Andreas Hoffmann

Geschichten aus dem Einweckglas

(Un)wahres, Lustiges & Skurriles aus der Heimat

Das Wunder vom Rudolstädter Teehaus

Limbrecht

Die Geschichte des Max Scherfel

Das verliebte Debramännchen

Der geheimnisvolle Nachtwächter

Das Märchen vom Strohsack

Schiller lacht

Das Märchen von der großen Liebe

Der Findling

Ein Haufen Kohlen

Schweineblut

Der Schmetterling

Die weiche Hand von Wagner

Nachts sind alle Katzen grau

Im Zigarrenladen

Die Sage vom Rudolstädter Schallhaus

Der Energieschub

Geschwindigkeitsbegrenzung

Schön-Rohtraut

Der rätselhafte Kuss

Der Geruch der Grenze

Das Vorwort oder Geschichten aus dem Einweckglas

Es begann mit einem Besuch in dem Haus meiner Kindheit.

Mich packte Sehnsucht nach den alten bekannten Räumen. Vielleicht hatten doch irgendwelche Farbreste oder Gegenstände überlebt? An gute Verstecke erinnerte ich mich, den Dachboden, wo sich in weltvergessenen Winkeln manches Relikt einer vergangenen Zeit entdecken ließ.

Oder der Gewölbekeller mit seinen schweren Eisentüren, von dem erzählt wurde, es gäbe hier einen zugemauerten Geheimgang.

Und dann jenes Hintergebäude, wo sich Parterre ein längst nicht mehr benutztes Waschhaus mit allem notwendigen Inventar, einem Waschkessel, Hocker und Wäscherumpeln, befand. Hier roch es immer nach Seifenlauge.

Die eigentliche Wunderwelt begann jedoch in der ersten Etage. Das war die vom Hausverwalter ausgesprochene Verbotszone. Wir Kinder kümmerten uns nicht drum, denn es gab viel zu viele Möglichkeiten für Entdeckungen.

Dazu gehörten mehrere verschlossene Räume, deren Schlösser sich später doch öffnen ließen. Wir standen plötzlich in verlassenen Wohnräumen mitten in einer anderen Zeit.

Herrliche Phantasiegeschichten entstanden, mit guten und bösen Spielfiguren. Bis eines Tages der Hausverwalter unsere Spiele entdeckte und verbot. Er behauptete, es bestehe Einsturzgefahr und wir würden sowieso nur Unsinn machen.

Als Kind stand mir in diesem Haus, mit seinen vergessenen Räumen, dunklen Ecken und Winkeln, eine geheimnisvolle Welt offen. Da war alles krumm und schief, nichts mit Gipskarton verkleidet, statt glatten Laminats knarzende Dielen.

Die Fenster schlossen Wohnungen nicht luftdicht ab, Temperaturschwankungen waren erlebbar.

In den neunziger Jahren sollte dieses alte Haus umgebaut oder vielleicht ganz abgerissen werden. Sein äußeres Erscheinungsbild hatte inzwischen sehr gelitten. Da gab es kaum jemanden, der Mitleid hatte. „Abreißen, diese Ruine“, hörte man immer wieder sagen.

Ich wollte wenigstens noch Abschied nehmen.

Die Haustüren waren bereits mit Hinweisschildern versiegelt: Betreten verboten! Das erinnerte mich an meine Erlebnisse im Hinterhaus von einst. Auch da war Betreten verboten. Doch wir Kinder scherten uns nicht drum, wussten das Verbot zu umgehen.

Das Hintergebäude existierte nicht mehr.

Es war Sonntagmorgen und ganz still.

Durch die Eingangstür mit den beiden eisernen Türklopfern betrat ich den Hausflur, sah die bekannten schwarz-weißen Fußbodenplatten.

Ehrfürchtig stieg ich auf der knarzenden Treppe hinauf in die erste Etage, streichelte dabei jenes für Rudolstädter Wohnhäuser so typische, barock geschwungene Holzgeländer – guter treuer Begleiter auf meinen Wegen durch die Zeiten!

In der ersten Etage zwei Wohnungen, jetzt heruntergekommen, leerstehend. Wie viele Menschen haben hier gelebt? Nach dem Krieg wechselten die Bewohner häufig.

Früher selbstverständlich: Es teilten sich zwei Familien eine Toilette. Heute undenkbar. Es gäbe einen Aufschrei des hygienischen Empfindens.

Und dann führte mich die Treppe in die zweite Etage, wo sich unsere Wohnung befand.

Die Tür stand offen. So lief ich durch alle Räume, nahm wirklich Abschied. In der ehemaligen Wohnstube beeindruckte mich ein Stück freigelegter Wand. Hier kamen bemalte Holzbalken aus der Barockzeit zum Vorschein.

Vom Fenster sah ich hinauf zum Schloss Heidecksburg.

Später, am Flurfenster stehend, ließ ich den Blick über die Hinterhoflandschaft meiner Kindheit schweifen. Er wurde nicht mehr unterbrochen durch die quer gezogenen Leinen und der daran zum Trocknen aufgehangenen Wäsche.

Nun ging es hinauf zum Dachboden. Etwas enttäuscht war ich allerdings nach dem Öffnen der Boden Tür. Da waren bereits Zwischenwände herausgerissen, die einzelnen Kämmerchen entrümpelt. Licht fiel herein, nahm ihnen den zeitvergessenen, dämmrigen Charakter.

Nein, das war nur noch in Bruchstücken der bekannte Dachboden.

So hielt ich mich dort nicht lange auf, ging hinunter in das letzte, noch nicht von mir durchlaufene Refugium: den Gewölbekeller.

Wie begeisterten mich einst dessen dunkle, schwere Eisentüren.

Am Gewölbe stand in roter Schrift: „Als Schutzraum geeignet für Personen“. Auch der finstere Einstieg zum vermeintlichen Geheimgang war nicht verändert. In unseren Kellerbereich entdeckte ich das immer noch vorhandene Regal für eingewecktes Obst. Die Überraschung! Das Regal war nicht leer. Es standen große und kleine ungeöffnete Einweckgläser darin.

Meine Entscheidung war sofort getroffen: Ich werde diese Erinnerungsstücke in den mitgebrachten Rucksack stecken und mitnehmen.

Handelt es sich hier doch schließlich um ungewöhnliche Andenken, als Nachgeschmack meiner Kindheit.

Das Haus, ein ehemaliges Damenstift, wurde doch nicht abgerissen, sondern mit glücklicher Hand und genügend Fördermitteln restauriert.

Von nun an, in der neuen Zeit, nennt es sich „Handwerkerhof“.

Ich jedoch besaß ab sofort diese essbare Erinnerung: das Obst in den Einweckgläsern.

Dabei kam es zu einer ungewöhnlichen Entdeckung: In den Gläsern waren vorrangig Zwetschgen, Birnen und Äpfel eingeweckt. Aber auch Heidel- und Preiselbeeren befanden sich darunter. Selbst nach den vielen Jahren war es ein Genuss, das Obst zu essen. Meine Frau war, nach anfänglichem Misstrauen, ebenfalls von dem guten Geschmack begeistert.

Ich allerdings schmeckte dabei die alten Geschichten. Sie stiegen in meinen Kopf und wollten aufgeschrieben werden, waren erstaunlich eigensinnig, duldeten keine Widerrede.

Manchmal wurde ich zur Hauptfigur gemacht, dachte: Da stimmt doch etwas nicht. Aber die Geschichten wussten es besser.

Mit jedem geöffneten Glas kamen neue Anekdoten, Erzählungen hinzu. Es nahm erst ein Ende, als auch das letzte Obst, es handelte sich um Äpfel, gegessen war.

Jedenfalls ist alles so Diktierte und von mir Aufgeschriebene der Beweis, dass Rudolstadt eine interessante und manchmal auch geheimnisvolle Stadt ist, welche der Fantasie guttut.

Im ersten Einweckglas, welches ich vorsichtig öffnete, befand sich Birnenkompott. Dieses besaß eine Vanillenote, dazu kamen Zimt und Nelken, der ideale Geschmack für die Winterzeit.

Ich aß etwas davon, trank eine Tasse schwarzen Tee, schon stieg mir die folgende Geschichte in den Kopf, die mich mit Erinnerungen aus meiner Kinderzeit überraschte.

Das Wunder vom Rudolstädter Teehaus

Frau Adames gehörte zum Teehaus wie das Teehaus zum Schloss.

Ich würde behaupten, sie bewohnte seit Menschengedenken allein dieses flache Gebäude, ein gelb angestrichenes deutsches Forsthaus, im Sommer verschönert durch rot blühende Kletterrosen an der Südseite und einem kleinen gepflegten Vorgarten als Paradies für kindliche Blicke.

Denn in der warmen Jahreszeit wurde dieser vom Heer der Gartenzwerge bevölkert. Verlässlich posierten sie ab Ostern, schaufelten in der Erde, schoben Schubkarren, schauten mit Fernrohren durch die Zipfelmützenwelt, angelten Schuhe und purzelten ganz selbstverständlich zwischen den Blumen herum. Mittendrin stolzierte ein Keramikstorch.

Als Kind kannte ich sie alle, wartete jedes Jahr sehnsüchtig auf ihr pünktliches Erscheinen.

Etwas Wesentliches blieb mir allerdings verborgen, das betraf den Schöpfer dieser Vorgartenzwerge Landschaft: Herrn Ryba.

Damals hatte ich keinen Blick für jenen stillen Geist. Dieser Mann existierte für mich einfach nicht.

Doch die erste Geschichte aus dem Einweckglas belehrte mich eines Besseren.

Einmal sagte er zu Frau Adames, „Ich beschütze dich“. Sie war gerührt von seinen mutigen Worten. Was war das für ein Mensch?

Manchmal musizierten sie gemeinsam: Herr Ryba spielte Geige, Frau Adames Klavier.

„Das Klavier hatte hier gestanden, als ich 1946 ankam“, sagte sie und spielte gleich eine Melodie von Franz Lehar darauf. Die Augen von Herrn Ryba fingen an zu leuchten. Wenn sie genug geleuchtet hatten, griff er nach der Geige, welche immer schon bereit lag und spielte die zweite Stimme. Das war sein Instrument.

Außerdem konnte er gut Frau Adames Nacken massieren, betonte dabei immer wieder,

„In deinem Alter muss man sich auch vor Verspannungen vorsehen“.

Er war so fürsorglich.

Neben den Blumen pflegte Frau Adames noch eine andere Leidenschaft: das Erzählen in Mundart, sie sprach von ihren ‚Braunsche Geschechtlan´. Das waren die Geschichten ihrer alten Heimat Ostböhmen. Herr Ryba verstand sie oft nicht, hörte aber geduldig zu, kochte nebenbei würzigen Tee oder legte mitgebrachtes Sandgebäck in eine purpurrote Glasschale. Er wusste ja schon, die ‚Geschechtlan´ handeln von den Mönchen aus dem alten Kloster ihres Geburtsortes Braunau, vom kopflosen Reiter im Sterngebirge, von Elfen, verzauberten Jungfrauen und dem weißhaarigen Wassermann. Große Freude machte es Frau Adames, wenn sie vom Teufel erzählte, welcher wütend ums kleine Sternkirchlein fauchte. Im Glanz ihrer Augen, zeigte sich dabei ein geheimnisvolles Funkeln.

Dann folgte, für die Entspannung der Zuhörer, die obligatorische Pause. Danach spielten sie das alte „Braunsche Heimatlied“, sie die erste, er die zweite Stimme. Ein ehrwürdiges Ritual, begleitet von ihren Worten:

„Die Noten habe ich mir herübergerettet. Davon wussten auch die Partisanen nichts.“

Herr Ryba goss Tee nach, streichelte ihr inzwischen ergrautes Haar und wiederholte mit sanftem Ton:

„Ich beschütze dich. In deinem Leben wird es keine wilden Partisanen mehr geben.“

Doch eines Tages kam alles anders. Die Tür sprang plötzlich auf, es war gegen Abend, herein stürzte ein junger Bursche, der drohte mit einem Messer. Das war im Herbst, als Herr Ryba gerade die Zwerge wieder ins warme Haus geholt hatte.

Der Letzte fiel ihm vor Schreck aus der Hand und zersprang am Boden in tausend Teile.

Herr Ryba ärgerte sich, wimmerte leise.

„Schnauze“, brüllte der Eindringling dagegen.

Frau Adames, die eben noch am Klavier saß, den Fremden nicht aus den Augen ließ, stellte fest, dass er schon lichtes Haar hatte.

„So ein junger Mann“, murmelte sie mit Bedauern. Ihre Worte irritierten den jungen Mann nur kurz, dann hielt er plötzlich ein Messer bedrohlich vor ihr Gesicht, schrie laut:

„Ich sag noch einmal: Schnauze! Und jetzt Geld her. Ihr habt doch Geld. Und Schmuck. Also los!“

Frau Adames, blieb weiter am Klavier sitzen, wiederholte traurig: „So ein junger Bursche.“, und seufzte dabei.

Er kam mit seiner lauten Stimme ihrem Seufzen sehr nah.

„Wird’s bald? Ich scherze nicht.“

Seine Drohungen blieben ohne Erfolg.

Frau Adames rührte sich nicht von ihrem Klavierhocker.

„Wird’s bald?“ Er wurde sichtbar nervös, drückte mit der Messerspitze noch tiefer in die Haut ihres Halses. Doch mit großer Gefasstheit sah sie dem Erpresser selbstbewusst in die Augen.

Schließlich zog dieser, unzufrieden mit der Situation sein Messer zurück, fegte mit einer kraftvollen Handbewegung, den Großteil der Notenblätter vom Klavier. Auch die Lieder von Franz Lehar und das „Braunsche Heimatlied“ waren dabei.

Jetzt war ihre Geduld am Ende
„Genug, junger Mann, sie haben eben mein Wertvollstes zu Boden geworfen. Ein Stück Heimat!“

Er lachte laut auf und warf herausfordernd die restlichen Notenblätter vom Pult herunter.

Sie stritt unbeirrt weiter für ihre Sache und fragte scheinbar unpassend: „Haben sie irgendwann in ihrem jungen Leben vom Braunauer Ländchen in Ostböhmen gehört?“

Er reagierte mit Rückzug, zumindest einige Schritte, überlegte: „Russland, Sie stammen aus Russland“.

Über diese Antwort konnte sie nur den Kopf schütteln. „Das ist ja traurig! Ihnen fehlt grundlegendes geografisches und geschichtliches Wissen.“

Da Frau Adames ihm nicht ganz geheuer war, richtete sich sein Zorn nun gegen Herrn Ryba Dieser hielt den Zwerg mit dem Spaten beschützend in den Händen.

„Ich habe nichts“, beteuerte er im weinerlichen Moll-Ton. Seine Ängstlichkeit ließ den jungen Eindringling übermütig werden. Er betrachtete sich kurz den beschützten Zwerg: „Ha, das kann jeder sagen. Vielleicht hast du dein Geld in dieser komischen Figur versteckt.“

Er schlug Herrn Ryba den Zwerg aus der Hand. Der wehrlose Wicht zerfiel am Boden in viele Teile ohne, dass ein verborgener Schatz zum Vorschein kam. Herr Ryba wurde blass im Gesicht, als fehlte ihm gerade Luft zum Atmen.

Frau Adames musste die Situation irgendwie retten: „Junger Mann, ich stelle fest, sie sind ein unerfahrener, heißblütiger Partisan. In meinem Leben wurde ich mehrmals von dieser Sorte Mensch bedroht. Nicht nur einmal hielten sie mir die Pistole an die Schläfe. Und wofür? Alles dumme Kindsköpfe, welche viel Schaden anrichteten.“

Seine Augen leuchteten wieder bedrohlich. „Schnauze, sage ich“ Er schwenkte sein Messer übermütig vor ihrem Gesicht.

Frau Adames blieb beeindruckend unbeeindruckt: „Für eine Armbanduhr oder die Halskette hätten die mich damals getötet.“

Ihr Blick verharrte traurig auf der Tastatur des Klavieres: „Nur meine Noten…“

Der Erpresser wurde hörbar wütender:

„Schnauze! Es reicht! Geld her! Ich warte nicht mehr lange!“

Seine arme Stimme! Er ist jung und hat trotzdem lichtes Haar, dachte Frau Adames auch diesmal.

Und er ist unglaublich wütend! Recht so, soll er schreien: Und über was er sich alles ärgerte! Schuld sind natürlich die Alten, die Reichen und die Politiker. Frau Adames wich seiner Wut nicht aus, erzählte weiter aus ihrem Leben, obwohl die Nervosität seinen Körper in immer erregtere Schwingungen versetzte.

„Wussten damals nicht, ob wir in Thüringen bleiben konnten. Ich bin geblieben. Das Glück verhalf mir zu einer Wohnung in diesem Teehäuschen, wo auch ein Klavier stand. Und es verhalf mir zu einem guten Freund, der mich immer bestens beschützt hat, Herrn Ryba“.

Der junge Mann schien sich noch einmal gegen ihre Worte aufzubäumen: „Alles Geschichten von gestern. Ihr Alten kommt uns immer mit euren endlosen Berichten von Entbehrung. Ich spucke drauf!“

„Junger Mann, ich hätte auch in größter Not niemanden mit einem Messer bedroht. Niemanden!“

Jetzt kam ihr der Eindringling so nah, dass Herr Ryba dachte: Gleich passiert etwas Schlimmes.

Und wirklich, die Hände des Mannes begannen den Hals von Frau Adames zu umfassen, drückten zu … Sie sah dabei schlecht aus, kniff die Augen zusammen, stürzte von ihrem Klavierhocker, hielt sich im Fallen an seinen Armen fest. Dabei entwickelten ihre Hände eine erstaunliche Kraft, ließen den Angreifer nicht mehr los. Er stürzte hinterher, verlor sein Messer.

Herr Ryba winselte hilflos, griff sich den weißen Storch, seinen Paradieswächter. Vielleicht können sie zu zweit der armen Frau Adames helfen, dachte er sich.

Aber keiner von beiden entwickelte genügend Stärke für eine schlagkräftige Entscheidung.

Inzwischen konnte sie sich von der Umklammerung des Mannes befreien. Wieder ergriffen dessen Hände den rot angeschwollenen Hals von Frau Adames.

So wälzten sich beide längere Zeit miteinander kämpfend auf dem Fußboden. Mal lag er oben, dann wieder sie. Das Bild war komisch. Doch die Lage zu ernst. Schnell versuchte der Erpresser sein Messer zu fassen.

„Ich will Geld und eure Wertgegenstände, sonst…“, mehr kam nicht aus seinem wütenden Mund, schon lag Frau Adames wieder obenauf.

Herr Ryba lieferte die stumm zitternde Begleitmusik zu dieser Szene.

Frau Adames und der junge Mann rauften zwischen Klavierhocker und purzelnden Gartenzwergen hin und her.

Kurz schien es, dass Frau Adames den Kampf für sich entschied, doch plötzlich erfasste er das Messer und stach zu.

Ein heruntergefallenes Notenblatt färbte sich rot. Frau Adames schrie auf.

Das war der Moment, wo Herr Ryba doch ungeahnte Kraft verspürte und seinen Keramikstorch mit voller Wucht auf den Kopf des Erpressers schlug. Der Storch zerfiel in viele Teile, kleine Splitter schwebten wie Federn durch den Raum, flogen direkt auf Frau Adames bewusstloses Gesicht.

Auch der junge Mann bewegte sich nicht mehr. Alle drei schienen für einen Moment tot. Der Storch war es wirklich. Aber er rettete vielleicht den anderen beiden das Leben.

Der junge Mann blutete am Kopf, Frau Adames am Hals.

Herr Ryba rannte hinaus und schrie in die Nacht: „Hilfe!“ „Hilfe!“

Es gab jemanden in der Nähe, welcher Krankenwagen und Polizei rief.

So kamen beide, der junge Mann und Frau Adames in die Notaufnahme des Krankenhauses. Inzwischen nahm die Polizei den Fall zu Protokoll. Es ergab sich daraus, dass der junge Mann später für einige Zeit ins Gefängnis musste.

Dort besuchte ihn Frau Adames.

Er sieht blass aus, dachte sie im Moment ihrer neuerlichen Begegnung – und seine Haare sind noch lichter geworden. Ein armer Mensch.

Er senkte reuevoll seinen Kopf.

„Junger Mann, sie brauchen keine Angst mehr vor mir zu haben. Allerdings bringe ich statt Geld, Blumen und Apfelsinen.“

Die Blumen, es waren Herbstastern, hatte sie bereits in eine Vase gestellt.

Er wartete ab.

Frau Adames fragte: „Wie heißen Sie eigentlich?“

Er schüttelte den Kopf. Ihr Ton wurde energisch: „Doch Sie sagen mir jetzt, wie Sie heißen!“

Nach einiger Zeit flüsterte er: „Patzelt. Jens Patzelt.“

Frau Adames erklärte mit leiser, nachdenklicher Stimme: „Der Name Patzelt ist böhmisch.“

Er zuckte mit den Schultern.

„Ich sage Jens zu Ihnen. Das entscheide ich als die Ältere.“

Wieder zuckte er nur wortlos mit den Schultern.

„Jens, sobald du hier raus bist, machen wir eine Sause, fahren zusammen nach Ostböhmen, ins Braunsche. Ich zeige dir alles: das Sterngebirge und die Stadt Braunau, das heutige Broumov.“

Jens Patzelt lächelte ganz kurz: „Ich bin doch aber ein Saukerl.“

„Ach was, das kann alles passieren. Man darf nicht nachtragend sein.“

Ihre Augen blitzten verschmitzt: „Wann hat man in meinem Alter noch Gelegenheit, seine Kräfte mit einem solchen jungen, hübschen Mann zu messen.

Das war schon ein Spaß, als wir so auf der Erde herumrollten.“

Plötzlich stand noch Herr Ryba im Raum. Er muss wohl die ganze Zeit schweigend im Hintergrund gewartet haben. Nun rutschte er, zusammen mit einem Vorschlag in den Vordergrund: „Irgendwann würden wir Sie gern auf eine Tasse Tee in unser fürstliches Teehaus einladen.“

Frau Adames ergänzte zufrieden: „Bei dieser Gelegenheit könnten wir die Fahrt im nächsten Jahr besprechen.“

Noch am Tag seiner Entlassung besuchte Jens Patzelt die alten Leute. Sie freuten sich sehr, und es gab Tee zu trinken.

Später haben sie ihm ein Lied von Franz Lehar für Geige und Klavier gespielt sowie das „Braunsche Heimatlied“ vorgesungen.

Eines Tages standen zwei neue Zwerge vor der Tür. Frau Adames und Herr Ryba ahnten, wer ihnen dieses Geschenk gemacht hatte.

Ostern war lange vorbei, doch das Leben um das Teehäuschen wollte nicht richtig beginnen. Wo waren die roten Zipfelmützen hinter den Sträuchern?

Zuerst dachten alle, mit Frau Adames sei etwas passiert. Eines Tages stand sie allein, auf der Schwelle ihres Hauses. Das Schicksal zeigte sich hart. Die Welt rund ums Teehäuschen erfuhr: Herr Ryba war gestorben.

Bereits ein halbes Jahr später verstarb auch Frau Adames.

Jens Patzelt hätte sie gern noch einmal besucht. An einem Novemberabend ließ ihn die Erinnerung allein zum Teehäuschen laufen.

Doch was ihn erwartete, blieb unverständlicher als der ganze Braunsche Dialekt: Der Platz war leer. Keine Täuschung der Dunkelheit!

Sie hören richtig! Das ehrwürdige Teehäuschen schien verschwunden. Jens Patzelt rieb sich die Augen.

Voller Entsetzen verharrte der junge Mann lange auf der gleichen Stelle, wusste nicht was er denken sollte.

In der Nacht kam ihm ein seltsamer Traum: Er saß mit Frau Adames und Herrn Ryba im Teehäuschen, sie tranken selbstverständlich Tee. Die beiden musizierten und Herr Ryba massierte Frau Adames anschließend den Nacken. Denn Verspannungen wirken sich ungünstig auf den Kopf aus. Herr Ryba streichelte ihr über das Haar und versprach mit weicher Stimme: „Ich werde Sie immer beschützen.“

Drumherum schauten sämtliche Vorgartenzwerge zu. Sie tuschelten, waren aber mit der Situation zufrieden. Auch der Storch stolzierte einmal durch den Raum.

Das Teehäuschen stand ganz bestimmt im Sterngebirge des Braunauer Ländchen. Natürlich stand es dort! Das wusste Jens Patzelt im Traum, obwohl er selbst nie dort gewesen war.

Am nächsten Tag kam er nicht zur Ruhe, fühlte sich gedrängt, am Abend wieder hinauf zur Heidecksburg zu laufen. Sie werden es nicht glauben! Diesmal befand sich das Häuschen wieder dort, wo es hingehörte.

Forsthausromatik hin oder her, die Unschuld seiner geschlossenen Fensterläden konnte Jens Patzelt nicht überzeugen. Gestern war der Platz leer.

Vielleicht war es doch ein Wunder?

Ähnlich dem Haus von Loreto in Italien. Es wurde, soweit er sich über diese Legende informiert hatte, einst durch Engel von Betlehem in diese Stadt getragen. Warum nicht das Rudolstädter Teehäuschen ins Braunauer Ländchen?

Und er wusste, dass er im nächsten Jahr eine Fahrt nach Ostböhmen machen wird. Vielleicht, ja vielleicht, trifft er Frau Adames und Herrn Ryba doch noch einmal?

Im nächsten Glas wartete eine besondere Überraschung: Heidelbeeren. Geschmacklich rund, sorgte ihr Genuss für plötzlich eintretenden Übermut. Ich hätte singen, springen, sogar auf dem Fußboden herumrollen können. Meine Frau schüttelte den Kopf. Leider überkam mich später, nachdem das Glas leer war, ein unerwartetes Völlegefühl.

Bin ich so dick geworden, dass gleich sämtliche Knöpfe vom Hemd springen?

Die Heidelbeeren hatten sehr lecker geschmeckt. Eine kurze Freude. Immerhin rollte schon die folgende Geschichte aus meinem Kopf direkt auf ein Blatt Papier.