Für Ella Wigram,
die das Vorbild für die Heldin dieser Geschichte war. Ich hätte keine bessere erfinden können.

1 Abgeschoben

Ich war elf, als meine Mutter mich aufs Internat nach Salisbury schickte. Ja, zugegeben, sie hatte Tränen in den Augen, als sie mich zum Bahnhof brachte. Aber in den Zug setzte sie mich trotzdem.

»Dein Vater hätte sich so darüber gefreut, dass du zu seiner alten Schule gehst!«, sagte sie, während sie sich ein Lächeln auf die Lippen zwang, und der Vollbart klopfte mir so aufmunternd auf die Schulter, dass ich ihn dafür fast auf die Gleise geschubst hätte.

Der Vollbart … meine Schwestern waren ihm gleich auf den Schoß geklettert, als meine Mutter ihn zum ersten Mal mit nach Hause brachte, aber ich erklärte ihm den Krieg, sobald er seinen Arm um Mams Schulter legte. Mein Vater war gestorben, als ich vier war, und natürlich vermisste ich ihn, auch wenn ich mich kaum an ihn erinnerte. Aber das hieß nicht, dass ich einen neuen wollte, schon gar nicht einen unrasierten Zahnarzt. Ich war der Mann im Haus gewesen, der Held meiner Schwestern, der Augapfel meiner Mutter. Aber plötzlich saß sie abends nicht mehr mit mir vor dem Fernseher, sondern ging mit dem Vollbart aus. Unser Hund, der jeden anderen vom Grundstück jagte, legte ihm Quietschespielzeuge vor die Füße, und meine Schwestern malten ihm riesige Herzen. »Aber er ist doch so nett, Jon!« Immer wieder musste ich mir das anhören. Nett. Was war nett an ihm? Er überzeugte meine Mutter, dass alles, was mir schmeckte, schlecht für mich war und dass ich zu viel fernsah.

Ich versuchte alles, um ihn loszuwerden. Ich ließ ein Dutzend Mal den Hausschlüssel verschwinden, den Mam ihm gegeben hatte, goss Cola auf seine Zahnarzt-Zeitschriften (ja, so was gibt’s) und mischte ihm Juckpulver in das Mundwasser, das er ständig anpries. Alles umsonst. Mam setzte nicht ihn, sondern mich in den Zug. Unterschätz niemals deine Feinde!, würde Longspee mir später beibringen. Aber leider war ich ihm damals noch nicht begegnet.

Wahrscheinlich wurde meine Verbannung beschlossen, nachdem ich meine kleine Schwester überredet hatte, ihren Babybrei in seine Schuhe zu löffeln. Vielleicht war auch der Terroristen-Steckbrief schuld, in den ich sein Foto montierte. Was auch immer … ich hätte meine Videospiele darauf verwettet, dass der Vollbart die Idee mit dem Internat hatte – auch wenn meine Mutter es bis heute bestreitet.

Mam bot natürlich an, mich persönlich bei meiner neuen Schule abzuliefern und ein paar Tage in Salisbury zu bleiben – »bis du dich eingewöhnt hast« –, aber ich lehnte ab. Ich war sicher, dass sie nur ihr schlechtes Gewissen beruhigen wollte, weil sie vorhatte, mit dem Vollbart nach Spanien zu fliegen, während ich mich mutterseelenallein mit wildfremden Lehrern, schlechtem Internatsessen und neuen Mitschülern herumschlug, von denen die meisten bestimmt stärker und wesentlich klüger als ich sein würden. Ich hatte noch nie mehr als ein Wochenende ohne meine Familie verbracht. Ich schlief nicht gern in anderen Betten, und ich wollte ganz bestimmt nicht in einer Stadt zur Schule gehen, die mehr als tausend Jahre alt und auch noch stolz darauf war. Meine achtjährige Schwester hätte zu gern mit mir getauscht. Seit sie Harry Potter las, wollte sie unbedingt auf ein Internat. Aber ich träumte von Kindern in abscheulichen Schuluniformen, die in finsteren Sälen vor Schüsseln mit wässrigem Porridge saßen und von Lehrern mit meterlangen Stöcken bewacht wurden.

Auf dem Weg zum Bahnhof sprach ich kein einziges Wort. Ich gab meiner Mutter nicht mal einen Abschiedskuss, als sie mir den Koffer in den Zug hob, aus Angst, ich könnte mich vor dem Vollbart in ein kindisch schluchzendes Etwas verwandeln. Die Zugfahrt verbrachte ich damit, Erpresserbriefe aus Zeitungsschnipseln zusammenzukleben, die dem Vollbart einen abscheulichen Tod androhten, falls er meine Mutter nicht in Ruhe ließ. Der alte Mann, der neben mir saß, musterte mich mit zunehmend alarmiertem Gesichtsausdruck, aber schließlich warf ich die Briefe ins Zugklo, weil ich mir sagte, dass Mam sich bestimmt zusammenreimen würde, von wem sie stammten und mir den Vollbart daraufhin nur noch mehr vorziehen würde.

Ich weiß. Ich war in einem bedauernswerten Zustand. Die Fahrt dauerte eine Stunde und neun Minuten. Inzwischen ist das mehr als acht Jahre her und ich erinnere mich trotzdem noch genau. Clapham Junction, Basingstoke, Andover – alle Bahnhöfe sahen gleich aus, und mit jeder Meile kam ich mir verstoßener vor. Nach einer halben Stunde hatte ich alle Schokoriegel gegessen, die Mam mir eingepackt hatte (neun, soweit ich mich erinnere, sie hatte ein ziemlich schlechtes Gewissen), und jedes Mal, wenn ich aus dem Zugfenster blickte und alles vor meinen Augen verschwamm, redete ich mir ein, dass der Grund nicht Tränen, sondern die Regentropfen waren, die die Scheibe hinunterliefen.

Ich sag’s ja. Bedauernswert.

Als ich in Salisbury meinen Koffer aus dem Zug zerrte, fühlte ich mich zugleich abscheulich jung und hundert Jahre älter als bei meiner Abfahrt. Verbannt. Verstoßen. Mutter-, hund- und schwesternlos. Verflucht sollte der Vollbart sein. Als ich mir den Koffer auf den Fuß setzte, schickte ich ein Stoßgebet zur Hölle, dass es in Spanien irgendeine ansteckende Krankheit gab, die Zahnärzte tötete.

Die Wut fühlte sich viel besser an als das Selbstmitleid. Außerdem war sie eine nützliche Rüstung gegen all die fremden Blicke.

»Jon Whitcroft?«

Der Mann, der mir den Koffer aus der Hand nahm und meine schokoladenverschmierten Finger schüttelte, hatte im Gegensatz zum Vollbart nicht die geringste Spur von Bartwuchs. Edward Popplewells rundes Gesicht war so haarlos wie das meine (zu seinem großen Kummer, wie ich bald herausfinden würde). Seiner Frau dagegen sprießte ein dunkles Bärtchen über der Oberlippe. Alma Popplewell hatte auch eine tiefere Stimme als ihr Mann.

»Herzlich willkommen in Salisbury, Jon!«, sagte sie, während sie mir leicht schaudernd ein Taschentuch in die klebrigen Finger drückte. »Du kannst mich Alma nennen und das ist Edward. Wir sind die Hauseltern. Deine Mutter hat dir sicher gesagt, dass wir dich hier erwarten, oder?«

Sie roch so stark nach Lavendelseife, dass mir schlecht wurde, aber vielleicht lag das auch an den Schokoladenriegeln. Hauseltern … auch das noch. Ich wollte mein altes Leben zurück: meinen Hund, meine Mutter, meine Schwestern (wobei ich auf die auch manchmal hätte verzichten können) und meine Freunde an der alten Schule … keinen Vollbart, keinen bartlosen Hausvater und keine lavendelseifige Hausmutter.

Natürlich waren die Popplewells heimwehkranke Ankömmlinge gewohnt. Edward Bartlos pflanzte seine Hand fest auf meine Schulter, sobald wir den Bahnhof verließen, als wollte er jeden Gedanken an einen Fluchtversuch im Keim ersticken. Die Popplewells hielten nichts vom Autofahren (böse Gerüchte behaupteten, dass der Grund Edwards allzu große Liebe zum Whiskey war und der feste Glaube, dass ihm durch den regelmäßigen Genuss eines Tages doch noch ein paar Bartstoppeln sprießen würden). Was auch immer – wir gingen zu Fuß, und Edward begann, mir alles über Salisbury zu erzählen, was sich in dreißig Minuten Fußweg unterbringen lässt. Alma unterbrach ihren Mann nur, wenn er Jahreszahlen erwähnte, weil Edward die leicht durcheinanderbringt. Aber die Mühe hätte sie sich sparen können. Ich hörte eh nicht zu.

Salisbury, gegründet in den feuchten Nebeln dunkler Vorzeit, 50000 Einwohner und 3,2 Millionen Touristen, die die Kathedrale anstarren wollen. Die Stadt empfing mich mit strömendem Regen und über den nassen Dächern reckte die Kathedrale ihren Turm wie einen mahnenden Finger in den Himmel. Herhören, Jon Whitcroft und alle Söhne dieser Welt! Ihr seid Dummköpfe, zu glauben, dass eure Mütter euch mehr lieben als alles andere auf der Welt!

Ich sah weder nach links noch nach rechts, während wir Straßen folgten, die es schon zur Zeit der letzten Pest in England gegeben hatte. Edward Popplewell kaufte mir auf dem Weg ein Eis (»Eis schmeckt auch bei Regen. Hab ich recht, Jon?«). Aber ich brachte in meinem Weltschmerz nicht mal ein Danke über die Lippen und malte mir stattdessen aus, wie sich Schokoladeneiskleckse auf seiner blassgrauen Krawatte ausbreiteten.

Es war Ende September und auf den Straßen drängten sich trotz des Regens die Touristen. Restaurants priesen Fish and Chips an, und das Fenster eines Schokoladenladens sah wirklich verlockend aus, aber die Popplewells steuerten auf das Tor in der alten Stadtmauer zu, das von Läden flankiert wird, die Kathedralen, Ritter und Wasser speiende Dämonen aus versilbertem Plastik verkaufen. Für den Anblick, der einen hinter dem Tor erwartet, kamen all die Fremden, die sich mit quietschbunten Rucksäcken und Lunchpaketen auf der Hauptstraße drängten, aber ich hob nicht mal den Kopf, als sich vor mir der Domhof von Salisbury auftat. Ich hatte weder einen Blick für die Kathedrale, deren Turm dunkel vom Regen war, noch für die alten Häuser, die sie wie eine Schar gut gekleideter Diener umgaben. Ich sah nur den Vollbart auf dem Sofa vor unserem Fernseher sitzen, zu seiner Linken meine Mutter, rechts meine Schwestern, die darum stritten, wer ihm zuerst auf den Schoß klettern durfte, und Larry, der Verräterhund, zu seinen Füßen. Während die Popplewells sich über meinen Kopf hinweg über das Jahr stritten, in dem die Kathedrale erbaut worden war, sah ich mein verwaistes Zimmer vor mir und meinen leeren Stuhl in meiner alten Schule. Nicht, dass ich auf dem je besonders gern gesessen hätte, aber nun rührte mich schon der Gedanke daran zu Tränen … die ich mir mit Almas lavendelverseuchtem (und inzwischen schokoladenbraunem) Taschentuch aus den Augen wischte.

Alle weiteren Erinnerungen an meinen Ankunftstag sind in heimwehkranken Nebel gehüllt, aber wenn ich mich anstrenge, tauchen ein paar unscharfe Bilder auf: das Tor zu dem alten Haus, in dem die Internatsschüler untergebracht sind (»erbaut 1565, Jon!« – »Unsinn, Edward, 1594, und der Anbau, in dem er schlafen wird, stammt von 1920«), enge Flure, Zimmer, die nach Fremde rochen, fremde Stimmen, fremde Gesichter, Essen, das so sehr nach Heimweh schmeckte, dass ich kaum einen Bissen herunterbrachte …

 

Die Popplewells hatten mich einem Dreibettzimmer zugeteilt.

»Jon, das hier sind Angus Mulroney und Stuart Crenshaw«, verkündete Alma, als sie mich ins Zimmer schob. »Ich bin sicher, ihr werdet die allerbesten Freunde werden.«

Ach ja? Und was, wenn nicht?, dachte ich, während ich die Poster musterte, die meine künftigen Mitbewohner an die Wände gehängt hatten. Natürlich war das einer Band dabei, die ich hasste. Zu Hause hatte ich mein eigenes Zimmer gehabt, mit einem Schild an der Tür, das verkündete: »Eintritt für Fremde und Familienmitglieder strengstens verboten« (auch wenn meine kleinste Schwester es nicht lesen konnte). Niemand hatte neben oder unter mir geschnarcht. Keine Schweißsocken auf meinem Teppich (außer meinen eigenen), keine Musik, die ich nicht mochte, oder Poster von Bands UND Fußballteams an der Wand, die ich verabscheute. Internat. Mein Hass auf den Vollbart hätte Hamlet alle Ehre gemacht (nicht, dass ich damals irgendetwas über Hamlet gewusst hätte).

Stu und Angus gaben sich alle Mühe, mich aufzumuntern, aber ich war zu unglücklich, um mir auch nur ihre Namen zu merken. Ich nahm nicht mal die Weingummis an, die sie mir aus ihrem geheimen (und streng verbotenen) Süßigkeitsvorrat anboten. Als meine Mutter abends anrief, ließ ich keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie das Glück ihres einzigen Sohnes einem vollbärtigen Fremden geopfert hatte, und hängte mit der grimmigen Gewissheit auf, dass sie eine ebenso schlaflose Nacht verbringen würde wie ich.

Internat. Licht aus um 20:30 Uhr. Zum Glück hatte ich meine Taschenlampe mitgebracht. Ich verbrachte Stunden damit, Grabsteine mit dem Namen des Vollbarts zu zeichnen, während ich auf die harte Matratze und das blödsinnig flache Kissen fluchte.

Ja. Meine erste Nacht in Salisbury war ziemlich finster. Natürlich waren die Gründe für mein abgrundtiefes Unglück vollkommen lächerlich, gemessen an dem, was folgte. Aber wie sollte ich ahnen, dass Heimweh und der Vollbart bald meine geringsten Sorgen sein würden? Ich habe mich seit damals oft gefragt, ob es so etwas wie Schicksal gibt, und wenn ja, ob man ihm aus dem Weg gehen kann. Wäre ich auch irgendwann in Salisbury gelandet, wenn meine Mutter sich nicht wieder verliebt hätte? Oder hätte ich Longspee, Ella und Stourton ohne den Vollbart nie getroffen? Vielleicht.

2 Drei tote Männer

Meine neue Schule sah ich am nächsten Tag. Vom Internat war es nur ein kurzer Fußweg über den Domhof, und diesmal warf ich der Kathedrale immerhin einen verschlafenen Blick zu, als Alma Popplewell mich daran vorbeiführte. Die Straße dahinter war von Buchen gesäumt und hallte wider vom Geschrei erschreckend wacher Erstklässler. Alma legte mir schützend den Arm um die Schulter, was ziemlich peinlich war, vor allem, als die ersten Mädchen an uns vorbeiliefen.

Das Schulgelände liegt am Ende der Straße hinter einem schmiedeeisernen Tor, an dem man sich beim Hinüberklettern leicht die Hosen zerreißt, aber an diesem Morgen stand es weit offen. Das Wappen, das es schmückt, zeigt nur eine enttäuschende weiße Lilie auf blauem Grund, keine Einhörner und Löwen, wie auf dem an der Stadtmauer. »Nun, das ist schließlich auch das königliche Wappen der Stuarts, Mr Whitcroft!«, würde Mr Rifkin, mein neuer Geschichtslehrer, mit entnervter Miene feststellen, als ich das ein paar Tage später bemängelte – und eine quälende Stunde lang erklären, warum aufregende Wappentiere für eine Kathedralenschule gänzlich unpassend waren.

Meine alte Schule hatte einer Zementschachtel geglichen. Die neue war ein Palast. »Erbaut 1225, als Wohnsitz des Bischofs«, wie Alma mir mit erhobener Stimme erklärte, weil sich eine Horde lärmender und beunruhigend großer Jungen an uns vorbeidrängte.

Mir war übel vor Angst, und es half wenig, dass ich mir zum Trost ausmalte, den Vollbart an einem der riesigen Bäume aufzuknüpfen, die auf dem Rasen vor der Schule wuchsen.

Alma setzte ihren Vortrag fort, während wir über knirschenden Kies auf den Eingang zugingen. »Das Hauptgebäude wurde 1225 erbaut, Bischof Beauchamp ließ im 15. Jahrhundert einen Turm auf der Ostseite errichten, die Fassade ist …« Und so weiter, und so weiter. Sie betete sogar die Namen etlicher Bischöfe herunter, die früher hier residiert hatten. Ihre Porträts hängen im Treppenhaus, und angeblich bringt es Glück, ihnen vor einem Test Papierkugeln gegen die Stirn zu werfen. Aber bei mir hat das nie funktioniert. Wie auch immer … von all dem Wissen, mit dem Alma meinen müden Kopf an diesem ersten Morgen füllte, blieb mir nur im Gedächtnis haften, dass Jakob der Zweite hinter einem der Fenster im zweiten Stock so schlimmes Nasenbluten bekam, dass er tagelang im Bett lag, statt gegen Wilhelm von Oranien zu kämpfen.

Ich lernte nicht viel an diesem ersten Tag. Ich war zu sehr damit beschäftigt, mir Namen und Gesichter zu merken und mich in dem Labyrinth aus Korridoren und Treppen nicht zu verlaufen. Ich musste zugeben, dass meine Mitschüler nicht verhungert aussahen, und die dunklen Säle, die ich in meinen Träumen gesehen hatte, waren auch nirgends zu entdecken. Sogar die Lehrer waren erträglich. Aber all das änderte nichts an der Tatsache, dass ich ein Verbannter war, und so kehrte ich jeden Abend mit derselben finsteren Miene zu Angus und Stu zurück, die ich am Morgen vor dem Spiegel im Waschraum aufgesetzt hatte. Ich war der Graf von Monte Christo, der von der furchtbaren Gefängnisinsel zurückkehren würde, um Rache an allen zu nehmen, die ihn dorthin gebracht hatten. Ich war Napoleon, verbannt und einsam sterbend auf St. Helena. Harry unter der Treppe der Dursleys.

Das Haus, in dem ich die Nächte meiner Verbannung verbrachte, hat keine Geschichten über königliches Nasenbluten zu bieten. Das Internat der Schule war erst kurz vor meiner Ankunft vom Bischofspalast dorthin gezogen. Das Gebäude ist, wie mir die Popplewells erzählt hatten, auch ziemlich alt, aber in dem moderneren Anbau, in dem wir schliefen, herrschte das 21. Jahrhundert: Linoleum, Etagenbetten, Waschräume und im Erdgeschoss ein Fernsehzimmer. Den Mädchen gehörte der erste Stock, den Jungen der zweite.

In unserem Dreibettzimmer war Angus der unbestrittene Inhaber des Einzelbetts. Angus war einen Kopf größer als ich, drei viertel schottisch (über das andere Viertel schwieg er sich aus), ein ziemlich guter Rugby-Spieler und einer der Auserwählten, wie die Choristen der Schule von uns weniger Auserwählten genannt wurden. Sie trugen Gewänder, die fast so alt wie der Bischofspalast waren, wurden für Proben vom Unterricht befreit und sangen nicht nur in der Kathedrale, sondern auch an so exotisch klingenden Orten wie Moskau oder New York. (Ich war wenig überrascht, als ich den Test nicht bestand, aber Mam war ziemlich enttäuscht. Schließlich war mein Vater ein Chorist gewesen.)

Über Angus’ Bett hingen Fotos von seinem Hund, zwei Kanarienvögeln und einer zahmen Schildkröte, doch keins von den menschlichen Mitgliedern seiner Familie. Als Stu und ich sie schließlich kennenlernten, stellten wir fest, dass sie tatsächlich nicht so nett wie der Hund und die Kanarienvögel aussahen. Allerdings hatte Angus’ Großvater sehr viel Ähnlichkeit mit der Schildkröte. Angus schlief unter einem Berg von Stofftieren und trug Schlafanzüge mit Hundemuster, was beides, wie ich schnell lernte, besser unkommentiert blieb, wenn man nicht am eigenen Leib erfahren wollte, was eine Schottische Umarmung war.

Stu belegte das obere Etagenbett, was mir das untere übrig ließ, und eine Matratze über meinem Kopf, deren Ächzen mich in den ersten Nächten jedes Mal aus dem Schlaf riss, wenn Stu sich umdrehte. Stu war nur unerheblich größer als ein Eichhörnchen und hatte so viele Sommersprossen, dass sie kaum auf sein Gesicht passten. Außerdem war er so gesprächig, dass ich sehr dankbar dafür war, dass Angus ihm von Zeit zu Zeit einfach den Mund zuhielt. Stu hatte keine Leidenschaft für Stofftiere oder hundebedeckte Schlafanzüge. Er liebte es, seinen mageren Körper mit falschen Tattoos zu bedecken, die er sich mit wasserfesten Markern an jede erreichbare Stelle malte, obwohl Alma Popplewell sie ihm zweimal die Woche mitleidlos von der Haut schrubbte.

Die zwei taten ihr Bestes, mich aufzumuntern, aber neue Freunde vertrugen sich nicht mit meiner Überzeugung, verstoßen und unglücklich zu sein. Zum Glück nahmen weder Angus noch Stu mein mürrisches Schweigen persönlich. Angus hatte selbst noch Anfälle von Heimweh, obwohl es schon sein zweites Internatsjahr war, und Stu war zu beschäftigt damit, sich in jedes halbwegs gut aussehende Mädchen auf der Schule zu verlieben, um allzu viele Gedanken an mich zu verschwenden.

Die Nacht, in der mir klar wurde, dass Heimweh meine geringste Sorge in Salisbury sein würde, war meine sechste Nacht. Angus summte im Schlaf irgendeine Hymne vor sich hin, die er für den Chor probte, und ich lag da und fragte mich wieder mal, wer zuerst nachgeben würde: meine Mutter, weil sie endlich einsah, dass ihr einziger Sohn für sie wichtiger war als ein vollbärtiger Zahnarzt, oder ich, weil ich mein bleischweres Herz leid sein und sie anbetteln würde, mich nach Hause zu holen.

Ich wollte mir gerade das Kissen über den Kopf ziehen, um Angus’ gemurmeltem Singsang zu entkommen, als ich das Schnauben der Pferde hörte. Ich erinnere mich noch, dass ich mich fragte, ob Edward Popplewell neuerdings mit dem Pferd vom Pub nach Hause kam, während ich zum Fenster tappte. Angus’ schläfriges Gesumme, unsere Kleider auf dem Boden, das kitschige Nachtlicht, das Stu auf den Schreibtisch gestellt hatte – all das bereitete mich in keiner Weise darauf vor, dass draußen in der regennassen Nacht etwas Bedrohliches warten könnte.

Aber da waren sie.

Drei Reiter, so bleich, als hätte die Nacht Schimmel angesetzt. Und sie starrten zu mir herauf.

Alles an ihnen war farblos: Umhänge, Stiefel, Handschuhe, Gürtel – und die Schwerter an ihrer Seite. Sie sahen aus wie Männer, denen die Nacht das Blut aus den Körpern gesaugt hatte. Dem Größeren hing das strähnige Haar bis auf die Schultern, und durch seinen Körper sah ich die Ziegel der Mauer, die den Garten umgab. Der neben ihm hatte ein Hamstergesicht und war ebenso wie der dritte so durchscheinend, dass der Baum hinter ihnen durch ihre Brustkörbe zu wachsen schien. Um ihre Hälse zogen sich dunkle Striemen, als hätte ihnen jemand ein stumpfes Messer über die Kehlen gezogen. Das Furchtbarste aber waren ihre Augen: Brandlöcher, angefüllt mit Mordlust. Sie brennen mir bis heute Löcher ins Herz.

Ihre Pferde waren ebenso bleich wie die Reiter, mit aschfarbenem Fell, das ihre fleischlosen Knochen wie zerschlissener Stoff bedeckte.

Ich wollte mir die Augen zuhalten, nur um die blutleeren Gesichter nicht mehr zu sehen, aber ich konnte vor Angst nicht mal die Arme heben.

»Heh, Jon. Was starrst du da draußen an?«

Ich hatte nicht mal gehört, dass Stu aus dem Bett geklettert war.

Der größte Geist zeigte mit dem knochigen Finger auf mich und sein lippenloser Mund formte eine lautlose Drohung. Ich stolperte zurück, aber Stu schob sich an mir vorbei und presste die Nase gegen die Fensterscheibe.

»Nichts!«, stellte er enttäuscht fest. »Nichts zu sehen!«

»Lass ihn in Ruhe, Stu!«, murmelte Angus verschlafen. »Wahrscheinlich schlafwandelt er. Schlafwandler werden verrückt, wenn du mit ihnen sprichst.«

»Schlafwandler? Seid ihr blind?« In meiner Panik wurde ich so laut, dass Stu einen besorgten Blick zur Tür warf. Aber die Popplewells hatten einen festen Schlaf.

Der Geist mit dem Hamstergesicht grinste. Sein Mund war ein klaffender Schlitz in seinem fahlen Gesicht. Dann zog er langsam, ganz langsam sein Schwert. Blut begann, von der Klinge zu triefen, und ich fühlte einen so scharfen Schmerz in der Brust, dass ich nach Atem rang. Ich fiel auf die Knie und kauerte mich zitternd unters Fensterbrett.

Ich erinnere mich heute noch an die Angst. Ich werde mich immer erinnern.

»Verdammt, Jon. Leg dich wieder schlafen!« Stu stolperte zu seinem Bett zurück. »Da draußen ist nichts außer ein paar Mülleimern.«

Er sah sie wirklich nicht.

Ich nahm all meinen Mut zusammen und lugte über das Fensterbrett.

Die Nacht war dunkel und leer. Der Schmerz in meiner Brust war verschwunden und ich kam mir wie ein Idiot vor.

Na bestens, Jon, dachte ich, während ich zurück unter die kratzige Bettdecke kroch. Jetzt wirst du schon verrückt vor Heimweh. Vielleicht hatte ich auch Halluzinationen, weil ich außer Stus und Angus’ Weingummis kaum etwas aß.

Angus begann wieder, im Schlaf vor sich hin zu summen, aber ich stand noch ein paarmal auf und schlich ans Fenster zurück. Doch alles, was ich draußen sah, war die menschenleere Straße vor der angestrahlten Kathedrale, und schließlich schlief ich mit dem festen Vorsatz ein, von nun an das Internatsessen hinunterzuwürgen.

3 Hartgill

Am nächsten Morgen war ich so müde, dass ich mir kaum die Schuhe zubinden konnte. Angus und Stu wechselten einen besorgten Blick, als ich zum Fenster ging, um auf die Mauer hinunterzustarren, vor der ich die Geister gesehen hatte. Aber keiner von uns verlor ein Wort über das, was in der Nacht geschehen war, und ich aß zum Frühstück so viel Porridge, wie ich, ohne mich zu übergeben, herunterbekam, und beschloss, das Ganze zu vergessen.

Beim Mittagessen dachte ich schon wieder darüber nach, ob der Vollbart inzwischen mit meiner Mutter in der spanischen Sonne briet, und am Nachmittag ließ mich ein Grammatiktest die drei bleichen Gestalten endgültig vergessen.

Es war gerade erst dunkel geworden, als Mr Rifkin die Internatsschüler, wie an jedem Abend, vor der Schule versammelte, um sie über den spärlich beleuchteten Domhof zurück in die Obhut von Alma und Edward Popplewell zu führen. Keiner von uns mochte Rifkin. Ich glaube, er mochte sich selbst auch nicht besonders. Er war nicht viel größer als wir und musterte uns ständig mit so säuerlichem Gesicht, als verursachten wir ihm Zahnschmerzen. Das Einzige, was ihn glücklich machte, waren vergangene Kriege. Rifkin zerbrach jedes Mal ein Dutzend Kreiden vor Begeisterung, wenn er uns die Heeresaufstellungen berühmter Schlachten auf die Tafel malte. Das und die Angewohnheit, sich das dünne Haar mit größter Sorgfalt, aber wenig Erfolg über den kahlen Schädel zu kämmen, hatte ihm den Namen Bonapart eingebracht (ja, ich weiß, das E fehlt, aber wir alle hatten unsere Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung französischer Namen).

Auf dem Rasen vor der Kathedrale leuchteten die Scheinwerfer auf, die sie nachts anstrahlten. Sie bleichten die grauen Mauern, als hätte sie jemand mit Mondlicht gewaschen. Der Domhof war um diese Zeit fast menschenleer und Bonapart scheuchte uns ungeduldig an den parkenden Autos vorbei. Es war ein kühler Abend, und ich fragte mich, während wir alle im kalten englischen Wind froren, ob der Vollbart schon einen Sonnenbrand hatte und meine Mutter ihn mit schälender Haut weniger aufregend finden würde.

Die drei Reiter waren nicht mehr als ein böser Traum, den das Tageslicht mir aus dem Gedächtnis gewaschen hatte. Aber sie hatten mich nicht vergessen. Und diesmal bewiesen sie mir, dass sie nicht nur Einbildung waren.

Das Internatshaus liegt nicht gleich an der Straße. Es steht am Ende eines breiten Fußwegs, der von der Straße abbiegt und an ein paar Häusern vorbei auf das Tor zuführt, hinter dem sich Haus und Garten befinden. Sie warteten neben dem Tor, hoch zu Pferd, wie in der vergangenen Nacht, und diesmal waren sie zu viert.

Ich blieb so abrupt stehen, dass Stu in mich hineinstolperte.

Natürlich sah er sie auch diesmal nicht. Niemand sah sie. Außer mir.

Der vierte Geist ließ die anderen drei wie zerlumpte Wegelagerer aussehen. Sein hohlwangiges Gesicht war starr vor Hochmut und seine Kleider waren sicher irgendwann die eines reichen Mannes gewesen. Doch um die Handgelenke trug er eiserne Ketten und um seinen Hals hing eine Galgenschlinge.

Er war ein so furchtbarer Anblick, dass ich ihn nur anstarren konnte, aber Bonapart wandte nicht mal den Kopf, als er an ihm vorbeiging.

Gib schon zu, du ahnst den Grund, warum niemand außer dir sie sieht, Jon Whitcroft!, flüsterte es in mir, während ich dastand und kein Glied rühren konnte. Sie haben es nur auf dich abgesehen!

Aber warum?, schrie alles in mir. Warum ich, verflucht! Was wollen sie von mir?

Von einem der Dächer krächzte ein Rabe, und der Anführer stieß seinem Pferd die Sporen in die Seiten, als hätte der heisere Schrei ihm das Zeichen gegeben. Mit hohlem Wiehern bäumte es sich auf – und ich drehte mich um und rannte.

Ich bin kein besonders guter Läufer. Aber in dieser Nacht rannte ich um mein Leben. Ich spür noch heute mein rasendes Herz und das Stechen in meinen Lungen. Ich rannte an den alten Häusern vorbei, die im Schatten der Kathedrale stehen, als suchten sie Schutz bei ihr vor der Welt, die außerhalb der alten Stadtmauer lärmt, vorbei an parkenden Autos, erleuchteten Fenstern und verschlossenen Gartentoren. Renn, Jon! Hinter mir hallten die Hufschläge über den abendlichen Domhof, und ich glaubte, den Atem der Höllenpferde in meinem Nacken zu spüren.

Bonapart rief meinen Namen: »Whitcroft! Whitcroft, zum Teufel, bleib sofort stehen!«, … aber der Teufel war es ja, der hinter mir her war, und plötzlich hörte ich eine andere Stimme … falls es eine Stimme war.

Ich hörte sie in meinem Kopf und meinem Herzen. Hohl und heiser und so grausam, dass ich sie wie ein stumpfes Messer in meinem Innern spürte.

»Ja, renn, Hartgill!«, höhnte sie. »Renn. Wir jagen nichts lieber als deine schmutzige Brut. Und noch ist uns keiner entkommen.«

Hartgill? Das war der Mädchenname meiner Mutter. Nicht, dass sie aussahen, als ob sie diese Feinheit interessierte. Ich stolperte weiter, schluchzend vor Angst. Der mit den strähnigen Haaren schnitt mir den Weg ab und die anderen drei waren hinter mir. Zu meiner Rechten reckte die Kathedrale ihren Turm den Sternen entgegen.

Vielleicht rannte ich auf sie zu, weil sie dastand, als könnte nichts ihre Mauern erschüttern. Aber der weite Rasen, der sie umgab, war nass vom Regen, und ich rutschte bei jedem Schritt aus, bis ich schließlich keuchend auf den Knien landete. Ich kauerte mich zitternd auf den kalten Boden und schlang die Arme um den Kopf, als könnte mich das vor meinen Jägern verbergen. Kälte hüllte mich ein wie Nebel und über mir wieherte ein Pferd.

»Das Morden ist ohne die Jagd nur der halbe Spaß, Hartgill!«, raunte die Stimme in meinem Kopf. »Aber am Ende ist der Hase immer tot.«

»Mein Name ist Whitcroft!«, stammelte ich. »Whitcroft!« Ich wollte um mich schlagen, treten, ihre weißen Leiber zur Hölle schicken, wo sie herkamen. Aber stattdessen hockte ich im feuchten Gras und übergab mich fast vor Angst.

»Whitcroft!«, Bonapart beugte sich über mich. »Whitcroft, steh auf!«

Ich war nie zuvor so glücklich gewesen, die Stimme eines Lehrers zu hören. Ich vergrub mein Gesicht im Gras und schluchzte, aber diesmal vor Erleichterung.

»Jon Whitcroft! Sieh mich an!«

Ich gehorchte, und Bonapart fischte ein Taschentuch aus der Tasche, als er mein verheultes Gesicht sah. Mit zitternden Fingern griff ich danach und lugte an ihm vorbei.

Die Geister waren fort. Ebenso wie die Stimme. Aber die Angst war noch da. Sie klebte mir wie Ruß auf dem Herzen.

»Himmel, Whitcroft. Nun steh schon auf!« Bonapart zog mich auf die Füße. Die anderen Kinder standen am Rand des Rasens und starrten mit großen Augen zu uns herüber.

»Ich nehme an, du hast eine Erklärung für diesen ziellosen Spurt durch die Nacht?«, fragte Bonapart, während er mit Abscheu meine schmutzigen Hosen musterte. »Oder wolltest du uns allen nur beweisen, wie schnell du laufen kannst?«

Aufgeblasener Mistkerl.