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Gewidmet Dr. med. Wolfgang Lutz,
der in seinem so ungemein klugen Buch

»Leben ohne Brot«
eigentlich schon alles gesagt hat.

Zwei »fette« Schicksale

Alte Liebe rostet nicht

30 Jahre im Widerstand

Kurze Geschichte der Fett-Phobie

Ancel Keys betritt die Bühne

Die Gesundheitspolitik greift ein

Mehr Fett für den Geschmack!

Wie Geschmack entsteht

Rätselraten um den Fettgeschmack

Vorsicht, Täuschungsmanöver

Mehr Fett für die Figur!

Deutschland zählt Fettaugen

Lieber mehr Fett

Erfolge im Grammbereich

Weniger Fett, mehr Dicke

Macht Zucker schlank?

Langzeitstudien sprechen das Fett frei

Ziel: Energiedichte senken

Mehr Fett für Herz und Kreislauf!

Tue Gutes, aber rede auch darüber

Gesättigte Fettsäuren falsch eingeschätzt

Rettungsversuche

Mehr Fett für Herz und Gefäße!

Worin man sich einig ist

Gewichtige Seilschaften

Ursachenbildung

Neue Aufgaben

Erfolgreiche Lobbyarbeit

Eine neue Imagekampagne

Zweierlei Maß

Mehr Fett fürs Nervenkostüm und fürs Hirn!

Aufbauen, isolieren, morsen

Nervennahrung Zucker?

Welche Ernährung schützt das Hirn?

Zentrale Insulinresistenz

Ketogene Ernährung: Viel Fett fürs Hirn

Mehr Fett fürs Immunsystem!

Eine Frage der Dosis und der Umstände

Potente Transporteure

Mehr Fett gegen Krebs!

Krebszellen lieben Zucker

Vom Tumor zum Krebs

Krebszellen (wieder) angreifbar machen

Ein allgemeines Phänomen

Welche Fette?

Interview mit Dr. med. Armin Grunewald, ­Oldenburg

Exkurs: Fett in der Krebsprävention

Mehr Fett für Fury, Fifi und Felix!

Garfield-Syndrom

Auch Fury ist zu fett

Lightprodukte: Für die Katz

Viel Eiweiß und tierische Fette für Garfield & Co.

Fette Empfehlungen

Fettarm und mehr Fett: Zwei Kostformen im Vergleich

Irrsinn in der Ernähr­ungs­beratung

Eines von unzähligen Beispielen

Offener Brief an die Spitzenverbände der Krankenkassen

Epilog

Anhang

Literatur

Zwei »fette« Schicksale

Alte Liebe rostet nicht

von Ulrike Gonder

Ich liebe Butter. Und Sahne. Und Crème fraîche. Wenn ich mal Knäckebrot esse, bestreiche ich es am liebsten mit so viel kühler Butter, dass alle Löcher ausgefüllt sind. Und obwohl der Weihnachtsstollen meiner Mutter erstklassig ist, schmeckt er dick mit Butter bestrichen noch viel besser. Ich empfehle das nicht zur allgemeinen Nachahmung. Doch was ich empfehle, ist, das Essen so zuzubereiten, dass es richtig gut schmeckt. Dafür braucht man Fett. Es sorgt für Geschmack und dafür, dass wir nach dem Essen satt und zufrieden sind. Wir müssen nicht eine Stunde später etwas naschen. Wir denken in den nächsten Stunden nicht einmal ans Essen – höchstens an die letzte Mahlzeit, die so gut schmeckte.

Ich war ein dicker Teenager. Und ich habe alle Diäten ausprobiert. Ich weiß, wie es ist, zu dick zu sein, und ich weiß, wohin es führen kann, wenn man mit Gewalt und an seinen körperlichen Bedürfnissen vorbei versucht, schlank zu werden. Dass ich heute nicht mehr zu dick bin, verdanke ich Menschen, die keine Ernährungsberater waren. Sie haben mich gelehrt, auf meinen Körper zu hören, und das war gut so.

In den 1980er-Jahren studierte ich in Gießen Ernährungswissenschaften. Damals lief die Hetzjagd auf alles Fette, insbesondere auf die gesättigten Fettsäuren, auf Hochtouren. Jede Woche fuhr ich mit einer Palette Magerjoghurt, Süßstoff und Weizenkleie zur Uni. Dass das nicht funktionieren konnte, war mir damals noch nicht klar.

Das Pauken von Nährstoffen und Zahlen machte bald auch keinen rechten Spaß mehr. Wie erleichtert war ich, auf ein Grüppchen kritischer Ernährungswissenschaftler zu treffen, die sich viel umfassender mit dem Thema Ernährung befassten als die meisten Dozenten: Mit Unterstützung ihres Mentors Professor Claus Leitzmann hatten sie die Vollwerternährung (weiter)entwickelt. Das war spannend: Hier ging es darum, hochwertige, frische Lebensmittel, möglichst aus ökologischem Anbau, so zuzubereiten, dass sie gut schmecken und sättigen. Fettsparen war kein Thema, es ging darum, gute Butter und hochwertige, kalt gepresste Öle zu verwenden.

Heute bin ich überzeugt davon, dass die Vollwerternährung für viele Menschen zu getreidelastig ist, dass die empfohlenen Mengen an Roh- und Frischkost vielen nicht zuträglich sind und dass die Vorteile der Lebensmittelverarbeitung unterschätzt wurden. Doch in ganz wesentlichen Punkten hat die Vollwerternährung recht: Nimm frische, hochwertige, möglichst nach handwerklicher Tradition erzeugte Lebensmittel (idealerweise aus nachhaltiger und tiergerechter Erzeugung), dazu echte Gewürze und gute Fette. Dann ist schon das meiste für eine gute, gesunde Ernährung getan.

Das Fett blieb auch nach dem Studium im Beruf immer wieder (m)ein Thema. Obwohl mein erster Arbeitgeber, eine norddeutsche Landwirtschaftskammer, viele Rinder-, vor allem aber Schweine- und Geflügelhalter zu vertreten hatte, galt in der Abteilung Ländliche Hauswirtschaft als Gesetz, was die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) gebot: maximal drei Eier die Woche, maximal dreimal Fleisch und Wurst und maximal 30 Prozent der Kalorien als Fett. So war es und so schien es zu bleiben, in Ewigkeit, Amen.

Doch dann kreuzten zwei Menschen meinen Weg, die das alles ganz anders sahen und daher mein Interesse weckten: Einer war der Lebensmittel­chemiker Udo Pollmer, mit dem ich später etliche Jahre intensiv zusammenarbeitete und von dem ich unendlich viel lernen konnte. Der andere war ein Kollege: Der promovierte Ernährungswissenschaftler Nicolai Worm hatte jahrelang das Thema Fett erforscht und behauptete doch allen Ernstes, an den Geschichten über gesättigte Fette, Cholesterinspiegel und Herzinfarkt sei nicht viel dran. Zumindest seien sie wissenschaftlich nicht belegt.

Von Amts wegen sollte ich seinerzeit eine Gegendarstellung zur Cholesterinfrage schreiben, für die ich eifrig aus einem Ernährungsbericht der DGE zitierte. Ich wusste es noch nicht besser, denn damals hatte ich noch nicht begonnen, bei strittigen Fragen in der Originalliteratur nachzulesen. Inzwischen tue ich das so oft es eben geht, und bin immer wieder erstaunt, wie groß die Diskrepanzen zwischen der »Lehrmeinung« oder den »Beratungsstandards« und den Erkenntnissen oder auch Erkenntnislücken der Wissenschaft sind.

Beim Fett war und ist die Diskrepanz eklatant. Nachdem ich etliche Studien gelesen hatte, war mir klar, dass hier etwas getan werden muss. Schließlich waren die Menschen trotz – oder gerade wegen – der ganzen Fetthysterie immer dicker und kränker geworden. In meinem Buch »Fett!« versuchte ich, meinen Lesern die Angst vor diesem Nährstoff zu nehmen und zu erklären, dass die Fette ein integraler, lebensnotwendiger Bestandteil nicht nur unserer Speisen, unserer Ernährung, sondern auch unseres Körpers sind. Ohne Fett geht nichts!

Inzwischen ist viel passiert, und die Fette wurden auch in der Wissenschaft ein Stück weit rehabilitiert – zu meiner großen Freude in jüngster Zeit auch die gesättigten Fettsäuren. Doch die Resonanz auf die guten Neuigkeiten ist dürftig. Zwar greifen die Medien das Thema gelegentlich auf, doch von den Ernährungsorganisationen hört man darüber wenig bis nichts. Oder die alten Märchen: dass wir noch immer zu viel Fett äßen und dass es trotz aller neuer (alter) Erkenntnisse am besten sei, gesättigte Fette durch Kohlenhydrate zu ersetzen. Das bedeutet: Weder die Öffentlichkeit noch die am Patienten tätigen Ernährungsberater, Ärzte und Heilpraktiker sind ausreichend und sachlich über die gesundheitlichen Effekte der Fette informiert.

Aus diesem Grund – und natürlich weil ich so gerne Butter und Sahne esse – gibt es nun ein neues Buch mit einer klaren Botschaft: »Mehr Fett!« Ganz besonders freut mich, dass Nicolai Worm mit von der Partie ist. »Mehr Fett!« stellt die wichtigsten Erkenntnisse, spannende neue Perspektiven sowie ein paar Geschichten rund um diesen nährenden Stoff und seinen turbulenten Weg durch die Ernährungsmedizin für Sie zusammen. Ich würde mich freuen, wenn Sie Spaß an der Lektüre hätten und wenn Sie künftig – sofern Sie es mögen – auch marmoriertes Fleisch, Sahne, Nüsse, fetten Käse, gute Öle, Butter und Schmalz ohne schlechtes Gewissen genießen können.

30 Jahre im Widerstand

von Nicolai Worm

Im Wintersemester 1978/79 schloss ich mein Studium der Oecotrophologie an der Technischen Universität in München-Weihenstephan ab. Kurz darauf, am 2. Mai 1979, startete meine berufliche Laufbahn als Ernährungswissenschaftler am Institut für Sozialmedizin, Prävention und Rehabilitation (IPR) in Tutzing am Starnberger See. Das Institut hatte gerade EU-Forschungsgelder aus Brüssel erhalten, um Licht in die damals hochkochende »Fettfrage« zu bringen: Eine 1977 in den USA veröffentlichte Stellungnahme namens Dietary Goals hatte bis nach Europa für arge Turbulenzen gesorgt. Darin wurde behauptet, gesättigte Fettsäuren respektive tierische Fette stellten die größten Risiken für einen Herzinfarkt dar und mit pflanzlichen Fetten könne man dem »Killer« vorbeugen. Diese Ansichten wurden damals bei Weitem nicht von allen Wissenschaftlern geteilt, sowohl in den USA als auch in Europa. Es entbrannte eine heftige Diskussion, die auch in die Öffentlichkeit getragen wurde. Am 22. April 1979 titelte Der Spiegel: »Der große Bluff. Gesünder durch Margarine?«

Der Direktor meines ersten Arbeitgebers IPR, Professor Dr. Dr. Uwe Stocksmeier, Mediziner und Psychologe, gehörte zu den Skeptikern. In einer eigenen klinischen Studie hatte er zudem entsprechende Erfahrungen gesammelt. Die Aufgabe des IPR war nun, mithilfe der EU-Mittel eine umfassende Dokumentation der wichtigsten Studien zur Frage des Einflusses von Fett auf Koronare Herzkrankheiten anzufertigen und in Form einer Datenbank öffentlich zugänglich zu machen. Die bis dato vorliegenden Studien sollten in Anlage und Ergebnis zusammengefasst und nach genau vorgegebenen, wissenschaftlich akzeptierten Kriterien bewertet werden. Auf diese Weise würden auch ihre wesentlichen Schwächen und Kritikpunkte dargestellt und bekannt werden. Zu guter Letzt sollte auch die Meinung neutraler Gutachter zur Aussagekraft der einzelnen Studien eingeholt und dokumentiert werden. Wir nannten das Projekt ELA (ErnährungsLiteraturAnalyse), denn es sollte später auch auf andere Ernährungsfragen erweitert werden. Zu finden war die Dokumentation in der Datenbank des Bayerischen Staatsministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten.a

Als wir Jahre später im Rahmen einer Pressekonferenz ELA der Öffentlichkeit vorstellten, umfasste die Datenbank die komplette Analyse und Bewertung der 33 am häufigsten zitierten klinischen und epidemiologischen Studien zum Fettthema; weitere Dokumentationen waren in Arbeit.
Interessierte Mediziner, Ernährungsfachkräfte und Journalisten bekamen kostenfreien Zugriff. In unserem Forschungsetat befand sich auch ein großer Betrag für Reisekosten. Damit sollte ich, mittlerweile ELA-Projektleiter, möglichst viele Originalschauplätze besuchen können, um Zusatzinformationen von den Studienleitern einzuholen, einen Gedankenaustausch anzustoßen und sie zu motivieren, mit ELA zu kooperieren. Wenn unsere Analysen fertig wären, sollten sie ihnen zur Stellungnahme vorgelegt und ihre Kommentare ebenfalls in die Dokumentation integriert werden.

Und so begann im Frühjahr 1980 meine Reise zu ausgewählten Wissenschaftlern in ein paar Dutzend Universitäten in USA, Kanada, Puerto Rico und Italien. Ich traf Frederick Stare, Marvin Bierenbaum, Jeremiah Stamler, George Christakis, Seymore Dayton, Siegfried Heyden, Henry Blackburn, Robert Shekelle, David Jacobs, Alessandro Menotti und viele mehr. Was ich erst später richtig einschätzen konnte: Ich hatte die meisten der berühmten Fettforscher dieser Zeit persönlich kennengelernt. Einige hatten mich sogar nach Hause eingeladen. Wie nachhaltig ich von diesem Austausch profitieren würde, war mir damals noch nicht klar. Auch ahnte ich nicht, dass ihr Werk 30 Jahre später immer noch in der Diskussion stehen würde.

Durch dieses Projekt war ich gezwungen, mich intensiv mit Epidemiologie auseinanderzusetzen. Mein Chef Stocksmeier hatte mir frühzeitig eingebläut: Aus Korrelationen lässt sich grundsätzlich kein ursächlicher Zusammenhang ableiten – eine Unart, die damals wie heute weit verbreitet ist. Ursächliche Zusammenhänge könne man nur mittels kontrollierter, randomisierter, möglichst doppelt blinder Interventionsstudien überprüfen und gegebenenfalls belegen. Zudem ließ ich mich von den Arbeiten des britischen Medizinstatistikers Bradford Hill (1897–1991) leiten. Er hatte in den 1960er-Jahren die heute immer noch gültigen (Bradford-)Hill-Kriterien für Kausalität in der Medizin formuliert. Sie bestehen aus neun Merksätzen, anhand derer man eine vermutete Ursache-Wirkungs-Beziehung zu überprüfen habe. Werden mangels klinischer Studien epidemiologische Daten herangezogen, so Hill, müsse ganz besonders beachtet werden, ob es eine Dosis-Wirkungs-Beziehung gibt, ob plausible biologische Erklärungsmechanismen für die postulierten Zusammenhänge bekannt sind und ob die vorliegenden Studienergebnisse konsistent sind.

Von Stocksmeier hatte ich die Position übernommen, dass es fahrlässig ist, wenn staatliche oder halbstaatliche Organisationen konkrete Ernährungsempfehlungen für Millionen gesunder Bürger abgeben, um sie dazu zu bewegen, ihre Ernährungsgewohnheiten einschneidend zu verändern, ohne gesichertes Wissen darüber zu besitzen, ob diese Maßnahmen sich in nennenswerten gesundheitlichen Vorteilen für die Bürger niederschlagen.

Bald kannte ich jede Studie in- und auswendig und hatte zudem reichlich Hintergrundinformationen und persönliche Meinungen der Studienleiter eingesammelt. Je mehr ich wusste, umso größer wurde meine Frustration. Ich realisierte, dass viele Studien derart erhebliche methodische Probleme aufwiesen, dass ihre Aussagefähigkeit gering war. Anhand der Bradford-Hill-Kriterien erkannte ich, dass die »Fettthese« zum Herzinfarkt weit davon entfernt war belegt zu sein. Im Gegenteil: Sie erschien mir zunehmend wie ein Kartenhaus, das einstürzen würde, sobald man auch nur einmal an der Fassade kratzt. Es war ein äußerst lehrreicher Prozess. Erst kurz zuvor hatte ich völlig margarinegläubig die Uni verlassen. Butter hatte ich aus Überzeugung seit einigen Jahren nicht mehr angefasst, stattdessen die »gute« Pflanzenmargarine aufgestrichen. Mein Universitätslehrer Günther Wolfram hatte uns Studenten nachhaltig eingetrichtert, um wie viel gesünder es sei, die gehärteten Pflanzenfette zu essen. Es schien, als könne man von der »besonders wertvollen« Linolsäure darin gar nicht genug bekommen.

Was sollte ich tun? Nach meinen Erkenntnissen stimmte die Lehre nicht mit den Forschungsergebnissen überein, ja zum Teil stand sie in krassem Gegensatz dazu. Ich hielt es für meine Pflicht, über diese Diskrepanz ungeschminkt zu berichten. Heute würde ich sagen, ich war reichlich naiv. Denn was mich nun erwarten würde, hätte ich mir nie erträumen lassen.

Ins kalte Wasser gesprungen

Einen ersten Vorgeschmack bekam ich im Juni 1979. Professor Stocksmeier hatte einen Vortrag auf dem 1. Weltkongress für Ernährung in Uppsala (Schweden) angemeldet, auf dem er über die 5-Jahres-Ergebnisse seiner kontrollierten Diätintervention bei Infarktpatienten berichten wollte. Seine »Oberbayerische Herzinfarktstudie« hatte getestet, wie sich der Austausch von Butter durch Margarine auf die Reinfarktrate bei Herzinfarktpatienten auswirkt. Die Studie war zunächst von der Margarine-Industrie unterstützt worden. Nach ein paar Jahren blieben diese Forschungsmittel aus. Ob das damit zu tun hatte, dass kein Vorteil für die Margarine erkennbar war? Stocksmeier besorgte sich andere Gelder, wurde vor allem vom Bayerischen Ernährungsministerium unterstützt.

In Uppsala wollte er jedenfalls seine Studie vorstellen, musste aber kurzfristig umdisponieren – und schickte mich als Ersatz.

Mittsommernacht in Schweden. Meine erste wissenschaftlich Tagung – und dann gleich ein Weltkongress. Im Saal mehrere Hundert Teilnehmer. Den Vorsitz bei meinem Vortrag hatte Pekka Puska, einer der berühmtesten Ernährungsepidemiologen, in dessen Nord-Karelien-Projekt die Margarine-Industrie ebenfalls involviert war. Warum Stocksmeier ausgerechnet mich geschickt hatte, ist mir bis heute schleierhaft. Gut war nur mein Englisch. Ansonsten war ich völlig unerfahren und hatte von seiner Studie wenig fundierte Kenntnisse. Immerhin stellte er mir seine Folien und sein Manuskript zur Verfügung. Als ich zum Rednerpult schritt, war mir vor Aufregung schwindlig.

Irgendwie brachte ich den Vortrag zu Ende. Als ich mich schweißgebadet von der Bühne verdrücken wollte, kündigte der Vorsitzende »die Diskus­sion« an. Diskussion? Was sollte das? Was war damit gemeint? »Was gibt es da zu diskutieren?« wirbelte es in meinem Kopf. Davon hatte mein Chef nichts erwähnt. Bevor ich weiterdenken konnte, ging es auch schon los. In der ersten Stuhlreihe erhoben sich die Finger. Ich blickte in erzürnte Männergesichter. Sie stellten merkwürdige Fragen zur Methodik und Auswertung der Studie. Ich verstand die Bedeutung dieser Fragen nicht und konnte sie auch nicht beantworten. Später erfuhr ich: Vor mir war gerade die halbe Forschungsriege der Margarine-Industrie explodiert.

Danach hätte ich mich vor Scham am liebsten am nächsten Baum aufgeknüpft. Doch eine Reporterin des Bayerischen Rundfunks war mir in den Garten der Universität von Uppsala gefolgt. Sie wollte unbedingt ein Interview mit mir führen. Wahrscheinlich hat sie mir das Leben gerettet. Und ich schwor mir, von nun an würde mich kein Mensch mehr ahnungslos und unvorbereitet bei einer Diskussion antreffen.

Einige Tage nach Uppsala berichtete der Bayerische Rundfunk über meinen Vortrag auf dem Weltkongress. Tenor: Es sei längst nicht geklärt, ob Margarine wirklich besser als Butter sei. Mein Chef war überaus zufrieden. Kurze Zeit später trudelte bei mir zu Hause ein Brief ein. Tenor: Meine Ausführungen in Uppsala seien bedenklich. Die Studie von Professor Stocksmeier sei angreifbar und irrelevant, und ich solle mir noch einmal gut überlegen, ob ich mich als junger Wissenschaftler weiterhin mit solchen unhaltbaren Aussagen positionieren wolle, die konträr zur wissenschaftlichen Lehre stünden. Den Absender dürfen Sie erraten.

Wirklich verstanden habe ich diesen Brief nicht, denn zu diesem Zeitpunkt waren mir die wirtschaftlichen Hintergründe in keiner Weise bewusst. Ich verstand nur, dass da ein gewisses Drohpotenzial durchklang und wunderte mich. Was ich auch noch nicht ahnte: Es würde nicht der letzte Brief aus diesem Hause sein.

Prominente Berichterstattung

Mein Forschungsetat am IPR sah auch Gelder für eine wissenschaftliche Tagung vor. Ein Jahr lang bereitete ich den Kongress vor, wobei sich meine neu erworbenen Kontakte zu den zahlreichen Fettforschern als hilfreich erwiesen. Und so trugen am 15. und 16. März 1982 in München 50 Wissenschaftler aus aller Herren Länder rund um das Thema »Ernährung und Herzinfarkt« vor. In der Rückschau kann ich sagen: Da war richtig viel Prominenz versammelt. Viele der damals führenden Forscher sind heute weltbekannt: Gerd Assmann, David Kritchevsky, George Mann, Pirjo Pietinen, Kalevi Pyörälä, Serge Renaud, um nur einige zu nennen, und nicht zuletzt der »Außenseiter« Wolfgang Lutz aus Salzburg, dem dieses Buch gewidmet ist. Nach Stocksmeiers Maxime hatte ich alle eingeladen, die sich im weitesten Sinn mit dem Thema befassten. Allen voran die Butter- und die Margarinebefürworter, denn wir wollten einen offenen Austausch erreichen, eine Basis für einen Neuanfang in der Fettdiskussion.

Auch das Auditorium unseres Kongresses konnte sich sehen lassen. Eine Gruppierung fehlte jedoch. Wir hatten auch Professoren aus der Präsidiumsriege der Deutschen Gesellschaft für Ernährung angeschrieben und eingeladen, zum Vortrag wie zur Diskussion. Doch alle Anfragen wurden abgelehnt. Kein Interesse. Von einem DGE-Mitglied erfuhr ich später vertraulich, dass es einen »Boykottbeschluss« gegeben hätte: Bloß nicht diese Tagung durch Anwesenheit adeln!

Während des Kongresses schaffte es der Münchner Wissenschaftsjournalist Jürgen-Peter Stössel, den Skeptiker Stocksmeier mit drei Protagonisten der Pflanzenmargarine zum Interview an einen Tisch zu bringen: die Professoren Siegfried Heyden, Marcel Kornitzer und Antoine Vergroessen, den Forschungschef von Unilever. Es wurde ein überraschend konstruktiver Austausch und Stocksmeier gelang es, den Ausgang offen zu halten. Im Mai 1982 brachte Stössel in der Zeitschrift Bild der Wissenschaft einen neunseitigen redaktionellen Beitrag über den Butter-Margarine-Streit, über meine Tätigkeit im Rahmen des ELA-Projekts und als Krönung das Interview. Im Artikel stellte er auch einige Dokumentationen aus ELA näher vor. Stössel zitierte Aussagen zur Oslo Diet Heart Study und beschrieb, wie deren Studienleiter Professor Leren für ELA offen eingeräumt hatte, dass seine Studie hinsichtlich der Fettfrage streng genommen keine hinreichende Aussagekraft besäße. Auch die Finish Mental Hospital Study wurde genannt, die wegen ihrer chaotischen Methodik nicht nur für ELA heftig kritisiert worden war.

Dass ausgerechnet diese beiden Studien heute wieder in Meta-Analysen integriert und ohne kritischen Abstand als die wichtigsten Belege der Fett­these ausgewiesen werden, ist für mich einfach unfassbar! Im Kapitel »Mehr Fett für Herz und Kreislauf!« wird Ihnen dieses Thema wieder begegnen.

Feindbild aufgebaut

Die Veröffentlichung in Bild der Wissenschaft war wahrscheinlich der Durchbruch: Fortan galt ich in gewissen Kreisen als »Feind«. Bei jeder Gelegenheit wurde kolportiert, ich sei inkompetent und unwissenschaftlich, würde die Daten verfälscht darstellen und obendrein nicht einmal realisieren, dass ich gegen die große Mehrheit der Experten stünde. Wie oft brachte mich das ins Zweifeln! Konnte es sein, dass sie doch alle recht hatten? Hatte ich etwas übersehen oder missverstanden? Täuschte ich mich?

Doch so oft ich die ganze Sache auch überprüfte, ich kam immer wieder zum gleichen Ergebnis: Die meisten Langzeitbeobachtungsstudien zeigten keinen signifikanten Zusammenhang und die Mehrheit der klinischen Studien fand keine signifikanten Präventions- oder Therapieerfolge. Und so verkündete ich weiterhin in Wort und Schrift: Es gibt keine ernst zu nehmenden Belege dafür, dass gesättigte Fettsäuren oder tierische Fette Herzinfarkt fördern oder dass Butter, Milch, Eier oder Fleisch für Herz und Kreislauf bedenklich sind.

Auf eigenen Füßen

Mitte der 1980er-Jahre machte ich mich selbstständig und begann Artikel zu meinem Fachgebiet zu veröffentlichen. Daraufhin luden mich einige Milchverbände zu Veranstaltungen ein, wo ich meine Kenntnisse vortragen konnte. Einige Eier-, Geflügel- und Fleischverbände folgten. Ich wurde von Medien und von verschiedenen Institutionen als wissenschaftlicher Berater engagiert. Im Jahr 1986 bekam ich erstmals Kontakt zur Centralen Marketinggesellschaft der Deutschen Agrarwirtschaft (CMA). Die Agentur Dr. H. H. Pöhnl Pharma-Ärzte-Information veranstaltete im Auftrag der CMA Ärztefortbildungen und arbeitete ihr in Sachen Wissenschafts-PR zu. Deutschland steckte mitten im Butter-Margarine-Krieg.

Da kannte ich mich aus, und deswegen holte mich die Agentur als Berater, für Texte und Anzeigen. Diese CMA-Kampagnen wurden als ungeheuer­liche Provokationen angesehen. Es genügte, auf die vielen widersprüchlichen Daten der Studien hinzuweisen und schon war Empörung sicher. In der Ernährungsszene hatte sich längst der Glaube etabliert, dass es »gute« und »böse« Fette gäbe. Und die CMA stand für das Böse. Da half auch nichts, dass sie auch PR für Gemüse und Obst, Kartoffeln, Zucker, Brot und Rapsöl machte – alles Erzeugnisse aus der »guten« Fraktion. Für viele blieb die CMA ein Synonym für Fleisch und tierische Fette.

Nachdem die CMA Mitte der 1990er-Jahre ihre Zusammenarbeit mit der Pöhnl-Agentur beendet hatte, wurde ich einige Jahre lang direkt als Berater für einzelne Projekte engagiert oder eingeladen, auf Veranstaltungen meine Erkenntnisse vorzustellen. Ab diesem Zeitpunkt wurde mir gerne unterstellt, die CMA würde mir vorschreiben, was ich zu sagen hätte. Das war schon interessant, denn der Informationsfluss war selbstverständlich umgekehrt: Ich trug meine Kenntnisse vor und ermunterte die Marketing- und PR-Fachleute darin, sie in ihre Arbeit einzubinden. In dieser Zeit lernte ich ein Grundgesetz der Ernährungsszene kennen: Wer auf Veranstaltungen der Milch-, Eier-, Fleisch- oder Geflügelverbände vorträgt, ist ein Lobbyist. Wer hingegen auf Veranstaltungen der Margarine-, Zucker- oder Getreideindustrie vorträgt, wie es für diverse DGE-Präsidiumsmitglieder üblich war, ist ein Wissenschaftler.

Kesseltreiben

Offenbar war die Arbeit der CMA in Sachen (tierisches) Fett erfolgreich. Der Markt für manch andere Fette entwickelte sich nicht nach den Wünschen ihrer Produzenten. Jedenfalls startete Mitte der 1990er-Jahre eine koordinierte Medienkampagne gegen die CMA. Zusätzlich dienten außer mir auch der Kardiologe Professor Martin Kaltenbach von der Universität Frankfurt und der Diabetologe Professor Michael Berger von der Universität Düsseldorf als persönliche Zielscheiben. In zahlreichen Medienberichten wurde unterstellt, die CMA wie auch die genannten Personen würden – im Auftrag der CMA – aus kommerziellem Interesse die Unwahrheit verbreiten und wissenschaftliche Daten verfälscht darstellen. Auf­wiegeln­de Texte wurden gezielt unter Ernährungsberatern gestreut.

Urheber der Hetze war eine Presseagentur. Bekanntlich kosten solche Medienaktionen viel Geld. Da Agenturen selten honorarfrei arbeiten, stellte sich die Frage: Wer steckt dahinter? Wer finanziert das? Der Agentur­inhaber war für bestimmte Vorzüge bekannt und in einschlägigen Kreisen geschätzt. Der Spiegel berichtete in anderem Zusammenhang einmal über ihn, eine seiner Spezialitäten sei der Verkauf von angeblich unabhängig recherchierten Storys, hinter denen in Wahrheit ein zahlender Auftraggeber steht.

Wer in diesem Fall der Auftraggeber war, konnten die eingeschalteten Rechtsanwälte schnell aufklären. Da die Vorwürfe haltlos waren, erwirkte die CMA im November 1996 ein Unterlassungsurteil gegen die Agentur. Mit dem eigentlichen Auftraggeber einigte man sich außergerichtlich und verabredete einen »Waffenstillstand«. Bedauerlich, denn so erfuhr die Öffentlichkeit nie die Hintergründe der Hetzjagd.

Bei den Rechtsanwaltrecherchen und Hintergrundgesprächen in Sachen Rechtsstreit wurde aufgedeckt und mir seitens der CMA mitgeteilt, dass der ominöse Auftraggeber offenbar jahrelang ein Dossier über mich und meine Aktivitäten führen ließ. Darin war festgehalten, was ich wann und wo in Wort oder Schrift in Sachen Fett und Cholesterin von mir gegeben habe. Wer auf welche Weise diese Informationen gesammelt hat, wurde mir nicht offenbart. Ein »fetter« Geheimdienst?

Der Chef der Presseagentur hatte für seine oben beschriebene Schmutzkampagne gegen die CMA, Kaltenbach, Berger und mich einen Diät­assistenten als Berater engagiert. Dessen Profilierungssucht führte dazu, dass er nicht nur verdeckt der Agentur zuarbeitete, er gefiel sich auch darin, eigenständig gegen mich zu agitieren. Als er sich eines Tages wieder einmal zu der Behauptung hinreißen ließ, ich würde bewusst wissenschaftliche Daten »fälschen«, verklagte ich ihn. Vor Gericht musste er unter Eid aussagen. Auf gezielte Nachfrage des Richters gab er nicht nur über die geschäftliche Verbindung zur Agentur Auskunft, er dekuvrierte auch den Geldgeber der ganzen sündhaft teuren Kampagne.

Überrascht hat mich der Name nicht. Die Sache gerichtlich aufgeklärt zu haben war freilich eine Genugtuung. Dennoch blieb ein Wehmutstropfen, denn auf Vorschlag des Gerichts kam es zu einem Vergleich: Er durfte zwar diese falschen Behauptungen nicht weiter verbreiten, aber mir wurde auferlegt, über die genauen Hintergründe des Verfahrens zu schweigen. Wie gerne wollte und würde ich Ross und Reiter nennen!

In den folgenden Jahren, in denen ich weiterhin die CMA projektweise beriet, schrieb ich auch über die Bedeutung von Kohlenhydraten, wie Zucker, Brot, Kartoffeln und Teigwaren in der Sporternährung, über die Bedeutung des Gemüse- und Obstverzehrs und über die Bedeutung von Omega-3- und einfach ungesättigten Fettsäuren, sprich Rapsöl. Doch nie kam mir zu Ohren, ich sei ein Rapsöl- oder Gemüselobbyist. Es blieb beim Butter-, Eier- oder Fleischlobbyisten. Und den galt es zu bekämpfen.

Mit der Zeit schossen sich immer mehr Institutionen auf die Fettthese ein. Hervorgetan hatte sich in den 1990er-Jahren dabei die Lipid-Liga e. V., eine »Fachgesellschaft zur Bekämpfung von Fettstoffwechselstörungen und ihren Folgeerkrankungen« mit Sitz in München.b Man könnte sie auch als »Interessenverband« der Pharmaindustrie bezeichnen, dessen wichtigstes Ziel es ist, die Bedeutung der Cholesterinsenkung herauszustellen. Die ­Lipid-Liga hat seit Jahren auch einen Margarinehersteller als Mit-Sponsor. Ihre Veröffentlichungen zu Ernährungsfragen genossen dennoch immer den Ruf, wissenschaftlich korrekt und inhaltlich ausgewogen und neutral zu sein. Sie stammten ja auch von hoch dotierten Professoren.

Medienschelte

Wie problematisch es war, einen kritischen Beitrag gegen den Zeitgeist in die Medien zu bringen, soll folgendes Beispiel schildern. Für die ARD-Sendung Report aus München am 2. August 1999 hatte ich im Interview geäußert, es gäbe keine Belege dafür, dass eine Umsetzung der DGE-Empfehlung, den Fleischkonsum auf zwei bis drei Portionen wöchentlich einzuschränken, gesundheitliche Vorteile brächte. Schon das war offenbar zu viel des Guten. Dabei hatte ich nur gesagt, es gäbe keine Belege!

Die Reaktion kam prompt und heftig. Helmut Oberritter, »wissenschaftlicher« Leiter der DGE, beschwerte sich bei der CMA. Fünf Professoren – Erbersdobler, Wolfram, Barth, Peinelt und Heseker – schrieben an den Intendanten des Bayerischen Rundfunks und beklagten sich bitter, wie man einem derart unseriös agierenden, unwissenschaftlichen Menschen wie mir eine solche Plattform bieten könne.

Seit Mitte der 1990er-Jahre vermittle ich Ernährungsthemen in erster Linie auf Fortbildungsveranstaltungen der Pharmaindustrie: Da gibt es für mich weder Interessenkonflikte noch den Verdacht der Abhängigkeit. Meine Kooperationen mit der CMA endeten im Jahr 2006. Anfang 2009 kippte das Verfassungsgericht in Karlsruhe die Zwangsabgabe der Bauern und damit die finanzielle Basis der CMA. Sie musste umgehend alle Tätigkeiten einstellen und wird seither abgewickelt. Ich wies weiterhin bei jeder sich bietenden Gelegenheit darauf hin, dass die Ernährungslehre in wesentlichen Teilen auf Thesen und nicht auf gesichertem Wissen beruht.

Als Zeitzeuge kann ich heute anmerken, um wie viel schwieriger dies vor 20 oder 30 Jahren war. Bevor es Evidenzgrade und Meta-Analysen gab, konnte man sich immer nur auf einzelne Studien beziehen. Von den »Experten« konnte dies leichthin mit dem Hinweis wegdiskutiert werden, dass es schließlich noch andere Studien gäbe. Heute ist die Argumentation leichter geworden. Heute zählen an erster Stelle Meta-Analysen.

Zum Fettthema sind 2009 und 2010 sogar drei Meta-Analysen veröffentlicht worden. Nachdem meine Kollegin Ulrike Gonder und ich die Ergebnisse öffentlich kommentiert und zum x-ten Mal die krasse Diskrepanz zwischen gängiger Lehrmeinung und wissenschaftlicher Datenlage beschrieben hatten, wurden wir erneut als CMA-Lobbyisten bezeichnet. Das ist ein fast metaphysischer Aspekt: Wir sind nun Lobbyisten für eine Institution, die es nicht mehr gibt.

 


a Seit Sommer 2010 stellt das amerikanische Landwirtschaftsministerium ­kostenfrei eine Datenbank namens Nutrition Evidence Library (NEL) zur Ver­fügung, die in fast identischer Form Studien dokumentiert und analysiert:
http://www.nutritionevidencelibrary.com/default.cfm?home=1

b http://www.lipid-liga.de/cms/index.php?option=com_content&task=view&id=73&Itemid=127