Ich heiße Felix Vorndran,

und als ich letzten Sommer neu in meine Klasse kam, haben alle blöde Witze über meinen Nachnamen gemacht. Was da so an Sprüchen kam, kann man sich ja denken. Aber dann hab ich in der Halloweennacht Michalski, unserem Hausmeister, den Schlüssel zum Turm der Schule geklaut und bin um Mitternacht raufgestiegen.

Die aus meiner Klasse glauben, das mit der Turmbesteigung wäre von mir eine Art Mutprobe gewesen, und finden mich cool, denn von denen hätte sich das keiner getraut. Noch nicht mal Mario. Er hat in der Klasse das Sagen und mich hatte er lange Zeit auf dem Kieker. Ich kann nicht behaupten, dass wir beste Freunde geworden sind, aber wir kommen miteinander klar. Immer klargekommen bin ich mit Ella. Sie war auch die Einzige, die sich nie über mich lustig gemacht hat. Sie sitzt neben mir und wir verstehen uns richtig gut. Obwohl ich manchmal echt ausrasten könnte wegen ihrem Obstfimmel. Früher hat sie ständig diese trockenen Asiennudeln geknabbert und sie auf dem ganzen Tisch verstreut, aber dann hat sie irgendwo gelesen, dass das Zeug voll Chemie steckt, und seitdem isst sie in der Schule nur noch Obst. Aber immer nur zur Hälfte. Die Hälfte von einem Apfel, einer Birne, einer Banane. Die andere Hälfte legt sie unter unseren Tisch – und vergisst sie dort. Wer schon mal in eine vergammelte Banane gefasst hat, kann sicher verstehen, dass mir Ellas Nudelmacke sehr viel lieber war.

Inzwischen mag ich meine Schule richtig gern. Obwohl das Kaiser-Wilhelm-Gymnasium nicht schöner geworden ist. Nur noch ein Jahr älter. Über hundert Jahre hat dieser riesige graue Klotz nun auf dem Buckel. Und ich weiß noch genau, wie klein und verloren ich mich fühlte, als ich mit meiner Mutter das erste Mal das Willi betreten hatte. Und wie oft ich mich in dem Labyrinth von Treppen und Gängen verlaufen habe. Aber das ist alles ewig her. Inzwischen verlaufe ich mich nicht mehr, sondern fühle mich wie zu Hause, na ja, fast wie zu Hause.

Bevor die seltsamen Dinge geschehen sind, über die ich hier berichten will, war ich hundertachtundfünfzig Zentimeter groß, und jetzt sind es immerhin zwei Zentimeter mehr, aber zwischendrin waren es eine schreckliche Nacht und einen noch schrecklicheren Tag lang hundertfünfundvierzig Komma drei Zentimeter weniger. Ich war immer der kleinste Junge der Klasse, aber so klein noch nie. Und um ein Haar wäre ich das auch geblieben …

 

Heute ist Freitag, der 23. Mai, und wir haben schulfrei, weil unser Biolehrer geglaubt hatte, er könne fliegen, und sich vom Turm der Schule gestürzt hat, aber ich will nicht vorgreifen, sondern alles von Anfang an erzählen.

Ich hätte nie gedacht, dass ich meine Aufzeichnungen, die ich am 6. November letzten Jahres begonnen habe, noch einmal lesen würde. Und es hat auch einige Zeit gedauert, bis ich die fünf vollgeschriebenen Hefte gefunden habe. Meine Mutter hatte sie in die Kiste mit alten Schulheften und Zeichenblöcken getan. Wie ich sie kenne, hat sie bestimmt einen Blick reingeworfen und gedacht, es seien Aufsätze oder so was Ähnliches. Sie hat mich jedenfalls nie gefragt, was ich da geschrieben habe, und das ist auch gut so, denn ich hätte keine Antwort gewusst, zumindest bis jetzt nicht.

Vor mir liegen die vollgekritzelten Hefte und ein paar mit leeren Seiten. Wie viele ich diesmal vollschreiben werde, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass sich alles genau so zugetragen hat, wie ich es hier erzähle. Frau Wahlbusch, meine Deutschlehrerin, meint zwar immer, ich hätte eine blühende Fantasie, aber selbst die hätte nicht gereicht, um das zu erfinden, was sich in den letzten Wochen an unserer Schule abgespielt hat.

Mittwoch, 7. Mai

Alles begann mit einem heftigen Gewitter.

Schmitti, meine Maus, war schon den ganzen Abend wie verrückt in ihrem Käfig herumgerast, und als ich sie füttern wollte, biss sie mir in den Finger. Es tat nicht wirklich weh, aber komisch war es doch, denn das hatte sie noch nie gemacht.

Ich ging in die Küche, um mir ein Pflaster aus dem Medizinschrank zu holen. Meine Mutter stand am Fenster.

»Da kommt was auf uns zu«, sagte sie. »Schau nur, der Himmel wird immer dunkler.«

»Na, hoffentlich regnet es endlich mal«, sagte ich.

Für Anfang Mai war es ein unglaublich heißer Tag gewesen, ich hatte schon zweimal geduscht und fühlte mich trotzdem klebrig.

»Hattet ihr heute wenigstens Hitzefrei?«

»Mama! Es gibt schon lange kein Hitzefrei mehr, höchstens Kurzstunden. Aber Klingbeil meint, das sei nur was für Grundschüler, auf dem Gymnasium hat man nicht zu schwitzen.«

Klingbeil ist unser Direktor, und ich bin nur froh, dass er nicht auch mein Lehrer ist. Ich glaube, ich habe ihn noch nie lachen sehen.

»Zu meiner Schulzeit durften wir nach Hause gehen, wenn das Thermometer mittags fünfundzwanzig Grad anzeigte«, sagte meine Mutter.

»Fünfundzwanzig Grad? Das ist ja fast eisig!«, rief ich.

Meine Mutter antwortete nicht, sondern setzte sich an den Küchentisch und drehte an ihrem Ring. Das tut sie immer, wenn sie nervös ist. Sie hatte den Ring vor vielen Jahren in einem türkischen Basar gekauft, und der Verkäufer hatte zu ihr gesagt, sie müsste nur dreimal draufspucken und sich etwas wünschen, dann würde ihr Wunsch in Erfüllung gehen. Natürlich glaubte meine Mutter nicht daran, aber es war ihr absoluter Lieblingsring, und sie trug ihn täglich, obwohl er ihr zu groß war und ständig vom Finger rutschte. Ich weiß nicht, wie oft ich schon mit ihr auf dem Boden herumgekrochen bin, um nach dem blöden Ring zu suchen, der irgendwo hingerollt war.

Nun goss sie sich ein Glas Weißwein ein und klopfte auf den Stuhl neben sich. »Setz dich, Felix, ich muss was mit dir besprechen.«

O nein! Hoffentlich erzählte sie mir jetzt nicht, dass sie einen netten Mann kennengelernt hätte, den sie mir gerne vorstellen würde. Meine Eltern sprachen zwar wieder miteinander, und wir hatten auch Weihnachten und Ostern zusammen gefeiert, aber sie waren getrennt und würden das wohl auch bleiben.

Ich setzte mich hin und klebte umständlich ein Pflaster auf meinen Daumen.

»Ich habe heute einen … einen Brief bekommen.«

Mir wurde schlagartig übel. Im Februar war schon ein blauer Brief gekommen, in dem stand, dass ich nicht versetzt werden würde, wenn sich meine Noten in Mathe und Physik nicht verbesserten. Vor drei Tagen hatten wir eine Mathearbeit geschrieben, für die ich wie blöd mit meinem Vater geübt hatte. Wir hatten sie noch nicht zurückbekommen. Aber vielleicht hatte Frau Schmitt-Gössenwein sie schon korrigiert, und jetzt stand fest, dass ich sitzenbleiben würde.

»Aber ich hab wirklich gelernt … und ich glaube … also, ich bin sicher, dass ich mindestens drei Aufgaben richtig habe …«, stotterte ich.

»Du irrst dich, mein Schatz, der Brief war nicht von der Schule, sondern vom English Translation Trust.«

Ich verstand nur Bahnhof.

»Man hat mir die Teilnahme an einem Übersetzerseminar angeboten. In England. In London.«

»Aber das ist doch toll!«, rief ich erleichtert.

Meine Mutter ist Übersetzerin und träumt schon lange davon, nach England zu fahren. Das letzte Mal war sie dort, als ich noch nicht auf der Welt war.

»Ja, das ist es, aber es geht schon am Montag los. Eigentlich sollte eine Kollegin von mir daran teilnehmen, aber die ist schwanger und muss liegen, und sie hat mich gefragt, ob ich für sie einspringen kann. Ich hab dir nichts davon erzählt, weil ich nicht wusste, ob es klappt, aber heute Morgen kam der Brief mit der Zusage.«

»Du siehst aber nicht so aus, als ob dich das freut«, sagte ich.

»Es sind zwei Wochen, Felix. Zwei Wochen, in denen ich nicht hier wäre.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Kein Problem, Papa ist ja auch noch da.«

»Du kannst natürlich zu ihm ziehen, aber du hättest einen weiteren Schulweg, und ob du jeden Tag Lust auf Pizza hast, wage ich zu bezweifeln.«

Meine Eltern sind so unterschiedlich, wie man nur sein kann, aber eins haben sie gemeinsam: Sie können beide nicht kochen. Mein Vater weiß es und geht essen oder bestellt Pizza. Meine Mutter glaubt, dass sie kochen kann, aber meistens geht irgendwas dabei schief, und das Essen ist verbrannt oder versalzen oder sonst wie ungenießbar. Ich hab angefangen, selber zu kochen, und es macht mir richtig Spaß. Zum Abendbrot hatte ich einen leckeren griechischen Salat mit Gurken, Tomaten und Schafskäse hinbekommen.

Ich zeigte auf die leere Schüssel auf dem Küchentisch. »Ich kann auch kochen.«

Meine Mutter strich mir über den Kopf. »Du hast genug mit der Schule zu tun und sollst dich nicht auch noch um dein Essen kümmern müssen.« Sie seufzte. »Irgendwie habe ich kein gutes Gefühl bei der ganzen Sache.«

»Ich verspreche dir hoch und heilig, dass ich keinen Blödsinn mache, mich gesund ernähre und wie ein Bekloppter für die Schule lernen werde.«

Ich wollte gerade zwei Finger zum Schwur hochheben, da zuckte ein Blitz über den inzwischen fast schwarzen Himmel, kurz darauf donnerte es. Meine Mutter stand auf und schloss das Fenster. »Das muss ganz nah sein.«

»Jetzt weiß ich auch, warum sich Schmitti so komisch benimmt. Sie hat das Gewitter gespürt.«

»Tiere haben da ganz andere Antennen als wir«, sagte meine Mutter.

Wieder blitzte es. Dann krachte ein Donner, er war so laut, dass es selbst bei geschlossenem Fenster dröhnte. Nun folgten die Donnerschläge in immer kürzeren Abständen. Normalerweise habe ich keine Angst vor Gewitter, aber ich war doch froh, dass ich sicher bei uns in der Küche saß und nicht draußen war.

Das Telefon klingelte. Meine Mutter ging ran. »Ja, er ist da, kleinen Moment.«

Sie reichte mir den Hörer.

»Hallo?«

»Wieso gehst du eigentlich nie an dein Handy?«

Das war Ella.

Ich war der einzige Junge in der Klasse gewesen ohne Handy, doch seit Weihnachten hatte ich das alte von meinem Vater, war damit aber auch schon wieder ein Exot, weil inzwischen alle Smartphones besaßen. Ich hab nie verstanden, was daran so toll sein soll, immer erreichbar zu sein. Im Moment wusste ich noch nicht mal, wo das Ding rumlag, wahrscheinlich auf meinem Schreibtisch.

»Ist was passiert?«, fragte ich.

»Das kann man wohl sagen.« Ich hörte die Aufregung in Ellas Stimme.

»Nun mach’s nicht so spannend.«

»Die Schule brennt!«, platzte sie heraus.

Ella wohnt genau gegenüber vom Willi, was Vor- und Nachteile hat. Ich möchte jedenfalls nicht die ganze Zeit meine Schule vor Augen haben.

»Die Schule brennt?«, wiederholte ich.

Meine Mutter sah mich zweifelnd an. Bestimmt dachte sie, das sei ein Witz.

Ella sprach so schnell weiter, dass ich sie kaum verstehen konnte. »Ich habe einen Blitz gesehen, direkt über der Schule, und dann war da nur noch Rauch, und jetzt kommt auch die Feuerwehr, hörst du?«

Ella musste das Telefon ans Fenster gehalten haben, denn ich hörte ein wenig gedämpft, aber deutlich das Lalülala der Feuerwehr.

»Ich komme!«, sagte ich und sprang auf. Doch meine Mutter schüttelte energisch den Kopf. »Du bleibst hier. Es wird gleich anfangen zu regnen.«

»Aber die Schule brennt, Mama!« Das war ein Ereignis, das man sich auf keinen Fall entgehen lassen durfte.

»Felix!«

Wenn meine Mutter »Felix« sagt, in diesem Ton, weiß ich, dass es keinen Zweck hat, mit ihr zu diskutieren, dann geht nämlich gar nichts.

»Hey, bist du noch da?«, rief Ella.

»Ich komme nicht. Meine Mutter meint –«

»Meine Mutter hat mir auch verboten, rauszugehen«, sagte Ella. »So was Blödes.«

»Du kannst wenigstens alles beobachten.«

»Logenplatz sozusagen. Warte mal … Michalski kommt grad aus seiner Bude. Bestimmt sagt er den Feuerwehrleuten, wie sie den Schlauch halten sollen.«

Michalski ist unser Hausmeister und bildet sich immer ein, dass das Willi ohne ihn auf der Stelle im Chaos versinken würde. Wahrscheinlich hat er damit sogar recht.

Ich hörte Ella lachen.

»Was ist? Los, ich will mitlachen.«

»Boss dreht mal wieder durch, er hat einen der Feuerwehrmänner am Bein gepackt.«

Wie gern wäre ich dabei gewesen und hätte gesehen, wie Boss, die hässlichste Bulldogge der Welt, einen Feuerwehrmann in die Wade biss.

Es donnerte noch einmal und dann öffnete sich der Himmel und der Regen prasselte los.

»Ich seh nichts mehr«, sagte Ella enttäuscht. »Es gießt.«

»Hier regnet’s auch«, sagte ich. »Bis morgen in der Schule.«

»In dem, was von ihr noch übrig ist.« Ella kicherte und legte auf.

»Jetzt erzähl doch mal, was ist denn passiert?«, fragte meine Mutter.

»Ella sagt, in die Schule sei der Blitz eingeschlagen. Die Feuerwehr ist schon da.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen, auf den Dächern von öffentlichen Gebäuden gibt es Blitzableiter, das ist Vorschrift.« Meine Mutter stellte ihr Weinglas in die Spülmaschine. »Morgen wissen wir mehr.«

Ich fand es unerträglich, bis zum nächsten Morgen warten zu müssen. Vielleicht war der Blitz ja ins Lehrerzimmer eingeschlagen und die Mathearbeiten waren verbrannt. Das wäre wie ein Sechser im Lotto. So sicher, dass es diesmal keine Fünf sein würde, wie ich meiner Mutter gegenüber getan hatte, war ich nämlich nicht. Um genau zu sein, war eine Fünf sogar möglich, nein, eher wahrscheinlich. Und damit hing es allein von Frau Schmitt-Gössenwein ab, ob ich sitzenblieb oder nicht.

Ich sah den Stapel Arbeitshefte vor mir, die Flammen züngelten daran empor, wurden höher und höher, es loderte und knisterte, bis von den Heften nur noch ein Häufchen Asche übrig blieb.

Ich seufzte laut.

»Was ist? Machst du dir Sorgen um deine Schule?«, fragte meine Mutter.

»Nicht direkt.« Ich stellte mich ans Fenster. Der Himmel war nicht mehr schwarz, aber man sah trotzdem nichts, weil der Regen gegen die Scheiben klatschte.

Die Feuerwehr hätte gar nicht anrücken müssen, mehr Wasser, als jetzt vom Himmel fiel, konnte auch aus keinem Feuerwehrschlauch kommen.

»Ich hab nur überlegt, wie es wäre, wenn das Lehrerzimmer brennt und mit ihm unsere Mathearbeiten«, sagte ich.

»Der Traum eines jeden Schülers.« Meine Mutter lachte. »Aber wahrscheinlich hat die Schmitt-Gänsewein die Hefte bei sich zu Hause.«

»Also erstens heißt sie Schmitt-Gössenwein und zweitens hat Klingbeil es verboten«, sagte ich. »Seit der Sache mit den Abiklausuren müssen alle Arbeiten in der Schule bleiben und da auch korrigiert werden.«

Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Na, ich würde mich bedanken. Ist doch viel netter, Deutschaufsätze zu Hause bei einem guten Glas Rotwein zu lesen als mit abgestandenem Kaffee in einem ungemütlichen Lehrerzimmer.«

Eine Englischlehrerin hatte die Klausuren von ihrem Leistungskurs in den Osterferien mit nach Mallorca genommen, dummerweise war ihr dort am Flugplatz die Tasche geklaut worden. Klingbeil war ausgerastet. Die Abiturienten natürlich auch, die hatten die Klausuren noch mal schreiben müssen.

Meine Mutter sah auf die Uhr. »Egal, ob deine Schule nun abgebrannt ist oder nicht, du musst ins Bett, mein Schatz. Und ich rufe deinen Vater an und sage ihm, dass du die nächsten zwei Wochen zu ihm ziehst.«

»Weißt du was, Mama?« Mir kam gerade eine großartige Idee. »Wenn das Willi abgebrannt ist, dann kann ich ja mit dir nach England kommen.«

Meine Mutter lächelte. »Das wäre großartig, Felix. Wir hätten bestimmt viel Spaß, aber ich fürchte, dieser Klotz steht noch weitere hundert Jahre.«

Donnerstag, 8. Mai

Und natürlich hatte meine Mutter recht gehabt. Wie so oft.

Als ich am nächsten Morgen kurz vor acht mit dem Rad in die Straße einbog, an deren Ende sich das Kaiser-Wilhelm-Gymnasium erhebt wie eine Burg aus dem Mittelalter, schien alles wie immer. Vor dem steinernen Tor zum Schulhof lungerten die aus der Oberstufe rum, rauchten und taten so, als hätten sie alle Zeit der Welt, während die aus der Unterstufe eifrig an ihnen vorbei in Richtung Schulgebäude eilten.

Ich schob mein Rad auf den Hof und wollte es gerade an einem der Fahrradständer anschließen, da sah ich es: Der Blitz hatte in die Eiche geschlagen. Die berühmte Eiche, die Kaiser Wilhelm persönlich vor hundert Jahren gepflanzt hatte. Sie war in der Mitte geborsten, die eine Hälfte des Stammes lag zersplittert quer über dem Hof, die andere ragte ast- und blattlos wie ein riesiger, anklagender schwarzer Finger in den wieder strahlend blauen Himmel.

»Wahnsinn, oder?« Ella stellte sich neben mich. »Die arme Eiche.«

Gemeinsam starrten wir die Überreste des Baumes an, in dessen Schatten wir gestern in der Pause noch Schutz vor der Hitze gesucht hatten.

Nun erschienen auch die anderen aus unserer Klasse.

Robert hätte fast seine Luftpumpe fallen lassen, die er immer mit sich rumträgt, und Mario spuckte schwarzen Lakritzschleim auf den Boden. »Der Blitz hätte mal besser ’nen Lehrer treffen sollen.«

»Dachtest du dabei etwa an mich?«

Mario drehte sich um und wurde rot. »Nein, Herr Günther, natürlich nicht Sie … Also, auf keinen Fall … Ich meinte nur so allgemein …«

Herr Günther winkte ab. »Sei lieber still, bevor du dich hier noch um Kopf und Kragen redest, Mario.«

Herr Günther ist unser Biolehrer und wir mögen ihn alle richtig gern. Biologie ist mein Lieblingsfach und da bin ich auch ziemlich gut. Nur eine Eins in Bio würde mich vor dem Sitzenbleiben retten können. Aber die hatte ich noch nicht sicher in der Tasche.

»Das ist allerdings sehr seltsam.« Herr Günther betrachtete eingehend den vom Blitz gespaltenen Stamm. »Hätte nicht gedacht, dass der Baum innen so morsch ist.« Er schaute uns an. »Normalerweise können Eichen ein paar Hundert Jahre alt werden, aber irgendwas war mit ihr. Hat ja schon seit Längerem gemickert.« Er zeigte auf die kleinen, etwas verkrüppelten Blättchen an den Ästen, die über den Hof verstreut waren. »Hat jemand Lust, ein Referat über Baumkrankheiten zu halten?«

Mario meldete sich mit eifrigem Fingerschnipsen. Wahrscheinlich wollte er seine blöde Bemerkung wiedergutmachen.

Es läutete.

Donnerstags haben wir in der ersten Stunde Deutsch. Der Unterricht bei Frau Wahlbusch, unserer Klassenlehrerin, ist so trocken und langweilig wie die Börsennachrichten. Zu Beginn jeder Stunde nehme ich mir vor, genau zuzuhören, aber jedes Mal schweifen meine Gedanken nach den ersten fünf Minuten wieder ab.

Diesmal war ich von der ersten Minute an nicht bei der Sache. Die ganze Zeit sah ich aus dem Fenster und auf die schwarz verkohlten Reste der Eiche. Herr Günther hatte recht gehabt, der Baum war krank gewesen. Während die Bäume auf der Straße vor der Schule dicht und grün belaubt waren, hatte die Eiche in diesem Frühjahr nur wenige, dazu noch kleine und gelbe Blätter bekommen. Einmal war sogar ein Ast abgebrochen, gerade als ich unter dem Baum stand. Kein sehr dicker Ast, aber ich hätte ihn ungern auf den Kopf bekommen. Ich hatte dem damals keine Bedeutung beigemessen, doch nun bekam ich Gänsehaut, obwohl es in der Klasse sehr warm war.

»Felix? Felix Vorndran! Würdest du wohl bitte deine Aufmerksamkeit dem Unterricht zuwenden?«

Frau Wahlbusch stand vor mir. »Worüber haben wir gerade gesprochen?«

»Über … über …«

Hilfe suchend sah ich zu Ella neben mir, sie machte schon den Mund auf, doch Frau Wahlbusch schüttelte den Kopf. »Nicht vorsagen, Ella.« Dann sah sie mich an. »Du kannst es dir am allerwenigsten erlauben, nicht aufzupassen, Felix.«

Sie sagte es nicht böse, eher bekümmert.

»Ich weiß«, erwiderte ich zerknirscht.

Sie ging nach vorn an die Tafel. »Was also ist unser Thema?«

Philipp, unser Klassenbester, meldete sich. »Es geht um informierendes Schreiben im Gegensatz zu gestalterischem Schreiben.«

Was hatte ich denn da wieder verpasst?

»Sehr gut, Philipp. Was müsst ihr bei informierendem Schreiben beachten? Mario!«

Mario schluckte schnell einen Lakritzdrops runter und musste fürchterlich husten.

Frau Wahlbusch zeigte auf den Papierkorb neben der Tür.

Mario kannte das schon. Er stand auf und warf die Tüte mit Lakritz hinein. In der Pause würde er sie natürlich wieder rausholen, das wusste Frau Wahlbusch ganz genau. Sie ist eigentlich eine nette Lehrerin, nur so schrecklich dröge.

Ella meldete sich.

»Bitte, Ella.«

»Wir müssen Sachstil anwenden, also nichts ausschmücken oder so.«

»Gut, ihr schreibt jetzt also einen Bericht«, sagte Frau Wahlbusch.

»Und worüber?«, fragte Robert.

Frau Wahlbusch zeigte aus dem Fenster. »Ihr berichtet das, was gestern Abend bei dem Gewitter passiert ist.«

Sie setzte sich hinter den Lehrertisch und fing an, Hefte zu korrigieren.

Ich schreibe gern, es fällt mir leicht. Während Ella noch auf ihrem Füller herumkaute, hatte ich bereits eine Seite geschrieben. Damit würde ich die Schlappe von vorhin wieder ausgleichen.

»Stopp, die Zeit ist um«, sagte Frau Wahlbusch.

»Aber ich bin überhaupt noch nicht fertig!«, rief ich.

»Dann lies doch mal vor, was du bisher geschrieben hast.«

»Es war ein drückend heißer Tag, der Asphalt flimmerte, die halb verdorrten Blumen ließen die Köpfe hängen, alles sehnte sich nach Re-«

»Falsch, Felix, völlig falsch!«, unterbrach mich Frau Wahlbusch. »Du solltest einen Bericht schreiben, keinen schwülstigen Roman.«

Ein paar lachten. Ich spürte, wie ich rot wurde.

»Robert, leg endlich die Luftpumpe weg. Was hast du geschrieben?«

Robert räusperte sich. »Am Mittwoch, dem siebten Mai gab es ein schweres Gewitter. Um einundzwanzig Uhr fünfunddreißig schlug in die Eiche auf dem Schulhof des Kaiser-Wilhelm-Gymnasiums der Blitz ein. Die Feuerwehr musste kommen.«

»Wer kann mir den Unterschied zwischen dem Text von Felix und dem von Robert erklären?«

»Blablabla«, sagte ich leise. Ella grinste mich an, sie schob mir einen Zettel zu. Frau Wahlbusch war darauf zu sehen. In einer herzförmigen Sprechblase über ihrem Kopf stand: Eigentlich liebe ich schwülstige Romane.

Ella kann nicht besonders gut zeichnen, aber Frau Wahlbusch erkannte ich an ihrem dicken Hintern.

Ich musste lachen, hielt mir aber schnell den Mund zu, denn Frau Wahlbusch sah fragend zu uns rüber.

 

In der Pause versammelten wir uns um die Überreste der kaiserlichen Eiche.

»Bin gespannt, was hier stattdessen hinkommt«, sagte Mario.

»Ein Kirschbaum wäre toll«, sagte Jasmin und leckte sich ihre rosa Glitzerlippen. »Ich liebe Kirschen.«

»Äpfel sind aber besser«, meinte Daniel. Und Ella sagte: »Ich hätte gern einen Baum zum Klettern, mit richtig dicken Ästen.«

»Haha«, spottete Mario. »Weißt du, wie lange ein Baum braucht, damit die Äste richtig dick werden?«

»Weg da! Weg da!« Michalski mit dem sabbernden Boss an der Leine marschierte auf uns zu. »Das ist nämlich eine Gefahrenstelle und kein Spielplatz.«

»Nämlich« ist Michalskis Lieblingswort, er benutzt es in jedem zweiten Satz. Mindestens.

»Wird ein neuer Baum gepflanzt, Herr Michalski?«, fragte Ella höflich.

»Wenn’s nach mir geht, nich. Bäume machen nämlich nur Ärger, verlieren Laub, das ich dann auffegen muss. Außerdem haben wir keinen Kaiser mehr.«

»Und das ist wirklich schade«, sagte Mario ganz ernst.

Michalski nickte. »Genau, mein Junge. Das ist sogar sehr schade, früher haben Lausebengel wie du nämlich die Hände aus den Hosentaschen genommen, wenn ein Erwachsener mit ihnen gesprochen hat.«

Boss bellte wie zur Bestätigung. Und Mario nahm schnell seine Hand aus der Hosentasche. Damit es aber nicht so aussah, als wollte er Michalski gehorchen, steckte er sich eine Lakritzschnecke in den Mund.

Boss knurrte laut und Mario machte hastig einen Schritt zurück.

Boss hatte mich in jener denkwürdigen Halloweennacht gerettet, seitdem liebt er mich. Ich konnte es mir daher nicht verkneifen, der Bulldogge über den Rücken zu streichen. »Mach doch dem armen Mario keine Angst.«

Mario zeigte mir den Stinkefinger und Boss legte sich auf die Seite und wollte gekrault werden.

Nun wurde auch Michalski sauer. »Benimm dich, Boss, du bist doch kein Schoßhündchen!« Und zu uns gewandt: »Ab mit euch in die Klasse, es klingelt nämlich gleich.«

 

In der nächsten Stunde war Mathe. Ich hatte nicht mehr so viel Angst vor Frau Schmitt-Gössenwein wie früher, aber so richtig wohl war mir auch nicht, vor allem, wenn ich an die Klassenarbeit dachte.

Schwungvoll betrat sie den Raum und warf ihre knallrote Aktentasche auf den Tisch, dann sah sie uns über ihre Brille hinweg prüfend an.

»Guten Morgen.«

»Guten Morgen, Frau Schmitt-Gössenwein«, riefen wir im Chor.

»Können Sie uns schon sagen, wie die Arbeit ausgefallen ist?«, fragte Daniel, der trotz der Hitze die Kapuze von seinem Sweatshirt tief ins Gesicht gezogen hatte.

Frau Schmitt-Gössenwein musterte ihn, und ich war sicher, dass sie etwas sagen würde von wegen »Kapuze runter«, aber das tat sie nicht.

»Ich habe noch keine Zeit gehabt, ihr bekommt sie Ende nächster Woche zurück.«

Das war mehr als blöd. Wir müssten die Arbeit bestimmt unterschreiben lassen und meine Mutter war dann schon in London. Sie hätte wegen einer Fünf keinen Aufstand gemacht, mein Vater schon.

Frau Schmitt-Gössenwein klappte die Tafel auf. »Wir werden jetzt alle Aufgaben aus der Arbeit gemeinsam lösen. Das erleichtert euch später die Berichtigung.«

»Echt nett von ihr«, sagte Ella.

Das stimmte, noch vor einem halben Jahr hätte sie das nicht gemacht. Da hätten wir selber sehen können, wie wir an die richtigen Lösungen kamen.

Es waren zehn Aufgaben gewesen. Und ich hatte nur zwei davon richtig. Eigentlich nur anderthalb, denn bei der einen hatte ich vergessen zu schreiben, ob es sich um Meter oder Kilometer handelte.

Frau Schmitt-Gössenwein nahm mich kein einziges Mal dran, wahrscheinlich hatte sie mich schon aufgegeben.

Ich wollte nicht sitzenbleiben! Auf keinen Fall. Vor ein paar Monaten wäre es mir egal gewesen, aber jetzt fühlte ich mich wohl in meiner Klasse. Mit Ella hatte ich mich ja von Anfang an gut verstanden, aber inzwischen waren auch Robert und die anderen Jungs meine Freunde. Sogar Mario ärgerte mich nur noch ab und zu, um nicht aus der Übung zu kommen. Selbst Jasmin und Lara hatten aufgehört, fies zu kichern, wenn sie mich sahen. Es hätte alles so schön sein können.

»Was ist denn, Felix?«, flüsterte Ella mir zu.

»Ich glaub, ich krieg ’ne Fünf«, flüsterte ich zurück.

»So ein Scheißendreck.« Sie wusste genau, was das für mich bedeutete. Ella war in Mathe zwar nicht viel besser als ich, dafür aber in den anderen Fächern richtig gut.

»Ich wünschte, der Blitz wäre ins Lehrerzimmer eingeschlagen«, sagte ich zu Ella, als wir in der Pause auf den Hof gingen.

»Warum?«

»Dann wären die blöden Mathe-Arbeitshefte verbrannt und wir müssten die Arbeit nachschreiben.« Ich schlug mir gegen die Stirn. »Jetzt hab ich’s nämlich kapiert.«

 

Meine letzte Hoffnung war Herr Günther. Im Halbjahreszeugnis hatte ich in Bio eine Eins gehabt, aber da war es auch um Tiere gegangen. Jetzt nahmen wir Pflanzen durch, und ehrlich gesagt, fand ich Fotosynthese, Blattformen und den Lebensraum Wald nicht gerade aufregend. Aber ich nahm mir fest vor, wie blöd für die Arbeit zu büffeln, die wir in der kommenden Woche schreiben sollten.

Doch auch diese Hoffnung zerschlug sich.

Als Herr Günther in der sechsten Stunde in den Naturkunderaum kam, knallte er seine Mappe so heftig auf den Tisch, dass die Reagenzgläser im Schrank klirrten.

»Tut mir leid, Herrschaften, aber ihr müsst die nächsten zwei Wochen ohne mich auskommen«, begrüßte er uns.

»Was?« – »Warum das denn?« – »Geil, lauter Freistunden!« So riefen alle durcheinander.

Herr Günther hob die Hände. »Jetzt beruhigt euch bitte wieder. Es ist so, Herr Klingbeil hat mich gebeten, den Leistungskurs Biologie auf Exkursionsfahrt zu begleiten, es stünden sonst nur zwei Referendarinnen zur Verfügung und das ist ihm wohl zu …«, Herr Günther lächelte schief, »… zu riskant.«

»Nachher kommen die schwanger zurück«, feixte Mario.

»Diese Bemerkung habe ich überhört, Mario. Und solltest du etwa glauben, dass du dein Referat über Krankheiten bei Bäumen nicht halten musst, so hast du dich getäuscht. Es gibt eine Vertretung.«

Enttäuschtes Raunen ging durch den Raum. Wenn Herr Günther schon nicht da war, hätten wir ja wenigstens freihaben können.

»Der Lehrer, der mich vertritt, wird auch die Arbeit mit euch schreiben.«

»Nein!«, rief ich laut.

»Keine Sorge, ihr werdet ausreichend Zeit haben, euch vorzubereiten.«

Ella meldete sich. »Aber wer vertritt Sie denn nun?«

Herr Günther zuckte die Achseln. »Ich kenne ihn nicht, laut Herrn Klingbeil muss er aber eine ziemliche Koryphäe sein. Strengt euch also an. Und nun wollen wir uns die verschiedenen Blattformen anschauen. Seite hundertdreiundzwanzig im Buch.«

Mir war ganz schlecht. Bei einem neuen Lehrer würde ich es bestimmt nicht schaffen, eine Eins zu schreiben. Und dann? Dann hatte ich keinen Ausgleich für die beiden Fünfen in Physik und Mathe. Die Fünf in Physik war schon mal sicher, schließlich hatte ich in dem einen Test eine Fünf minus und in dem anderen eine glatte Fünf geschrieben, und mündlich hatte ich es geschafft, das letzte Halbjahr nichts zu sagen, jedenfalls nichts Richtiges.

»Was für eine Form hat das Blatt der Eiche, Felix?«

Ich schrak hoch und starrte auf die Abbildungen im Buch. »Äh … das Blatt der Eiche ist … leierförmig?«

»Brauchst du eine Brille? Eichen haben fiederlappige Blätter.«

Das war nun wirklich nicht mein Tag.

 

Als ich nach Hause kam, begegnete mir im Treppenhaus Herr Hühnerkopf, unser Vermieter. »Deine Mutter hat schon wieder Herrenbesuch«, begrüßte er mich.

»Wie schön«, sagte ich.

Als meine Mutter und ich im letzten Sommer eingezogen waren, hatte sich der Hühnerkopf ständig bei uns rumgedrückt. Hatte Lampen angebracht, Haken eingedübelt und lauter solche Sachen gemacht. Was natürlich gut war, da meine Mutter zwei linke Hände hat. Aber anscheinend hatte der Hühnerkopf geglaubt, er könnte sich auf die Art bei ihr einschleimen. Als ich dann im Oktober krank geworden bin, ist mein Vater ab und zu bei uns aufgetaucht. Das hat dem Hühnerkopf natürlich nicht gefallen. Und obwohl er inzwischen wusste, dass er nicht der Freund meiner Mutter, sondern mein Vater ist, spricht er immer von »Herrenbesuch«, wenn mein Vater zu uns kommt.

»Zieht der etwa hier ein?«, fragte er mich jetzt.

»Warum?«

»Er hatte einen Koffer dabei. Bitte richte deiner Mutter aus, dass Untervermietung nicht gestattet ist.«

Ich zwängte mich an ihm vorbei und ging die Treppe hoch. Als ich die Tür aufschloss, roch ich es. Thunfisch-Nudelauflauf. Das einzige Gericht, das meine Mutter einigermaßen gut hinbekommt.

»Hi, mein Großer«, begrüßte mich mein Vater.

»Was macht der hier?« Ich zeigte auf den großen, silbernen Koffer im Flur. »Der Hühnerkopf hat gefragt, ob du bei uns einziehst, und gemeint, dass das verboten ist.«

Meine Mutter lachte. »Der ist wirklich unverbesserlich.«

»Es wäre sicher praktischer, wenn ich bei dir einzöge, solange Mama in London ist«, sagte mein Vater. »Aber ich kann mein Modell nicht mit hierherbringen, es ist viel zu groß.«

Mein Vater ist Architekt und nimmt gerade an einem furchtbar wichtigen Wettbewerb teil. Es geht um den Bau eines Fußballstadions. Das finde ich zwar nicht besonders spannend, ist aber sicher aufregender als die Bedürfnisanstalten, die er bisher gebaut hat.

»Ich hab den Koffer mitgebracht, damit du schon mal in Ruhe deine Sachen packen kannst. Wir bringen dann am Sonntag deine Mutter zum Flughafen und danach kommst du zu mir.«

Aus der Küche kam ein leicht brenzliger Geruch.

»Du solltest vielleicht den Auflauf aus dem Herd holen, Mama«, sagte ich.

»Herrje!« Meine Mutter stürzte in die Küche.

Ich stellte meinen Rucksack ab. »Und was ist mit Schmitti?«

»Schmitti?« Mein Vater sah mich fragend an.

»Na, du weißt doch, Schmitti, meine Maus.«

Mein Vater seufzte. »Ich hab nie verstanden, warum deine Mutter dir erlaubt hat, die zu behalten. Mäuse sind Ungeziefer und gehören nicht in eine Wohnung.«

»Kommt ihr? Essen steht auf dem Tisch!«, rief meine Mutter.

»Papa meint, Schmitti sei Ungeziefer«, sagte ich, während meine Mutter uns Auflauf auf den Teller klatschte, der an den Rändern schon schwarz war.

Meine Eltern sahen sich an. »Na ja, am Anfang, als sie noch ein kleines Mäuschen war, fand ich sie ja ganz niedlich«, sagte meine Mutter. »Aber jetzt … Sie ist inzwischen ziemlich groß und –«

»Ich will sie aber behalten!«, rief ich. »Sie hat keine Mutter mehr.«

Schmitti hatte den Giftangriff eines Kammerjägers überlebt und wohnte seit Oktober in meinem alten Hamsterkäfig.

»Du darfst sie ja auch behalten«, sagte mein Vater. »Ich will sie nur nicht bei mir in der Wohnung haben.«

»Du könntest doch nach der Schule vorbeikommen und sie füttern«, schlug meine Mutter vor. »Und wenn du es mal nicht schaffst, ist es auch nicht schlimm, so dick, wie sie ist. Im Zoo bekommen die Tiere einen Tag in der Woche auch nichts zu fressen.«

»Aber sie wird mich vermissen«, sagte ich leise.

»Ich hab übrigens nie verstanden, warum du die Maus so genannt hast wie deine Mathelehrerin«, sagte mein Vater und streute sich Salz auf den Thunfisch.

»Ist der nicht schon salzig genug?«, fragte meine Mutter gekränkt, doch dann fiel ihr anscheinend wieder ein, dass es ihr egal sein konnte, wie viel Salz sich mein Vater ins Essen kippte. »Erinnerst du dich nicht, als Felix Scharlach hatte und so hohes Fieber?«, sprach sie weiter. »Da hat er doch fantasiert und geglaubt, im Hamsterkäfig würde Frau Schmitt-Gössenwein wohnen, geschrumpft auf fünfzehn Zentimeter.«

»Fünfzehn Komma drei Zentimeter«, korrigierte ich.

»Im Käfig war natürlich keine Mathelehrerin, sondern nur eine kleine Maus.«

»Ach, und deshalb heißt sie also Schmitti.«

Ich sah meinem Vater an, dass sie das für ihn nicht unbedingt sympathischer machte.

»Apropos Mathe«, sagte er. »Habt ihr die Arbeit zurück?«

»Papa! Die haben wir doch erst Montag geschrieben!«

»Hätte ja sein können.«

Ich hütete mich zu erzählen, dass ich nur eineinhalb Aufgaben richtig hatte und damit eine Fünf so klar war wie Kloßbrühe. Mein Vater versteht einfach nicht, warum Mathe für mich so ein Problem ist. Krampfhaft suchte ich nach einem anderen Thema. Meine Mutter erlöste mich.

»Was war denn jetzt mit dem Feuer in der Schule? Scheint ja nicht so schlimm gewesen zu sein.«

Ich kratzte verbrannten Käse vom Auflauf. »In die Eiche ist der Blitz eingeschlagen, die sieht vielleicht aus.«

»O nein!«, rief meine Mutter. »Die war doch so schön.«

»Und ganz alt«, nuschelte ich mit vollem Mund. »Kaiser Wilhelm höchstpersönlich hat sie gepflanzt. Es gibt sogar ein Foto davon. Es hängt beim Klingbeil im Büro. Er war immer total stolz auf seine Eiche.« Ein wenig Thunfisch-Nudelbrei spritzte aus meinem Mund auf den Tisch.

»Felix!« Mein Vater sah mich kopfschüttelnd an. Er legt großen Wert darauf, dass man sich bei Tisch benimmt. Aber er geht ja auch meistens ins Restaurant, da kann man nicht essen wie ein Schwein, ich finde, zu Hause darf man das schon.

»Wie wollt ihr das denn mit dem Essen machen?«, fragte meine Mutter. Sie kann Gedanken lesen.

»Bei mir um die Ecke hat ein italienischer Imbiss eröffnet«, sagte mein Vater. »Seine Spezialität sind Pizzen aus dem Steinofen, groß wie Wagenräder.«

»Super!«, rief ich. »Darf ich dann jeden Tag Peperoni-Pizza essen?«

Meine Mutter sah nicht sehr überzeugt aus. »Und was ist mit Vitaminen? Felix kann sich doch nicht die ganze Zeit von Fast Food ernähren.«

Ich nahm mir einen Apfel aus der Obstschale und hielt ihn hoch. »An apple a day keeps the doctor away!«

Meine Mutter musste lachen.

Montag, 12. Mai

Eigentlich hatte ich vor der Schule noch schnell zu Hause vorbeischauen und Schmitti versorgen wollen, aber ich war spät dran. Von der Wohnung meiner Mutter aus brauche ich mit dem Rad sieben Minuten bis zur Schule, wenn ich schnell fahre, sogar nur fünf. Mein Vater wohnt fünf U-Bahn-Stationen entfernt, er findet, das sei zu weit, um mit dem Rad zu fahren. Ich finde das nicht, aber ich weiß, dass er Angst hat, ich könnte unter ein Auto kommen.

Ich fahre nicht gern U-Bahn und schon gar nicht morgens. Es ist voll, alle Leute haben schlechte Laune und es riecht nicht gut. An diesem Morgen roch es besonders schlecht, denn in der Ecke hockte ein Penner und schlief, vor ihm war eine große Lache aus Bier oder Schlimmerem.

Am Sonntag war mein Vater gekommen, um mich abzuholen und meine Mutter zum Flugplatz zu bringen. Und obwohl seit Donnerstag der Koffer in meinem Zimmer stand, hatte ich natürlich noch nichts gepackt. Schnell stopfte ich T-Shirts, Socken und Jeans in den Koffer und verabschiedete mich von Schmitti, der ich jede Menge Apfelstücke, Nüsse und Käsewürfel in den Käfig gelegt hatte.

Mein Vater schaute auf die Uhr und griff nach meinem Koffer. »Wir müssen los!«

Das ist auch etwas, weswegen meine Eltern immer gestritten haben. Meiner Mutter fällt fünf Minuten vor Abfahrt des Zuges noch ein, dass sie einen Rock bügeln oder eine Mail schreiben muss, während mein Vater lieber eine Stunde auf dem Bahnhof verbringt, nur um ja nicht zu spät zu kommen.

»Gleich, ich hol nur schnell den London-Führer«, rief meine Mutter und lief ins Schlafzimmer.

Kurz darauf ertönte: »O nein!«

»Was ist denn jetzt schon wieder?«, sagte mein Vater.

Meine Mutter streckte den Kopf aus der Tür. »Mein Ring ist hinters Regal gerollt.«

Mein Vater verdrehte die Augen und murmelte: »Typisch!«

Ich ging zu ihr. Sie hockte auf dem Boden und stocherte mit einem Stäbchen vom Chinesen in dem Spalt zwischen Bücherregal und Wand herum.

»So was Dummes. Seit Jahren will ich ihn kleiner machen, damit er mir nicht immer vom Finger rutscht.«

Ich stemmte mich gegen das Regal, aber es war viel zu schwer, um es wegzuschieben.

»Vergiss es, Felix, wir müssten erst alle Bücher rausnehmen.«

»Kommt ihr endlich?«, rief mein Vater von draußen.

Meine Mutter erhob sich. »Dann sehe ich meinen Ring wohl erst wieder, wenn wir mal umziehen.«

Mein Vater stand an der Haustür und klapperte ungeduldig mit dem Schlüsselbund. »Du verpasst noch den Flieger.«

»Hast du alles, Felix?«, fragte meine Mutter.

»Na klar!«, rief ich und griff nach meinem Rucksack.

 

Das war ein Fehler gewesen, denn als ich jetzt auf den schnarchenden Penner starrte, fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, mein Biobuch mitzunehmen. Ausgerechnet. Ich hatte es am Freitag aus dem Rucksack genommen, weil ich mir noch mal diese dämlichen Blattformen angucken wollte, mit denen ich mich in der letzten Stunde so blamiert hatte.

Und heute sollten wir doch bei dem Vertretungslehrer Unterricht haben, das fing ja schon mal gut an.