des organisatorischen Alltags, sondern zum Lackmustest für die soziale Einstellung der Unternehmen. Der Mensch bleibt nur noch so lange »im Mittelpunkt«, wie er dem globalisierten, örtlich und zeitlich entgrenzten Produktionsrhythmus ohne Murren folgt. Wer in den globalisierungseuphorischen 1990er-Jahren nicht recht einsah, warum er seinen Nachtschlaf für ein Telefonat mit Hongkong unterbrechen sollte, konnte sich ja etwas anderes suchen. Es standen genug andere vor der Tür, die bereitwillig den Job übernahmen. Anders als heute, wo sich Diskussionen über Fachkräftemangel, über den »Krieg um Talente« oder das Schlagwort der Caring Company bei den Unternehmertagungen die Klinke in die Hand geben. Die Segnungen der Globalisierung – die zweifellos vorhanden sind – haben ihren Preis. Der Wohlstand der Weltgemeinschaft wird zumindest in den Industrieländern mit einem Übergreifen der Arbeit in die Privatsphäre bezahlt, mit Überstunden, Burn-out und schlechtem Gewissen gegenüber der Familie.

Parallel zur enthemmten Globalisierung entfaltete die Digitalisierung in praktisch allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen einen enormen weltweiten Produktivitätsschub und eine Arbeitsverdichtung in noch nie dagewesenem Ausmaß. So müssen in Deutschland bereits 58 Prozent der Arbeitnehmer »verschiedene Aufgaben gleichzeitig betreuen«, 52 Prozent sehen sich einem »starken Leistungs- und Termindruck« ausgesetzt und immerhin 39 Prozent betonen, dass sie »sehr schnell arbeiten müssten«.21 Diese Anforderungen sorgen für schädliches Multitasking, permanenten Stress, für verkürzte Pausen und ein Hinauszögern des Feierabends, allein schon aus sozialem Druck heraus. Das Ergebnis: Die Deutschen leisteten 2014 die meisten Überstunden in Europa, durchschnittlich 2,7 pro Woche. Die tatsächliche Zahl dürfte allerdings höher liegen: »Neben Mehrarbeit erwartet mancher Arbeitgeber von seinen Mitarbeitern auch ständige Erreichbarkeit zumindest per Mail – ein Umstand, der in der […] Statistik nicht berücksichtigt wurde.«22 Man will schließlich nicht als Faulpelz gelten, der noch an seinem Cappuccino nuckelt, während der wichtige Vertrag staubbedeckt auf dem Schreibtisch schlummert.

Was die Verdichtung von Zeit und Arbeit angeht, gingen in den letzten Jahren technische Quantensprünge und sozialer Anpassungsdruck Hand in Hand. Das große Versäumnis der Digitalisierungsoffensive der letzten 20      23Immer online24