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Psychoanalyse im 21. Jahrhundert

Klinische Erfahrung, Theorie, Forschung, Anwendungen

 

Herausgegeben von Cord Benecke, Lilli Gast, Marianne

Leuzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens

 

Berater der Herausgeber

Ulrich Moser

Henri Parens

Christa Rohde-Dachser

Anne-Marie Sandler

Daniel Widlöcher

Marco Conci

Wolfgang Mertens (Hrsg.)

Psychoanalyse im 20. Jahrhundert

Freuds Nachfolger und ihr Beitrag zur modernen Psychoanalyse

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

 

 

 

 

1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-028428-9

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-028429-6

epub:    ISBN 978-3-17-028430-2

mobi:    ISBN 978-3-17-028431-9

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Geleitwort zur Reihe

 

 

 

 

 

Die Psychoanalyse hat auch im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Bedeutung und Faszination verloren. Sie hat sich im Laufe ihres nun mehr als einhundertjährigen Bestehens zu einer vielfältigen und durchaus auch heterogenen Wissenschaft entwickelt, mit einem reichhaltigen theoretischen Fundus sowie einer breiten Ausrichtung ihrer Anwendungen.

In dieser Buchreihe werden die grundlegenden Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse allgemeinverständlich dargestellt. Worin besteht die genuin psychoanalytische Sichtweise auf Forschungsgegenstände wie z. B. unbewusste Prozesse, Wahrnehmen, Denken, Affekt, Trieb/Motiv/Instinkt, Kindheit, Entwicklung, Persönlichkeit, Konflikt, Trauma, Behandlung, Interaktion, Gruppe, Kultur, Gesellschaft u. a. m.? Anders als bei psychologischen Theorien und deren Überprüfung mittels empirischer Methoden ist der Ausgangspunkt der psychoanalytischen Theoriebildung und Konzeptforschung in der Regel zunächst die analytische Situation, in der dichte Erkenntnisse gewonnen werden. In weiteren Schritten können diese methodisch trianguliert werden: durch Konzeptforschung, Grundlagenforschung, experimentelle Überprüfung, Heranziehung von Befunden aus den Nachbarwissenschaften sowie Psychotherapieforschung.

Seit ihren Anfängen hat sich die Psychoanalyse nicht nur als eine psychologische Betrachtungsweise verstanden, sondern auch kulturwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche sowie geisteswissenschaftliche Perspektiven hinzugezogen. Bereits Freud machte ja nicht nur Anleihen bei den Metaphern der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts, sondern entwickelte die Psychoanalyse im engen Austausch mit geistes- und kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen. In den letzten Jahren sind vor allem neurowissenschaftliche und kognitionspsychologische Konzepte und Befunde hinzugekommen. Dennoch war und ist die klinische Situation mit ihren spezifischen Methoden der Ursprung psychoanalytischer Erkenntnisse. Der Blick auf die Nachbarwissenschaften kann je nach Fragestellung und Untersuchungsgegenstand bereichernd sein, ohne dabei allerdings das psychoanalytische Anliegen, mit spezifischer Methodik Aufschlüsse über unbewusste Prozesse zu gewinnen, aus den Augen zu verlieren.

Auch wenn psychoanalytische Erkenntnisse zunächst einmal in der genuin psychoanalytischen Diskursebene verbleiben, bilden implizite Konstrukte aus einschlägigen Nachbarwissenschaften einen stillschweigenden Hintergrund wie z. B. die derzeitige Unterscheidung von zwei grundlegenden Gedächtnissystemen. Eine Betrachtung über die unterschiedlichen Perspektiven kann den spezifisch psychoanalytischen Zugang jedoch noch einmal verdeutlichen.

Der interdisziplinäre Austausch wird auf verschiedene Weise erfolgen: Zum einen bei der Fragestellung, inwieweit z. B. Klinische Psychologie, Entwicklungspsychologie, Entwicklungspsychopathologie, Neurobiologie, Medizinische Anthropologie zur teilweisen Klärung von psychoanalytischen Kontroversen beitragen können, zum anderen inwieweit die psychoanalytische Perspektive bei der Beschäftigung mit den obigen Fächern, aber auch z. B. bei politischen, sozial-, kultur-, sprach-, literatur- und kunstwissenschaftlichen Themen eine wesentliche Bereicherung bringen kann.

In der Psychoanalyse fehlen derzeit gut verständliche Einführungen in die verschiedenen Themenbereiche, die den gegenwärtigen Kenntnisstand nicht nur klassisch freudianisch oder auf eine bestimmte Richtung bezogen, sondern nach Möglichkeit auch richtungsübergreifend und Gemeinsamkeiten aufzeigend darstellen. Deshalb wird in dieser Reihe auch auf einen allgemein verständlichen Stil besonderer Wert gelegt.

Wir haben die Hoffnung, dass die einzelnen Bände für den psychotherapeutischen Praktiker in gleichem Maße gewinnbringend sein können wie auch für sozial- und kulturwissenschaftlich interessierte Leser, die sich einen Überblick über Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse verschaffen wollen.

 

Die Herausgeberinnen und Herausgeber

Cord Benecke, Lilli Gast,

Marianne Leuzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens

Inhalt

 

 

 

 

 

  1. Geleitwort zur Reihe
  2. 1 Einleitung
  3. Literatur
  4. 2 Anna Freud (1895–1982) – Die Pionierin der Kinderanalyse
  5. Thomas Aichhorn
  6. 2.1 Einführung
  7. 2.2 Anna Freuds Kindheit und Jugend; ihre ersten beruflichen Erfahrungen
  8. 2.3 Anna Freuds Wege zur Psychoanalyse:
  9. 2.4 Die Anwendung der Psychoanalyse auf Pädagogik und Sozialarbeit
  10. 2.5 Erste Kontoversen zwischen Anna Freud und Melanie Klein, zwischen Wien und London
  11. 2.6 Anna Freud in den Institutionen der Psychoanalyse
  12. 2.7 Die »Hietzing-« oder »Rosenfeld-Burlingham-Schule
  13. 2.8 Die »Jackson Day Nursery«
  14. 2.9 1938/39 – Auflösung der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und Flucht nach London
  15. 2.10 Die »Hampstead War Nurseries«
  16. 2.11 Die Londoner Kontroversen zwischen Anna Freud und Melanie Klein
  17. 2.12 Die »Hampstead Child Therapy Clinic and Course«:
  18. 2.13 Anna Freuds letzte Lebensjahre
  19. Literatur
  20. 3 Sándor Ferenczi (1873–1933) – Emotion und Beziehung in der Psychoanalyse
  21. Herbert Will
  22. 3.1 Einführung
  23. 3.2 Stationen seines Lebens
  24. 3.3 Ferenczis eigener Weg
  25. 3.4 Regression und Freiheit
  26. 3.5 Mutuelle Analyse und kindliches Trauma
  27. 3.6 Ferenczis Bedeutung für die Theorieentwicklung der Psychoanalyse
  28. 3.7 Ferenczis Bedeutung für die Entwicklung der psychoanalytischen Therapie und Technik
  29. Literatur
  30. 4 Melanie Klein (1882–1960) – »weibliches Genie« oder »Antigenie«?
  31. Claudia Frank
  32. 4.1 Einführung
  33. 4.2 Stationen ihres Lebens
  34. 4.3 Psychoanalytische Herkunft
  35. 4.4 Theoretische Orientierung – theoretische Neuerungen
  36. 4.5 Veröffentlichung und Rezeption ihres Werkes im deutschsprachigen Raum
  37. 4.6 Bedeutung für die weitere Theorieentwicklung sowie für die gegenwärtige Psychoanalyse
  38. Literatur
  39. 5 Donald W. Winnicott (1896–1971) – Der unorthodoxe »mütterliche« Psychoanalytiker
  40. Eveline List
  41. 5.1 Einführung
  42. 5.2 Stationen seines Lebens
  43. 5.3 Psychoanalytische Herkunft, Prägungen, Abgrenzungen
  44. 5.4 Theoretische und klinische Orientierung
  45. 5.5 Beziehung zu den psychoanalytischen Strömungen im Herkunftsland
  46. 5.6 Veröffentlichung und Rezeption seines Werkes im deutschsprachigen Raum
  47. 5.7 Wichtige theoretische Beiträge und Konzepte
  48. 5.8 Bedeutung für die weitere Theorieentwicklung der Psychoanalyse, Ausstrahlung über die Psychoanalyse hinaus und Bedeutung für die gegenwärtige Psychoanalyse
  49. Literatur
  50. 6 Wilfred R. Bion (1897–1979) – Der Mut zur Unsicherheit und zum Nichtverstehen
  51. Wolfgang Hegener
  52. 6.1 Einführung
  53. 6.2 Stationen seines Lebens und psychoanalytische Herkunft
  54. 6.3 Etappen seines psychoanalytischen Denkens
  55. 6.4 Zur Rezeption Bions in Deutschland
  56. 6.5 Zur aktuellen Bedeutung von Bions Werk
  57. Literatur
  58. 7 John Bowlby (1907–1990) – »Der Bindungs-Psychoanalytiker«
  59. Karl Heinz Brisch
  60. 7.1 Einleitung
  61. 7.2 Stationen seines Lebens
  62. 7.3 Theoretische Orientierung
  63. 7.4 Bowlbys Beziehung zu den psychoanalytischen Strömungen im Herkunftsland
  64. 7.5 Veröffentlichung und Rezeption seines Werkes im deutschsprachigen Raum
  65. 7.6 Bedeutung für die weitere Theorieentwicklung der Psychoanalyse
  66. 7.7 Bedeutung und Ausstrahlung über die Psychoanalyse hinaus
  67. 7.8 Die Bedeutung der Konzepte von Bowlby für die gegenwärtige Psychoanalyse
  68. Literatur
  69. 8 Jacques Lacan (1901–1981) – Rückkehr zu Freud und weiter
  70. Christian Kläui
  71. 8.1 Einleitung
  72. 8.2 Aus Leben und Werk
  73. 8.3 Aus Werk und Leben
  74. Literatur
  75. 9 Jean Laplanche, (1924–2012) – Von Freuds eingeschränkter zur Allgemeinen Verführungstheorie
  76. Udo Hock
  77. 9.1 Einführung
  78. 9.2 Ein Leben zwischen Paris und dem Château de Pommard
  79. 9.3 Psychoanalytische Herkunft, Prägungen, Abgrenzungen, theoretische Orientierung
  80. 9.4 Rezeption und Veröffentlichung seines Werkes im deutschsprachigen Raum
  81. 9.5 Laplanches Schriften
  82. 9.6 Die Allgemeine Verführungstheorie (AVT)
  83. 9.7 Die Bedeutung der Allgemeinen Verführungstheorie für die weitere Theorieentwicklung der Psychoanalyse
  84. 9.8 Zur Bedeutung der Konzepte der AVT für die zeitgenössische Psychoanalyse
  85. Literatur
  86. 10 Harry Stack Sullivan (1892–1949) – Der unerschrockene Pionier der interpersonalen Psychoanalyse
  87. Marco Conci
  88. 10.1 Einführung
  89. 10.2 Stationen seines Lebens
  90. 10.3 Psychoanalytische Herkunft, Prägungen, Abgrenzungen und theoretische Orientierung
  91. 10.4 Rezeption und Veröffentlichung seines Werkes im deutschsprachigen Raum
  92. 10.5 Sullivans Werke und seine Hauptkonzepte
  93. 10.6 Bedeutung für die weitere Theorieentwicklung der Psychoanalyse
  94. 10.7 Inwiefern sind seine Konzepte für die gegenwärtige Psychoanalyse noch bedeutsam?
  95. Literatur
  96. 11 Heinz Kohut (1913–1981) – Der empathische Psychologe des Selbst
  97. Wolfgang Milch
  98. 11.1 Einführung
  99. 11.2 Stationen seines Lebens
  100. 11.3 Psychoanalytische Herkunft, Prägungen, Abgrenzung
  101. 11.4 Theoretische Orientierung
  102. 11.5 Beziehung zu den psychoanalytischen Strömungen im Herkunftsland
  103. 11.6 Veröffentlichung und Rezeption seines Werkes im deutschsprachigen Raum
  104. 11.7 Wichtige theoretische Beiträge und Konzepte
  105. 11.8 Bedeutung für die weitere Theorieentwicklung der Psychoanalyse
  106. 11.9 Bedeutung und Ausstrahlung über die Psychoanalyse hinaus
  107. 11.10 Bedeutung für die gegenwärtige Psychoanalyse
  108. Literatur
  109. 12 Heinrich Racker (1910–1961) – Der Pionier der Gegenübertragung
  110. Robert Oelsner
  111. 12.1 Einführung
  112. 12.2 Stationen seines Lebens
  113. 12.3 Psychoanalytische Herkunft, Prägungen, Abgrenzungen und theoretische Orientierung
  114. 12.4 Veröffentlichung und Rezeption seines Werkes im deutschsprachigen Raum
  115. 12.5 Rackers Werke und seine Hauptkonzepte
  116. 12.6 Bedeutung für die weitere Theorieentwicklung der Psychoanalyse
  117. 12.7 Bedeutung und Ausstrahlung über die Psychoanalyse hinaus
  118. 12.8 Inwiefern sind seine Konzepte für die gegenwärtige Psychoanalyse noch bedeutsam?
  119. Literatur
  120. 13 Alexander Mitscherlich (1908–1982) – Gesellschaftspolitisch engagierte Psychoanalyse
  121. Timo Hoyer
  122. 13.1 Einleitung
  123. 13.2 Zur Biographie
  124. 13.3 Medizin in der Krise
  125. 13.4 Psychoanalytische Psychosomatik
  126. 13.5 Genese von Krankheiten
  127. 13.6 Krankheiten der Gesellschaft
  128. Literatur
  129. Autorenverzeichnis
  130. Stichwortverzeichnis
  131. Namensverzeichnis

1         Einleitung

 

 

 

 

 

»Jedes Land bringt, wenn auch unbewusst, die Psychoanalyse hervor, die es braucht« (1995, S. 1), schrieb die Soziologin Edith Kurzweil in ihrer Einleitung zum Buch Freud und die Freudianer. 100 Jahre Psychoanalyse, in dem sie die Rezeption der Psychoanalyse in Wien, Berlin, London, Paris und New York und in den entsprechenden Ländern verglich und dabei zu dem Schluss kam, dass diese es mit einer ganzen Menge von Einflüssen zu tun hat, die den unterschiedlichen analytischen Gemeinschaften selbst oft entgehen bzw. nicht bewusst sind.

Werner Bohleber (2004) beleuchtete in einer weiteren Forschungsarbeit die Rezeption der Klein’schen Psychoanalyse in Deutschland: Diese konnte erst Anfang der 1980er Jahre stattfinden und zwar erst nachdem sich die deutsche analytische Gemeinschaft endlich mit der NS-Zeit auseinandergesetzt hatte bzw. mit dem dadurch verursachten Verlust der Verbindung zur internationalen analytischen Gemeinschaft und der daraus resultierenden Beschädigung der deutschen Psychoanalyse. Eine solche verspätete Rezeption der Freud’schen und Klein’schen Todestriebkonzepte im deutschsprachigen Raum ist in der Tat erst kürzlich von Claudia Frank (2015) klar aufgezeigt worden.

Es ist auch kein Wunder, dass erst Anfang Oktober 2014 in Nürnberg eine Rosenfeld-Gedächtnistagung durch die Initiative der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) stattfinden konnte (s. Conci & Kamm, 2015). Auf dieser konnte die Tochter Herbert Rosenfelds, Angela, von ihrem Vater (einem in Nürnberg im Jahre 1910 geborenen und in München als Arzt promovierten Juden, der im Anschluss an seine Emigration nach London zu einem der wichtigsten Mitarbeiter von Melanie Klein wurde) ein persönliches Bild vorstellen (s. Herrmans, 2015).

Früher oder später wurde im deutschsprachigen Raum aber die Arbeit beinahe aller Pioniere und Pionierinnen der Psychoanalyse rezipiert, deren Leben und Werk in diesem Band dargestellt werden. Dabei geht es um die folgenden zwölf Pioniere: Sándor Ferenczi, Anna Freud, Melanie Klein, Donald Winnicott, Wilfred Bion, John Bowlby, Jacques Lacan, Jean Laplanche, Harry Stack Sullivan, Heinz Kohut, Heinrich Racker und Alexander Mitscherlich. In der Tat freuen wir uns beide als Herausgeber dieses Bandes darüber, für die von uns vorgesehenen Kapitel hervorragende Kolleginnen und Kollegen gewonnen zu haben, und zwar nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Österreich, der Schweiz und Argentinien bzw. den USA, deren gemeinsamer Nenner darin besteht, mit beiden Dimensionen, nämlich der geschichtlichen und der klinischen sehr vertraut zu sein. Sie alle kennen sich mit dem Leben, der Entwicklung, der klinischen Anwendung und der Rezeption des Werkes der einzelnen Pioniere sehr gut aus. Es geht in der Tat um eine neue Generation von historisch ausgebildeten Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern, deren Arbeit auch zur Verbreitung der Zeitschriften Luzifer-Amor (1987) und Psychoanalysis and History (1998) viel beigetragen hat und welche untereinander eine wichtige internationale wissenschaftliche Gemeinschaft aufgebaut haben.

Die nationalen Hindernisse zur Rezeption der Arbeit der oben genannten einzelnen Pioniere konnten auch dadurch behoben werden, dass sich in den letzten 30 Jahren die internationale analytische Gemeinschaft selbst stark in eine pluralistische Richtung entwickelt hat. Zu diesem wichtigen Phänomen trug z. B. der Tod von Anna Freud im Jahre 1982 bei, wodurch die Verarbeitung des Erbes des im Jahre 1939 verstorbenen Vaters (der Psychoanalyse) Sigmund Freud einen wichtigen weiteren Schritt machen konnte. Erst 1985 kamen die Freud’schen Analytiker (die Mitglieder der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, IPV) dazu, auf deutschem Boden (in Hamburg) eine internationale Tagung zu halten (die letzte hatte 1932 in Wiesbaden stattgefunden!), was einen sehr wichtigen Schritt auf der Ebene des internationalen Dialoges darstellte (s. Kafka, 1988). In diesem Rahmen wurde auch eine bedeutende Ausstellung zur Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland gezeigt, die von einer neuen Generation von Kandidaten (s. Brecht et al., 1985) vorbereitet wurde – dazu gehören auch die wichtigen Forschungsarbeiten von Geoffrey Cocks (1985) und Regine Lockot (1985). Robert Wallerstein (1921–2014), einer der wichtigsten nordamerikanischen Pioniere der empirischen Forschung in der Psychoanalyse, hatte auch 1985 in Hamburg eine zentrale Rolle gespielt (Wallerstein, 1988b) und widmete somit seine erste Rede als Präsident der IPV (Juli 1987, in Montreal) dem bedeutsamen Thema »One psychoanalysis or many?« (Wallerstein, 1988a). Damit eröffnete er auf der institutionellen Ebene die neue, pluralistische Phase unserer Entwicklung als Beruf und Wissenschaft, die in den weiteren Jahren sehr reiche Früchte bringen sollte.

In einem der eloquentesten Absätze des Beitrages von 2001 zum Thema »Psychoanalytischer Pluralismus. Fortschritt oder Chaos?« schrieb Arnold Cooper:

»Meines Wissens gibt es heute keinen Grund, ein bestimmtes System psychoanalytischen Denkens zugunsten eines anderen aufzugeben. Unter dem Dach des gegenwärtigen Pluralismus haben wir alle die Freiheit, uns unterschiedlicher Ideen und Techniken zu bedienen. Es gibt zwar einige Erneuerer wie auch Konservative, die versuchen, sich an eine reine Fassung ihrer Art von Psychoanalyse zu halten, aber ich glaube, dass die meisten von uns schließlich bei Mischkonstruktionen landen. Wir nehmen uns nützlich erscheinende Teile aus anderen Theorien und pfropfen sie unserem bisherigen System von Überzeugungen auf. Die meisten Psychoanalytiker in Nordamerika mischen heute meines Erachtens Teile der traditionellen, auf dem Triebkonzept basierenden Ich-Psychologie mit der Objektbeziehungstheorie, dem beziehungstheoretischen und dem interpersonalen Ansatz, nehmen dazu die Kleinianischen Konzepte der Projektion und projektiven Identifizierung, Kohuts Vorstellungen einer empathischen Resonanz und der vertikalen Spaltung und kombinieren das alles mit Vorstellungen unterschiedlicher Herkunft über die frühe kindliche Entwicklung. Es gibt vor allem keine überzeugenden Belege, dass die eine Form der Psychoanalyse – ob alt oder neu – zu besseren Ergebnissen führen würde als eine andere« (Cooper, 2001, S. 68 f.).

Bei diesen Worten von Cooper bleibt die wichtige Tatsache implizit, dass die von ihm erwähnten Sichtweisen den folgenden klinischen gemeinsamen Nenner haben: die Arbeit an der Übertragung (was der Patient in die Sitzung bringt bzw. wie er sich dem Analytiker gegenüber benimmt) und an der Gegenübertragung (welche Gefühle dadurch im Analytiker entstehen) bzw. das, was Wallerstein (1990) den »common ground« genannt hat. Andererseits ist es kein Wunder, dass die Auswahl der um dieses Kernthema zentrierten ausgewählten Schriften von Arnold Cooper (1923–2011) unter dem Titel The quiet revolution in American psychoanalysis (2005) veröffentlicht wurde.

Dass es um eine »ruhige Revolution« ging, kann auch dadurch bewiesen werden, dass ein wichtiger Beitrag in die pluralistische Richtung ursprünglich von analytischen Zeitschriften kam, welche außerhalb der IPV standen – und noch teilweise stehen. Wir beziehen uns dabei auf das von Michael Ermann und Jürgen Körner 1985 begründete Forum der Psychoanalyse (s. auch Ermann, 2014), an die von Stephen Mitchell (1946–2000) im Jahre 1991 gegründete Zeitschrift Psychoanalytic Dialogues und auf das von Jan Stensson gegründete (und von der Internationalen Föderation der Psychoanalytischen Gesellschaften, IFPS, getragene) International Forum of Psychoanalysis – von welchem einer von uns, M. C., seit 2007 der Mitherausgeber ist. Andererseits ist es auch nicht verwunderlich, dass der aktuelle Präsident der IPV aus dem Land (Italien) stammt, welches aus der Peripherie der »analytischen Bewegung« kommend in deren Mitte genau dank der Tatsache rücken konnte, dass es dort keine Pioniere wie Anna Freud oder Melanie Klein gab, sondern nur die Möglichkeit bestand, sich in einer sehr mühevollen und langwierigen Arbeit die unterschiedlichen analytischen Sprachen anzueignen (s. auch Conci, 2008). Eine solch pluralistische Entwicklung und Ausrichtung zeigt sich sehr klar in Stefano Bologninis (IPV-Präsident 2013–2017) Buch Verborgene Wege. Die Beziehung zwischen Analytiker und Patient: Unsere Patienten sind so unterschiedlich und facettenreich, dass wir mit einer Vielfalt von analytischen Autorinnen und Autoren und Theorien sehr gut vertraut sein müssen, um ihnen gerecht zu werden (s. auch Conci, 2011).

In der Tat spiegelt sich eine solche – theoretisch breite und technisch patientenzentrierte – Perspektive nicht nur in dem allgemeinen Konzept dieser ganzen Bücherreihe, Psychoanalyse im 21. Jahrhundert. Klinische Erfahrung, Theorie, Forschung, Anwendungen wider, sondern diese stellt auch einen der Hauptbestandteile der gesamten wissenschaftlichen Produktion des deutschen Mitherausgebers dieses Bandes (W. M.) dar. Dabei beziehen wir uns nicht nur auf Standardwerke wie die dreibändige Einführung in die psychoanalytische Therapie (1990–1991), sondern auch auf einen bahnbrechenden Aufsatz wie »Zur Konzeption des Unbewussten – Einige Überlegungen zu einer interdisziplinären Theoriebildung zum Unbewussten« (2007); nicht nur auf das innovative dreibändige Werk Psychoanalytische Schulen im Gespräch (2010, 2011, 2012), sondern auch auf eines der Grundlagenwerke dieser Buchreihe: Psychoanalyse im 21. Jahrhundert. Eine Standortbestimmung (2014).

Die Herausgeber dieses Bandes kamen im Dezember 1990 – im Rahmen eines bei der Münchner Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie von Johannes Cremerius (1918–2002) gehaltenen Vortrages – zum ersten Mal miteinander in Kontakt, dessen große Offenheit, Neugierde und Dialogbereitschaft beide noch sehr schätzen und gut in Erinnerung haben – und welcher die gemeinsame Arbeit an diesem Band sehr willkommen geheißen hätte. Unter anderem war Cremerius ein Pionier der deutschsprachigen Rezeption der Werke von Sándor Ferenczi und Michael Balint (s. Cremerius, 2005). In der Tat kann es sogar sein, dass der genius loci München, der uns alle drei verbindet – mit seiner eigentümlichen Mischung aus Provinzstadt und andererseits einer sehr gut international verbundenen Großstadt – etwas zu der Entstehung dieses Bandes beigetragen hat (s. auch Bauriedl & Brundke, 2008).

Wir als Herausgeber dieses Bandes schätzen außerdem die Verbindung zwischen Leben und Werk, die sich, ähnlich wie bei vielen Schriftstellern und sogar Philosophen, auch bei den meisten Pionieren der Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts nicht so schwer nachweisen lässt und die hinter unserer – nicht von allen Kollegen immer beibehaltenen – Idealgliederung der Kapitel steht. Das ist auf jeden Fall eine der Bestätigungen, die aus der neuesten historischen Forschung gekommen sind, die eine ganze Reihe von Biographien erzeugt hat, durch welche man leicht Verbindungen wie die folgenden herstellen kann. Was z. B. H. S. Sullivan betrifft, ist es durchaus nachzuvollziehen, wie aus seinem schwierigen und gespaltenen Leben ein wichtiger Pionier der Psychotherapie der Schizophrenie wurde. Die Themen Ausgrenzung, Selbstwertgefühl und Empathie waren im Leben von Heinz Kohut, dem Begründer der Selbstpsychologie, sehr bedeutsam. Ähnliches gilt für das Thema Trennung im Leben und Werk von John Bowlby oder für die Rolle der Politik im Leben und Werk von Alexander Mitscherlich. Wie wir wissen, geht es um eine Verbindung, die nicht nur Freud selbst postuliert hatte, auf dessen eigene Träume er seine Traumdeutung begründet hatte, sondern die auch den roten Faden eines Musterwerkes wie Die Entdeckung des Unbewussten von Henry Ellenberger (1905–1993) darstellte.

Aber unsere gemeinsame Priorität war, mit einem solchen Band den Bedürfnissen der heutigen Studierenden und Kandidaten gerecht zu werden bzw. ihnen ein didaktisches Instrument zur Verfügung zu stellen, durch welches die Komplementarität der historischen, der klinischen und der wissenschaftlichen Dimensionen der Psychoanalyse klar zum Ausdruck kommen kann. Dafür bedanken wir uns wieder bei den Verfasserinnen und Verfassern der einzelnen Kapitel. Deren Arbeiten erlauben uns nun, die große Lücke zu schließen, die dadurch entstand, dass der im Jahre 1977 erschienene 3. Band der Tiefenpsychologie, Die Nachfolger Freuds, der von Dieter Eicke herausgegeben wurde, mittlerweile veraltet und auch vergriffen ist. Wir kennen kein anderes Werk im deutschsprachigen Raum, das auf die obigen Fragestellungen eingeht und deshalb hoffen wir, den Leserinnen und Lesern einen guten Dienst erwiesen zu haben.

Marco Conci und Wolfgang Mertens

München, Oktober 2015

Literatur

 

 

Bauriedl, T. & Brundke, A. (Hrsg.) (2008). Psychoanalyse in München – Eine Spurensuche. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Bohleber, W. (2004). Zwischen Hermeneutik und Naturwissenschaft: Einige Schwerpunkte psychoanlytischer Theorieentwicklung in Deutschland nach 1945. In M. Leuzinger-Bohleber, H. Deserno & S. Hau (Hrsg.), Psychoanalyse als Profession und Wissenschaft (S. 97–112). Stuttgart: Kohlhammer.

Bolognini, S. (2011). Verborgene Wege. Die Beziehung zwischen Analytiker und Patient. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Brecht, K., Friedrich, V., Hermanns, L., Juelich, H. & Kaminer, I. (Hrsg.) (1985). »Hier geht das Leben auf eine sehr merkwüdige Weise weiter …«. Zur Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland. Hamburg: Kellner.

Cocks, G. (1985). Psychotherapy in the Third Reich: The Göring Institute. Oxford: Oxford University Press.

Conci, M. (2008). Italian themes in psychoanalysis – International dialogue and psychoanalytic identity. International Forum of Psychoanalysis, 17, 65–70.

Conci, M. (2011). Geleitwort zur deutschen Ausgabe. In S. Bolognini, Verborgene Wege. Die Beziehung zwischen Analytiker und Patient (S. 7–16). Gießen: Psychosozial-Verlag.

Conci, M. & Kamm, H. (2015). Tagung zum Gedenken an den Psychoanalytiker Herbert Rosenfeld, Nürnberg 1910 – London 1986. Luzifer-Amor, 56, 7–19.

Cooper, A. M. (2001). Psychoanalytischer Pluralismus. Fortschitt oder Chaos? In W. Bohleber & S. Drews (Hrsg.), Die Gegenwart der Psychoanalyse – die Psychoanalyse der Gegenwart (S. 58–77). Stuttgart: Klett-Cotta.

Cooper, A. M. (2005). The quiet revolution in American psychoanalysis. Selected papers. London: Routledge.

Cremerius, J. (2005). Ein Leben als Psychoanalytiker in Deutschland. Hrsg. v. W. Mauser. Würzburg: Königshausen und Neumann.

Eicke, D. (Hrsg.) (1977). Tiefenpsychologie, Band 3: Die Nachfolger Freuds. Weinheim, Basel: Beltz.

Ellenberger, H. F. (1973). Die Entdeckung des Unbewussten: Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung, 2 Bände. Bern: Huber.

Ermann, M. (2014). Forum der Psychoanalyse: A journal documenting the »normalization« of the psychoanalytic field in Germany. International Forum of Psychoanalysis, 24, 60–62.

Frank, C. (2015). Eine »deutliche Reaktionsbildung gegen Todestriebhypothesen«. Ein Strang der Rezeptionsgeschichte von Freuds Todestriebkonzept im deutschen Sprachraum. Luzifer-Amor, 55, 136–157.

Hermanns, L. (2015). Editorial. Luzifer-Amor, 56, 5–6.

Kafka, J. (1988). On reestablishing contact. Psychoanalysis and Contemporary Thought, 11, 299–308.

Kurzweil, E. (1995). Freud und die Freudianer. 100 Jahre Psychoanalyse. München: dtv.

Lockot, R. (1985). Erinnern und Durcharbeiten. Zur Geschichte der Psychoanalyse und Psychotherapie im Nazionalsozialismus. Frankurt/M.: Fischer.

Mertens, W. (1990, 1991). Einführung in die psychoanalytische Therapie, 3 Bände. Stuttgart: Kohlhammer, 3., aktualisierte Auflage, 2000.

Mertens, W. (2007). Zur Konzeption des Unbewussten – Einige Überlegungen zu einer interdisziplinären Theoriebildung zum Unbewussten. In E. Geus (Hrsg.), Eine Psychoanalyse für das 21. Jahrhundert. Wolfgang Mertens zum 60. Geburtstag (S. 114–163). Stuttgart: Kohlhammer.

Mertens, W. (2010, 2011, 2012). Psychoanalytische Schulen im Gespräch, 3 Bände. Bern: Huber.

Mertens, W. (2014). Psychoanalyse im 21. Jahrhundert. Eine Standortbestimmung. Stuttgart: Kohlhammer.

Wallerstein, R. S. (1988a). One psychoanalysis or many? International Journal of Psychoanalysis, 69, 5–21.

Wallerstein, R. S. (1988b). Psychoanalysis in Nazi Germany: Historical and psychoanalytic lessons. Psychoanalysis and Contemporary Thought, 11, 351–370.

Wallerstein, R. S. (1990). The common ground. International Journal of Psychoanalysis, 71, 3–20.

2         Anna Freud (1895–1982) – Die Pionierin der Kinderanalyse

Thomas Aichhorn

 

2.1       Einführung

 

Anna Freuds Leben war von allem Anfang an mit der Psychoanalyse und ihren Schicksalen verwoben (zu Anna Freuds Biographie vgl.: Dyer, 1983, Edgcumbe, 2000, Peters, 1979, Salber, 1985, Young-Bruehl, 1988, und ihre Briefwechsel mit ihrem Vater (Freud, 2006), mit Lou Andreas-Salomé (Rothe & Weber, 2001 = LAS/AF), mit Eva Rosenfeld (Heller, 1994) und mit August Aichhorn (Aichhorn, 2012)). Als Tochter Sigmund Freuds, als das einzige seiner Kinder, das die Psychoanalyse zum Beruf erwählte, hatte sie eine privilegierte, aber auch belastende Stellung innerhalb der psychoanalytischen Gemeinschaft. Allzu häufig wird sie nur als Vertreterin ihres Vaters wahrgenommen. Ihr selbst als Psychoanalytikerin wurde vorgeworfen, die Theorie und Praxis der Psychoanalyse allzu konservativ und orthodox verstanden und bewahrt zu haben. Dabei wurde verkannt, wie innovativ und eigenständig ihre Beiträge zur Theorie und Praxis und vor allem zur Anwendung der Psychoanalyse tatsächlich waren.

Anna Freud selbst fand die Theorie, die sie bewahrten wollte, unendlich aufregend; im Gegensatz dazu fand sie die von ihr abgelehnten Theorien oft langweilig. Sie hegte den Verdacht, dass ihre Gegner das Einschläfernde und Mystifizierende dem Aufregenden vorzogen. An ihren alten Bekannten J. C. Hill schrieb sie: »Es ist modern geworden, diese Ideen zur Sehnsucht jedes Menschen nach der perfekten Einheit mit der Mutter zu verwässern, d. h. danach, so geliebt zu werden, wie nur ein kleines Kind geliebt werden kann. Auf diese Art geht eine Menge verloren, und das, was Sie das Aufregende an den Entdeckungen nennen, fällt dabei natürlich ebenfalls weg. Die Psychoanalyse ist vor allem eine Triebpsychologie, aber aus irgendwelchen Gründen möchten es die

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Anna Freud

Menschen nicht so haben.« (Brief vom 21.10.1974; zitiert nach Young-Bruehl, 1988, S. 354)

Anna Freud betonte, dass sowohl Analytikern, deren Interesse nur der Entwicklung des Ichs gilt – die also zur kognitiven Psychologie neigen –, als auch Analytikern, die nur am Unbewussten interessiert sind, das entgehe, was für sie selbst das Wesentliche an der Psychoanalyse war: »Wenn ich auf meine analytische Vergangenheit zurückblicke, [schrieb sie 1979 im Alter von 83 Jahren] verstehe ich nun, warum ich, was die Kinder betrifft, mich immer mehr zur Latenzperiode hingezogen gefühlt habe als zu den präödipalen Stadien. In letzteren zeigt sich das Es ganz unverhüllt, aber die Latenzperiode führt dem Beobachter all die Bemühungen des Ichs, mit dem Es zurechtzukommen, vor Augen. Das ist es natürlich, was die Kinderanalyse in der Latenzperiode so schwierig macht, weil der Patient nach Kräften dem Wunsch des Analytikers entgegenarbeitet, die Abwehrmechanismen zu Fall zu bringen, die er sich guten Glaubens und mit so viel Mühe aufgebaut hat.« (A. Freud an P. Gray, Brief vom 9.10.1979, zitiert nach Young-Bruehl, 1988, S. 354)

Anna Freuds »Konservativismus« mag vielleicht im engen Zusammenhang mit ihrer Liebe zum Vater zu verstehen sein, im Zusammenhang mit ihrer Verehrung für ihn und mit der Tatsache, dass der Konflikt sein ureigenstes Gebiet war: Er dachte in Gegensätzen, Dualismen und Spannungen zwischen den Phänomenen. Ihre analytische Freude an der Latenzperiode, an den Konflikten zwischen dem Es und dem Ich, könnte auch mit ihrer eigenen Analyse zusammenhängen, die ihre Latenzperiode so faszinierend offen gelegt hatte.

Die Beiträge Anna Freuds zur Praxis und Theorie der Psychoanalyse, ihre Erfolge und ihr Scheitern im Rahmen der internationalen Psychoanalyse sind derart vielfältig, dass es im gegebenen Rahmen nicht möglich ist, einen auch nur einigermaßen hinreichenden Überblick über ihr Leben und ihr Werk zu geben. Die so wesentliche Erweiterung des Anwendungsgebietes der Psychoanalyse auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aber, an der sie führend beteiligt war, zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Leben. Sie vertrat dabei einen sozialpolitischen oder sozialreformerischen Ansatz, der der Psychoanalyse der Gegenwart weitgehend abhanden gekommen ist, der aber für ihr Leben und für ihre Arbeit von entscheidender Bedeutung war.

 

 

2.2       Anna Freuds Kindheit und Jugend; ihre ersten beruflichen Erfahrungen

 

Anna Freud, geboren am 3. Dezember 1895, war das jüngste der sechs Kinder Martha und Sigmund Freuds. Sie war ein sehr lebhaftes Kind und hatte den Ruf, schlimm zu sein. Freud schrieb an Wilhelm Fließ: »Annerl wird geradezu schön vor Schlimmheit.« (Brief vom 3.7.1899 in Freud, 1950a, S. 392)

Als Kind gab es in ihrem Leben drei Frauen – ihre Mutter, ihre Tante Minna und Josefine Cihlarz, von Anna Jo genannt, ihr Kindermädchen bis zu ihrem ersten Schuljahr. Während die beiden ersteren Rivalinnen um die Liebe des Vaters waren – wie auch die beiden älteren Schwestern – war Josefine die »gute« Mutter. Sie war diejenige, für die Anna nicht die Letzte in der Reihe der Kinder war, sie war diejenige, deren Liebe nicht durch Konkurrenz mit den Geschwistern errungen werden musste und auch diejenige, die in Bezug auf den Vater keine Rivalin war (Young-Bruehl, 1988, S. 356). Es scheint öfters Gelegenheiten gegeben zu haben, bei denen sich Josefine als geliebte Retterin erweisen konnte. Eines Nachts gab es in der Gasleitung zu der direkt unter der Freud-Wohnung gelegenen Wohnung ein Leck und das ganze Haus wurde von einer Explosion erschüttert. Josefine eilte sofort in Annas Zimmer und nahm sie aus dem Gitterbett und dann erst sah sie nach den älteren Geschwistern. Ihre Brüder fragten Josefine: »Wenn es brennen würde, wen würdest Du zuerst retten?« Sie antwortete ohne Zögern: »Anna«. Als diese Begebenheit Anna später berichtet wurde, war es für sie ein Beweis für das, was sie auch selbst fühlte: dass sie Josefines Liebling war, sozusagen Josefines einziges Kind (Young-Bruehl, 1988, S. 43).

Als Josefine 1925 gestorben war, schrieb Anna Freud an Max Eitingon: »Meine alte Kinderfrau, meine älteste Beziehung und die allerwirklichste aus meiner Kinderzeit, ist gestorben und ich war bei ihrem Begräbnis.« (Brief vom 22.7.1925; Original: Anna Freud Papers im Archiv der Library of Congress, Washington, im Folgenden: AFP/LoC)

Nachdem sie 1912 ihre Schulausbildung am Cottage-Lyceum beendet hatte, entschloss sie sich, Lehrerin zu werden. Freud an Sándor Ferenczi: »Annerl lernt gleichfalls für ihre Lehramtsprüfung, wird hoffentlich wegen mangelnder Singstimme abgewiesen werden. Sie entwickelt sich übrigens reizend, erfreulicher als irgendein anderes der sechs Kinder.« (Brief vom 8.4.1915; Freud 1993–2005, Bd. II/1, S. 117) Freuds Wunsch ging nicht in Erfüllung, Anna bestand die Prüfung.

Als Jugendliche sah sich Anna Freud aber vor allem als Dichterin. Dem stand nicht nur ihre Unsicherheit in Bezug auf ihre dichterische Begabung und die Skepsis ihres Vaters gegenüber, sondern auch – und wohl ausschlaggebend – die Entscheidung, dem psychoanalytischen Schreiben dem literarischen den Vorzug zu geben (Spreitzer, 2014). Die erhaltenen Texte stammen, soweit sie datierbar sind, aus der Zeit zwischen 1914 und 1922. Ab 1926 schrieb sie nur noch Gelegenheitsgedichte. Ihr literarisches Vermächtnis gliedert sich in drei Teile: Gedichte, Prosa und Übersetzungen aus dem Englischen (Freud A., 2014).

1914 reiste Anna Freud, um ihr Englisch zu verbessern, nach England, wo sie Ernest Jones traf (Freud, 1979, S. 2925 f.). Da am 28. Juli der Erste Weltkrieg ausgebrochen war, konnte sie nur im Gefolge des Österreichischen Botschafters via Gibraltar und Genua heimkehren. Nach Wien zurückgekommen, arbeitete sie für das American Joint Distribution Committee (Das Joint Committee stellte Geldmittel zur Verfügung, um im Krieg eltern- und heimatlos gewordene jüdische Kinder in Heimen oder bei Zieheltern unterzubringen und mit ordentlichem Essen zu versorgen; vgl. Young-Bruehl, 1988, S. 143), in einem Hort für Arbeiterkinder und widmete sich ihrer Lehrerinnenausbildung. Sie unterrichtete am Cottage-Lyceum und als sie ihre Ausbildung abgeschlossen hatte, wurde sie von der Direktorin der Schule auch als Sekretärin und Assistentin engagiert (Freud, 2006, S. 207, Anm. 5).

In einem Interview erinnerte sich Anna Freud an die Zeit, als sie als Lehrerin arbeitete:

»Ich unterrichtete an einer Grundschule, sämtliche Fächer. Oft höre ich Lehrer darüber sprechen, wie strapaziös ihre Tätigkeit sein könne, und sicher haben sie guten Grund, das so zu empfinden. Doch ich muß sagen – vielleicht weil ich damals noch so jung war und weil die Schule eine hübsche Privatschule mit reizenden Kindern war –, daß ich dort mit den Kindern glücklich war. Sie waren gute, tüchtige Schüler, und wenn ich mich ihrer erinnere, dann merke ich wie glücklich ich war, sie in meinem Klassenzimmer zu haben. […] Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, wird mir klar, wie wichtig diese fünf Jahre für mich waren. Sie boten mir Gelegenheit, ›normale‹ Kinder kennenzulernen, bevor ich es mit Kindern zu tun bekam, die aus den verschiedensten Gründen in Schwierigkeiten waren.« (Coles, 1992, S. 27 f.)

Wie Anna Freud damals gesehen wurde, kann man den Erinnerungen Ernestine Druckers entnehmen, der späteren Ehefrau ihres Bruders Martin. Sie beschreibt sie als so ganz anders als andere Mädchen: »Modische Kleider und Einladungen zu Partys waren ihr nicht wichtig. Sie war sehr hübsch, aber nach der in der Wiener Gesellschaft vorherrschenden Meinung ein Blaustrumpf, eine Frau, der intellektuelle Beschäftigungen wichtiger waren als ihre äußere Erscheinung.« (zitiert nach Spreitzer, 2014, S. 26)

 

2.3       Anna Freuds Wege zur Psychoanalyse

 

Trotz ihrer Freude am Unterrichten wurden andere Interessen immer vordringlicher, so dass sich Anna Freud 1920 entschloss, den Schuldienst zu quittieren (Freud, 2006, S. 19, Spreitzer, 2014, S. 27 f.). Bereits als Jugendliche hatte sie begonnen, die Werke ihres Vaters zu lesen, hatte 1918 und 1920 an den Kongressen der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) in Budapest und Den Haag teilgenommen und ihre psychoanalytischen Kenntnisse in Diskussionen mit ihrem Vater und durch Zuhören bei den Sitzungen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV) vertieft. Außerdem betätigte sie sich als Übersetzerin und Lektorin im 1919 gegründeten »Internationalen Psychoanalytischen Verlag«.

Ihre Analyse beim Vater hat Anna Freud 1918 begonnen. Der erste Abschnitt wurde 1921 beendet. Ende April 1924 begann sie die Analyse wieder. Diesmal wurde die Analyse durch die Sommerpause am Semmering unterbrochen und zu Beginn des Jahres 1925 fortgesetzt. Wann dieser Abschnitt ihrer Analyse beendet wurde, ist nicht bekannt. Auch noch in späteren Jahren erbat sie sich immer wieder einzelne Stunden bei ihrem Vater (Freud, 2006, S. 22, Anm. 3, LAS/AF, S. 58, 59,170, 224 und 262).

Ihre Freundschaft mit Lou Andreas-Salomé, die im Herbst 1921 zu Besuch in Wien war, bestärkte sie sowohl in ihren dichterischen wie auch in ihren analytischen Bestrebungen. Während dieses Besuches lernte sie August Aichhorn kennen (Aichhorn T., 2012). Im Januar 1922 besuchte sie ihn in dem damals von ihm geleiteten Fürsorgeerziehungsheim in St. Andrä/Traisen, in Niederösterreich (Aichhorns Jugendfürsorgeerziehungsanstalt befand sich zunächst in Oberhollabrunn, Niederösterreich. Anna Freud besuchte Aichhorn allerdings nie in Hollabrunn, das Heim dort war im Winter 1921/22 längst geschlossen worden, sondern in St. Andrä/Traisen, wohin es unterdessen verlegt worden war). Den äußerst lebendigen Bericht an Lou Andreas-Salomé über ihren Besuch dort begann sie mit den Worten: »Meine liebe Lou, jetzt war ich wirklich drei Tage lang bei Aichhorns Dieben, Vagabunden und Messerstechern und bin ganz erfüllt von allem Gesehenen zurückgekommen.« (LAS/AF, S. 14) Zusammen mit Aichhorn, Siegfried Bernfeld und Willi Hoffer entwickelte sie die Grundlagen der »Psychoanalytischen Pädagogik« und »Psychoanalytischen Sozialarbeit« und später auch die der Kinder- und Jugendlichenanalyse.

Ihren Probevortrag zur Erlangung der Mitgliedschaft in der WPV – »Schlagephantasien und Tagträume« (Freud A., 1922) – hielt Anna Freud am 31. Mai 1922. Sie schrieb an Lou Andreas-Salomé: »Ich schicke Dir eine Einladung zu meinem Vortrag und wollte, Du könntest dabei sein oder mir wenigstens aus der Ferne Daumen halten, damit ich niemandem Schande mache. Im Kopf kann ich ihn schon so ziemlich, wenigstens so lange niemand andrer dabei ist.« (LAS/AF, S. 49a) Und nachdem sie den Vortrag gehalten hatte, schrieb sie ihr: »Noch schnell vor dem sehr müden Schlafengehen muß ich Dir berichten: alles ist gut abgelaufen, ich glaube sogar: sehr gut. Ich bin viel gelobt worden, von den Inländern für den Inhalt und von den Ausländern für die Verständlichkeit und ich habe mich nur sehr wenig gefürchtet und das Manuskript gar nicht angesehen. […] Ich glaube, Papa war auch zufrieden und hat sich sehr über meinen ›Anfang‹ gefreut.« (LAS/AF, S. 51)

Zum Mitglied der WPV wurde Anna Freud in der Geschäftssitzung vom 13. Juni 1922 gewählt. Ihre lebenslange Verbundenheit mit der Wiener Vereinigung ist einem Glückwunschbrief zu entnehmen, den sie anlässlich der 50-Jahrfeier der WPV im April 1958 schrieb (Aichhorn T., 2012, S. 179 f.). Nachdem sie der Vereinigung zu ihrem Jubiläum und Alfred Winterstein zu seiner 50-jährigen Mitgliedschaft gratuliert hatte, setzte sie fort:

»Er [Winterstein] wird es mir nicht übel nehmen, wenn ich sage, daß die Glückwünsche und die Anerkennung, die ich ihm zu seiner 50 jährigen Mitgliedschaft übermittle, auch etwas Neid enthalten. Gerade das war es, was ich mir als meinen eigenen Lebenslauf vorgestellt hatte und gerade das hätte sich für mich erfüllt, wenn die äußeren Schicksalsereignisse es nicht anders gestaltet hätten. Mit dem Datum des 50 jährigen Jubiläums der Wiener Vereinigung und Dr. Wintersteins Mitgliedschaft jährt sich auch zum 20. Mal mein Abschied von Wien. Wenn ich sage, dass bei diesem Abschied das Ausscheiden aus Ihrer Gesellschaft einer der einschneidensten Punkte war, so soll Ihnen das nur sagen, was die Wiener Vereinigung in den 50 Jahren ihres Bestandes auch in meinem Leben bedeutet hat.« (nach einem Manuskript im Archiv der WPV)

Auch außerhalb der Schule hatte Anna Freud erste Erfahrungen in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen schon gemacht, bevor sie ihre Praxis als Psychoanalytikern begann. Am 13. Mai 1921 schrieb Arthur Schnitzler in sein Tagebuch: »Lili [Schnitzlers Tochter] mit den Hängezöpfen, sehr Backfisch kommt von der Lection bei Frl. Freud [Anna Freud], erzählt von den Raufereien in der Schule, den Brieferln unter der Bank und will kein ›Tugendspiegel‹ sein.« (Schnitzler, 1993, S. 180) Und am 21. Mai trug er ein: »Vm. [Vormittag] zu Frl. Freud, wo Lili […] Privatstunden nimmt, wohnte auch der Lection bei; sprach (nach Jahren) flüchtig Sigmund Freud; und seine Frau.« (Schnitzler, 1993, S. 183)

Über den Beginn ihrer Praxis berichtete sie im März 1923 Lou Andreas-Salomé: »Ich habe diesmal mit dem Antworten drei Tage lang gewartet, weil ich Dir gerne das Eintreffen einer zweiten Patientin anzeigen wollte. […] Sie ist ein Mädchen von 21 Jahren. […] Bekommen habe ich sie durch Aichhorn, in dessen Amt sie arbeitet.« (LAS/AF, S. 159) An Max Eitingon schrieb sie: »Sie fragen zwar nicht nach meinen Patienten, aber ich will doch berichten, dass ich augenblicklich fünf habe: 2 Kinder, acht- und zehnjährig, die australische Ärztin vom Vorjahr, eine Lehrerin aus Palästina [Grete Obernik-Reiner; vgl. Liebermann, 2012, S. 71 ff.] und dann den ersten männlichen, einen Kollegen von Aichhorn, den Leiter einer großen Anstalt des Wiener Jugendamtes. Ich fürchte mich schon fast gar nicht mehr vor ihm, er noch etwas vor mir.« (Brief vom 22.10.1925; Original: AFP/Loc)

 

2.4       Die Anwendung der Psychoanalyse auf Pädagogik und Sozialarbeit

 

Wenn Freud im Geleitwort zu Aichhorns Buch »Verwahrloste Jugend« (1925) schrieb: »Von allen Anwendungen der Psychoanalyse hat keine soviel Interesse gefunden, soviel Hoffnung geweckt und demzufolge so viele tüchtige Mitarbeiter herangezogen wie die auf Theorie und Praxis der Kindererziehung. […] Mein persönlicher Anteil an dieser Anwendung der Psychoanalyse ist sehr geringfügig gewesen. […] Darum verkenne ich aber nicht den hohen sozialen Wert, den die Arbeit meiner pädagogischen Freunde beanspruchen darf« (Freud, 1925 f., S. 565), dann dachte er wohl an die »pädagogisch interessierten Psychoanalytiker« – August Aichhorn, Siegfried Bernfeld und Willi Hoffer –, die sich ab dem Juni 1924 bis zum Herbst 1925 regelmäßig an den Samstagabenden bei Anna Freud trafen.

Die ersten Ansätze zu einer psychoanalytischen Erziehungslehre hatten eine demotivierende Enttäuschung zur Folge gehabt. In einem Vortrag von 1949 sagte Anna Freud:

»Die erste psychoanalytische Pädagogik entstand aus Angst vor der Neurose, unter dem Motto: ›Weg mit der Verdrängung!‹ Aber es stellte sich heraus, dass der Wegfall jeder Verdrängung leicht zur Verwahrlosung führen konnte. Man hatte wohl Neurosenprophylaxe getrieben – aber zugleich Verwahrlosung produziert. Doch weder Angst vor der Neurose noch Angst vor der Verwahrlosung sind gute Grundlagen zum Aufbau einer Erziehungsmethode. Allmählich baute sich aber die analytische Normalpsychologie des Kindesalters als selbstständige Lehre aus und schließlich kam es zur Anwendung dieser neuen Kinderpsychologie auf die verschiedensten erzieherischen Arbeitsgebiete.« (Freud A., 1949, S. 96)

Willi Hoffer berichtete in einem Interview über diese Zusammenkünfte, an denen sich manchmal auch Freud beteiligte: »Wir drei [A. Freud, Aichhorn, Hoffer] und Bernfeld bildeten immer eine Art Clique, mit einem uns gemeinsamen Verständnis für die Bedeutung der Psychoanalyse für die Erziehung und die Heilerziehung, wie wir es damals nannten. Das heißt: Kindertherapie« (Interview with Dr. Willi Hoffer by Bluma Swerdloff, Amsterdam, Holland, July 29, 1965, S. 13) Und: »Wir waren daran interessiert etwas zu tun, etwas zu erreichen, etwas Neues, im Feld der psychoanalytischen Erziehung.« (ebd.)

Die ausführlichsten Berichte über die Arbeitsgruppe finden sich aber im Briefwechsel Lou Andreas-Salomé – Anna Freud: »Vorigen Samstag waren zum erstenmal Aichhorn, Bernfeld und Hofer [W. Hoffer] bei mir, wir haben viel durcheinandergeredet, vor allem über die Frühanalysen der Frau Klein in Berlin. Vielleicht wird es vor dem Sommer noch zwei- oder dreimal dazukommen. Mich interessiert vor allem, Aichhorn u. Bernfeld miteinander zu sehen und sich zu den gleichen Dingen äußern zu hören.« (LAS/AF, S. 316) Und im Oktober 1924 schrieb Anna Freud:

»Vorgestern hättest Du bei unserm Samstagabend sein müssen, da war es wirklich sehr schön. Aichhorn hat einen Vortrag vorgelesen, den er nächstens auf einer Jugendfürsorge- und Jugendstrafrechtstagung halten wird und im Anschluß daran haben wir sehr viel über den Begriff und Platz der Erziehung, Ichideal, seine Bildung und sein Missglücken und die Auffassung der Verwahrlosung oder Dissozialität gesprochen. Wir hier sind einer sehr einheitlichen Meinung, die von der z. B. in Berlin herrschenden ziemlich absticht. Die dort (unter dem Einfluß von Frau Klein) scheinen die Dissozialität für eine Art Neurose ansehen zu wollen. Wir meinen, daß sie ihrer ganzen Struktur nach etwas völlig anderes ist.« (LAS/AF, S. 365 f.)

Die Mitglieder der Arbeitsgruppe diskutierten aber nicht nur über Theorien, sondern sie waren darüber hinaus bestrebt, Pädagogen und Sozialarbeiter psychoanalytisch auszubilden. Zu diesem Zweck richteten sie 1933 einen zweijährigen »Lehrgang für Pädagogen« ein (Vgl. Aichhorn T., 2004). Damit wurden die Psychoanalytische Pädagogik und Sozialarbeit im Rahmen der Institutionen der Wiener Vereinigung als ebenso legitime Anwendung von Psychoanalyse verankert wie die therapeutische. Es entwickelte sich eine neue Form von psychoanalytischer Praxis, die sich außerhalb der von Freud ursprünglich entwickelten analytischen Praxis entfaltete.

Wien war damals, wie Anna Freud schrieb, »ein fruchtbarer Boden« (Freud A., 1980, S. 4) für die Anwendung der in der therapeutischen Arbeit gewonnenen Einsichten auf die Erziehung und für die analytische Erforschung der Kinderentwicklung. Viele Jahre später sagte Anna Freud: