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Schulfreie Bildung

Die Vernachlässigung schulfreier Bildungskonzepte in Deutschland

Jan Edel

Einleitung

Wenn Sie als Leser von alternativen Bildungsformen für Kinder, das heißt von Lernformen ohne Schulbesuch, engl. meist homeschooling genannt, bereits überzeugt sind, brauchen Sie dieses Buch nicht zu lesen.

Wenn Sie home education, wie man es in England nennt, schon kennen, haben Sie wahrscheinlich mehrere Kinder und/oder haben vielleicht bereits Erfahrungen mit diesen Konzepten gemacht.

Wenn Sie international bewandert sind, wenn Sie auffällige Kinder haben, die sehr begabt sind oder mit Lernschwierigkeiten kämpfen, dann können Sie sich informelles Lernen ohne Schulunterricht auch zu Schulzeiten vorstellen. Wenn Sie als Erwachsener mehr am Lernen als am Lehren interessiert sind und dem Leben in einer Familie einen Sinn beimessen, dann werden Sie sich auch für das Lernen mit und in Familien interessieren. Wenn Sie Freiheit, Entdeckungen und Abenteuer lieben, werden Sie an dem Thema des Buches Ihre Freude haben.

Dieses Buch ist für neugierige Zweifler zusammengestellt worden, die (noch?) nicht erkennen können, dass auch unser Land Deutschland bereichert werden würde, wenn »Lernen ohne Schule« bei uns eine Bildungsoption darstellen könnte, von der fast alle Länder der Welt bereits aus verschiedenen Gründen profitieren.

In seinem Buch »Systemzwang und Selbstbestimmung«, so schreibt schon der große Pädagoge Hartmut von Hentig vor 36 Jahren in einem weiteren Buch1, habe er zu zeigen versucht, »dass die Komplexität, die Interdependenz und die beschleunigte Veränderung unserer Gesellschaft ein hohes und unbequemes Maß an Mitbestimmung fordern, wenn sie nicht in Chaos oder in Automatismus oder Terror enden soll«. Mitbestimmung aber setze Selbstbestimmung voraus. »Unsere Erziehung ist immer noch von totalitären Strukturen geprägt«, sagt der Hamburger Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Struck, angekommen im 21. Jahrhundert.

Auch auf die katastrophale Bildungssituation in unserem Land muss nicht näher eingegangen werden und soll nicht Gegenstand dieses Buches sein. Lösungen für die gesamte Bildungssituation sind schwierig und können nicht durch staatliche Organe allein entwickelt werden. Sicherlich muss das Schulsystem sorgfältig individualisiert, dereguliert und entstaatlicht werden.

Der ewige Kampf um die richtige Schulform und das Gerangel um Ganz- und Gesamtschulen gegen ein 3-gliedriges Schulsystem bringt die Menschen jedoch nicht weiter, wenn nicht Bildung ganz neu und unabhängig vom Institutionsgedanken gedacht wird. Auch Forschungsergebnisse zum Lernen und über die Beschaffenheiten des Gehirns müssen unkonventionell und ideologiefrei in Umsetzungen münden. Die gesellschaftlichen und die durch Schulen implizierten Probleme werden durch Ganztagsschulen oder durch »gemeinsames Lernen unter einem Dach« ohne Konzeptbrüche (Stichwort Individualisierung, Sozialisierung in der realen Welt der Erwachsenen) nicht weniger. Wahrscheinlich kommen zusätzliche Probleme und negative Effekte, etwa für Selbstständigkeit, Persönlichkeit der Kinder und vor allem den Zusammenhalt einer Familie hinzu.

In Bezug auf das Schulsystem soll hier nur deutlich werden, wie dringend systemimmanente Veränderungen und tiefgreifende Reformen besonders auch im staatlichen Schulwesen notwendig sind. Das Bestreben nach Bildungsfreiheit für Einrichtungen und vor allem für Kinder hat in Deutschland allgemein einen schweren Stand: Unzählige Schulgesetze, Gewerkschaften, Gremien und Bürokratie, die lehrer- und lehr- statt lern- und kindzentrierten Gesellschaft sowie die über 70 Jahre eingefleischte Verknüpfung der Begriffe »Lernen« mit »Schule« machen echte Reformen und neue Bildungswege fast unmöglich. Möglichkeiten der Veränderung und des Wandels sind auch durch eine in Deutschland besonders feste Vorstellung von Schule sehr eingeschränkt. Die Kreativität und Intelligenz von Bildungslösungen mag größer sein als die der etablierten Mehrheit. Aber die Intelligenz einer Mehrheit scheint oft übermächtig und vermag nachhaltige Stagnation zu bewirken. Das spüren insbesondere auch die Privatschulgründer und Schulen mit engagierten und modernen Konzepten. Obwohl sich nun die Argumentationen für ganz private Bildung oft mit denen der Privatschulen überdecken, soll mit diesem Buch unabhängig davon gezielt die Sache des privaten Lernens ohne Schule vorgestellt werden. Neben allen schulimmanenten Reformen bedarf es nämlich auch ganz neuer, freiheitlicher Lösungen für gute Bildung.

Unabhängig also von der Problematik und den notwendigen Aufgaben im Schulwesen soll das vorliegende Buch über die Existenz und Berechtigung neuer Bildungswege aufklären und informieren. Die hier vorgestellten Argumentationen sollen nicht dahin zielen, dass deutsche Schulsystem pauschal zu disqualifizieren oder abzulehnen. Erstens sind optimale Voraussetzungen und Umstände für eine komplett institutionsfreie Bildung nur selten gegeben. Zweitens hat der Staat für eine gute und öffentlich anzubietende Bildung eine Verantwortung. Dieser Verantwortung kann er schließlich nur institutionalisiert gerecht werden und muss sich daher um die Verbesserung der entsprechenden Einrichtungen kümmern.

Um jedoch neue außerschulische Lösungen auch für deutsche Bundesländer nutzbar und praktikabel zu machen, bedarf es Möglichkeiten der staatlichen Aufsicht und Qualitätssicherung, ähnlich wie für das Schulwesen. Es würde allerdings den Rahmen dieses Buches sprengen, alle verschiedenen Ansätze des Auslands hierzu zu erläutern und eingehend zu diskutieren. Diese Ansätze werden deshalb nur gestreift. Einige Ansatzpunkte hierzu vorab sind (Nichtschüler-)Prüfungen, Stammschulen, Registrierung per ausformuliertem Antrag, Inspektionen, Hausbesuche, Bildungsloggbücher, Bildungsgutscheine, Fernschulen, zweckgebundenes Kindergeld für Erziehung und Bildung, Lernmaterialien und Eintritte, Aufnahmeprüfungen zu weiterbildenden Schulen oder Hochschulen.

Allgemein plädiere ich mit diesem Buch für

  1. die komplette Ausdifferenzierung des Bildungssystems: Bildung für jeden und nicht nur für alle. Alles, was vergleichbare oder bessere Bildungsergebnisse bringt, muss eine Chance bekommen.
  2. Stärkung der Familienkompetenz zu Erziehung und zum Heranreifen kreativer, eigenständiger Persönlichkeiten. Eltern dürfen nicht schleichend entmündigt werden oder zu reinen Reproduktionsinstanzen verkommen. Das Ansehen und die Funktion von Eltern und allgemein von Familie kann nur dadurch steigen bzw. erhalten bleiben, wenn ihnen wieder alles zugetraut wird, was sie in anderen Ländern komplett in ihrer Verantwortung haben und somit den Staat bilden.
  3. Freiheit und Eigenverantwortung der Eltern für die Bildung ihrer Kinder. An diesem Punkt ist kein Staat so übergriffig wie Deutschland. Innerhalb eines rechtlichen Grundrahmens muss jeder Mensch, jede Familiengründung seine und ihre Selbstbestimmung und Eigenständigkeit haben und erhalten können.

Das vorliegende Buch ist grob in fünf Teile gegliedert:

I. Lernen in Familien ohne Schule: Der erste Teil führt in das Thema ein und soll Begriffe, Hintergründe und Motivationen klären.

II. Argumentationen: Teil II beinhaltet gängige Argumentationen für schulfreies Lernen und will Antworten auf Standardfragen und Bedenken gegen schulfreie Bildung geben.

III. Stellung des Staats und der Regierungen: Der rechtlichen Lage in Deutschland und darüber hinaus ist der Teil III gewidmet.

IV. Zitate, Interviews, Leserbriefe, Berichte: Teil IV ist eine Vertiefung mit Interviews, interessanten Berichten und bedeutenden Bemerkungen zum Thema dieses Buches.

V. Studien, Internet, Literatur: Der abschließende Teil V enthält Hinweise auf weiterführende Informationen, Internet-Portale, wissenschaftliche Studien und deutsche Literatur.


1 Hentig, Hartmut von: Cuernavaca oder: Alternativen zur Schule? München 1971, S. 10

Teil I: