Warten auf Gonzo

FÜR MEINE GROSSELTERN IN LIEBE UND DANKBARKEIT, WEIL SIE MIR SO VIELE GESCHICHTEN ERZÄHLT HABEN.

Inhalt

An Gonzo

DER ANFANG - G MINUS 245

1 Wie man einen Pete-Taylor hinlegt

2 Slips

3 Dead Frank

4 Verbranntes Gummi in der Luft

5 Wie der Song schon sagt …

6 OMG

7 Kissen fressen

8 «Wie stochern im Wespennest»

9 Schon irgendwie beeindruckend

10 Ein Schaumgummi-Alien

11 Unfassbar unheimlich

12 Die Dreisekundenregel

13 «Wünsch mir Glück»

14 Zum Mond schwimmen

15 «Also, das ist eine echte Katastrophe»

16 Wie man sich Freunde macht

17 «Hab ich was verpasst?»

18 «Immer diese Entscheidungen»

19 Ein Junge mit blauen Haaren

20 «Sag einfach Danke und frag nicht groß»

21 Der Augenblick, in dem ich merkte, wie blöd ich war

DIE MITTE - G MINUS 199

22 Ein verqueres Zeichen der Zuneigung

23 Ein Friedensangebot

24 Eine ganz neue Perspektive

25 «Man kann nicht direkt von den Beatles zu Dead Frank übergehen»

26 Was es bedeutete, Gonzo zu sein

27 «Tritt nie ein Schwein»

28 Lebenssaftaussagender Quatschschinken

DAS ENDE - G MINUS 72

29 «Als hättest du einen kompletten anderen Menschen in dir»

30 «Seit wann bist du so interessant?»

31 Weit über das Pflichtprogramm hinaus

32 Eine Dummheit

33 «Du kannst tatsächlich eine Eule nachmachen?»

34 «Entwerder machst du mit oder eben nicht»

35 «Ich war noch nie der Böse»

36 Der nächste Samstag

37 Ein Katastrophenszenario

38 «Sie behalten einfach alles im Blick»

39 «Zeit, sich wie ein Mann den Konsequenzen zu stellen»

40 G

Danksagung

Impressum

Leseprobe

AN GONZO

Hör zu, G, es ist wichtig, und ich habe wenig Zeit. Ich möchte aber, dass du erfährst, wie sich alles zugetragen hat, denn eigentlich sollte es nicht so enden.

Ich schiebe es Marcel Duchamp in die Schuhe, doch der ist tot, man kann ihm nicht mehr viel anhaben. Als er der Mona Lisa, also dem wohl berühmtesten Bild der Welt, einen Schnauzer und einen Spitzbart verpasste, sagte er, er wolle die menschliche Wahrnehmung von Kunst herausfordern.

Das war gelogen. Er hat es getan, weil es lustig war. Schnurrbärte sind lustig – Ende der Geschichte.

In unserem Fall fängt die Geschichte damit erst an.

EINS

WIE MAN EINEN PETE-TAYLOR HINLEGT

Weißt du, was meine treu sorgende Mutter zu mir gesagt hat, als sie mich vor der Schule abgesetzt hat? Nicht etwa: Viel Spaß, mein Schatz! Noch nicht einmal: Viel Glück!

Nichts dergleichen, nur: «Also, Marcus, denk dran, der erste Eindruck zählt! Sei bloß nicht so arrogant.»

Aber in einem Punkt hat sie immerhin recht, G, denn wenn man in eine neue Schule geht, muss der erste Eindruck wirklich sitzen. Nicht wie bei Pete Taylor. Der kam am Anfang der Fünf, und gleich am ersten Tag in der ersten Stunde machte er sich in die Hose. Pete war ein witziger, intelligenter Typ und ein hervorragender Sportler. Doch als ich vier Jahre später von der Hardacre Highschool abging, lief er immer noch unter dem Spitznamen Pipi-Pete.

Versteh mich nicht falsch, G: Ich hatte nicht etwa Angst, dass mich meine Blase im Stich lassen würde, als ich an jenem Morgen die Schule betrat – aber einen Pete-Taylor kann man in verschiedenen Varianten hinlegen.

«Das ist Ryan. Er zeigt dir, wo’s langgeht.» Der Stufenleiter der Neun wies lächelnd auf die Gestalt, die eben an der Bürotür aufgetaucht war. Der Junge musste dringend zum Friseur. Vor lauter braunen Locken, die ihm ins Gesicht fielen, konnte man kaum seine Augen erkennen.

«Willkommen an unserer Schule.» Als sein Arm vorschoss, begriff ich, dass er mir die Hand schütteln wollte. «Ich heiße Ryan.»

«Oz.» Ich lächelte ihn beim Handschlag an. Ehrlich, ich war freundlich und kein bisschen arrogant.

«Ich zeig dir alles, damit du dich schnell zurechtfindest», sagte Ryan. «Frag mich einfach, wenn du etwas wissen willst.» Sein Akzent war heftig, und ich musste mich total konzentrieren, um überhaupt etwas zu verstehen.

«Okay.»

«Die Schule ist 1875 erbaut worden und fing mit einer Klasse von dreiundzwanzig Schülern an», erklärte er, während wir eine Treppe hinaufgingen. «Mittlerweile sind es über siebenhundert.» Ryan hörte sich wie ein Museumsführer an, und ich überlegte, ob man ihm aufgetragen hatte, mir das alles zu erzählen, oder ob er wirklich glaubte, es würde mich interessieren.

«Das Motto der Schule lautet: Libertas a scientia venit. Das heißt ungefähr: Freiheit entsteht aus Wissen oder so ähnlich.» Er zuckte die Achseln. «Willst du etwas Bestimmtes wissen? Oder soll ich einfach weitermachen?»

«Ach, lass ruhig. Ich glaube nicht, dass ich lang bleibe», antwortete ich. «Wenn meine Eltern erst mal aus ihrem Wahn erwachen, dass es eine gute Idee war, hierher zu ziehen, geht’s zurück in die Zivilisation – wo es Geschäfte, Bürgersteige und Straßen mit weißen Mittelstreifen gibt!»

Ryan runzelte die Stirn. «Wo kommst du denn her?»

«Aus Hardacre – direkt bei London.»

«Und warum bist du umgezogen?»

«Weil mir nichts anderes übrig blieb. Meine Mutter hat hier einen Job am College bekommen. Anscheinend wollten meine Eltern schon immer auf dem Land wohnen. Sie haben uns nicht mal gefragt!»

«Uns?»

«Ich hab noch eine Schwester. Egal. Der springende Punkt ist, dass alles ohne uns entschieden wurde. Es hieß einfach: Packt eure Sachen, wir ziehen um.» Ich schüttelte den Kopf. «Wetten, deine Eltern würden dir so was nicht antun?»

«Sie sind gestorben, als ich fünf war», sagte Ryan.

«Oh … das tut mir leid.»

Er hob die Schultern. «Ich kann mich kaum noch an sie erinnern. Aber mein Großvater würde so etwas auch nicht machen, glaube ich. Jedenfalls nicht, ohne mich zu fragen.»

«Da hast du’s!», sagte ich. «Und dann das Haus, das sie gekauft haben – Scar Hill Farm! Direkt aus einem Horrorfilm – knarrende Holzdielen, verbretterte Fenster. Der reinste Schrotthaufen. Es riecht sogar so, als wäre dort jemand gestorben …» Zu spät merkte ich, was ich gesagt hatte.

Ich konnte nur hoffen, dass es Ryan nicht aufgefallen war, und plapperte einfach weiter. «Echt, die Böden haben Löcher, das Dach ist undicht … Es gibt nicht mal eine Heizung.»

Wir kamen schließlich in einen langen Gang, und in der Mitte des Korridors blieb Ryan vor einer Tür mit dem Schild 9F stehen. «Das ist unser Klassenraum», sagte er. «Anwesenheit wird um 8.40 und um 14.15 Uhr überprüft, außer dienstags und donnerstags, wenn wir in der Aula mit der Versammlung anfangen.» Als er die Tür öffnete, drehten sich alle zu uns um und starrten mich an.

Keine Ahnung, was ich erwartet hatte. Lange Pultreihen mit Schülern, die sich an der Kreide festhielten und über Schiefertafeln beugten – vielleicht. Tatsächlich sah das Klassenzimmer genauso aus wie in meiner alten Schule, und doch fühlte ich mich gerade deshalb noch mehr wie von einem anderen Stern.

Ich spürte, wie mich alle musterten. Das Schuljahr hatte bereits vor ein paar Wochen begonnen, sie waren also schon ein Weilchen zusammen, und ich war was Neues, eine willkommene Ablenkung vom Alltag. Frischfleisch.

«Marcus Osbourne, richtig?», fragte die Lehrerin, eine rundliche Frau mit rechteckiger Brille, die sich als Mrs Pike vorstellte.

«Jep, aber alle nennen mich Oz.»

In den hinteren Reihen kicherte jemand, und Mrs Pike verzog das Gesicht. «Danke, aber wir bleiben lieber bei Marcus.»

Dazu sagte ich nichts, obwohl eine innere Stimme protestierte: Aber … ich bin Oz.

«Ihr seid gerade erst hergezogen, nicht wahr, Marcus? Wo wohnt ihr denn genau?»

«Äh … das Kaff heißt Slowleigh.»

Noch mehr unterdrücktes Gelächter. Wahrscheinlich war schon mal jemand dort gewesen.

Die Lehrerin nickte. «Slowel», sagte sie. «Leider sprechen wir die Worte hier oft nicht ganz so aus, wie sie buchstabiert werden.» Mrs Pike lächelte. «Mach dir keine Sorgen, das hast du schnell raus.»

Eigentlich hatte ich nicht vor, so lange zu bleiben, bis ich die Dinge raushatte.

Rückblickend muss ich sagen, dass an diesem Tag alles zwangsläufig auf den Schnurrbart zusteuerte, als hätte man für mich Pfeile auf den Boden gemalt. Ich war wie eine Speiche im Schicksalsrad, das unausweichlich auf seine Bestimmung zurollte. Was ich sagen will, G, ist, dass ich eigentlich nichts dafür konnte.

In der ersten Stunde an diesem Morgen hatten wir Kunst, und dort lernte ich etwas über Marcel Duchamp und den Schnurrbart auf der Mona Lisa. Hätten wir Englisch, Französisch oder Geschichte gehabt, wäre das alles nicht passiert.

Ich setzte mich weiter hinten neben einen riesigen Jungen namens Gareth und sah zu, wie alle ihre Stifte und Zeichenblöcke herausholten.

Weißt du noch, dass ich gesagt habe, man könne nicht nur auf eine Art einen Pete Taylor hinlegen? Tja … das geht zum Beispiel auch, wenn du den Rucksack aufmachst und der BH deiner Schwester rausfällt.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich das kapiert hatte. Schließlich ergab es überhaupt keinen Sinn, dass in meinem Rucksack ein BH steckte. Dennoch lag er auf dem Pult – schwarz, mit Spitzen besetzt, zusammengerollt wie eine tote Fledermaus.

Zu meinem Unglück lange genug für Gareth, der ihn bemerkte und seinen Nachbarn anstieß. Der wiederum in der Zeit, bis ich den anstößigen Gegenstand wieder in meine Tasche gestopft hatte, allen Schülern in der Neun eine SMS schickte, darunter einem Computerfreak namens Mark Edwards. Und Mark postete die Information in fünf sozialen Netzwerken und brachte die Nachricht in über dreißig Ländern in Umlauf – alles, bevor Mr Henson den Blick hob und fragte, was los war.

Obwohl ich den Mund öffnete, blieb ich stumm wie ein Fisch, weil es den Worten offenbar zu peinlich war, mit mir in Verbindung gebracht zu werden.

«Er hat jede Menge BHs im Rucksack, Sir!», sagte Gareth. Unter lautem Stühlerücken drehten sich alle zu uns um.

In der Zwischenzeit spulte mein Gehirn hektisch zu dem Augenblick zurück, als Mum mich vor der Schule abgesetzt hatte. Ich erinnerte mich, dass ich mir einen Rucksack von dem Taschenhaufen auf der Rückbank des Van geschnappt hatte – alles Sachen, die Mum für den Waschsalon eingepackt hatte.

«Muss wohl den falschen Rucksack genommen haben − aus Versehen.» Meine Wangen brannten, und es war ein Wunder, dass meine Haare nicht in Flammen aufgingen.

«Das ist bedauerlich.» Der Lehrer gab sich alle Mühe, nicht zu lachen. «Wahrscheinlich enthält er sonst nichts, was man gebrauchen könnte, oder? Zum Beispiel einen Kuli oder einen Bleistift?»

Ich starrte ihn wie gelähmt an. Mein Körper hatte sich vor lauter Scham verabschiedet.

«Willst du vielleicht mal nachsehen?», schlug Mr Henson vor.

Ich nickte und öffnete den Rucksack erneut, obwohl ich genau wusste, dass es keinen Zweck hatte.

Gareth beugte sich vor, um alles aus nächster Nähe zu betrachten. «Hey! Da sind auch noch Slips und so weiter. Sind die sauber?»

An dem Punkt hätte ich etwas sagen müssen, etwas Witziges und Schlaues. Etwas, das Oz so sagen würde, aber mein Kopf war wie leergefegt.

«Leihst du Marcus bitte für heute einen Stift, Gareth?», bat ihn Mr Henson.

Schwungvoll legte Gareth einen Kuli aufs Pult. «Bitte schön, Slips!», sagte er, und das Gelächter prasselte auf mich herab wie Hagelkörner.

Es war lustig. Ich wusste, dass es lustig war. Warum war mir dann nicht zum Lachen zumute?

Ich sag’s dir, G – Pete Taylor war nichts gegen mich.

ZWEI

SLIPS

In der nächsten Stunde musste ich wieder von vorn anfangen und erklären, warum ich nichts von dem dabeihatte, was man im Unterricht brauchte. Gareth ergänzte netterweise all die Details, die ich ausgelassen hatte – natürlich auch, dass mein Rucksack Mädchenunterwäsche enthielt.

Ich musste diesen Rucksack loswerden. Er hing wie ein weithin sichtbares Zeichen meiner Schande über meiner Schulter.

In der Pause suchte ich das Schließfach, das mir zugeteilt worden war. Eigentlich hätte ich erwartet, dass es leer war oder höchstens ein Paar ausgeleierte Turnschuhe oder Sportsocken enthielt, doch als ich sah, was drin war, blieb ich ruckartig stehen. Mitten in dem Metallfach stand ein Stift, ein dicker, stinkender Edding. Und mit Mitte meine ich auch genau die Mitte. Wenn ich den Abstand zu allen vier Wänden exakt ausgemessen hätte, wäre er bestimmt überall gleich gewesen. Aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, dass jemand diesen Edding extra für mich dorthin gestellt hatte – was natürlich Blödsinn war. Der Edding stand da, weil sich jemand einen Spaß erlaubt hatte. Deshalb war es eigentlich auch schwachsinnig, ihn einzustecken, aber ich tat es trotzdem.

Dann stopfte ich den Rucksack ins Fach und knallte die Tür zu.

Kurz vor der Mittagspause gab es Feueralarm. Ich ging mit allen anderen auf den Sportplatz, schaute mich nach Rauch um und hoffte, die Schule würde abfackeln und der Rucksack gleich mit. Aber selbstverständlich war es nur eine Übung. Als wir endlich wieder reindurften, war die Schlange vor der Essensausgabe länger, als sie sein sollte. Wäre sie nämlich kürzer gewesen, hätte sie nicht durch den Gang bis zum Schwarzen Brett mit all den Fotos gereicht.

Tausend Fotos hingen daran, Bilder von Schulmannschaften und Teamkapitänen, von Schülern, die Pokale entgegennahmen oder auf der Bühne standen. Es interessierte mich nicht wirklich, ich sah nur hin, um den Blickkontakt mit den Mädchen aus meinem Kunstkurs zu meiden, die vor mir anstanden.

«Na, wo hast du deinen Rucksack gelassen, Slips?»

Ich tat so, als hätte ich nichts gehört.

Doch dann stupste mich das Mädchen, das direkt vor mir stand. «Hab dich was gefragt.»

«Was?»

«Was?», äffte sie mich nach und glaubte wohl, sie hätte meinen Akzent ganz wunderbar getroffen. Ihre Freundinnen lachten sich kaputt, als hätten sie noch nie etwas Witzigeres gehört. Dann fingen sie alle damit an: «Was? Was? Was?» Es klang wie ein Möwenschwarm.

«Und seht euch seine Schuhe an!», sagte eine andere und zeigte mit dem Finger darauf.

Ich blickte nach unten und überlegte kurz, ob ich versehentlich mit den Kunststoffclogs meines Vaters in die Schule gegangen war – aber nein, ich trug meine ganz normalen Schulschuhe. Zugegeben, sie waren etwas spitzer als die der meisten anderen Jungs und hatten auf der Seite das klassische D-tag-Logo. Da, wo ich herkam, trug man nichts anderes.

«Habt ihr etwa noch nie Tags gesehen?», fragte ich das Mädchen.

Sie runzelte die Stirn und sah die anderen fragend an. «Was hat er gesagt?»

Und dann sagte sie noch etwas, das ich wiederum nicht verstand, und brachte damit erneut alle zum Lachen.

Dass Gareth hinter mir stand, merkte ich erst, als er seinen Senf dazu gab. «Wo kommst du noch mal her, Slips?»

«Aus Hardacre – bei London.»

«Tja, das erklärt alles. Da ist es üblich, dass die Typen Weiberunterhöschen tragen, oder?» Die Was? Was? Was?-Mädchen fanden das ungeheuer komisch.

«Wenn ihr es unbedingt wissen wollt», sagte ich, «sie sind echt viel bequemer, als man denken würde.» Ich lächelte Gareth an, obwohl mein Herz Flipper spielte und gegen meine Rippen pochte.

Er kräuselte die Stirn.

«Wobei ich selbst einen guten Zwickel zu schätzen weiß – damit auch alles hält, klar?»

Gareth blinzelte und musste dann lachen.

«Solltest du echt mal ausprobieren», sagte ich. «Man muss zwischen Stil und Bequemlichkeit ein Gleichgewicht finden, das ist das Wichtigste. Die Wahl der Unterwäsche sagt nämlich eine Menge über uns aus.»

Ryan stand hinter Gareth und beobachtete mich einigermaßen fassungslos durch seine lange Mähne. Ich zeigte auf den sommersprossigen Jungen neben ihm.

«Also, ich schätze mal, dass du der Typ normale Baumwollunterhose bist. Stimmt’s?»

Gareth machte ein prustendes Geräusch, und der Junge wurde rot.

Mittlerweile hörten immer mehr Leute zu.

«Wusstet ihr, dass man den Leuten an der Nasenspitze ansehen kann, was für Unterwäsche sie tragen?»

«Dann mach mal», sagte Gareth.

Ich tat so, als müsste ich nachdenken, und sah mit gerunzelter Stirn zu ihm hoch. «Gute Gesichtsfarbe, die Durchblutung stimmt. Boxershorts, würde ich sagen.»

Er lachte. «Na, ich wusste doch, dass Slips der richtige Spitzname für dich ist.»

Die Was? Was? Was?-Mädchen kicherten.

Als ich mich nach einem neuen Opfer umschaute, fiel mein Blick auf die Fotos am Schwarzen Brett. Ich zeigte auf ein Mädchen, das einen Pokal hochhielt und in die Kamera blinzelte. «Die sieht aus, als täte ihr was weh», erklärte ich. «Keine Frage, die hat den String zu hoch gezogen. Vielleicht sollte sie ihn umtauschen.» Ich erntete einen Lacher. «Klassisch, Boxershorts, Boxershorts, unten ohne!», ratterte ich runter, während ich an den Fotos entlangging. Dann blieb mein Blick an dem Bild eines Mädchens hängen, das mit verschränkten Armen trotzig in die Kamera sah.

«Also, unglücklicher kann man kaum aussehen», sagte ich. In dem Moment schob sich das Bild der Mona Lisa wie ein Dia in einer Präsentation vor mein inneres Auge. «Ehrlich gesagt, erinnert mich das an jemanden.»

Den langen Gang blendete ich aus, während ich mich ganz auf das Bild des Mädchens konzentrierte. Es juckte mir in den Fingern. Ich wusste, was ich zu tun hatte – was das Bild förmlich von mir ersehnte. Dann fiel mir der Edding wieder ein, und ich begriff, dass ich die ganze Zeit recht gehabt hatte. Jemand hatte ihn wirklich für mich dorthin gestellt – für diesen einen Zweck. Es war wie eine Bestätigung: Das ist das Gerät, mit dem du deine Aufgabe erledigen kannst.

Schon bevor ich die Kappe abzog, wusste ich, dass der Stift zu gebrauchen war. Ich sah zu, wie er sich auf das Foto zubewegte, angezogen von einer Macht, gegen die ich nicht ankam – wie das Schicksalsrad, das auf seinem Sockel ruckelte, um endlich loszurollen.

«Was machst du da?»

Ich erkannte Ryans Stimme, doch nur wie eine Warnung aus weiter Ferne.

Ich konzentrierte mich voll und ganz auf die dicke schwarze Linie, die sich unter der Nase des Mädchens kringelte. Langsam malte ich auf die andere Seite einen weiteren Schlenker und achtete darauf, dass sie genau gleich aussahen. Dann malte ich den Zwischenraum mit dicken senkrechten Strichen aus, bis die Tinte quietschte und glänzte. Als letzte Verzierung fügte ich noch eine Brille hinzu – fertig war das Ganze.

Dann brach der Lärm aus dem Gang wieder über mich herein, und Ryan stand auf einmal neben mir.

«Das hättest du nicht tun sollen», flüsterte er mit großen Augen.

«Ist doch nur ein Witz.»

Er sah aus, als wollte er noch mehr sagen, doch dann legte mir Gareth seinen schweren Arm um die Schultern und lachte.

«Also, das ist wirklich komisch, Slips», sagte er. «Totenkomisch.»

DREI

DEAD FRANK

Wenn das Niemandsland ein Zentrum hat, dann liegt es hier. Dafür, dass es hier nichts gibt, ist das Dorf Slowleigh auf der Landkarte vergleichsweise leicht zu finden. Man verfolgt die Autobahn einfach nach Norden, bis die breite blaue Linie endet, immer weiter an den bunten Klecksen vorbei, die die Städte markieren, bis es auf der Karte weiß wird und die Straßen wie Runzeln aussehen – dann hat man sie entdeckt: eine Ansammlung von winzigen Rechtecken am Rand eines Hügels. Man kann sie nicht übersehen, weil drumherum meilenweit nichts mehr kommt.

Die Karte zeigt jedoch nicht an, wie leer es sich dort anfühlt. Wie der Wind heulend versucht, einen vom Hügel zu fegen, sobald man nur das Haus verlässt. Sogar drinnen merkt man, wie er am Haus rüttelt und an den Fenstern zerrt – man hört, wie er die Ziegel vom Dach lösen und ins Tal schleudern will. Die Schnörkel auf der Karte zeigen nicht, wie sich die Landschaft ohne jegliches Leben unter einem endlosen, bleibäuchigen Himmel in alle Richtungen ausdehnt.

Es handelt sich nicht einmal um ein richtiges Dorf, sondern nur um ein paar versprengte Häuser, als hätte jemand eine Stadt bauen wollen und wäre mittendrin gestorben. Hier gibt es nichts außer dem Beckett-Arms-Pub, der Kirche und einem dieser Tante-Emma-Läden, die alles verkaufen, aber nur zweimal wöchentlich für eine halbe Stunde. Bis ich den Ort mit eigenen Augen gesehen habe, hielt ich den Namen Slowleigh für einen Scherz. Aber da haben sie was falsch gemacht, G. Das Leben geht hier nicht langsam vonstatten. Es hat komplett aufgehört. Tote Hose.

Der Lärm des Busses verebbte, und ich blieb allein mit dem Wind zurück. Ich blickte mich im geschäftigen, pulsierenden Zentrum meines Dorfes um − das in beide Richtungen leer und still war. Das einzige Lebenszeichen war das jämmerliche Blöken der Schafe, das mir wie eine graue Wollmaus entgegenwehte. Einige Meter weiter links schlich sich eine verwahrloste hellbraune Katze ins Blickfeld, setzte sich mitten auf die Straße und fuhr dann fort, sich den Hintern zu putzen.

Hätten wir noch in Hardacre gewohnt, wäre ich jetzt mit Jack und den anderen nach Hause gegangen oder eine Ecke weiter zu Frog, um SlamShowdown zu spielen. Ich holte mein Handy aus meinem Blazer und stellte überrascht fest, dass ich Empfang hatte. Ich wählte Jacks Nummer auf Kurzwahl, und mein Herz schlug schneller, als ich die Klingeltöne hörte.

«Halloo!»

«Jack!» Ich brachte nur ein Krächzen zustande.

«Wer ist da?» Ich erkannte die Musik von SlamShowdown im Hintergrund sowie das Klirren und Stöhnen der Schlacht.

«Ich bin’s, Oz.»

«Oz, Alter! Hey, Oz ruft an!» Hinter Jack hörte ich weitere vertraute Stimmen in dem Raum, und es schnürte mir plötzlich die Kehle zu.

«Hey, Mann, wie geht’s? Wie lebt es sich auf der Farm?», fragte Jack.

«Horror, Alter! Hier gibt’s gar nichts. Nur Felder und Schafe.»

Jack lachte.

«Voll die Zeitreise in die Vergangenheit.»

«Hau ihn weg!»

«Was?»

«Huuuh! Ja, ja, ja!», rief Jack. «Sorry, Oz, was hast du gesagt? Tuna hat gerade Mighty Martha plattgemacht. Stehend k. o.!»

«Wow, echt? Super!» Bisher hatte es keiner von uns beim SlamShowdown gegen Mighty Martha geschafft.

«Voll krass, Mann!», sagte er, und ich hörte, wie sie jubelten und sich abklatschten. Es knisterte in der Leitung.

«Seit wann ist Tuna so gut bei Slam

Jack gluckste. «Er hat letzten Freitag bei mir übernachtet, da habe ich ihm ein Intensivtraining verpasst. Er ist eigentlich immer noch voll schlecht. Aber Frog hat im Netz was gefunden, wie man sich hochschummelt.»

Ich rang mir ein Lachen ab und verdrängte die brodelnde Eifersucht in meiner Brust. Seit wann waren Jack und Tuna so dicke miteinander?

«Ich bin gleich dran, Oz. Geb dich weiter an Frog.»

«Nee, ich muss aufhören. Scheißempfang, Mann!»

Jack wollte noch etwas sagen, doch es wurde vom Rauschen verschluckt. Kurz danach war die Leitung tot. Ich fluchte und hätte am liebsten mein Handy über die Mauer ins Tal geworfen. Dann seufzte ich und steckte die Stöpsel wieder in die Ohren. Ich brauchte ein bisschen Dead Frank – das war das Einzige, was gegen dieses beklemmende Gefühl in meiner Brust half.

Dead Frank’s Supersonic Milkfloat – die beste Band auf dem Planeten. Nach zwei Alben haben sie sich leider getrennt, aber die fünfundzwanzig Tracks sind … na ja … mit Worten nicht zu beschreiben. Es ist einfach so, dass alles besser wird, sobald ich Dead Frank höre – sogar hier.

Ich scrollte in der Musik meines Handys, entschied mich für «Spilt Milk»– Dead Frank’s Debüt, mit dem ihm gleich der Durchbruch gelungen ist – und drückte auf Play. Als ich in die Scar Hill Lane einbog, ging es mir schon besser. Das ist die heilende Wirkung von Musik, G.

Die Straße schlängelt sich wie eingerollte Spaghetti den Hügel hinauf, sodass man doppelt so weit laufen muss, als eigentlich nötig wäre. Als ich einen schmalen Pfad entdeckte, der abzweigte und steil nach oben führte, entschloss ich mich deshalb für diese Abkürzung.

Doch schon nach wenigen Minuten landete ich in einem Dschungel aus Bäumen. Das Blätterdach war so dicht, dass nur wenig Sonnenlicht bis zum Boden vordrang. Deshalb sah ich den Hund erst aus einer Entfernung von weniger als zehn Metern.

Ich blieb stehen und zog die Ohrstöpsel raus, als der kantige Kopf und die aufgestellten Ohren vor mir auftauchten. Er war riesig, G – ein wildes Tier. Unter dem glatten schwarzen Fell zuckten die Muskeln, während er mich mit starrem Blick fixierte. Mein Mund war plötzlich trocken und klebrig, und der Schweiß auf meinem Rücken verwandelte sich in eine Eisschicht.

Als ich einen Schritt zurückging, bellte das Tier. Wobei dieses Wort völlig unangemessen ist für den blutrünstigen Ausbruch von Lauten, die mich wie eine Schockwelle überrollten. Zähne blitzten, gleichzeitig flogen Geiferfäden durch die Luft. Ich drehte mich um und wollte weglaufen, doch meine vor Angst wie gelähmten Beine gehorchten mir nicht. Ich fiel hin, schützte mein Gesicht mit den Armen und fragte mich panisch, wie weh es tun würde, wenn der Hund zubiss.

Als jedoch nichts passierte, riskierte ich einen Blick. Das Biest war nicht näher gekommen. Es bellte weiter, stellte sich auf die Hinterbeine, fiel wieder auf alle viere und trippelte aufgeregt vor und zurück. In diesem Moment bemerkte ich die Leine an seinem Halsband, die sich wie eine Schlange hinter ihm über die Erde wand.

Ich setzte mich und hätte wohl gelacht – wenn mir nicht schon jemand zuvorgekommen wäre.

Das Mädchen sah auf mich herab und hörte nicht auf zu lachen. Da sie die Schuluniform der Crawdale High School trug, war es wahrscheinlich kein Wunder, dass sie mir bekannt vorkam.

«Da hat er dir aber einen schönen Schreck eingejagt, was?»

«Ich bin gestolpert …», erwiderte ich und rappelte mich auf.

«Klar.» Sie nickte und schenkte mir dieses Lächeln, das man aufsetzt, wenn sich gerade jemand zum Affen gemacht hat. «Keine Angst, der beißt nicht. Es sei denn, ich befehle es ihm.» Sie trat näher an den Hund heran, der sich auf den Rücken fallen ließ, damit sie ihm den Bauch kraulen konnte.

Angeblich haben Hundebesitzer ja eine gewisse Ähnlichkeit mit ihren Tieren, und diese beiden waren ein lebendiger Beweis dafür. Das Mädchen war groß und breitschultrig und hatte lange, muskulöse Beine und Arme, neben denen meine total mickrig wirkten.

«Ich geh dann mal», sagte ich und wischte den Staub von meiner Hose.

«Was machst du überhaupt hier?», fragte sie. «Das ist Privatbesitz, weißt du das?»

«Tschuldigung, ich dachte, es wäre eine Abkürzung», antwortete ich. «Ich versuche, mich zur Scar Hill Farm durchzuschlagen.»

«Ach, du gehörst zu der Familie, die gerade eingezogen ist?» Sie kam auf mich zu. «Dann sind wir jetzt wohl Nachbarn. Ich bin Isobel Skinner.»

«Oz», sagte ich. Ehrlich, ich war freundlich und kein bisschen arrogant.

Doch Isobel lächelte nicht.

Und dann fiel mir ein, wo ich sie vorher gesehen hatte. Nur um sicherzugehen, klebte ich ihr im Geiste einen geschwungenen Schnurrbart und eine Brille an − und schwupps, da war sie: das Mädchen auf dem Foto.

«Ach so, Oz, der große Künstler», sagte sie und machte damit deutlich, dass wir wohl beide die Lage gecheckt hatten.

«Äh … ja … hm.» Ich grinste. «Also, das tut mir jetzt leid. War nicht … persönlich gemeint, echt nicht. Sollte halt ein Scherz sein …» Ich verstummte, als Isobel etwas murmelte, von dem ich nur das Wort «lachen» verstand. Ich nickte. «Stimmt, voll zum Lachen.»

Sie schüttelte den Kopf. «Nein, du sollst dich vom Acker machen, hab ich gesagt.»

Ich sah sie an.

«Mach dich vom Acker!», fauchte sie und ging zu ihrem Hund zurück.

Was sollte das heißen: Mach dich vom Acker?

Als Isobel sich bückte und die Leine vom Hundehalsband löste, traf mich die Erkenntnis wie ein Eimer mit eiskaltem Wasser.

Mit der einen Hand hielt sie das Biest fest, mit der anderen die Leine. Der Hund spürte, dass gleich etwas passieren würde, stellte sich auf die Hinterbeine und tänzelte von links nach rechts. Er gab kein warnendes Bellen mehr von sich. Das konnte nur heißen: Jetzt wird’s ernst, Schluss mit Verhandlungen.

Ich unterdrückte den Drang, mich zu übergeben, zu heulen oder um Gnade zu betteln – was sicher alles nicht geholfen hätte –, und befolgte Isobels Vorschlag.

Ich machte mich vom Acker.

VIER

VERBRANNTES GUMMI IN DER LUFT

Ehrlich gesagt, G, bin ich nicht so gut darin, mich schnell vom Acker zu machen. Andererseits – wenn dir zweiundvierzig messerscharfe Zähne auf den Fersen sind, dann hat das eine ziemlich überzeugende Wirkung und macht dir ordentlich Dampf.

Ich spürte das Biest hinter mir, hörte seine Pfoten auf dem Erdboden, während mein Vorsprung schwand. Die Straße, die ich zuvor dummerweise verlassen hatte, tauchte plötzlich wieder auf, aber ich wusste, dass ich es nicht schaffen würde. Auch Angst und Adrenalin können einen untrainierten Körper nur bis zu einem gewissen Punkt antreiben. Dann entdeckte ich die Bäume am Feldrand, die vom Wind zur Seite gedrückt waren. Ich war noch nie zuvor auf einen Baum geklettert, aber das sollte doch selbst jemandem wie mir gelingen, G, zumal es vielleicht meine letzte Chance war.

Ich warf mich auf den nächsten Baum, grub die Finger in die Rinde und zog mich mit reiner Willenskraft hoch. Ich kletterte immer weiter, bis ich in sicherer Entfernung über dem Boden war. Als ich schließlich einen Blick nach unten durch die Blätter riskierte, hätte ich eigentlich erwartet, dass der Hund bellend um den Baum herumlief und daran hochsprang, doch er war nirgends zu sehen. Einen schrecklichen Moment lang befürchtete ich, Hunde könnten auf Bäume klettern, und schaute mich hektisch um, doch in den Ästen war nichts. Kein Hund im Baum. Kein Hund am Boden.

Dann fiel der Groschen.

Isobel hatte das Halsband gar nicht losgelassen. Sie hatte sich vor Lachen bestimmt nicht mehr eingekriegt, während ich um mein Leben gerannt war. Hatte sie auch gesehen, dass ich auf den Baum geklettert war?

Wahrscheinlich hätte ich schnell wieder hinunterklettern sollen, bevor sie oder jemand anderes mich sah, aber ich traute mich nicht, zu dem Feld zurückzugehen. Dann entdeckte ich den grauen Streifen der Scar Hill Lane auf der anderen Seite der Mauer unter mir. Mehrere Äste hingen so tief, dass sie sie beinahe berührten. Wenn ich an einem der Äste entlangrobbte, müsste ich eigentlich auf die Straße klettern können.

Alles klappte wunderbar – bis kurz vor Schluss. Entweder war ich zu schwer oder es lag an einem plötzlichen Windstoß. Ist ja egal … Eben schob ich mich noch auf dem Ast vorwärts und im nächsten Augenblick schon nicht mehr. Es ging so schnell, dass ich nicht reagieren konnte.

Die ungleichmäßig hohen Steine auf der Mauer dämpften meinen Fall. Ich prallte unten auf und rollte weiter. Dann blieb ich ungefähr ein, zwei Minuten lang mitten auf der Fahrbahn liegen und versuchte nur, irgendwie Luft zu holen. Nachdem der Schock vorbei war, kam der Schmerz – scharf und brennend, erst an den Händen, dann an den Knien. Ich dachte an mein Handy und befürchtete das Schlimmste, aber als ich es aus der Blazertasche holte, sah ich, dass es glücklicherweise heil geblieben war – im Gegensatz zu mir und meiner neuen Schulhose, die an beiden Knien Löcher hatte und an einer Seite bis unten gerissen war. Mum würde mich umbringen.

Dann hörte ich das Auto.

Mein verschrecktes Gehirn brauchte zwei Sekunden, um das Geräusch zu deuten, und noch ein bisschen länger bis zu dem Schluss, dass meine jetzige Position – ich lag mitten auf der Straße – nicht gerade der sicherste Ort war.

Ein stechender Schmerz durchfuhr mich, als ich mich auf die Seite wälzte und aufzustehen versuchte. Ich stützte mich auf ein Knie und merkte, dass sich irgendwas in der Luft veränderte und eine Hitzewelle den säuerlichen Geruch von heißem Metall und Öl vor sich hertrug. Es dröhnte in meinen Ohren, während der Wagen um die Ecke bog und sich mit quietschenden Bremsen auf mich stürzte. Schwarzer Rauch quoll unter den Reifen hervor. Die Fahrerin und ich sahen uns nur für einen kurzen Moment schockiert in die Augen – dann raste das Auto vorbei, so nah, dass ich seinen warmen Atem im Gesicht spürte. Ich drehte mich um und sah dem Wagen nach, der schleudernd um die Ecke bog. Es rumste, Metall kreischte, dann war es ruhig, bis das sanfte Flattern von Papier die Stille durchbrach.

Der Wagen war von der Straße abgekommen und halb in der Hecke stecken geblieben. Ein Hinterrad drehte sich noch ein gutes Stück über dem Asphalt. Beim Aufprall war der Kofferraum aufgesprungen, und postkartengroße Zettel hatten sich auf die Straße ergossen, die der Wind zu einem bizarren Papiersturm aufwirbelte.

Ich humpelte zu dem Unfallwagen und schmeckte verbranntes Gummi auf der Zunge, als die Fahrerin heraustaumelte.

«Marcus!»

«Hallo Mum.»

Sie machte in ähnlicher Manier wie das Auto einen Schwenk über die Straße und riss mich auf den Seitenstreifen.

«Bist du verletzt?» Die Hand, mit der sie mich am Arm packte, zitterte. «Tut dir was weh? Habe ich dich getroffen?»

Mum sah mich prüfend von oben bis unten an und holte scharf Luft, als sie die zerrissene Hose und das Blut sah. «O mein Gott! Ich habe dich angefahren! Wo ist es am schlimmsten?»

«Mir geht’s gut, du hast mich verfehlt.»

«Du blutest», sagte sie. «Wahrscheinlich stehst du unter Schock. Wir müssen einen Krankenwagen rufen. Wo ist mein Handy?» Mum suchte an ihrem Rock nach Taschen, die es gar nicht gab.

«Mum! Es geht mir wirklich gut, du hast mich nicht angefahren. Ich bin vom Baum gefallen.»

Sie hörte auf, ihr Handy zu suchen, und sah mich an. «Was?»

Auf der Stelle wurde mir klar, dass ich einen Fehler gemacht hatte.

«Vom Baum? Von welchem Baum? Was redest du denn da?»

«Äh … von dem da!» Ich zeigte auf den Baum.

«Was zum Teufel hast du auf einem Baum zu suchen?» Mum legte eine Hand auf die Stirn, schloss die Augen und atmete tief durch. Das macht sie andauernd, wenn sie mit mir oder Dad redet – sie behauptet, es beruhige sie, aber ich weiß echt nicht, ob das funktioniert.

«Du hättest tot sein können! Ich hätte dich totfahren können!» Ihre Stimmlage steigerte sich zu einem Kreischen.

«Ein Hund war hinter mir her! Ein riesiger Köter!» Wenn ich ihr berichtete, in welch schrecklicher Gefahr ich eben noch schwebte, würde sie ihre Sorge vielleicht wieder auf mich konzentrieren.

«Welcher Hund? Wovon redest du?»

«Den dieses durchgeknallte Mädchen auf mich gehetzt hat.»

«Welches Mädchen?»

Es war vielleicht doch keine gute Idee, ihr von Isobel zu erzählen, denn dann würde das mit dem Schnurrbart rauskommen – das wollte ich meiner Mutter lieber vorenthalten.

«Ich habe eine Abkürzung genommen, und dann war plötzlich der Hund da. Ich konnte nur noch auf den Baum klettern.»

«Ja, aber wo ist er denn?» Mum blickte über die Mauer auf das freie Feld. «Und das Mädchen? Du hast gesagt, ein durchgeknalltes Mädchen hätte ihren Hund auf dich gehetzt.»

Das ist wirklich unheimlich, wie sie das macht, G. Als hätte sie ein Aufzeichnungsgerät im Kopf, das darauf programmiert ist, sich alles zu merken, was sie gar nicht erst hören sollte.

«Echt?» Ich zuckte die Achseln. «Ich dachte, ich hätte ein Mädchen gesehen, aber vielleicht stimmt das gar nicht … Weiß ich nicht mehr. Kann sein, dass ich wirklich einen Schock habe … wie du gesagt hast.»

In diesem Moment flatterten ein paar Zettel um uns herum. Einer blieb an meiner Brust kleben. «Mum, deine Postkarten fliegen weg!»

Sie runzelte die Stirn, als hätte sie gerade erst gemerkt, dass diese Konfetti in Übergröße über die Straße und über die Mauer aufs Feld flogen. «Du bleibst, wo du bist. Ich sammel sie schnell ein», sagte sie.

«Ich helf dir.»

«Nein! Hinterher wirst du noch mal überfahren!»

«Von wem denn? Ist doch nichts los auf der Straße.» Seit unserem Unfall war kein Auto mehr vorbeigekommen, doch Mum bestand darauf, dass ich am Rand stehen blieb, während sie ihre Postkarten aufsammelte.

Also setzte ich mich auf den Grünstreifen und betrachtete die Karte, die ich noch in der Hand hielt. Es war ein Farbfoto einer Riesenspinne aus Metall. Obwohl man sehen konnte, dass der Hinterleib des Insekts ein Gebilde aus verbogenen, lackierten Eisenstangen war, und der Stachel, der das gesamte Gebilde stützte, aus einem Stahlrohr bestand, bekam ich eine Gänsehaut. Als ich die Karte umdrehte, sah mich das nachdenkliche Schwarz-Weiß-Porträt meiner Mutter an.

Im Allgemeinen stellt man sich vor, dass Bildhauer Bronzestatuen von Toten anfertigen, auf denen dann die Tauben hocken, oder aber abstrakte Formen, die aus großen Steinbrocken gemeißelt werden. Meine Mutter macht etwas anderes. Sie nimmt Schrott – Rasenmäher, Gartenmöbel, Einzelteile von Motoren und Autos – und verwandelt sie in riesige Insekten. Das ist schon cool, jedenfalls besser als die ersten beiden Vorgehensweisen. Meine Eltern haben das alte Bauernhaus auch deshalb gekauft, weil man in den beiden Nebengebäuden im Hof sehr gut ein Atelier einrichten konnte. Als Absender stand Scar Hill Studios auf der Postkarte, was deutlich beeindruckender klang, als die beiden undichten alten Scheunen tatsächlich aussahen.

Ich versuchte gerade, mich daran zu erinnern, wo das Foto von Mum aufgenommen worden war, als sie aufschrie. Die Postkarten glitten ihr aus den Händen, und sie fasste sich an den linken Arm.

«Mum! Was ist denn?»

«Mein Arm tut weh», sagte sie und wurde ganz blass. «Anscheinend habe ich mich bei dem Aufprall gestoßen. Ich habe es gerade erst gemerkt, als ich die Karten aufheben wollte. Aber ich spüre meine Finger nicht mehr.»

FÜNF

WIE DER SONG SCHON SAGT …