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Wenn Kinder krank werden

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Der Autor

Hans Hopf, analytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut, arbeitete bis 1995 in eigener Praxis und bis 2003 als Therapeutischer Leiter im Therapiezentrum Osterhof, Baiersbronn. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher und Artikel zu den Schwerpunkten Aggression, Traum, Spezielle Neurosenlehre bei Kindern und Jugendlichen, ADHS und Jungen.

Hans Hopf

Wenn Kinder krank werden

Eine kleine Psychosomatik von Husten, Schnupfen, Heiserkeit

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Elektronische Ausgabe 2016

Reprint der 2007 im Verlag Klett-Cotta erschienenen Ausgabe Umschlaggestaltung: Marion Ullrich, Frankfurt am Main, unter Verwendung eines Bildes von Henriette Browne, „Die barmherzige Schwester“, © bpk/Hamburger Kunsthalle/Elke Walford

Meinem verstorbenen Freund Dr. Horst Speichert gewidmet, dem herausragenden Journalisten und leidenschaftlichen Pädagogen.

Inhalt

Einleitung

1. Kranke Kinder sind wieder ganz kleine Kinder

„Wenn doch der Arzt schon da wäre …“

Konflikte als Krankheitshintergrund

Die Schwierigkeit, Konflikte wahrzunehmen

Soll Regression unterstützt werden?

2. Essstörungen

Pascal will nicht essen

Gründe für Appetitlosigkeit

Dick ist hässlich – schlank ist schön

Pauls Heißhunger

Leon wird verwöhnt

3. Erkältungskrankheiten, Mandelentzündung, Bronchitis, Erbrechen, Durchfall

Melanies Halsentzündung

Rainers Bronchitis

Steffens „Schiss“

Daniels Erkältung

Thomas’ Angina

Michaels Erbrechen

4. Schlafstörungen

Angstträume stören den Schlaf

Dieter fühlt sich wie gelähmt

Zwei nächtliche Ruhestörungen

Veronika lernt allein zu schlafen

Einschlafen heißt Vertrauen haben

5. Unfälle sind nicht immer Zufälle

6. Ins Krankenhaus

Strafe und Liebesverlust

Schmerzhafte Erfahrungen

Matthias muss ins Krankenhaus

Krankheit als Feind oder auch als Chance?

7. Warum sich Jungen so gerne bewegen und Mädchen lieber träumen

8. Von Pflege und der häuslichen Atmosphäre

Streng oder nachgiebig

Für dieses Buch verwendete Literatur

Empfehlenswerte weiterführende Literatur

Empfehlenswerte Internetadressen

Zum Autor

Einleitung

Wenn Kinder an Fieber, Durchfall oder Husten erkranken oder sich sogar einen Arm gebrochen haben, denken wir an Hausmittel, wirksame Medikamente, schnelle Hilfe durch den Arzt usw. Jedoch: Jede Krankheit – auch eine Infektion, ein Unfall – kann mit seelischen Problemen des Kindes zusammenhängen. Sehr oft ist eine Krankheit auch Ausdruck von Entwicklungsschwierigkeiten oder von Konflikten in bedeutsamen sozialen „Nahbereichen“, an denen alle Personen beteiligt sind.

Nicht nur die Ursachen, auch die Folgen von Krankheiten haben mit dem Seelenleben des Kindes zu tun. Wenn der Arzt kommt, Medizin verabreicht, eine Spritze gibt, wenn es selbst vielleicht ins Krankenhaus kommt oder gar operiert wird, ist das für ein Kind nicht einfach zu verarbeiten.

Hans Hopf, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut, erzählt von kranken Kindern Geschichten, mit deren Hilfe der Leser wahrzunehmen lernt, was Krankheit (nicht nur des Kindes) „bedeuten“, was „dahinter stecken“ kann: dass Krankheit mehr ist als nur ein körperlicher Prozess. Die Probleme, die für Kinder mit ärztlichen Eingriffen und Verordnungen verbunden sind, müssen verstanden und einfühlsam angegangen werden. Auch gilt es, im Umgang zwischen Eltern und Kindern die Empfindungen, Ängste und Probleme beider – der Kinder wie der Erwachsenen – gleich wichtig zu nehmen.

Eltern und allen an diesen Problemen Interessierten soll dieses Buch dabei helfen. Theoretische Überlegungen sind in die einzelnen Kapitel eingefügt.

1. Kapitel:

Kranke Kinder sind wieder ganz kleine Kinder

Vor längerer Zeit besuchte ich einen Bekannten, der an einer fiebrigen Angina erkrankt war. Herr S., ein dynamischer Mann von 37 Jahren, arbeitet üblicherweise bis zu vierzehn Stunden am Tag.

Nachdem ich geläutet hatte, wurde ich von der Ehefrau empfangen. Sie trug ein sorgenvolles Gesicht und bedeutete mir mit flüsternder Stimme, nur nicht so laut zu sein. Dann führte sie mich ins Zimmer des Kranken. Da lag Herr S. auf dem Rücken, die Augen halb geschlossen, und die Jalousien waren halb heruntergelassen. Auf dem Nachttisch stand neben einer Batterie von Medikamenten ein Haustelefon, mit welchem die Ehefrau oder die Kinder herbeizitiert werden konnten, sobald Herr S. irgendwelche Bedürfnisse verspürte. Ganz in sich gekehrt lag der sonst so aktive Mann da. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass es nur eine Angina war, hätte ich das Allerschlimmste vermutet.

Wir unterhielten uns ein wenig. Und etwas später bat mich Herr S., ihm den Telefonhörer zu reichen. Mit flüsternder Stimme gab er durch, seine Frau möge ihm einen Tee aufbrühen, weil er sehr durstig sei. Der Tee wurde rasch gebracht und Frau S. legte den Arm um den Hals ihres Mannes, stützte seinen Kopf und Herr S. trank mit kleinen Schlucken aus der Schnabeltasse, welche seine Frau ihm reichte.

Da lag er, der sonst so kühle, überlegene Geschäftsmann, war wieder zum Kleinkind geworden und ließ sich von einer gütigen Mutter füttern.

Kranke Männer von der Art des Herrn S. sind nicht selten zu finden. Besonders „männliche“ Männer scheinen es von Zeit zu Zeit nötig zu haben und zu genießen, gehätschelt und gepflegt zu werden. Was wir am Beispiel des Herrn S. sehr schön beobachten können: Er zeigt Verhaltensweisen, die er eigentlich längst „überwunden“ hat; er ist zu einer Lebensstufe zurückgekehrt, welche er in seiner Entwicklung eigentlich längst verlassen hatte. Die Krankenrolle hat viel mit der eines sehr kleinen Kindes zu tun.

Bei Kindern ist das nicht anders. Sie verhalten sich dann oft so, wie wenn sie sehr müde sind: Zornanfälle nehmen zu, das Kind wird reizbar und tyrannisch. Aber es gibt noch weitere Verhaltensweisen, an denen abzulesen ist, dass kranke Kinder wieder zu ganz kleinen Kindern werden: Beim kranken Kind gewinnt der Körper – ähnlich wie beim einschlafenden Kind – im Vergleich zur Umwelt wieder an Bedeutung. Oft kommt es in der Krankheit zu ähnlichen Ritualen wie beim Einschlafen: Schaukeln, Daumenlutschen und manche Kinder verlangen wieder nach dem Schnuller, den sie sonst längst als Attribut des Kleinkindes „verachten“. Oder sie wollen – oft sogar Schulkinder – ihren Tee oder Kakao wieder aus einer Flasche mit Sauger trinken. Der Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald W. Winnicott sprach in diesem Zusammenhang auch von Übergangsobjekten und Übergangsphänomenen: Erworbene Fähigkeiten, wie die Kontrolle über Blase und Darm, können wieder verloren gehen: Kinder, welche längst sauber und trocken sind, nässen oder koten wieder ein, was in den meisten Fällen gar nichts direkt mit der Krankheit zu tun hat, sondern zum damit einhergehenden „Rückfall“ in kleinkindhafte Verhaltensweisen gehört.

Was ist Regression?

Nach Sigmund Freud kommt es auf dem Entwicklungsweg eines Menschen immer wieder dazu, dass frühe Entwicklungskonflikte ungelöst bleiben. Freud beschreibt das so, als ob ein Volk an verschiedenen Stationen seiner Wanderung Abteilungen zurückgelassen hätte. Kommt es beim Voranschreiten zu Problemen, so liegt es nahe, sich mit den Vorgerückten wieder an die zurückliegenden Stationen zurückzuziehen, um dort gemeinsam Energien zu sammeln und kraftvoll wieder voranzuschreiten. Diesen Rückzug nennt man innerhalb der Psychoanalyse auch „Regression“. Wurden einst zu viele Abteilungen zurückgelassen, kommt es zwangsläufig zu häufigeren Regressionen, weil das durchmarschierende Volk für erfolgreiche Auseinandersetzungen zu schwach wird. Mit Regression bezeichnet man also ein Zurück – von einem bereits erreichten Punkt aus – bis zu einem rückwärts gelegenen Punkt. Es ist eine Rückkehr zu Etappen, die bereits überschritten sind: Regression ist ein Rückfall in bereits überwundene Verhaltensweisen.

Viele Eltern merken, dass ihr Kind krank wird, noch ehe sich Krankheitszeichen melden, wenn es nicht mehr von ihrer Seite weicht oder nicht mehr von ihrem Schoß runter will: Die Selbstständigkeit, welche das Kind in vielen Bereichen mittlerweile gewonnen hat, wird aufgegeben und mit einem Male spielen die Mutter oder der Vater wieder eine ganz wichtige Rolle.

Dieser Rückzug in frühkindliche Phasen ist oft auch nach der Krankheit des Kindes nicht sofort überwunden, sondern dauert nicht selten einige Zeit an: kleinkindhaftes Klammern an die Mutter, passive Haltung, Einnässen oder Einkoten, Trennungsängste usw. Dieser Rückzug ist ein Ergebnis von Hilflosigkeit, die durch starken inneren oder äußeren Schmerz hervorgerufen wird.

Dass ein starker äußerer Schmerz einen Rückfall in kleinkindhafte Verhaltensweisen auslösen kann, konnte ich bei meinem damals sechs Jahre alten Sohn Michael beobachten: Während des Abendessens kroch er plötzlich wortlos unter den Tisch, dann unter die Eckbank und verharrte dort regungslos mit dem Kopf gegen die Wand. Wir wussten nicht, was passiert war. Auf alle unsere Fragen und ungeschickten Tröstungen gab er keine Antwort, was uns reichlich hilflos machte. Plötzlich kam er wild hervorgeschossen und begann zu toben und zu schreien. Er hatte beim Essen auf etwas Hartes gebissen und plötzlich heftige Zahnschmerzen bekommen. Michael war erst kleinkindhaft stumm geworden und hatte sich verkrochen. Dann jedoch löste der Schmerz heftige Wut und Racheimpulse aus: Er wollte den jüngeren Bruder schlagen, welcher den Vorfall beobachtet und ein wenig hilflos lächelnd zugesehen hatte.

Typisch ist auch, dass Kinder, welche unter heftigen Schmerzen leiden und zunächst weinen und schreien, auf dem Schoß einschlafen, denn dort genießen sie Schutz und Sicherheit. Das Kind kann sich zurückfallen lassen und im Rückzug neue Kräfte sammeln.

So weit also einige Hinweise, wie sich der Rückzug kranker Kinder auf frühere, schon „abgelegte“ Verhaltensweisen zeigt – im Grunde also in ganz vergleichbarer Weise, wie ich es bei Herrn S. beobachten konnte.

Aber was beim Erwachsenen eher zum Schmunzeln Anlass gibt, was besonders dem „schwer arbeitenden und gestressten Mann“ nachsichtig zugestanden wird, ist für Kinder nicht immer selbstverständlich: Nur zu oft werden ähnliche Verhaltensweisen von kranken Kindern als „Unbeherrschtheit“ oder als der Versuch erlebt, „die Umwelt zu tyrannisieren“.

Kranke Kinder sind schwierig und der Umgang mit ihnen ist schwer. Ein krankes Kind ist nicht nur selbst hilflos, es bringt auch nicht selten über die Eltern große Hilflosigkeit, insbesondere, wenn die Krankheit mit hohem Fieber oder schlimmen Symptomen wie Erbrechen usw. einhergeht. Da richtet sich dann oft die ganze Hoffnung auf den Arzt, wie in folgendem Beispiel:

„Wenn doch der Arzt schon da wäre …“

Eine Familie ist in ein kleines Schwarzwalddorf gefahren, um Urlaub zu machen. Dort angekommen, wirkt die fünfjährige Tochter sehr müde und apathisch, was von den Eltern zunächst auf die lange und anstrengende Fahrt zurückgeführt wird. Aber am nächsten Morgen hat das Kind Fieber und mag nicht essen, weil es ihm so sehr im Mund weh tut. Noch glauben die Eltern, dass sich alles bald zum Guten wenden wird. Am Abend aber ist das Fieber auf 40° gestiegen und die Eltern sind voller Angst, was daraus wohl werden soll. Sie rufen einen Arzt an. Der vermutet am Telefon, dass es sich um „Mundfäule“ handeln könne. Er kann aber wegen der Schneeverhältnisse jetzt nachts nicht kommen, zumal er der einzige Dienst habende Arzt weit und breit ist. Er sagt zu, ganz früh am Morgen nach dem Kind zu schauen. Inzwischen schreit die Kleine nicht mehr, sondern liegt nur noch apathisch mit starren Augen da und verweigert sowohl das Essen wie auch das Trinken.

Die Angst der Eltern steigt. Eine Situation, die so manche Eltern schon einmal erlebt haben dürften. Die gemischten Gefühle, Angst um das Kind, aber auch der – wenn auch beiseite geschobene – Ärger über den verpatzten Urlaub, erzeugen eine hilflose Unfähigkeit, selbst etwas zur Bereinigung der Situation zu tun. Alle Hoffnung richtet sich auf den Arzt, der diagnostizieren, helfen und heilen soll.

Der kommt am Morgen – das Fieber ist inzwischen ein bisschen zurückgegangen –, schimpft über die schlechten Straßenverhältnisse, erklärt gleich, dass er es eilig hat, weiß ein Wort für die Krankheit – es ist „Mundfäule“ –, verschreibt Zäpfchen, um das Fieber weiter zu senken, Lutschtabletten für den Mund, findet mit den Eltern, dass solche Erkrankungen im Urlaub besonders unangenehm sind, wäscht sich die Hände und schon ist er wieder weg.

Die Eltern, genervt von einer halb durchwachten Nacht, atmen auf. Jetzt können sie wieder etwas tun. Nachdem der Vater aus dem Dorf die Medizin besorgt hat, fällt der Mutter die Aufgabe zu, dem Kind Zäpfchen und Tabletten zu verabreichen. Obwohl die Tabletten im Mund offensichtlich schmerzen, leistet die Tochter kaum noch Widerstand. Die Zäpfchen haben eine einschläfernde Wirkung. Bald rollt sich die Fünfjährige auf die Seite und schläft. Es herrscht vordergründig wieder Frieden.

Allerdings empfinden Kinder – das wird uns noch an mancher Stelle dieses Buches beschäftigen – auch die pflegerischen Akte der Eltern und des Arztes häufig eher als Strafe: Fieberthermometer, Zäpfchen, Einläufe in den Darm, gelegentlich ohne jegliche Vorbereitung, oft begleitet von ängstlicher Ungeduld, Zwangsfütterungen, widerlich schmeckende Medikamente, Spritzen oder gar chirurgische Eingriffe. Das alles wird fast als Vergewaltigung, jedenfalls als ganz massiver Eingriff erlebt. Das alles muss der oder die kleine Kranke hinnehmen, ohne sich dagegen wehren zu können. Versucht er dies, so gilt er als „böse“, elterliche Aufregung, Liebesentzug sind die Folge. Nicht selten wird auch der Arzt vom Kind eher als Feind denn als Freund erlebt. Und alle Versicherungen, es werde dem Kind anschließend besser gehen, helfen nicht und sind auch kein Trost, im Gegenteil. Das Kind erlebt ja, dass die ärztlichen Untersuchungsmethoden und Eingriffe oft die Schmerzen und das Unwohlsein verschlimmern.

Die vierjährige Eva hat dieses Erlebnis auf dem Bild (siehe S. 18) zum Ausdruck gebracht. Sie war gestürzt und hatte sich dabei so unglücklich am Kopf verletzt, dass genäht werden musste. Der Arzt versicherte dem Mädchen vor dem Eingriff freundlich, dass es nicht sehr wehtun würde. Aber was es dann erlebte, stimmte mit diesen Versprechungen nicht überein. Obwohl er alles versucht hatte, ihr die Angst zu nehmen, hat Eva den Arzt doch als erdrückende Gestalt erlebt. Sie malte sich ganz unten am Bildrand, ganz klein mit ihrem stark blutenden Kopf, ausgeliefert einem grinsenden Riesen, dem „Onkel Doktor“. Mit diesem Bild konnte sich Eva ihre Wut von der Seele malen, ihre Ablehnung deutlich machen. Das hat ihr geholfen. Malen ist für Kinder oft ein sehr brauchbares Hilfsmittel, um mit ihren Gefühlen umzugehen, sie abzureagieren und so von ihrem Stau „gefährlicher“ Emotionen loszukommen. Das ist oft einfacher, als Angst, Wut und Ablehnung in Gegenwart des Arztes zu äußern. Denn wir als Eltern reagieren auf solche Zornesausbrüche oft peinlich berührt, entschuldigend, mit eigenem, unterdrücktem Zorn bemüht tröstend. Und das alles erspart sich das Kind, wenn es, hilflos wie es ist, seine Aggression herunterschluckt. Aber was, wenn der Eingriff so schwer war, dass das Kind sich von allem, was damit verbunden war, nicht so ohne weiteres befreien konnte, wenn ihm solche Möglichkeiten nicht zur Verfügung standen?

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Der Arzt ist da: Für die Eltern Erleichterung, für das Kind oft der Beginn von schrecklichem Erleben und Hilflosigkeit, wie sie auf der Kinderzeichnung (Arzt groß, Kind klein) zum Ausdruck kommt

Fast alle Kinder fürchten sich vor Spritzen, obwohl sich der Schmerz dabei ja in Grenzen hält. Es ist wohl auch weniger der Schmerz, der dabei eine Rolle spielt, als vielmehr das Erlebnis von Hilflosigkeit, welches damit verbunden ist: Der Blick ist abgewandt, das Hinterteil wird entblößt, die Injektion wird wie eine körperliche Bestrafung erlebt. Das Gesäß war einst eine beliebte Stelle für körperliche Züchtigungen.

Natürlich muss der Arzt nicht immer als feindlich erlebt werden. Es gibt Ärzte, die es wunderbar verstehen, sich vorsichtig auf die Ängste und Empfindungen der Kinder einzulassen, die sich die Zeit nehmen, auf das Befinden des Kindes ausführlich einzugehen, die wissen, dass in den meisten Fällen es die „Natur“ des Kindes ist, die sich selber hilft, und die Tabletten dann nur die Schmerzen mildern oder die Symptome erträglicher machen. Solche einfühlsamen, verständigen Ärzte mit Zeit für Kinder finden dann auch Gegenliebe. Das gibt ihnen die Möglichkeit, wirklich zu helfen.

Sehr schön konnte ich das einmal in der Praxis eines älteren, gütigen Arztes beobachten. Ganz unbewusst leitete er zu Beginn seiner ärztlichen Behandlung ein richtiges „Behandlungsbündnis“ mit seinen kleinen Patienten ein: den Jungen schenkte er ein kleines Auto mit Anhänger, den Mädchen einen Ring. Mit Medizin im Sinne naturwissenschaftlicher Heilkunde hatte das nichts zu tun. Eher schon mit dem Begriff der „Medizin“, wie er uns noch aus den Indianerbüchern geläufig ist. Ganz gewiss aber entsprach dieser ältere „Onkel Doktor“ dem, was der Kinder-Psychotherapeut Hans Zulliger einmal so formuliert hat: „Es sind Liebe und die daraus geborene Geduld, die heilen.“

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich glücklicherweise vieles verändert, was die Beziehung des Arztes zum Kind betrifft. Wartezimmer und Behandlungsräume sind bunt gestrichen, Spielzeug und Lektüre sind vorhanden. Aber das ist die eine Seite: In eine fremde Situation zu geraten, dann noch alles passiv über sich ergehen lassen müssen, das macht viel Angst. In der Tat war es lange Zeit üblich, dass der Arzt fast nur mit den Eltern über die Krankheit und die entsprechenden Anwendungen sprach. Heute lernen es Kinderärzte, auch mit den Kleinsten das Gespräch zu suchen. Kinder arbeiten dann, das ist eine wichtige Erfahrung, auch viel besser mit dem Arzt zusammen. In kindgerechter Sprache kann ihnen erklärt werden, was ein Ultraschall oder eine Röntgenaufnahme ist, warum beispielsweise ein EKG gemacht wird. Ein Arzt mit Mundtuch, ein Röntgenassistent mit Bleischürze sind ganz schön Angst erregend. Können Kinder einer Situation jedoch aktiv begegnen, werden sie auch ihre Ängste besser bewältigen.

In diesem Zusammenhang soll das Buch von Mechthild Hoehl „Ich werde untersucht, aber wie? – Kindern Untersuchungen erklären“ (Thieme, 2005) erwähnt werden. Von der Aufnahmeuntersuchung über Untersuchungen im Labor, über Blutabnehmen, Röntgenuntersuchungen und vieles mehr wird alles in kindgerechter Sprache erklärt, sorgfältig illustriert und vor allem ehrlich kommentiert. Beispielsweise steht bei der Blutabnahme: „Falls es wehtut, kannst du ruhig Aua schreien oder die Hand deiner Mama fest drücken.“ Oder beim EEG: „Keine Angst, deine Gedanken können hierbei nicht sichtbar gemacht werden.“ Solche Vorbereitungen stärken das Ich eines Kindes und helfen, Ängste zu bewältigen, indem ein Kind aktiv sein kann.

Aber die Folgen und Auswirkungen von Krankheit, der Begegnung mit dem Arzt oder gar eines Krankenhausaufenthaltes (s. S. 140) sind nur ein Teil der Probleme.

Konflikte als Krankheitshintergrund

In meiner mittlerweile mehr als dreißigjährigen Arbeit als Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut hat sich mir immer wieder die Erfahrung bestätigt, dass Krankheit nicht nur etwas mit Viren und Bakterien zu tun hat, sondern dass sie sehr häufig Ausdruck von Problemen und Konflikten ist, mit denen die Kinder (und das gilt auch für Erwachsene) anders nicht fertig werden können. Hier sind nicht Infektionskrankheiten wie zum Beispiel Keuchhusten, Masern, Diphtherie und Scharlach oder auch noch Schlimmeres gemeint. Auch bei einigen dieser Krankheiten mag eine psychisch bedingte „schlechte Verfassung“ die Anfälligkeiten erhöhen oder eine gute Verfassung die Abwehrkräfte hochhalten und damit eine Art „Immunschutz“ darstellen.

Hier ist die Rede von Krankheiten wie „Erkältungen“, Angina, Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes, Schlafstörungen usw. Sicher mögen bei ihnen Viren und Bakterien auch eine Rolle spielen, aber viele dieser Krankheiten haben etwas mit dem Wohlbefinden und dem Erleben zu tun, wovon einiges auch in unserer Sprache enthalten ist. So heißt es zum Beispiel, dass „einem etwas auf den Magen geschlagen oder eine Sache sauer aufgestoßen“ ist. Mancher Kummer bereitet einem „schlaflose Nächte“. Etwas Unangenehmes findet man „zum Kotzen“ oder bei Angst bekommt man „Schiss“. Von einem Dicken sagt man zuweilen, dass er sich einen „Kummerspeck“ zugelegt hat; und dass die beiden Wörter „Angina“ und „Angst“ eine verwandte sprachliche Wurzel haben, ist kein Zufall. Auch wenn der Volksmund sagt: „Der nimmt seine Grippe“, sind darin nicht nur Böswilligkeit und Häme enthalten. Es ist zum Beispiel eine Tatsache, dass im Dezember, zu einer Zeit also, in der viele Menschen an „Grippe“ erkranken, Briefträger durchhalten, obwohl sie dem schlimmsten Arbeitsstress des ganzen Jahres ausgesetzt sind. Aber dies ist eben auch die Zeit, in der sie ihre Weihnachtsgroschen von den Leuten erhalten, denen sie das ganze Jahr die Post gebracht haben. Das mobilisiert vielleicht ihre letzten Reserven. Erschöpfung und Krankheit stellen sich dann im Januar/Februar ein. Und gerade an der „Grippe“ (nicht der echten, sondern den „Erkältungskrankheiten“) ist auch sehr schön zu sehen, dass die Krankheit oft dem Atemholen und dem Neue-Kräfte-Sammeln dient, dass Krankheit also nicht nur immer als etwas Negatives betrachtet werden kann, sondern dass sie durchaus auch ihre positive Funktion im Leben hat – womit wir uns noch näher beschäftigen werden.

Schwierigkeiten von Kindern, die solchen Hintergrund von Krankheit abgeben, zeichnen sich dadurch aus, dass die Kinder anders nicht mit ihnen fertig werden können: Erwartungen, denen sie nicht genügen können, „böse“ Gefühle, die auszusprechen das Familienklima nicht erlaubt.

Um deutlich zu machen, wie solche Konflikte „funktionieren“, sei hier eine Geschichte aus meiner Praxis angeführt, die das besonders drastisch zeigt: Der zwölfjährige Kai war wegen seines aggressiven Verhaltens und wegen Stehlens zu mir in die psychotherapeutische Behandlung gebracht worden. Es dauerte nicht lange und es war scheinbar alles in Ordnung. Die Eltern waren überglücklich. Da verfiel die Mutter in tiefe Depression, wurde plötzlich von Selbstmordgedanken gequält, Knall auf Fall verließ sie die Familie, zog in eine andere Stadt und ließ den Ehemann mit zwei schulpflichtigen Kindern zurück.