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Karin Tag

Die letzten
TAGE
von
ATLANTIS

Bericht des

Kristallschädels

Corazon de Luz

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Herausgeber & Lektor Michael Nagula
Redaktionelle Bearbeitung Hubert Gerstrich
Einbandgestaltung FranklDesign
Layout & Satz Birgit Letsch

Inhalt

Die Elfen verlassen die Erde

Der Bauer und seine Schafe

Der Drachenstein

Der Hohe Atlantische Rat

Die dunkle Armee

Der Wunsch der Priestertochter

Der Wächter und die Sternentore

Die Zusammenkunft

Der Zwerg im zweiten Frühling

Die Hoffnung im Silberberg

Der Wächter und die Wölfe

Der Fluch der Zukunft

Der Himmel verdunkelt die Welt

Der Zweikampf

Der Zorn der Drachen

Der rettende Baum

Der missglückte Zauber

Die Lebenskraft schwindet

Der Wolf und der Schwarze Reiter

Der Magier hält die Wasser in Schach

Das Bündnis

Das letzte Portal am Lebensberg

Die Elfen in der neuen Dimension

Das Schicksal am Lebensberg

Das Portal besiegelt Atlantis

Der Drachenreiter

Die Drachen und die Schlange des Lichts

Axt und Hammer für den Zwergenkönig

Das Versprechen

Avalon wird lebendig

Die Kristalle der Erinnerung

Die letzte Vision

Gruß aus der Zukunft

Nachwort

Danksagung

Die Autorin

Workshops und Seminare

Die Elfen verlassen die Erde

Die Halle aus Stein war in silbriges Licht gehüllt. Von glitzernden Säulen getragen, wirkte das besondere Heiligtum wie ein verwunschener Ort. Hier duftete es nach süßlichem Räucherwerk, und die Stille wurde durchbrochen vom silberhellen Klang feinster Kristallglöckchen, die frei schwingend das Deckengewölbe aus feinstem Alabaster schmückten. Ein leichter Windhauch umfächelte sie und erfüllte die Halle mit einem zauberhaft leichten Ton, der an Sphärenklänge erinnerte. Blöcke verschieden geformter Kristalle, tief aus dem Schoß der Erde hierhergebracht, bildeten den Boden. Das war die Halle der Zukunft, in denen viele Generationen die kommende Zeit vorhersahen.

Zu diesem Zweck prangten, in feinste Edelsteine geschmückt, zarte Kristallspiegel deckenhoch an den Wänden. Die Verzierungen an den Mauern und Säulen des mehr als hundert Meter langen Gewölbes zeugten von besonderer Handwerkskunst, die typisch war für das Geschlecht der Elfen. Hier hatten die Könige der verschiedensten Rassen über Tausende von Jahren vorgesprochen, um in die Zukunft zu schauen. Elfen hatten diesen Saal erschaffen. Mit ihren besonderen Fähigkeiten gaben sie der Halle den Schein des Übernatürlichen.

Die Kristalle des Zukunftssaals waren mit Sternenlicht erfüllt, wie schillernde Flammen, die ganz in Stein gemeißelt wurden. Die Zwerge der alten Tage hatten die Steine dafür aus den Tiefen der Berge emporgebracht und sie den Atlantern zum Geschenk gemacht. Als ein Zeichen der Freundschaft der Völker wurde in dem Saal nicht nur der Zukunft gedacht, sondern auch der Dinge, die rühmlich in der Vergangenheit geschahen. So reihten sich hier die Skulpturen derer aneinander, die sich um Atlantis und seine Entstehung verdient gemacht hatten. Besondere Freundschaften waren an diesem Ort besiegelt, Hochzeiten gefeiert und Königreiche in den Atlantischen Bund erhoben worden. Säule um Säule reihte sich in diesem Spiegelgewölbe die Geschichte der Vergangenheit bis in die Gegenwart.

Der Saal war ein Teil des Haupttempels, der den höchsten Priestern für Studien und Versammlungen diente. Er hatte wunderbare Zeiten gesehen. Über Jahrtausende war der Tempel von Generation zu Generation erweitert und verbessert worden. Mehrere Bibliotheken mit den wichtigsten Schriften der verschiedenen Völker waren entstanden. Lange waren die Könige und Priester hier in Harmonie und Frieden geehrt und geachtet worden. Viele atlantische Priester hatte es über eine fünftausend Jahre währende Zeit des Friedens gegeben, eingebettet in einen Orden aus verschiedenen Zweigen, die den Talenten des einzelnen Priesters entsprachen. Es gab Heiler, Seher, Gelehrte und Schreiber. Der Ehrenkodex der Priester war eng geknüpft an die Ziele des atlantischen Reiches, die nur den glückvollen Momenten des Lebens dienten. Alle Absichten der Priester drehten sich um das Wohl der Völker der Erde und die Gestaltung des Planeten zum höchsten Wohle aller.

In gut strukturierter Form wurden die einzelnen Kontinente des Planeten verwaltet. Zentrum des Wirkens der Atlanter war der Kontinent Atlantis, von dem aus die gesamte Erde geformt und gestaltet wurde. Die Atlanter sorgten für eine harmonische Entwicklung aller Völker. Sie waren angesehen und hoch geachtet unter den Menschen, Elfen und Zwergen und auch unter den Tieren und Pflanzen. Sogar die Steinwesen konnten nichts Schlechtes über sie berichten. Die Atlanter studierten die Vielfalt des Lebens und sorgten in allen Teilen der Erde für den Ausgleich der Elementare. Es gab damals genug Regen, und eine üppige Vegetation diente den Atlantern als Garten, in dem sie sich mit der Schaffung des Lebens beschäftigen konnten. Sie berieten die Völker in Gemeinschaftsfragen und unterwiesen die Menschen in den Künsten der geistigen Vollkommenheit. Äußerlich unterschieden sich die Atlanter von den Menschen nur durch ihre blassbläuliche Hautfarbe, die weißen Haaren und saphirblauen Augen. Sie waren ruhiger als die Menschen und fast so feinfühlig wie die Elfen, gleich in ihrer Art, die Welt zu betrachten.

An diesem Morgen lag der Tempel immer noch in friedlichem Glanz. Eine junge Priesterin betrat wie jeden Morgen die heilige Halle und entzündete in einer Marmorschale den heiligen Duft getrockneter Hölzer, um die Ahnen zu ehren. Leichtfüßig war sie in die Halle getreten. In ihrer Hand hatte sie eine Schale mit Feuer, das einem Stein entflammte. Sie murmelte ein paar bedeutsame Formeln, während ihr helles Haar silbrig im Schein der Halle leuchtete. Zierlich war sie von Gestalt, und ihr Haar fiel in Wellen auf ihre schlanken Schultern. Die Haut war jedoch nicht blass wie die eines Atlanters, sondern trug die Zeichen der Elfen.

Sie war die Tochter eines atlantischen Priesters aus der Ehe mit einer Elfin – ein Halbblut, gekreuzt aus den Linien der Magie zweier verschiedener Welten.

Als sie das Räucherwerk entzündet hatte, trat sie mit leichtem Schritt vor einen der Ahnen aus Stein. Es war eine Frau, die hier in einer Skulptur ihrer Taten für Atlantis geehrt wurde. Es war die Statue ihrer Mutter, vor der sie kniete und jetzt in Tränen ausbrach.

Leise flüsterte die Elfin: »Ach, Mutter, was soll ich nur tun. Ich habe Vater in der Zukunft gesehen.« Ihre Worte wurden unterbrochen von Schritten, die durch die Halle tönten. Eilig kamen ein paar Tempeldienerinnen herbei. Sie beeilten sich, frische Blumen in der Halle zu verteilen, und stimmten in den Gesang des Morgens ein, der die Halle zum Klingen brachte. Da hörte sie eine Dienerin sagen: »Angakah, was macht Ihr hier, Priesterin, Ihr solltet doch bei den anderen sein. Habt Ihr die Versammlung vergessen?«

Die schöne Frau lächelte der Priesterin zu und bedeutete ihr aufzustehen. Angakah blickte hoch zu ihr, ihr direkt in die Augen. »Anda, du bist mir seit Jahren eine gute Freundin. Ich kann dich nicht belügen. Ich habe dunkle Zeiten im Spiegel der Zukunft gesehen. Und ich fürchte mich, dem Hohen Rat mitzuteilen, was ich gesehen habe.« Die Tempeldienerin war eine Menschenfrau mit dunklen Haaren. Ebenmäßig war ihr Gesicht. Mit den leuchtenden braunen Augen wirkte ihr Blick wie der eines jungen Rehs.

Langsam erhob sich Angakah und schaute auf die Büste der geliebten Mutter. »Dunkle Zeiten, Anda, sehr dunkle Zeiten.«

Anda blickte ebenfalls auf die Statue der Elbenfrau und erwiderte weise: »Eure Mutter wird Euch die Kraft geben, die richtigen Worte zu finden, Priesterin der Zeit. Sie war die leuchtende Kraft in diesen Hallen. Von den Sternen wird sie Euch bescheinen und Euch zur Seite stehen, so wie sie es versprochen hat.«

»Anda, ich fürchte, Atlantis ist in Gefahr, und ich muss versuchen, die Geschicke der Zukunft zu ändern.« Sie nahm ihre Freundin bei den Schultern. »Anda, geh hinaus in den Wald und finde deinen Elfen. Ich weiß, dass du Leandas liebst. Ich habe Euch oft genug am Ring der Steine gesehen. Wenn ich versage, dann wird dieser Tempel schlimme Zeiten erleben, und ich will, dass du dich in Sicherheit bringst.«

Die junge Anda errötete in dem Wissen, dass ihre Priesterin sie mit ihrer heimlichen Liebe gesehen hatte. Doch noch bevor sie etwas erwidern konnte, fuhr Angakah fort: »Anda, ich meine es Ernst. Es werden Dinge geschehen, die Entsetzlicheres entstehen lassen als alle dunklen Tage, die diese Erde je gesehen hat, zusammen. Ich muss versuchen, diese Ereignisse zu verhindern. Und ich werde vielleicht diesen Tempel nie wieder in Frieden erleben können, wenn ich nicht sofort handle. Was ich tun muss, verlangt etwas Unmögliches von mir, und es kann bedeuten, dass du hier nicht mehr in Sicherheit bist. Wenn ich die Zukunft verändern will, muss ich im Hohen Rat gegen meinen Vater aussagen, und das kann bedeuten, dass ich wegen Verrats vor Gericht muss. Du wirst hier nicht mehr sicher sein. Ich weiß, dass du das alles jetzt nicht verstehst, aber ich will, dass du gehst.«

Angakah drehte sich um und lief zur Räucherschale, die sie vorher mit den Räucherhölzern gefüllt hatte. Sie machte sich groß und befahl mit tränenvoller Stimme: »Dienerin Anda, das Räucherholz muss aufgefüllt werden, geh in den Wald und tausche bei den Elben neue Räucherware ein. Rasch, beeil dich, das Räuchergefäß wird sonst ausgehen.«

Verschreckt von dem Gesagten entgegnete Anda: »Aber Priesterin, ich kann Euch nicht verlassen. Ich habe diesem Tempel einen heiligen Eid geschworen. Gerne lebe und wirke ich hier, es erfüllt mich mit Freude, im Dienst der Zukunft zu stehen. Wie könnte ich das jetzt aufgeben?«

Die anderen Dienerinnen bemerkten das Gespräch im Tempelraum und hörten auf zu singen. Sie kamen aufgeregt herbei, denn noch nie hatten sie in diesen heiligen Hallen so ernste Stimmen vernommen.

Angakah richtete sich auf und ging zu einem der großen Spiegel. Sie berührte ihn liebevoll mit den Worten: »Meine Lieben, was der Spiegel mir gezeigt hat, würde eure Herzen mit Hoffnungslosigkeit erfüllen. Ich erspare euch den Blick in diese bittere Welt, die nun heranbricht. Mein Vater hat den Verstand verloren, und diese Welt wird keinen Bestand mehr haben, wenn ich nicht einschreite. Bricht das Schicksal wie im Buch der Zukunft gesehen herein, wird es kaum noch freudige Gedanken in dieser Welt geben auf Jahrtausende hinaus.« Sie streichelte die Rubine und Smaragde, die den Spiegel schmückten, und begann zu murmeln. »Die Zukunft kann ich nur ändern, wenn ich das Erbe meiner Familie zerstöre. Niemand kann mir helfen. Selbst die Mächte der Zwerge und Elfen nicht. Bitter ist die Wunde, die jener Tag in die Bücher der Geschichte von Atlantis schreibt.«

Sie drehte sich um und ging auf Anda zu. Mit entschlossenem Schritt und kraftvoller Stimme befahl die Priesterin: »Menschenmädchen des Tempels, ich befehle euch, die Zauberbücher und geheimen Schriften in die Gruft meiner Mutter zu bringen. Verschließt die Gruft und sorgt dafür, dass man den Eingang nicht findet. Vater wird die Gruft niemals aufsuchen. Das wird er nicht wagen. Dort werden die alten Schriften in Sicherheit sein.«

Sie musterte die jungen Frauen traurigen Blicks. »Keine Widerrede, rasch, beeilt euch. Ihr müsst diese Aufgabe erledigen, während ich vor den Hohen Rat trete. Danach geht in den Wald zu den Elfen und gebt ihnen dieses Schreiben. Sie wissen, was zu tun ist. Sprecht mit niemandem darüber. Und seht zu, dass ihr euch sputet. Der Tag hat gerade erst begonnen, aber die Sonne wird an diesem Tag zügiger untergehen als jemals zuvor. Wenn euch jemand fragt, wohin ihr geht, dann sagt, dass ich euch nach Räucherhölzern ausgeschickt habe. Anda geht voraus, sie kennt den Weg durch den Wald!« Sie wandte sich zur Freundin um und nickte ihr ermutigend zu. »Mein Herz geht mit euch!«

Kaum hatte sie das gesagt und Anda das besagte Schreiben übergeben, eilte sie schon in Richtung der großen Versammlungshalle davon, einem ungewissen Schicksal entgegen.

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Die Mädchen sahen sich betroffen an. Schweigend machten sie sich daran, den Auftrag der Priesterin auszuführen. Sie brachten die alten Bücher in die Gruft unterhalb der Spiegelhalle. Elfenzauber wirkte hier, und so konnten sie den Eingang zur Halle für jedermanns Auge unsichtbar machen. Sie beeilten sich und liefen hastig die Gänge des Tempels entlang, während Angakah entschlossen in die Versammlungshalle schritt.

Es war nach wie vor früh am Morgen, und als sie die Halle des Hohen Rates betrat, hing der liebliche Morgenduft taubenetzter Blumen im Raum. Die Halle grenzte im Osten an einen Garten, den alte Bäume und Blumen zierten, die zu jeder Tag- und Nachtzeit dufteten. Die Mitglieder des Rates waren um diese Zeit noch im Gebet, und nur einer der weisen Herren gesellte sich des Morgens in den Rosengarten. Es war ihr Onkel Mathlon, der wie immer zu dieser frühen Stunde als Erster die Nähe der alten Bäume gesucht hatte.

Aufgeregt und doch gefestigt lief Angakah zu ihm. Er war der Älteste des Rates und gleichzeitig der Bruder ihres Vaters. Atlanter konnten sehr alt werden und blieben dennoch stets jugendlich im Aussehen. Seine jungenhafte Gestalt verbarg sein wahres Alter. Er brachte es auf 2034 Lebensjahre und war somit der dienstälteste derzeit lebende Priester des Hohen Rates. Ein sensibler Herr war er – mit bisweilen strengen Ansichten. Der Dienst in Ehre und Disziplin war ihm besonders heilig, und Angakah wusste, dass es nicht leicht werden würde, ihn zum Zuhören zu bringen.

Der Ratsälteste blickte auf, als er die junge Halbelfin auf sich zukommen sah. »Mädchen, was machst du hier?«, fragte er erstaunt, »solltest du nicht im Tempel die Morgengesänge leiten zu dieser Zeit?«

»Onkel, ich weiß«, antwortete Angakah, »aber ich muss dich dringend sprechen!«

»Kind, nichts ist so wichtig wie der Dienst am Morgen, das weißt du doch, verschiebe deine Rede auf später!«

»Nein, lieber Onkel, ich kann nicht warten, ich muss sofort mit dir reden, es duldet keinen Aufschub«, entgegnete sie mutig.

Verwundert runzelte Mathlon die Stirn. »Mädchen, du bist meine Nichte, du weißt, dass ich meine Auffassung nicht ändern werde, dass es Zeiten zum Dienen und Zeiten zum Reden gibt.« Er drehte sich um und schickte sich an, sich vor den nahen Baum zu setzen.

»Onkel, bitte, ich muss dich warnen. Ich habe in den Spiegel der Zukunft gesehen und dabei Schreckliches erblickt. Bitte hör mich an« flehte Angakah, »bitte, ich weiß, nicht was ich tun soll.«

Geduldig bedeutete der weise Mann der Priesterin, neben ihm Platz zu nehmen. Er schaute sie fragend an. Sein Gesicht strömte dabei etwas Majestätisches aus. Er war der Sohn eines atlantischen Königs und hatte sich entschieden, ein Priester des Hohen Rates zu werden. Er hatte seinen Thron aufgegeben, um in den alten Gärten den Elementen zu lauschen und die magischen Schriften zu studieren. So meinte er dem Tempel besser dienen zu können, als indem er ein Königreich verwaltete. Dieser Dienst erschien ihm viel bedeutungsvoller. Wohin führte es schon, ein- oder zweitausend Jahre ein Königreich zu regieren?

Mathlon war ein belesener Gelehrter, der auch die Künste der alten Magie verstand. Er trug die Ringe vieler Könige als Auszeichnung, weil er schon manchem Volk bei der Gestaltung alter Anlagen und Tempel geholfen hatte. Er galt als der begabteste Baumeister unter den Priestern und war sehr beliebt. Er liebte Angakah, die junge Priesterin, denn sie erinnerte ihn an seine verstorbene Schwägerin, die durch tragische Umstände zu Tode gekommen war.

Gespannt wartete er, bis die junge Frau sich gesetzt hatte, dann bedeutete er ihr weiterzureden. »Onkel, der Spiegel hat mir eine Vision geschenkt. Ich habe schreckliche Dinge gesehen, die sich ereignen werden, wenn wir Vater nicht aufhalten. Ich sah die Elemente in Aufruhr und Atlantis vernichtet. Ich sah tiefe Dunkelheit und Vergessen über die Kontinente hereinbrechen ... «

»Kind«, unterbrach Mathlon sie mürrisch und streng, »ich weiß, dass du deinem Vater nicht verzeihen kannst, aber nun hör schon auf, solch einen Unsinn zu erzählen. Du weißt, dass Atlantis seit Tausenden Jahren keine Dunkelheit mehr gesehen hat. Und das wird sich so schnell nicht ändern. Verzeih deinem Vater, Kind, es war nicht sein Wille damals. Er vermisst deine Mutter genauso wie wir beide, er ist kein schlechter Mensch. Er ist nur ein wenig wunderlich geworden dieser Tage.«

»Nein Onkel, es ist wahr, ich habe es im Spiegel gesehen. Er versucht euch alle ins Unglück zu stürzen«, entgegnete sie eifrig.

»Ach, liebes Kind, dafür gibt es keine Beweise, du wirst es wohl geträumt haben. Komm, lass uns darüber keine Zeit verschwenden, mach dich auf zum Morgengebet.« Entschlossen stand er auf und bedeutete Angakah, sich zu entfernen.

»Beim Andenken an meine Mutter, Onkel, es ist wahr! Mein Vater versucht, die Macht an sich zu reißen. Er will den Hohen Rat stürzen. Onkel, bitte, lass uns in den Spiegel schauen, dann wirst du es selbst sehen.« Sie sprang auf. Sie nahm ihren Onkel bei der Hand, der ihr nur zögerlich in den Spiegelsaal folgte.

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Als die jungen Dienerinnen den Wald der Elfen erreichten, war es für Anda ganz leicht, ihren Liebsten zu finden. Leandas wartete immer in der Nähe der alten Steine auf sie. Es ging schon lange so. Sie hatte sich stets hergeschlichen, wenn die Tempelpriester sie nach Räucherholz geschickt hatten. Ihre heimliche Liebe war über Jahre hinweg unentdeckt geblieben.

Nach wenigen Minuten schon sah sie die kleine Hütte am Waldrand vor sich, in der sie in den Armen ihres Liebsten gelegen hatte. Wie sehr liebte sie diese gemeinsamen Stunden. Hier war sie glücklich gewesen wie noch nie. Kaum traf sie ein, den anderen Dienerinnen weit vorausgeeilt, da trat Leandas aus dem Wald hervor und wollte seine Liebste begrüßen. Doch es entging ihm nicht, dass Anda keinesfalls so freudig in seine Arme lief wie sonst.

Leandas war ein berühmter Elfenkrieger und Beschützer des Landes. Er war stark gebaut und muskulös, aber ein sensibler warmherziger Mann. Sofort spürte er, dass etwas nicht stimmte. Seine blonden Haare hatte er zu einem Zopf gebunden, und seine Augen blitzten funkelnd in seinem Gesicht. Vorsichtig nahm er seine Liebste in die Arme.

»Was ist passiert, Anda?«, fragte er. »Du bist ja ganz aufgeregt!« Er zuckte etwas zusammen, als er bemerkte, dass Anda nicht allein gekommen war. Es war ein hohes Risiko für eine Tempeldienerin, mit einem Mann gesehen zu werden, mit dem sie nicht im Bündnis lebte. Anda schluckte und blickte Leandas in die Augen.

Mit Tränen in den Augen sagte die junge Dienerin: »Meine Priesterin hat mich zu dir geschickt. Sie weiß von uns, und ich fürchte, es muss etwas Schlimmes geschehen sein. Sie hat mir ein Dokument für den Rat der Elfen gegeben. Und wir haben alle Zauberbücher des Tempels verborgen. Sie sagte, es sei sehr dringend. Fürchte nicht wegen meiner Begleitung. Wir sind in Eile aus dem Tempel geflohen. Angakah hat uns befohlen, uns in Sicherheit zu bringen. Ich weiß nicht, was das bedeuten soll, Leandas, ich habe schreckliche Angst.«

Zärtlich strich Leandas seiner Geliebten durchs Haar und nickte den anderen Dienerinnen zum Gruß zu. Würdevoll war sein Blick, und die Mädchen erröteten, als sie das Liebespaar eng umschlungen sahen. Es war selten, dass sie einen Elfenmann sahen, denn das Volk der Elfen lebte scheu und zurückgezogen in den Wäldern. Es war berühmt für seine Kräuterkunde, aber auch für seine Kampfeskunst. Es war ein geachtetes Volk. Oft wurden die Elfen um Rat gefragt oder um Hilfe gebeten, so sehr war ihre Weisheit gesucht.

Leandas spürte, wie ernst es dem jungen Mädchen war. Er kannte seine Geliebte und hob sie mit kraftvollen Armen ein Stück weit hoch, herzte sie in der Luft. »Na, wer wird denn gleich verzweifeln, komm, wir gehen zum Rat der Elfen!« Er setzte sie wieder ab.

Anda lächelte, sie liebte es so sehr, seine Kraft zu spüren. Ein guter Mann war er, und sie vertraute ihm bedingungslos.

Leandas wusste, dass er kein Mädchen aus dem Menschenvolk vor den Elfenrat bringen durfte. Der Rat tagte an einem heiligen und geweihten Platz. Niemand aus einem anderen Volk durfte in diese Wälder vordringen oder an den Versammlungsplatz geführt werden. Und Anda wusste es ebenfalls. Also nahm sie das Schreiben der Tempelpriesterin aus ihrem Gewand und reichte es Leandas, der es auseinanderfaltete.

Die Elfen studierten alle Sprachen der Erde, und so fiel es ihm nicht schwer, die Zeilen zu lesen, die auf dünnem handgeschöpften Papier niedergeschrieben waren. Dabei verfinsterte sich sein Blick. Er ließ traurig die Arme sinken und faltete das Schriftstück langsam wieder zusammen. Die Muskeln seines Körpers spannten sich. »Folgt mir, Mädchen des Tempels, wir gehen nun in eine neue Welt mit anderen Gesetzen. Wir müssen zum Rat der Elfen. Schnell, wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Kaum hatte er dies gesagt, lief er schon in Richtung Wald voraus. Die Mädchen folgten dem kraftvollen Krieger in den für sie noch unbekannten Teil des Elfenlandes.

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Angakah eilte wortlos mit ihrem Onkel in den Spiegelsaal des Tempels. Beide dienten schon ihr ganzes Leben dem Tempel und dem Frieden des Landes. Sie waren königlicher Abkunft und hatten doch ihr Leben der Weisheit und den Wissenschaften gewidmet. Dabei war es außergewöhnlich, dass der pflichtbewusste Mathlon seiner Nichte zu dieser Tageszeit hierher folgte. Er brummte vor sich hin und schalt sich einen Narren, ihr einer Laune wegen hinterdrein zu laufen. Doch er liebte das Mädchen und wusste, dass sie seine Gunst niemals ausnutzen würde. Angakah war eine gute Seele und ihrer Mutter mehr als ähnlich. Es musste einen Grund haben, warum sie ihn aus den täglichen Ritualen geholt hatte.

Mürrisch folgte er ihr also in den Prunksaal, in dem auch der Ahnen gedacht wurde. Er nickte im Vorbeigehen den Statuen ehrfurchtsvoll zu. Dann fiel ihm etwas auf. »Wo sind die Dienerinnen, warum brennt das Räucherfeuer nicht?«

»Ich habe die Dienerinnen zu den Elfen entsandt«, antwortete Angakah, »und ihnen befohlen, die Zauberbücher in Sicherheit zu bringen. Schau, Onkel, sieh mit mir in den Spiegel der Zukunft!« Sie trat vor einen der prächtigen, mit Runen verzierten Spiegel, und ihr Onkel stellte sich ärgerlich neben sie. Es war eigentlich nicht üblich, den Spiegel ohne vorherige Zeremonie zu befragen, und er fühlte sich gar nicht wohl bei den vielen Regelbrüchen, zu denen seine Nichte ihn in seinem zeremoniellen Leben verführte. Zerknirscht blickte er in den Spiegel der Weisheit.

Angakah entzündete Räucherwerk und benetzte den Spiegel mit geweihtem Wasser. Sie folgte einem uralten Ritual, durch den der Spiegel seine Magie entfaltete und den Blick in die Zukunft frei gab. Seine Eigenart war es, entscheidende Veränderungen in der Zukunft anzuzeigen. Dabei konnte es sein, dass er über lange Epochen hinweg nichts zeigte. Doch immer dann, wenn eine Neuerung das Leben der Atlanter erfasste, ließ sie sich auf diese Weise vorhersehen – mit Hilfe des Spiegels.

Ob Veränderungen der Erde durch Naturphänomene oder ein Wechsel des Vorsitzes im Hohen Atlantischen Rat oder die Geburt eines neuen Königs in einem der Völker der Erde. Alles war darin zu erblicken, und zwar weit vor der Zeit. Als Mathlon das letzte Mal in den Spiegel gesehen hatte, war darin die Geburt eines zukünftigen Zwergenkönigs zu sehen gewesen. Erst ein halbes Jahr später war er geboren worden.

Auch jetzt blickte Mathlon wieder gebannt auf den Spiegel, der sich in diesem Moment öffnete. Angakah hatte ihn mit Formeln und Gebeten besprochen und mit heiligem Wasser aktiviert, um ihrem Onkel zu zeigen, was sie vorher darin gesehen hatte. Der Spiegel reagierte auf die Gebete der Priesterin, und ein dünner Nebel spiegelte das heilige Wasser auf der polierten Fläche aus Kristall. Dann zeichneten sich die ersten Bilder auf der Oberfläche des magischen Mediums ab, und die Bilder zogen wie Schatten darüber.

Mathlon betrachtete die Zukunft, während seine Augen trüb und grau zu werden schienen. Während die Bilder sekundenschnell über den Spiegel huschten, schien eine sonderbare Veränderung in ihm vorzugehen. Seine Augen füllten sich mit Tränen, seine Haare wurden weiß wie Schnee und seine Gesichtszüge alterten. Sein Gesicht wirkte reglos wie die Gesichter der in Stein gehauenen ehrwürdigen Ahnen dieser Halle.

Angakah war vor dem Spiegel auf den Boden gesunken und weinte still. Der Spiegel enthüllte eine Zeit, die Atlantis noch niemals zuvor gesehen hatte. Danach verhüllte er sich mit Nebelschwaden, und die Bilder der Zukunft verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren.

Als der Nebel ganz verschwunden war, saßen die beiden immer noch in der Halle – bis Angakah das Schweigen brach: »Onkel, es tut mir so leid. Mir fehlen die Worte, um dir zu sagen, wie sehr ich dich liebe. Du hast für dieses Volk alles Gute gegeben, dein ganzes Leben lang ... « Sie erhob sich, kniete sich neben den Onkel. Sie umarmte ihn. »Alles, was wir getan haben, war richtig und wertvoll. Wir müssen sehen, dass wir noch retten, was zu retten ist. Die Zukunft ist veränderbar. Wir dürfen das nicht einfach aufgeben, wofür wir gelebt haben.« Angakah hielt ihren Onkel auf Armeslänge und sah die Veränderung in ihm. Sie küsste ihn. »Mathlon, wir müssen versuchen, ihn aufzuhalten!«

Der weise Mann sah seine Nichte liebevoll an. Dann glitt sein Blick zur Statue neben dem Spiegel. »Hoffen wir, dass deine liebe Mutter uns helfen kann, das Schicksal dieser Welt zu verändern. Wir haben wohl den Beistand aller Ahnen nötig, denn dieses Geschick ist nicht leicht wandelbar. Wie sollte man es erlangen, die Macht der Gier und der Angst zu brechen, die in dieser Welt noch nie regiert haben? Keines meiner Kinder und Kindeskinder sollte die Angst kennen. Niemand in diesem Land hat jemals etwas anderes als Glück und Freude erfahren. Wie soll es gewandelt werden, dass ein Einzelner alles Sein in dieser Zeit für so lange Zeit verdunkelt?« Er schüttelte traurig den Kopf. »Liebes Kind, in diesem Moment hast auch du zum ersten Male Angst. Nicht einmal ich habe bisher in meinem Leben den Geschmack von Angst erfahren müssen. Doch heute bin ich alt und grau geworden, weil ich zum ersten Mal in meinem langen Leben Angst um das Glück von Atlantis und seiner Bewohner habe. Diese Magie ist machtvoll und nur schwer zu entkräften.«

Ein langes Schweigen setzte ein. Dann blickte Mathlon das Mädchen wieder an: »Für alle Dinge kann ich eine Lösung finden, aber Menschen, Zwerge, Elfen, Drachen und Atlanter von der Angst zu erlösen, das ist kaum aufbringbare Magie, die ich nicht zu leisten vermag. So bleibt mir nur zu versuchen, das Fortschreiten des Übels zu verhindern.« Er nickte bei sich. »Dein Vater wird nicht davon zu überzeugen sein, von seinem Vorhaben abzulassen. Zu weit schon ist sein Herz von Macht vergiftet. Also bleibt mir nur die Möglichkeit, den Hohen Rat zu überzeugen, dass er ihm Einhalt gebieten muss, bevor es zu spät ist.«

Er hob die Hand, als Angakah etwas sagen wollte. »Kind, ich liebe dich so sehr, wie ich deine Mutter geliebt habe. Ich bitte dich, hier im Tempel zu verweilen und die Ahnen günstig zu stimmen. Entzünde Räucherwerk und bete darum, dass das Gute siegen möge, in einem Kampf, den ich nicht einzuschätzen weiß. Bete, Kind, dass es noch nicht zu spät ist und der Spiegel uns nur warnen wollte.« Dies gesagt, erhob er sich und küsste Angakah auf die Stirn.

Sie blickte in seine Augen und sah ihn voller Liebe an. Dann nickte sie schweigend und strich dem gealterten Onkel übers weiße Haar. Zärtlich und liebevoll küsste sie seine grauen Wangen.

Er umarmte sie. »Es war richtig, dass du mich gerufen hast. Ich bin stolz auf dich, genauso, wie ich stolz auf deine Mutter war. Du bist in meinem Herzen, bis ich von dieser Welt gehen werde.« Und mit diesen Worten eilte er in Richtung Versammlungshalle davon. Sein Schritt war hastig und hallte in den Gängen wider.

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Leandas hatte die Mädchen durch den dichten Wald geführt. Zügig waren sie vorangekommen. Vorbei an alten Hainen und kalten Flüssen stiegen sie die nahen Berge hinauf. Eiskalt floss das Quellwasser ihnen ins Tal entgegen, und die Bäume wuchsen wie seit Jahrhunderten gesund und kraftvoll. Überall rankten wilde Kräuter, und die Pfade waren gesäumt von bunten Blumen, die alle große Kräfte besaßen. Flink und geschickt führte Leandas die Mädchen den Berg hinauf ins heilige Reich der Elfen.

Das Wasser hatte hier besondere Kraft, und es genügte, sich darin zu waschen, um für allerlei Krankheiten Heilung zu finden. Schon als Kind war Leandas durch diese Wälder gestreunt, als Sohn des Obersten vom Elfenrat. Seine Mutter hatte ihn hier in der Kunst des Heilens unterwiesen. Er kannte jeden Winkel ganz genau. Nun half er den Mädchen hinauf, bis sie an einen Versammlungsplatz kamen.

Auf dem Gipfel des Berges lag dieser Platz, der vor Tausenden von Jahren geschaffen worden war. Tonnenschwere Felsen lagen verstreut auf einer Ebene, auf der sich die Elfen zu ihren Zeremonien trafen. Hier ehrten sie Mond und Sonne und richteten ihr Leben nach den Sternen aus. Nach Kräutern und Räucherwerk duftete es, und man ahnte, wie die Gesänge der Elfen gleich einem Echo an den Felsen widerhallen. Leandas hielt inne. Er bedeutete den Mädchen, am Eingang zum heiligen Platz zu warten. Unter einer großen alten Eiche nahmen sie Platz, um auf Leandas und ihr weiteres Geschick zu warten.

Andächtig begab sich der stolze Elf auf den traditionellen Platz hinaus und verneigte sich vor den alten Felsen. Die Elfen hatten eine besondere Beziehung zu den Bergen, denn in ihnen lebte der Geist des Wissens und der Wahrheit. Deshalb ehrten sie hier oben die Magie der Elemente und des Lebens.

Leandas schritt direkt auf eine Felswand zu und rief laut: »Ich bin es, Leandas vom Licht der Sterne, ich bitte um Einlass in die Hallen der Heiligkeit.« Kaum hatte er dies gesagt, öffnete sich, wie von selbst, der Fels vor ihm und gab einen Gang in den Berg frei. Er betrat den heiligen Weg und folgte ihm tief in den Berg.

Wie die Wände hier leuchteten – wie von selbst! Auf dem Gestein wuchs Moos, das im Dunkeln munter glomm. Bunt schillerte es, das weiche Gewächs, in allen Regenbogenfarben. Und an seinem Ende öffnete sich der Gang zu einer wundervollen Halle, die ganz aus Kristall gefasst war. Auch der Boden leuchtete wie farbiges Glas, und die Halle war erfüllt von einem glockenhellen Zirpen, das von Grillen stammte, die unsichtbar an den Wänden saßen. Sie tarnten sich im bunten Schein und vibrierten in leisen Tönen.

Leandas schritt quer durch die Halle, öffnete an ihrem Ende eine unsichtbare Tür und trat ein in die Hallen aus Kristall. Hier floss klares Wasser die kristallenen Wände hinab, lief in strömende Gräben, an denen Leandas entlangging, bis er zur Seite wich, in einen anderen Gang hinein, und als das Plätschern verklang, waren die Gesänge von Elfenpriesterinnen zu hören. Sie sangen unaufhörlich jeden Tag und jede Nacht, um die Magie der Elfen zu ehren. Welch einen Ohrenschmaus sie in den Äther schickten!

Die Zauberkräfte der Elfen waren durch das Licht der Setren begründet, mit denen sie in engem Bündnis lebten. Ihr Volk stammte von einem Sonnensystem weit weg von der Erde, und die Elfen entnahmen ihre Zauberkraft einem Kristall, der hier im Inneren des Berges über Generationen gehütet wurde. Er war angefüllt mit nie vergehendem Sternenlicht, das den Elfen ihre übernatürlichen Kräfte verlieh. Und was für Kräfte das waren! Sie verstanden sich auf die Künste des Hellsehens, Heilens und vieles andere Übersinnliche, das sie durch die Magie des Kristalls von Generation zu Generation weitergaben. Auch Leandas hatte hier am Sternenstein seinen Namen erhalten. An diesem Ort war er vor langer Zeit auf die Übernahme der Priesterschaft des heiligen Berges vorbereitet worden.

Kaum hatte Leanas die magischen Räume betreten, veränderte sich sein Blick, seine Augen begannen zu leuchten. Sie erstrahlten wie stets in der Gegenwart des heiligen Kristalls, denn der Stein hatte ihn als Priester der nächsten Generation ausgewählt.

Der Kristall wählte seinen Hüter selbst, er richtete die Nachfolge nach Umständen, die auch in der Zukunft lagen. So war gewährleistet, dass das Volk der Elfen immer vom dafür geeignetsten Priester geführt wurde. Und diese Wahl hatte der Stein schon getroffen, als Leandas noch ein Kind gewesen war – sehr zur Verwunderung aller damaligen Priester der Elfen, denn in ihren Augen war Leandas ein zu kriegerischer Elf. Poeten und Wissenschaftler waren es davor gewesen, die das Volk zu führen hatten. Doch nun sollte es sich erweisen, dass der Sternenstein seine Wahl nicht ohne Grund getroffen hatte.

Leandas begrüßte die Wächter der Elfenstadt, die ihm in glitzernden Rüstungen entgegenkamen, und befahl ihnen, sofort den Rat einzuberufen. Er griff nach dem Schreiben der atlantischen Priesterin, mit der er verwandt war. Eine Halbelfin: Ihre Mutter war die Schwester seiner Mutter gewesen. Noch vor seiner Geburt hatte sie sich für ein Leben mit einem atlantischen Priester entschieden, der aus Sicht der Elfen nicht geeignet war, eine Ehe mit einer Elfin zu führen. Doch seine Tante war vor den heiligen Rat getreten, um Mandloch heiraten zu dürfen. Der Rat hatte sie zum Sternenstein geführt, und der hatte ihr die Zustimmung verweigert. Auch der Rat der Elfen war sich sicher gewesen, dass Mandloch sich nur der Zauberkräfte der jungen Elfin bedienen wolle, um den Zauber in Atlantis zu stärken. Seine Tante war wegen Verstoßes gegen die Tempelregeln aus dem heiligen Berg verbannt worden. Sich mit einem atlantischen Priester einzulassen, war nach den Regeln der Elfenpriester eben nicht gestattet. Und so hatte sie gar keine andere Wahl mehr gehabt, als den Priester zu heiraten, an dessen Liebe sie damals glaubte.

Leandas hatte viel von seiner Tante gehört. Bildschön musste sie gewesen sein und eine wundervolle Zauberin. Und sie hatte eine nicht weniger schöne Tochter geboren: Angakah, die Halbelfin, die diese Zeilen für das Elfenvolk verfasst hatte.

Zärtlich berührte Leandas ihr Schreiben und erinnerte sich daran, dass es eine ganze Woche lang Trauergesänge gegeben hatte, als seine Tante Milidar an Traurigkeit ihr Leben verlor, denn sie konnte ohne das Licht der Sterne mit ihrem Mann nicht glücklich werden. Es hatte sich herausgestellt, dass er in der Tat alles versuchte, um an ihre Zauberkraft zu gelangen. Bis zu ihrem Tod hatte sie über den geheimen Berg und den Ursprung ihrer Zauberkraft im Sternenstein geschwiegen. Doch an ihrem Kummer, ohne ihr Volk zu leben, war sie innerlich zerbrochen, und eines Tages wollte ihr Herz einfach nicht mehr schlagen. Für ihre Treue und Liebe wurde sie seither in den Hallen des Berges geehrt.

Leandas wusste, dass die Kraft der Liebe seiner Tante durch diese Zeilen floss, dass sie in Angakah weiterlebte. Dies waren auch die Argumente, mit denen er vor den Elfenrat treten wollte. Er hatte selbst gegen Regeln verstoßen. Noch weit mehr als seine geliebte Tante, die er nur durch die Beschreibungen seiner Mutter kannte. Er hatte seine geliebte Menschenfrau bis an den heiligen Berg gebracht. Sie saß dort unter den alten Bäumen, während er hier den Ausschluss aus seinem Volk riskierte!

Er nahm den Brief fest und entschlossen in seine Hände, während er in die Versammlungshalle ging. Dort wurde der Sternenstein im Zentrum des Raums aufbewahrt, auf einer goldenen Säule ragte der blitzende Kristall bis zur Decke empor. Er leuchtete sanft, solange er nicht aktiviert wurde. In seiner Gegenwart schwanden Gefühle wie Trauer oder Schmerz. Verletzungen oder Leiden wurden geheilt, und das Altern wurde aufgehalten. Fast alle Elfen hatten eine sehr lange Lebensdauer, solange sie mit dem Sternenstein in Verbindung lebten.

Leandas fühlte in diesem Moment die Kraft des Steines, der seine Trauer über die Vorkommnisse heilte. Er fasste Mut, als die Priester die Halle betraten. Er wusste, dass sie ihn für unreif hielten. Er war ihnen zu emotional und zu hastig in seinen Entscheidungen. Doch zu seiner Verwunderung begrüßten die Priester ihn freundlich.

Es waren sechs Männer und zwei Frauen, die in dieser Generation den Hohen Rat bildeten. Sie waren die besten Hellseher und Heiler des Elfenvolkes. Alle setzten sich auf ihre Stühle im Kreis um den heiligen Stein, so wie es Tradition war, wenn der Rat sich versammelte. Ihre Mienen waren ernst und doch begrüßten sie Leandas freundlich.

»Sohn des Lichtes, sei begrüßt in der Halle des Sternensteins«, brach der Oberste des Rates sein Schweigen, als er selbst gerade das Wort ergreifen wollte. »Die Winde des Himmels dieser Erde haben den Aufzug eines Unheils vorhergesagt, das wir nicht zu verhindern wissen. Dich hat der Stein des Lichtes auserwählt, ohne dass wir wussten, dass das Erbe unseres Volkes einst in deinen Händen liegen würde. Die Wasser der Erde haben geflüstert und die Bäume uns die Zukunft einer Welt besungen, die wir nicht verstehen werden. Die Welten des Feuers und der Erde sind einer Zeit entgegengewachsen, die fern ist vom Zauber und der Magie unseres Volkes. Wir haben die besten Heiler und Seher zusammengerufen und vorige Nacht um diesen Stein versammelt. Alle haben das Gleiche gesehen, was du uns nun zu überbringen hast. In deinen Augen ist das Licht des Sternensteins.«

Nach dieser Begrüßung hob der Oberste des Rates den Blick und lächelte Leandas an. »Unser Volk stammt nicht von dieser Erde, doch haben wir sie zu unserer Heimat gemacht in mehr als 70.000 Erdenjahren. Dieser Planet wurde von uns mit dem Licht des Erwachens gesegnet und gedieh in einer Freude, die unserer Zauberkraft entsprang. Nun ziehen Zeichen der Veränderung auf, die wir nicht erschaffen haben und gegen die wir machtlos sind. Das Schreiben, das dein Herz beschwert und unsere geliebte Angakah, Tochter der leuchtenden Milidar, dir gegeben hat, bedeutet das vorübergehende Ende unserer Zeit hier. Nur wenige von uns werden bleiben. Das Volk der Elfen bereitet sich darauf vor, diesen Planeten zu verlassen. So müssen wir das Geschick unseres Erbes und die Obhut über den Sternenstein in deine Hände geben, wie es der Stein vorhersah, als er dich erwählt hat.«

Der Oberste des Hohen Elfenrates senkte die Stimme. »Wir wissen nicht, wie das Geschick dieser Welt sich entfaltet im Klang von Baum und Wind. Die Wasser haben es uns nicht verraten, wo sie an die Gestade der Zukunft branden werden. Der Rat der Elfen folgt dem Licht des Steins und führt sein Volk auf einen anderen Stern, auf dem wir die nächsten Tausende von Jahren Lebensraum finden werden. Die Zauberkraft der Atlanter nämlich ... Sie wird Dunkles gebären – Dunkles, vor dem wir unser Volk schützen müssen, damit es glücklich und in Frieden leben kann!« Seine Stimme war deutlich lauter geworden, und große Wehmut schien ihn zu erfüllen. »Die Menschen jedoch ... Die Menschen werden diese Erde in Zukunft regieren. Es ist an ihnen, das Geschick dieser Erde zu lenken und sie zu hüten wie ihre Mutter.« Mit einer knappen Geste unterbrach er sich und blickte ihn an.

»Du! Du hast eine Menschenfrau an den heiligen Berg gebracht. Auch das ist uns nicht verborgen geblieben. Wir wollen, dass du sie vor den heiligen Stein führst, um zu entscheiden, ob sie geeignet ist, das deinige Blut mit dem ihrigen zu mehren. In unserm Blut lebt das Gute, das Licht der Sterne. Dies könnte das Schicksal der Erde wenden. Die Gesänge unserer Ahnen werden in deinem Blut weiterleben, und es werden eure Kinder sein, die das Heitere und Freundliche in den Menschen überdauern lässt. Das ist das Einzige, was wir den Menschen geben können. Der einzige Zauber, der wirksame Hilfe sein wird, das Dunkel zu überwinden. In den Menschen lebt das Sternenlicht. Auch sie stammen nicht von dieser Erde. Viele von ihnen sind Sternenkinder. Es liegt Hoffnung in ihrer Liebesfähigkeit.«

Der Priester nickte Leandas zu. Der gab ihm den Brief der atlantischen Priesterin. »Wir wissen«, fuhr der Oberste fort, »welche Hand diese Zeilen verfasst hat, und sind dankbar für den Versuch, das Volk der Elfen zu retten. Aber diese Zeilen werden nicht verhindern, was unser Geschick ist.« Er wandte sich zu einem der Wachmänner um und bedeutete ihm, die Menschenfrauen zu holen, die immer noch unter dem Baum saßen.

Leandas konnte in der Gegenwart des heiligen Kristalls keine Trauer empfinden. Er wusste, dass die Entscheidungen des Rates immer das Glück der Elfen bedachte. Offensichtlich beschritt das Elfenvolk einen neuen Weg ins Glück. Daran hatte er keinen Zweifel.

Während er über das Gesagte nachdachte, wurden die jungen Priesterinnen hereingeführt. Anda hatte noch niemals ein so wundervolles Licht gesehen, das aus den Augen ihres Geliebten strahlte. Auch die Tempelanlage und der traumhafte Gesang berührten sie tief im Herzen. Sie wusste, dass zum ersten Mal Menschen diese Halle betraten.

Die Priester erhoben sich von ihren Stühlen, während die Tempeldienerinnen sich demütig verneigten. Der Oberste sprach freundlich: »Fürchtet euch nicht, Mädchen. Es soll euch nichts geschehen. Ihr habt in den Tempeln der Atlanter gedient, und unsere Halbschwester Angakah hat euch hierher gesandt. Ehre sei ihrer Tat zum Wohle unseres Volkes.«

Der Oberste des Elfenrats trat auf die Mädchen zu und besah sie sich genau. Er wusste, dass eine von ihnen eine besondere Aufgabe zu tragen hatte. Er hatte es in den Feuern der Zukunft gesehen. Sofort erkannte er Anda und nahm die junge Frau an die Hand. Er führte sie wortlos an den Sternenstein heran und bedeutete ihr, ihn zu berühren.

Anda war von dem sanften liebevollen Licht tief berührt, und sie staunte über das unglaubliche Glücksgefühl, das im selben Augenblick bei ihr eingesetzt hatte, als sie den Saal betrat. Sie fühlte sich leicht und unbeschwert, und die Sorgen der letzten Stunden wichen einer grenzenlosen Leichtigkeit und Freude. Sie empfand keine Angst, und ihre Liebe zu Leandas fühlte sich kraftvoll und mächtig in ihrem Herzen an. Scheu sah sie zu ihm hinüber, während er langsam an die Seite seiner Geliebten trat. Vorsichtig ergriff er ihre Hand und blickte mit ihr gemeinsam in das Licht des Sternensteins.

Der Oberste der Elfen ging zurück in die Reihe des Rates, und alle Elfen begannen, alte Weisen zu singen. Der Klang ihrer Stimmen füllte den Raum, und es hob ein Summen an, auf das der Sternenstein reagierte, indem er stärker zu leuchten begann.

Ein Lichtwirbel entstand um den Stein und erfasste Leandas und das Menschenmädchen Anda. Leandas drehte sich zu Anda und nahm sie an beiden Händen. Seine kraftvollen Arme und sein ganzer Körper begannen zu beben, und das Licht des Sternensteins floss in ihn hinein. Es schien, als würde der Lichtstrahl nun auch Anda erfassen. Zuerst leuchtete nur ihr Gesicht, doch nach und nach strömte es hell und lichtvoll in ihren Körper. Schließlich leuchteten auch ihre Augen. Langsam zog Leandas sie an sich und küsste ihre Wangen. Der Sternenstein hatte dem verliebten Paar den Segen erteilt.

Ein unfassbarer Augenblick, denn noch niemals zuvor war es einem Menschen möglich gewesen, das Licht der Elfen in sich aufzunehmen. Anda wurde von einer Woge des Glücks erfasst. Sie spürte nichts anderes mehr als die Liebe zu Leandas und sah ihm in die strahlenden Augen. Die anderen Mädchen spürten die schmeichelnde Kraft, die gleich einem Sog von den beiden ausging. Auch der Elfenrat sah wohlwollend die Lichtverschmelzung des Paares, und der Oberste der Elfen nickte bedeutsam ...

Immer stärker kreiste das Licht um die beiden, und der ganze Raum war erfüllt vom Klang ihrer reinen und ehrlichen Liebe. Der Sternenstein hatte in ihre Herzen gesehen und sie zu einem bedeutsamen Zweck für die Zukunft der Erde auserwählt.

Nach einer Weile zog das Licht sich wieder in den Sternenkristall zurück und das Vibrieren im Raum ließ nach. Leandas küsste seine Braut, und selig lagen sie einander in den Armen. Sie wusste, dass ihrer heimlichen Liebe nun nichts mehr im Wege stand.

Der Oberste bedeutete den anderen, mit den Gesängen aufzuhören. Er schritt auf die beiden zu. »Leandas, mein Sohn, ich wünschte, ich könnte dir Freudigeres zu deiner Vermählung schenken. Doch deine Hochzeit mit dem Menschenmädchen ist unter einem Stern vollzogen worden, den ich den Stern der Veränderung nenne. Ein langes Zeitalter liegt vor euch, in dem es gilt, mit den Nachkommen aus eurer Vermählung die Welt der Zukunft wieder mit Magie zu erfüllen. Die Elfen werden diesen Planeten verlassen. Es ist eure Aufgabe, hier zu verweilen, bis diese Kammer sich mit Hilfe des Sternensteins wieder öffnen lässt.«

Er breitete die Arme aus, und es war, als wären für ihn die Atlanter und Elfen nicht mehr im Raum – als würde er zu einer höheren Macht sprechen, der er die Geschicke des Planeten und seiner Völker in die Hände gab. »Der Sternenstein wird euch die Lebenskraft verleihen, die Erde wieder mit Hoffnung und Licht zu erfüllen. Euer beider Liebe ist bedingungslos und trägt die Hoffnung aller Lebewesen der Erde in sich. Das Glück der Sterne ist jedem gleich bestimmt. Ob Atlanter, Mensch, Zwerg oder Elf, allen ist dasselbe Recht des Glücks ins Herz gegeben. Eure Nachkommen werden diese Kraft weitergeben. Das Wissen und die Magie unseres Heimatsterns werden in den Wassern der Erde und im Wind der Zeit wiederzufinden sein, weil ihr es in euren Körpern weitergebt. Damit wird ein neuer Stamm begründet, der die Erde nach dem Zeitalter des Dunkels mit neuer Hoffnung erfüllt.«

Der Oberste schloss die Augen unter dem Eindruck einer beseligenden Energie, die er nicht in Worte zu kleiden vermochte. Er nickte lächelnd. »Sohn Leandas, du wirst der Letzte lebende Elf auf dieser Erde sein. Hüte den Sternenstein und halte das Licht der Liebe deines Volkes wach. Deine Lebenszeit wird erfüllt sein von der Aufgabe, das Sternenlicht für die Zukunft zu bewahren. Lasse niemanden von diesem Ort wissen. Die Mädchen des Tempels werden bei dir bleiben. Wir indessen werden unser Volk durch die Zeit führen, zu einem anderen Stern. Damit das Wissen und die Magie unseres Volkes nicht in die Hände eines Tyrannen fallen, der die Macht des Lichts nicht zum Guten nutzen möchte.«

Er legte Leandas die Hand auf die Schulter, und für einen kurzen Moment verschmolzen die Blicke der beiden Männer. Danach zog der Oberste sich wortlos zurück. Die Gesänge hörten auf. Der Sternenstein verströmte weiter sein helles Licht, und das frisch verbundene Paar sowie die Tempelmädchen gingen darin ganz auf. Die Kammer schloss sich lautlos.

Der Bauer und seine Schafe

An diesem Tag roch es nach frisch gemähtem Heu. Die Luft war erfüllt vom aufgeregten Summen der Bienen, die in den Mittagstunden ihren Pollen sammelten, während sich unter einem alten Olivenbaum ein junger Mann in der Sonne räkelte. Er kaute auf einem getrockneten Grashalm und träumte im Schatten des Baums vor sich hin. In seiner Nähe weideten seine Schafe friedlich auf den üppigen Kräuterwiesen.

Der blonde Hüne liebte es, in der Natur zu sein. Er verbrachte den ganzen Sommer hier draußen mit seinen Schafen und Ziegen. Erst im Herbst kehrte er zurück in sein Dorf, wenn die Regen der kalten Jahreszeit einsetzten und es ihn an den gemütlichen warmen Herd seines Elternhauses zog. Er hatte nicht viel bei sich, außer einem Bündel mit Schnitzzeug und einem Lederbeutel mit gutem Schnupftabak, den er von seinem Vater erhalten hatte. Alles, was er zum Leben brauchte, fand er im Sommer hier draußen.

Ziegenmilch und Schafmilch verleibte er sich zum Frühstück ein und braute sich auf einem kleinen Feuer morgens einen Kräutertee, den er tagsüber aus einem Tonkrug trank. Auf seiner Wanderroute in den Hängen der Berge hatte er sich verschiedene Lager eingerichtet, die er zum Schlafen in den Bäumen gebaut hatte. Dort hatte er allerlei Werkzeuge deponiert, mit denen er sich seine Nahrung beschaffte und zubereitete.