ALFONS LIMBRUNNER

Die Wanderer
ins Morgenrot

Karl König,
Camphill und
spirituelle Gemeinschaft

Verlag Freies Geistesleben

Inhalt

Karl König, Camphill
und die Wanderer ins Morgenrot – Vorwort

1 «Um mir das Rätsel meiner Existenz zu klären …» –
Selbstzeugnisse und biographische Facetten im Leben des Camphill-Gründers Karl König

2 Immergrünes Pionierstück. Karl Königs Beitrag zur Geschwisterforschung

3 «O Leben Leben, wunderliche Zeit …»
Karl Königs historisch-biographische Essays

4 1 861 und der Mann der Mitte. Karl Königs Phänomenologie eines besonderen Jahres

5 Die große, heitere Blumenkette des Schicksals. Karl König und Adalbert Stifter – Versuch einer Zusammenschau

6 Augenhöhe – Randnotiz in der Begegnung mit anthroposophischer Sozialtherapie

7 Leben, lernen, arbeiten. Die Erfolgs- und Wirkungsgeschichte des spirituell-anthroposophischen Sozialwesens

8 Gelebte Nachhaltigkeit – Porträt der Camphill-Dorfgemeinschaft Hausenhof

9 Werden Sie Tänzer! – 90 Jahre Rudolf Steiners Heilpädagogischer Kurs

10 Ein starkes Gespann. Landbau und Sozialarbeit – Wegzeichen zu einer Sozialen Landwirtschaft

11 Herzenserkenntnis – Ein Gespräch

12 Die Morgenröte – Spuren einer Zukunfts- und Hoffnungsmetapher

Anmerkungen – Literatur – Quellen

Impressum

Leseprobe Karl König – Eine mitteleuropäische Biographie

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Karl König, Camphill
und die Wanderer ins
Morgenrot – Vorwort

Meine Geschichte mit Karl König beginnt um 1968. Von einem Freund hörte ich den Namen erstmals im Studium der Sozialen Arbeit. Er war in einer Einrichtung der Behindertenhilfe tätig und erzählte von der Studie Der Mongolismus eines gewissen Karl Königs, das erste Buch in Deutschland über jene Menschen, die heute mit dem Etikett «Down-Syndrom» oder «Trisomie 21» unter uns leben. Dann, zu Beginn der achtziger Jahre, fiel mir – im Zusammenhang mit der Einschulung unserer Söhne an der Waldorfschule – Königs Buch Brüder und Schwestern – Geburtenfolge als Schicksal in die Hände. Dieses Buch ist inzwischen in einer stattlichen Anzahl von Auflagen erschienen und gilt – zumindest für mich – als eines der wichtigsten Bücher Königs, zumal es ohne Einschränkungen, damals wie heute, aktuell ist.

Die Jahre danach begann ich mich intensiver mit der Waldorfpädagogik zu befassen. Der Schritt zur entsprechenden Heilpädagogik, Sozialtherapie und Sozialarbeit, dem anthroposophischen Sozialwesen, lag nahe. Im Rahmen eines Praxissemesters – heute nennt sich das Forschungssemester – hatte ich Gelegenheit, sozialpsychiatrische Nachsorge und sozialtherapeutische Arbeit mit behinderten Menschen kennenzulernen. Über diese Erfahrungen hinaus ergaben sich vielfältige Kontakte und Anknüpfungspunkte zu Menschen und Organisationen, die in diesem zwar begrenzten, aber vielgestaltigen Rand Sozialer Arbeit agierten. Die Begegnungen waren fast immer mit ungewohnten und«eigenartigen»Eindrücken verbunden: Begriffe, Verhaltensweisen, Gestaltungen und Methoden, die mir neu waren und die mich schließlich neugierig machten. Da waren Ideen, Umgangsformen, Ausbildungswege, die anders waren als all das, was ich bisher im Bereich des Sozialwesens, der Sozialarbeit und Sozialpädagogik kannte und auch lehrte. Zwar gab es darüber vereinzelte Aufsätze in diversen anthroposophischen Schriften, die sich aber fast ausschließlich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen widmeten. Dazu kam, dass der dabei verwendete Sprachgebrauch dem unbefangenen Leser Rätsel aufgab, weil Begrifflichkeiten und Annahmen vorausgesetzt wurden, wie sie nur in den Zirkeln der Anthroposophie mit ihren zum Teil nicht überprüfbaren Annahmen und fehlenden Quellenangaben üblich waren. Leider ist das zum Teil heute noch so. Der Name Karl König begleitete dabei immer wieder meinen Wunsch, diese Form spirituellen Sozialwesens einigermaßen zu erfassen. Vor diesem Hintergrund entstand 1993 im Beltz Verlag ein erster Überblick, in dem ich versuchte, die Breite der Arbeitsansätze, Konzepte und Methoden möglichst verständlich und praxisnah für ein nicht-anthroposophisches Publikum darzustellen.1

Etwa zur gleichen Zeit erschien Hans Müller-Wiedemanns Biographie über Karl König, jenem Wiener Juden, der als Arzt und Heilpädagoge in der Emigration jenseits des Kanals das große weltweite humanistische Projekt Camphill gründete. Bei der Lektüre entdeckte ich überrascht, dass König ein Verehrer Adalbert Stifters war, so, wie ich es schon damals war und auch noch heute bin. Genau dieser Umstand rückte mir Karl König innerlich näher, und ich begann mich ernsthaft mit dieser Persönlichkeit zu befassen. Das führte einige Jahre später zu dem Versuch, Leben und Werk Stifters mit dem von König zueinander in Beziehung zu setzen, denn ich glaubte, eine ganze Reihe von Berührungspunkten zu entdecken. Geblieben ist davon, sollte es eine Gemeinsamkeit zwischen Karl König und mir geben, dass wir Stifter als unseren persönlichen Hausfreund betrachten und uns, je nach Blickwinkel, dem Ideal einer menschengemäßen Sozialarbeit verpflichtet wissen.

Mein Interesse an dem, was praktische Spiritualität und Anthroposophie in den Sozial- und Humanwissenschaften, in der Psychologie, in der Sozialen Arbeit, im gelebten Leben insgesamt ausmacht, hat sich – trotz gelegentlicher Skrupel und Vorbehalte – weiterentwickelt. Vielfältige Veröffentlichungen über zwei Jahrzehnte in unterschiedlichen Printmedien zeigen den Spagat, mich sowohl in meinem Berufsfeld an einer Hochschule für Sozialwissenschaften als auch als Außenstehender im spirituell-anthroposophischen Milieu zu bewegen. Mein Anliegen dabei war immer, voneinander zu lernen bzw. das Gemeinsame vor dem Trennenden zu sehen. In einer seit über zwanzig Jahren bestehenden freien Arbeitsgruppe im Nürnberger Raum konnte ich Einsichten und persönliche Haltungen vertiefen und, so glaube ich, meinen Horizont erweitern und zugleich Einseitigkeiten vermeiden.

In diesem Sinne habe ich lange Zeit im Vorstand einer Dorfgemeinschaft mitgearbeitet und bin spätestens hier zum kritischen Sympathisanten dieser Art von gemeinsamem Leben, Lernen und Arbeiten geworden. Die Kontakte und Freundschaften, die dabei in all den Jahren entstanden, sind Teil meiner privaten und beruflichen Biographie geworden. Seit 2010 bin ich nunmehr als Entwicklungsberater und Supervisor in einer Camphill-Dorfgemeinschaft tätig.

Eine weitere Vertiefung ergab sich, als ich mich ab 2003 der Lehre der Thematik «Grüne Sozialarbeit» – das, was sich heute Soziale Landwirtschaft nennt – zuwandte. Im Rahmen eines zweijährigen Forschungsprojekts, finanziert vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, bot sich die Gelegenheit, an einer Bestandsaufnahme «Soziale Landwirtschaft auf Bio-Höfen in Deutschland» mitzuwirken.2 Das führte wiederum zum Kontakt mit dem Karl König Institut in Berlin, zumal man dort im Rahmen der Karl König Werkausgabe den Band über Landwirtschaft und Sozialtherapie vorbereitete.3 Daraus ist eine Verbindung entstanden, die bis heute anhält. Zusammen mit Richard Steel editierte ich die Bände Brüder und Schwestern – Geschwisterfolge als Schicksal und Geister unter dem Zeitgeist – Schicksale an der Schwelle zur Moderne und versah sie mit Einführungs- und Begleittexten.4 Im Augenblick bereite ich einen Band über Karl Königs Lyrik vor.

Mit alldem ist in Kürze das gesagt, was den Anlass und den Aufbau dieser Aufsatzsammlung betrifft. Der etwas umfangreichere Eröffnungsaufsatz befasst sich mit Leben und Werk des Camphill-Gründers. Wo immer möglich, lasse ich dabei König selbst mit biographischen Selbstzeugnissen zu Wort kommen, verbunden mit Hinweisen, die Menschen zu berichten wussten, die ihm nahestanden und die sich in dessen Umfeld bewegten. Dabei kann so manches als überhöht und fremd empfunden werden. Gelegentliches Pathos und ungewöhnliche Gedankengänge tun aber den Leistungen dieses Mannes und der Sache, die er vertritt, keinen Abbruch. Die weiteren Aufsätze sind seit 2002 in unterschiedlichen Printmedien erschienen. Im Sinne einer stimmigen Gesamtkomposition habe ich in einigen Aufsätzen behutsame Veränderungen vorgenommen, wobei sich an manchen Stellen Überschneidungen nicht verhindern ließen. So befasst sich der zweite Aufsatz mit Königs literarischen Glanzstücken zur Geschwisterforschung und der dritte Aufsatz mit der vielgestaltigen Sammlung von Biographien bedeutsamer Persönlichkeiten im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert. Sie runden, zusammen mit dem vierten und fünften Aufsatz über das Geburtsjahr Rudolf Steiners und dem Versuch, Adalbert Stifters Wirkungen auf Karl König zu betrachten, die Konturen dieses vielseitigen und schöpferischen Menschen ab. Die weiteren Beiträge versuchen sich darin, Idee und Praxis dieses spirituell orientierten Sozialwesens darzustellen. Nach dem Gespräch mit Richard Steel über Kaspar Hauser und Karl König mündet die Aufsatzsammlung in den titelgebenden Essay über die Wanderer ins Morgenrot ein.

Diese Zeile, dieses Bild, fand vor über zwei Jahrzehnten zu mir und hat mich seither nicht mehr verlassen. Den Wanderern, allen voran Karl König zu dessen 50. Todestag, ist dieser kleine Band gewidmet.

Erlangen, September 2015 Alfons Limbrunner

Jede Bewegung, die eine Mission hat – und so eine ist Camphill –, bedarf eines Mythos, der sich meist um den Gründer rankt. Mythos ist hier ausschließlich positiv gemeint, nämlich als ein stimulierendes Idealbild.

Dieter Brüll

I.

Dezember 1938: Ein Mann sitzt in einem Zimmer, irgendwo in London. Er ist ein Fremdling, ein Ausländer, ein Wiener Jude, einer, der mit Tausenden anderer Menschen ein ähnliches Schicksal teilt. Sein Weg führte ihn über Italien, die Schweiz und Frankreich nach England, das dem Arzt und Heilpädagogen Asyl und Schutz vor der sich anbahnenden Unmenschlichkeit und Barbarei gewährt, die sich seit März des Jahres auch in Österreich ausbreitet. Sie, die Engländer, waren zu den Flüchtlingen, die jetzt in Scharen herüberkamen, großmütig und nobel, zeigten Mitleid und hilfreiche Anteilnahme. Was mag durch die Seele dieses Mannes gezogen sein in dieser für ihn und seine Familie, die noch in Deutschland weilt, so einschneidender Lebenszäsur? Was wird werden? Wie trägt die Vergangenheit die mögliche Zukunft? Gelingt es, die Frage nach dem Warum in ein Wozu umzumünzen?

Sehr viel später schreibt dieser Mann: «Da saß ich nun, herausgerissen aus meiner Arbeit, und ich kam mir vor wie ein Schiffbrüchiger, der auf eine einsame, unbekannte Insel verschlagen ist. Meine Kerze flackerte und warf seltsame Schatten an die Wand. Europa hatte ich hinter mir gelassen – denn hier war nicht mehr Europa; es war schon ein Stück der westlichen Welt. Die Sprache kannte ich nicht, die Menschen waren mir fremd. (…) Einige von diesen Fremden kamen mir wohl freundlich entgegen, aber andere, auf deren Hilfe ich gerechnet hatte, zeigten nur gerade so viel Interesse, wie es die Höflichkeit verlangte. So war ich allein auf mich angewiesen. Werde ich noch einmal die Kraft zu einem Neubeginn aufbringen?»1

Es ist gleichsam die Stunde Null im Gründungsmythos der späteren weltweiten Camphill Community. Es ist der Moment, in dem der Heros vor der sinnstiftenden Tat steht, die dem, was werden wird, Dauer, Selbstverständnis und Größe zufließen lässt.

II.

Jener Emigrant, Karl König, wurde sechsunddreißig Jahre vorher, 1902, in Wien als einziges Kind von Aron Ber (Adolf) und Bertha König geboren. Der Vater stammte aus der Familie eines burgenländischen Rabbiners, die Mutter aus dem mährischen Iglau, jenem Städtchen, in dem einst auch die Familie Mahler lebte, deren berühmter Sohn Gustav später zu Königs Lieblingskomponisten wurde. Die Kleinfamilie mit nur einem Kind – reichlich ungewöhnlich für damalige Verhältnisse – lebt nach einem Umzug innerhalb Wiens in der Glockengasse, wo sich auch das Schuhgeschäft der Königs befindet. Karl war eher von schwächlicher Konstitution und kam mit einem leicht deformierten Fuß zur Welt, der ihn zwang, lebenslang orthopädisches Schuhwerk zu tragen. Die Mutter führt dies in ihren Lebenserinnerungen auf einen Sturz in der Schwangerschaft von der Treppe ihres Geschäfts zurück. Stolz erzählt sie, dass ein Professor der Psychologie ihr prophezeite, dass aus ihrem zweijährigen Karli einmal ein berühmter Mann werden würde, denn noch nie habe er in seiner wissenschaftlichen Laufbahn eine so auffällige Kopfform wie bei diesem Kind gesehen.2 Auf Karl König trifft fast all das zu, was er sehr viel später über Einzelkinder in Brüder und Schwestern – Geschwisterfolge als Schicksal schreibt: Wenig ausgeprägtes Sozialverhalten und allzu oft bemühen sie sich um eine besondere Anerkennung und Wertschätzung in der Gemeinschaft. Ihnen sei es schlecht möglich, einer unter den vielen zu sein, und sie sehnen sich nach einer Ausnahmestellung und nach einem höheren Platz im Leben und sind oft tatsächlich zu großen Leistungen fähig. Seine Mutter erinnert sich aber auch an ihre große Sorge, wie ihr Sohn im zunehmenden Alter, in der Schule, bis hin zum Schulabschluss 1920, immer in sich gekehrter und verschlossener wurde. Migräneattacken hielten ihn oft tagelang im Bett, die Abende verbrachte er meist außerhalb des Hauses, bei seinem Freund Alfred, dessentwegen er die Schule wechselte, um ihm nahe zu sein. Es lag eine Traurigkeit um ihn, so die Mutter in ihren Erinnerungen, und manchmal hatte sie Angst, die Türe seines Zimmers zu öffnen, weil sie nicht wusste, ob man ihn heil vorfinde. Der heranwachsende Knabe, folgt man Königs Biographen Müller-Wiedemann, hatte die Statur des Vaters, und ein überproportional großer Lockenkopf ruhte auf einem relativ kleinen, schmächtigen Leib. Der Frühreife, der seinen Altersgenossen weit voraus ist, liest und liest, Bücher sind ihm ein andauerndes Lebenselixier. So ein besonderes Kind bindet vor allem den Beistand der Mutter, der sich bald in lebenslange Verehrung und Bewunderung wandelte, wogegen sich der Vater, ein ernster, frommer und stiller Mann, zurückzieht, zumal sich der Sohn schon früh von den Wurzeln des jüdischen Glaubens entfernte bzw. sich innerlich nie mit dem Judentum verbinden konnte. Auch das Katholische bot dem jungen Menschen keine religiöse Heimat, die er schließlich im Alter von sechsundzwanzig Jahren in der Spiritualität der Christengemeinschaft, der Bewegung für religiöse Erneuerung, fand.

10. Juli 1922: Karl König mit der Familie Bergel. Vorne von links: Jeanette, Arnold und Marianne Bergel. Hinten von links Karl König, Alfred Bergel, unbekannt, Arthur Bergel.

Bereits als Jugendlicher vertraute er sich seinen Tagebüchern an – eine Praxis, die ein Leben lang anhielt –, in denen er nicht nur äußere Tatsachen festhält, sondern auch innere Stimmungen, Seelenzustände und Reflexionen. Notizen im Zeitraum von 1918 – 20 legen davon Zeugnis ab: «Über Kunst und Literatur in meinem bisherigen Leben: Kunst ist ein großer, großer Garten. Doch er ist nicht frei, sodass jeder hinein kann, wann er will, sondern der Garten ist mit einer hohen, glatten Mauer umschlossen. Wer nun hinein will, muss die Mauer übersteigen. Doch das ist schwer.» Oder: «Jenes tiefe, dunkle Etwas, das uns immer durch die Jugend verfolgt, ist jetzt bei mir am höchsten gewachsen. Einmal wird es die Idee unseres Lebens werden, nun aber umhüllt es noch schattenhaft meine Seele. Immer öffnet es da und dort einen Flügel, der den Himmel des Lebens in die Seele strahlen lässt. Einmal die Güte und dann die Schönheit, die Wahrheit und die Verlorenheit. Die Seele ist eine Wiese, auf der unzählige Blumen wachsen, wachsen und reifen. Und sind sie erwacht, dann fallen sie ab und entfliegen irgendwann, wir aber wissen, dass nur ihr Wachsen unser Glück war.»3

Karl König fühlte sich vehement zur Lyrik hingezogen. In seiner gesamten Lebenszeit verfasst er – ähnlich wie Albert Einstein – an die vierhundert Gedichte, davon über zweihundert bis zu seinem vierundzwanzigsten Lebensjahr. Ist es nur, wie der Spötter Georg Christoph Lichtenberg meint, dass das Versemachen bei vielen eine «Entwicklungskrankheit des menschlichen Geistes» sei?4 Gewiss, gerade in der Sturm- und Drangzeit der jungen Jahre rumoren die Empfindungen und das Gelesene kräftig in einem – Anlass genug, all das zum Ausdruck zu bringen. Die lyrische Form stellt dazu – nicht nur bei jungen Menschen – eine Möglichkeit dar. Bei König dürfte es, so lässt sich vermuten, eine Mischung aus innerer Notwendigkeit, aber auch milieubedingten und zeitgeistigen Umständen gewesen sein, die ihm lebenslang, neben den Tagebüchern, die Möglichkeit gab, Empfindungen und Gedanken von innen nach außen zu bringen. Es ist jene langandauernde Epoche des ausgehenden, langen 19. Jahrhunderts, deren Beginn und Ende manche Historiker mit der Französischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg markieren. Es ist die spezifische, seelische und geistige Atmosphäre mit ihrer größtenteils vom Wiener Judentum genährten und prägenden Kultur. 1914 sollen an die zehn Prozent der Bewohner Wiens Juden gewesen sein, die nicht zuletzt aufgrund der von Kaiser Joseph II. erlassenen Toleranz-Edikte, die ihnen eine freiere Ausübung ihrer Religion ermöglichten, aus den böhmisch-mährischen Gebieten der österreichisch-ungarischen Monarchie zuwanderten. Einer der ersten Dichtversuche Karl Königs ist dem letzten Herrscher, Kaiser Franz-Joseph gewidmet, der zeigt, wie sich der Fünfzehnjährige bereits in diesem Alter mit der politischen Situation und den Zeitverhältnissen auseinandersetzt.5

«Jahreswende»

Die Jahreswende ist gekommen,

Das alte Jahr senkt sich hinab ins Grab,

Das neue hat den Sieg errungen

Und hat das alte nun vertrieb’n

Mit Gut und Hab.

Doch viel hat’s nicht gehabt an Hab und Gut,

Es war ja Kummer nur und viele Leiden,

Getränkt vom dunkelroten Blut,

Das jene gaben, die getreu war’n ihren Eiden.

So wie zu seinen Vätern ging der alte Kaiser,

So ging nun auch das alte Jahr.

Der neue wird ein Friedenskaiser

Und auch mit ihm, das neue Jahr.

Wien ist zu jener Zeit ein unvergleichlicher Nährboden für das Neue in der Musik, in Dichtung, Malerei, Literatur, Theater und in der Psychologie: Karl Kraus, Arthur Schnitzler, Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Alfred Polgar, Stefan Zweig, Josef Breuer, Alfred Adler, Sigmund Freud, Hermann Broch, Hugo von Hofmannsthal und viele andere mehr – sie alle gehören zur jüdischen Elite einer kulturellen und künstlerischen Blüte. Dem beginnenden und vermutlich immer schon latent vorhandenen Antisemitismus, der jetzt sogar öffentlich durch den Politiker und Wiener Bürgermeister Karl Lueger vertreten wird, tut dies keinen Abbruch.

Stefan Zweig ist authentischer Zeuge dieses assimilierten Wiener Judentums, dessen immanentes Ziel es gewesen sei, den Aufstieg in eine höhere kulturelle Schicht zu schaffen. Zum Ehrgeiz jeder «guten» Familie gehörte es, dass wenigstens einer ihrer Söhne vor dem Namen irgendeinen Doktortitel trug.6 Und vielleicht ging es dem Karli von der Wiener Glockengasse ebenso wie jenem gebürtigen Karol Sobelsohn, alias Karl Radek, der damals als sozialistischer Journalist und Politiker wirkte, dem die Mama selig sagte, «… ein Jud muss doppelt so tüchtig sein wie die anderen, und einer seiner Onkels hatte ernst hinzugefügt, merk dir das, Lolek.»7 Der junge König ist ein hochbegabtes Einzelkind, ein Einzelgänger, ein Mensch, den lebenslang melancholische Stimmungen begleiten, der sich aber auch durch Humor, Begeisterungsfähigkeit und Wiener Charme auszeichnet. Von seiner Ungeduld und Cholerik wird berichtet, aber auch von zweifelnden, verzweifelten und depressiven Phasen, die zudem mit einem langen Herzleiden und den damit einhergehenden Ängsten verbunden waren. Der körperliche, aber auch der ethnisch empfundene Makel tun ihr Übriges dazu. 1954 notierte er nach einem morgendlichen Aufwacherlebnis, dass sich ihm der Sinn, Jude zu sein, jetzt erst erschlossen habe, «dass ich während der Kindheit und Jugend noch einmal eintauchen durfte in dieses hebräisch-jüdische Element und damit aufnehmen konnte, bis in die Knochen hinein, die Zeugenschaft für das Mysterium von Golgatha».8

Der junge König erlebte die Zerschlagung der Donaumonarchie, die Umstülpung Europas, Hunger, Krankheit, Arbeitslosigkeit, jene Jahre, in denen mit dem schwindenden Wert des Geldes auch alle anderen Werte ins Rutschen kamen. Eine zügellose, anarchische Zeit, in der die Menschen nicht nur materiellen, sondern auch neuen geistigen Halt suchen. Diesen geistigen Anker findet König in der Literatur und im hingebungsvollen Lesen und Verfassen von Gedichten: «Gab dem Singer meine Gedichte, innerlich Gefühltes, in meinen Gedichten liegt sehr viel Gefühl, ich kann’s noch zu etwas bringen, soll Lyriken einschicken, Rilke, Wildgans, Ginskey, werde ich Antwort bekommen?» Oder: «Wenn ich Poesie fühle, muss ich an etwas Höheres in der Natur glauben.»9

Der bereits erwähnte Alfred Bergel – auch er entstammte dem Wiener Judentum – war Karls bester Freund. Mit ihm konnte er seine Last, die ihm das strenge Judentum aufbürdete, zur Sprache bringen, und natürlich ging es auch um die Liebe und um, auf gut Wienerisch, die Madln. Der kunstsinnige Vater Alfreds war ihm ein zugewandter Mentor und Berater in Sachen Lyrik. Ein anderer Eintrag zeigt die kritische Selbsterkenntnis und Reflexionsfähigkeit des jungen König, eine Fähigkeit, die sein Leben durchzieht: «So bleibe ich nur Künstlernatur. Denn dass ich nichts in der Kunst zusammenbringe, darüber bin ich mir klar geworden. Es wird mir nicht gelingen, die Vorgänge in meiner Seele in Verse zu bringen. Es war eine tiefe Erkenntnis. Daraus entsprang auch mein fester Vorsatz, Arzt zu werden. Vielleicht werde ich noch Gedichte schreiben, sie werden nur für mich sein.»10 Und so ist es schließlich auch gekommen.

III.

Den entscheidenden Anker findet Karl König dann allerdings – er ist bereits als Student der Medizin an der Universität Wien eingeschrieben – um 1921 auf Umwegen in der Anthroposophie Rudolf Steiners. Seine Mutter berichtete, dass das Suchen ihres Sohnes über all die Jahre zunächst in die Entdeckung eines neuen Zusammenschlusses eingemündet sei, einer Vereinigung, die sich «Juden-Christen» nannte. Der Sohn forderte auch sie auf, zu deren Treffen zu gehen, weil man da eine ganz andere Sorte von Menschen treffen könne, gute Vorträge hören und im Übrigen sehr viel lernen könne. «Ich schaute mir die Menschen an und war ganz enttäuscht, als ich den Ausdruck ihrer Gesichter studierte; sie waren alle Suchende. Da waren Theosophen, Anthroposophen, Anarchisten, Atheisten, Menschen, die an Geist und Seele heruntergekommen waren, Hungernde, Verkrüppelte, und sie alle hofften, Erlösung durch diesen Verein zu finden. Ich sprach mit vielen von ihnen, und überall erhielt ich die Antwort: Wir suchen! Ich ging jede Woche dorthin, es wurden geistreiche Vorträge gehalten, jeder pries seine Ideen und jeder wusste, dass er oder sie keine Heilung finden würde. So konnte auch ich dort keine Befriedigung für meinen Gemütszustand finden. Ich ging noch einige Male hin, aber nach kurzer Zeit löste sich der Verein auf. (…) Durch seine neuen Freunde – Professor Knöpfelmacher und das Ehepaar Glas – fand mein Sohn Einritt in die Anthroposophische Gesellschaft (1925, AL), und das war für ihn das Richtige, wonach er so lange gesucht hatte. Er brach die Freundschaft mit allen seinen früheren Freunden ab, denn sie waren nicht eingestellt auf die Anthroposophie, und er suchte nur Freunde in der neuen Gesellschaft zu finden.»11

Der lesehungrige, tagebuchschreibende und dichtende Medizinstudent entdeckte Goethes naturwissenschaftliche Schriften und verglich die Offenbarung, die sie ihm vermittelten, mit der Erfahrung, die er gemacht hatte, als er dem Neuen Testament begegnete. Bereits 1920 notiert er: «Die Wissenschaft muss voll Künstlertum und Geist sein, sonst wird sie gottlos und schal ohne Wahrheit und ohne Erfassen der Weltzusammenhänge. Das ist das Große. Das Begreifen des ganzen Zusammenhanges, des großen Mysteriums. Alles ist eins.»12

Wissenschaft, Kunst und Religion gehören für ihn zusammen. Durch eine Studentengruppe um das Ehepaar Glas lernt er Steiners Vorträge zur allgemeinen Menschenkunde kennen. Bei der Lektüre von Steiners Philosophie der Freiheit erfolgte dann die so wichtige Entdeckung, dass er hier all das finde, was er sich bereits über die schöpferische Kraft der Natur im Denken des Menschen aufgeschrieben habe. Er wünschte sich, Steiner zu begegnen, versäumte es jedoch, an dessen Wiener Ost-West-Kongress im Juni 1922 teilzunehmen. In seiner autobiographischen Skizze schrieb er, dass dieses Versäumnis wohl mit seinem jugendlichen Eigendünkel und Phlegma zu tun hatte, «vielleicht war es aber auch ein Stück Notwendigkeit, das sich darin aussprach».13 Möglicherweise hatte es auch mit dem Umstand zu tun, dass die Wiener Ärzteschaft aufgrund eines von Eugen Kolisko im Vorfeld gehaltenen Vortrags, diesen Kongress skandalisierte und sabotierte.14

Die sieben Jahre währende intensive Freundschaft zu Alfred Bergel wurde durch Königs radikale Orientierung hin zur Anthroposophie und seinem damit verbundenen Eintritt in deren Gesellschaft beendet. Und wieder – ein Zeichen, dass er nichts beschönigt – notiert er: «Ich wurde abweisend, überlegen und höhnisch zu meiner nächsten Umgebung, mein Erkenntnisweg war mir das Wichtigste und alles andere Beiwerk, das abgetan werden musste.» Gar als «Die Offenbarung des Karma» beschreibt der erst Dreiundzwanzigjährige vollmundig die Trennung von seinem Freund: «Der junge Mensch (er selbst, AL) war in die Gemeinschaft der Brüder eingetreten, geistig in das Gebiet der großen Wahrheiten, die der Meister (Rudolf Steiner, AL) von den Göttern auf die Erde gebracht hatte, aufgenommen worden. Er hatte bis nun einen Freund gehabt. Er war ihm auf dem Geistesweg nicht gefolgt.» 15 Alfred Bergel entschied sich für ein Kunststudium, unterrichtete bis 1938 als Kunsterzieher an einer Wiener Realschule und – nachdem ihm die Ausreise und Emigration nicht gelungen war – als Lehrer in der jüdischen Gemeinde, kam 1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt und wurde schließlich 1944 in Auschwitz ermordet.

Königs Eintauchen in die Anthroposophie, die Auseinandersetzung mit dem Monismus Ernst Haeckels im Lichte der Christologie Rudolf Steiners und die eigenen Forschungen auf dem Gebiet der Embryologie stehen im Zentrum seiner geistigen Bemühungen der zwanziger Jahre. Dies wird, so sein Biograph Müller-Wiedemann, gleichsam begleitet von dem inneren Kampf des sozialistisch Engagierten – er nimmt aktiv an deren Versammlungen teil und setzt sich mit Armut und sozialer Gerechtigkeit auseinander – mit der Anthroposophie Rudolf Steiners.16 Der Spagat – beides könnte sich ja durchaus ergänzen – spiegelt sich in zwei von ihm selbst vorgenommenen Gedichtsammlungen, «Die Verzweiflung» von 1924 und «Die beginnende Erweckung» von 1926, wider. «Dir Bruder Proletarier» heißt ein Gedicht. In«Europa ins Angesicht» heißt es:17

Schamloseste Verkettung einer Zeit

In der ein Mensch für seinen Arm um Arbeit schreit.

Entkommen erst dem Tanz der Räder und Maschinen

Schreit schon das Brot nach ihm und er muss wieder dienen.

Maschinen stehen still, die Ruhe scheint geweckt,

Und Menschen schreien auf, die Hände aufgereckt. (…)

Der graue Atem nagt an unseren müden Lungen

Maschinen geben Brot, Hunger hat uns bezwungen.

Die furchtbar leere Zeit, steht mit der Arbeit still

Maschine hin zu Dir, die so verdient sein will.

Maschinen stehen still und Menschen stehen still,

Wo ist des Schicksals Macht, die dieses bannen will?

18