Cover

Neu in der Fremde

Neu in der Fremde

In diesem Buch erzählen rund 20 Menschen, warum sie ihre Heimat verlassen und neu angefangen haben. Dabei sind die Auslöser für den Neuanfang oft sehr unterschiedlich. Manche Menschen fliehen, manchmal ist auch der Wunsch nach privater Neuorientierung der Auslöser für einen Neustart. So kam Hesham schon vor vielen Jahren von Ägypten nach Deutschland, auf der Suche nach einem besseren Leben. In anderen Fällen, wie bei Christiane, ergab sich der Neuanfang, als sie neun Jahre alt war und ihre Mutter beschloss, in die französische Provinz zu ziehen. Ohne die Sprache zu sprechen oder die Gepflogenheiten zu kennen, war die Neuorientierung schwierig.

Was machen Menschen in ungewohnten, neuen Situationen? Was haben sie für Ideen und Hoffnungen? Und wie sieht es aus, wenn der Auslöser, in der Fremde neu anzufangen, lebensbedrohlich ist wie bei Aboud? Er berichtete kritisch über sein Land, wurde dafür zeitweise eingesperrt und mit dem Tode bedroht. Seine einzige Rettung war die Flucht nach Deutschland. Oder wie bei Ena und ihrer Familie, die in den Neunzigern ihr vom Krieg gebeuteltes Land verlassen. Da war sie noch ein Kind.

Damit ein Neustart gelingt, sind Menschen wichtig, die den Neuanfang begleiten und unterstützen. Daher kommen in diesem Buch auch Menschen zu Wort, die helfen, eine solche Herausforderung zu meistern. So erzählen Anna, Scharajeg und Jannis von ihrer Arbeit mit Neuankömmlingen, die vor Krieg, Hunger und Armut nach Deutschland fliehen. Andrea berichtet, wie sie spontan eine Familie bei sich aufgenommen hat.

Egal, ob man irgendwo neu anfängt, weil man es möchte – oder weil man es muss: Ein Neustart ist immer eine Herausforderung. Er reißt Menschen aus gewohnten Lebenszusammenhängen, konfrontiert sie mit neuen Bedingungen an fremden Orten, die manchmal nicht leicht zu bewältigen sind. Dieses Buch erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Jede Geschichte in diesem Buch ist persönlich, daher sind alle Geschichten unterschiedlich. Viele Beiträge sind ernst, viele machen Hoffnung. Hoffnung darauf, dass neu anzufangen zwar Kraft kostet, aber gelingen kann.

Carolin Eichenlaub & Beatrice Wallis

Das Land, in dem ich morgens Jasmin pflückte

Text von Luna

Mein Bruder, meine Schwester und ich sitzen im Auto, auf dem Weg vom Flughafen. Wir sind in Wien angekommen, es ist kein Urlaub. Es ist für immer. Meine Wangen sind ganz kalt und rau, ich weine. Ich denke nicht an die Möglichkeiten, die mir das Neue bieten wird. Ich will nur weg, zurück nach Hause, nach Damaskus.

»Wie war es für dich?«, fragt man mich.

Schwer, so wie jeder Anfang einfach schwer ist.

Ob ich Österreich und Wien gemocht habe?

Nein, ich hasste das Hiersein.

Ich hasste das Anderssein.

Ich hasste das Alleinsein.

Ich musste ständig auf Fragen antworten.

»Luna, woher kommst du?«

»Luna, wieso trägst du kein Kopftuch?«

»Luna, an welchen Gott glaubst du denn als Muslima?«

»Luna, wo liegt denn Syrien eigentlich, in Afrika?«

Solche Fragen wurden mir früher nie gestellt. Ich wusste, sie wollen mich nur kennenlernen, ich wusste, dass alles, was man nicht kennt, Angst macht. Komisch war, dass ich solche Fragen nicht gestellt habe. Ich musste mich ständig für das Anderssein rechtfertigen und Stellung beziehen, vor allem bei Themen, die mit dem Islam und dem arabischen Raum zu tun haben, seien es religiöse, politische oder gesellschaftliche Themen. Als ob die Pubertät allein nicht anstrengend genug wäre. In Diskussionen musste ich mich verteidigen und konnte selten eigene Stellung beziehen. Ich informierte mich viel, das hat meinen Charakter gestärkt. Trotz meiner mangelnden Deutschkenntnisse konnte ich standhaft bleiben.

Mit der Zeit nervten die Fragen. Ich empfand mich selbst immer mehr als Wienerin. Ich kannte mich in der Stadt gut aus. Ich hatte fast nur österreichische Freunde. Ich konnte innerhalb kürzester Zeit akzentfrei Deutsch. Ich sprach immer weniger arabisch, auch zu Hause.

Und trotzdem.

Ich fühlte mich nicht vollkommen.

Ich fühlte mich nicht angekommen.

Also stopfte ich meine Wochen voll, um weniger allein zu sein und um neue Menschen kennenzulernen. Ich nahm die Möglichkeiten wahr, die mir das Hiersein anbot. Ich belegte viele Tanzkurse von Contemporary bis hin zu klassischen Tänzen. Ich entdeckte meine Zuneigung zur Kunst und Malerei. Ich ging öfters wandern und Rad fahren. Aus fremden Bekannten wurden beste Freunde, die, so gut sie konnten, meine Kultur zu verstehen versuchten.

Irgendwie hat etwas gefehlt.

Da ich viele Jahre nicht nach Damaskus fliegen konnte, konnte mein arabisches Ich sich nicht entfalten und keine arabische Energie tanken. Ab und zu arabische Songs zu hören reichte nicht aus. Also suchte ich mir in Wien Freunde mit arabischen Wurzeln und dachte, wir würden uns nahkommen durch die gemeinsame Kultur. Dem war aber nicht so. Anfangs war es ganz lustig, wir sprachen arabisch, spielten Karten, unterhielten uns über arabische Fernsehserien, was mir und meiner Schwester schwerfiel, da wir nur drei österreichische Sender zu Hause hatten. Wir diskutierten auch über das Leben in Syrien und schon kamen Differenzen auf. Für meine syrischen Freunde, die in Österreich geboren und aufgewachsen waren und nur in den Ferien ihre Familien in Syrien besuchten, war Syrien ein Paradies. Sie meinten, sie wollten unbedingt hinziehen, weil es so viel besser sei. Meine Schwester und ich schauten uns an und mussten schmunzeln.

Mittlerweile lebten wir seit drei Jahren in Wien und wussten zu schätzen, was das Land der Gesellschaft gab. Also fing die Diskussion an, meine Schwester und ich versuchten, das Urlaubsfeeling der Freunde aus Damaskus wegzuargumentieren und die harten Fakten des Alltagslebens in Syrien zu präsentieren. Von der strikten öffentlichen Schule, in der Selbstentfaltung und eigene Meinung keinen Platz hatten, bis hin zu dem korrupten politischen System und dessen Auswirkung auf das Leben und die Zukunft des Einzelnen. Nur durch Bestechung kommt man weiter. Wir konnten sie nicht überzeugen, denn hier in Wien fühlten sie sich nicht ganz zu Hause. Unsere Einstellung und ihre Einstellung stimmen nicht überein, auch unsere Wege nicht. In unseren Augen sind sie zu arabisch geblieben, in ihren Augen sind wir zu europäisch geworden.

Das finde ich nicht.

Ich habe das Glück, in beiden Ländern Alltagserfahrungen gemacht und in beiden Ländern Urlaub genossen zu haben. Keines von beiden ist perfekt. Doch ich kann mir von hier und dort die schönen Seiten herausnehmen und sie ausleben.

Beides gehört zu mir.

Hier:

Kein Numerus clausus, aus mir wird, was ich aus mir machen will.

Dort:

Keine Einsamkeit, ich habe viel Familie um mich.

Hier:

Viele Möglichkeiten, um Neues auszuprobieren.

Dort:

Viele freundliche Menschen, die Geborgenheit geben.

Also muss ich mich für keine Seite entscheiden, kein Entweder-oder, sondern einfach beides. Anfangs ist es mir selbst schwergefallen, »beides« zu akzeptieren. Jetzt liebe ich es. Ich spreche zu Hause arabisch-deutsch, je nachdem, welches Wort mir schneller einfällt. Ich lese und schreibe immer wieder auf Arabisch. Ich tausche Gedanken aus mit meiner Oma, über den Islam, seine kulturellen Einflüsse und über arabische Werte. Wir kritisieren viel, meine Oma schreibt sich Notizen auf in ihrem Büchlein. Derzeit ist es die einzige Möglichkeit, Damaskus nahezukommen. Wenn ich Nachrichten schaue, komme ich nicht aus dem Bett raus, weil mich die Bilder verfolgen und meine Machtlosigkeit mir bewusst wird. Obwohl Österreich weit weg ist, haben es einige bis hierher geschafft. Letztens saß ich in der U-Bahn und mir gegenüber zwei junge Buben, die sich auf Syrisch-Arabisch unterhalten. Ich folge ihrer Unterhaltung interessiert, es geht um ihre Reise.

82133_KJB_Abb_005.jpeg

Ich lächle. Sie lächeln zurück. Sie haben vieles erlebt, man sieht es ihnen an. Sie sind nun in Sicherheit. Es macht mich glücklich. Sie mussten vieles ertragen. Es macht mich traurig, denn sie sind viel zu jung, ungefähr so alt wie ich, als ich damals nach Österreich kam. Nur hatte ich keinen Schmuggler, keine Bootsfahrt, keine Bergwanderung, keine Blasen an den Füßen und keinen Gefängnisaufenthalt. Ich musste nicht schauen, dass ich weiterkomme von Land zu Land. Ich musste mich nicht allein orientieren und mich selbst zum Ziel führen. Ich musste nicht in regnerischen Nächten im Freien schlafen.

»Werden noch weitere kommen?«, fragt man mich.

Ja, denn sie haben schon alles verloren. Hier haben sie Hoffnung.

Werden sie es hier in Europa schaffen?

Ja. Weil wir alles schaffen können.

Weil wir es schaffen wollen.

Weil wir es schaffen müssen.

Ich muss ständig auf Fragen antworten.

»Luna, glaubst du, es funktioniert mit der Integration?«

»Luna, wieso kommen Männer ohne ihre Frauen?«

»Luna, hat man in Syrien auch Smartphones gehabt?«

»Luna, ist es in Syrien denn wirklich so schlimm?«

Ja, mit der Integration wird es funktionieren, bei mir hat es auch funktioniert, oder nicht? Der Fluchtweg ist für Männer schon schlimm genug, daher bringen sie lieber ihre Frauen und Kinder durch Familienzusammenführungen als mit einem Boot.

Ja, in Syrien gibt es auch Smartphones und Internet. Wenn es nicht so schlimm wäre, würden die Menschen nicht freiwillig nach Europa kommen.

Und dann noch meine Lieblingsfrage:

»Luna, was wird aus Syrien werden?« Wenn ich antworte, versuche ich mich zusammenzureißen, objektiv zu bleiben und hoffnungsvoll. Doch es fällt mir schwer, denn alles, was man nicht weiß, macht einem Angst. Die Situation macht mir Angst, denn ich weiß es nicht, wie es genau dort ist – jetzt. Es ist nicht irgendein Land für mich. Es ist das Land, in dem noch ein Großteil meiner Familie wohnt. Es ist das Land, in dem ich meine Kindheit verbracht habe. Es ist das Land, in dem ich morgens Jasmin pflückte.

82133_KJB_Abb_006.jpeg

Luna

wurde 1990 in Melk, Österreich, geboren und verbrachte ihre Kindheit und ersten Jugendjahre in Damaskus. Im Alter von 14 Jahren ist sie nach Wien gekommen.

Luna Al-Mousli arbeitet als selbstständige Grafik-Designerin und hat ihr Studium mit dem Text-Bild-Band »Eine Träne. Ein Lächeln. Meine Kindheit in Damaskus«, der 2015 erschienen ist, abgeschlossen.

Parallel engagiert sie sich im Verein START-Alumni, vor allem im Projekt »TANMU«, einem Lernhilfsprogramm für Jugendliche mit Fluchterfahrung, um ihnen das Ankommen zu erleichtern.

www.luniverse.xyz

www.start-alumni.at

Ich kann das!

Text von Scharajeg

Als ich geboren wurde, lebten meine Eltern in einem Asylheim im Bundesland Bayern. Als politisch Verfolgte sind meine Eltern während der persischen Revolution (nach einer aufreibenden und anstrengenden Flucht durch die Türkei) 1988 nach Deutschland geflohen. Mein Vater war vor seiner Flucht fünf Jahre im Foltergefängnis »Evin« in Teheran, Iran, inhaftiert und zum Tode durch den Strick verurteilt. Jahrelang ist er im Gefängnis gefoltert worden und musste mitansehen, wie viele seiner Freunde und Familienmitglieder vor seinen Augen hingerichtet wurden. Für meine Eltern war die Flucht aus ihrem Heimatland ein großer Schritt und gleichzeitig die einzige Möglichkeit, zu überleben. Aber auch die einzige Möglichkeit, auf eine gesicherte Zukunft, auf ein besseres Leben und auf eine Perspektive. Mithilfe eines Schleusers und mit den wenigen finanziellen Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen, haben sie ihr Hab und Gut hinter sich gelassen und sich auf den Weg nach Deutschland gemacht. Auf ihrer Flucht durchlebten meine Eltern die verschiedensten Stationen, und wenn ich sie heute danach frage, spüre ich, dass die Erinnerung an diese Zeit geprägt ist von schmerzlichen Erfahrungen, Verzweiflung – aber auch von Hoffnung und neuem Lebensmut.

Ich erblickte das Licht der Welt am 8. Januar 1989 in einem kleinen Krankenhaus in Bayreuth, zwei Stunden entfernt von dem Asylheim, unserem damaligen Zuhause. Meine Eltern hatten vor lauter Aufregung vergessen, eine Tasche mit Kleidung für mich zu packen. Sie wussten auch nicht, dass ich die Säuglingskleidung aus dem Krankenhaus anbehalten durfte. Da sie sich nicht verständigen konnten, entschied mein Vater kurzerhand, mich unter seiner Lederjacke – unbekleidet – zurück ins Asylheim zu transportieren. Bis heute erzählen sie mir diese Geschichte und wundern sich immer noch, dass ihr neugeborenes Kind auf dem Nachhauseweg überhaupt nicht geweint habe.

Heute lebt meine Familie seit mehr als 20 Jahren in Deutschland. Ohne die Möglichkeit des Asyls wären meine Eltern in ihrem Heimatland im schlimmsten Fall hingerichtet worden oder müssten unter schwersten Bedingungen als politisch Verfolgte ums Überleben kämpfen. Wenn ich meinen Vater frage, was ihm am meisten fehle, antwortet er stets das Gleiche: der Geruch der Erde seines Heimatlandes Iran. Seit seiner Flucht war er nie wieder dort gewesen.

Ganz anders als für meine Eltern ging es für uns Kinder stets um mehr als eine Unterbringung und Schutz. Das Thema »Dazugehören« ist seit meinen frühen Lebensjahren ein wichtiger Bestandteil meines Lebens. Manchmal auch im negativen Sinne. Ich habe mich beispielsweise als Kind oftmals allein und unverstanden gefühlt. Meine Eltern bemühten sich sehr, in alltäglichen Fragen eine Unterstützung zu sein, die ein Kind, eine Jugendliche und teilweise auch eine junge Erwachsene hat. Aber die Wahrheit ist, dass meine Eltern sehr zu kämpfen hatten mit ihren Albträumen, ihren Traumata und ihren Erinnerungen an die Heimat. Auch die neue Situation machte ihnen sehr zu schaffen. Sie kannten die Sprache nicht, die Kultur war fremd und ungewohnt, wie eigentlich alles, was sie erlebten. Sie waren überfordert und brauchten eine gewisse Zeit, um sich an die Situation zu gewöhnen – diese Zeit brauchen sie teilweise noch bis heute.

Ich stand zwischen alldem und wusste weder mir noch meinen Eltern zu helfen. Auch in der Schule fühlte ich mich wenig akzeptiert und verstanden. Aufgrund meiner Situation konnte ich die geforderten Leistungen nicht erbringen. Obwohl ich seit meiner Geburt und bereits einige Jahre in Deutschland lebte, fiel mir die Schule sehr schwer und ich hatte keinen Menschen, der mich förderte oder unterstützte. Vor allem das Erlernen der deutschen Sprache und der deutschen Grammatik fiel mir schwer. Ich sprach nur in der Schule deutsch – zu Hause nie.

Nach der Orientierungsstufe (6. Klasse) sollte über meine Zukunft entschieden werden. Meine damalige Klassenlehrerin sagte mir in einem Gespräch, dass ich für meine Mutter übersetzen müsse, dass ich eine Hauptschulempfehlung bekäme, weil meine Leistungen für eine Realschule nicht ausreichen würden. An das Gymnasium sei gar nicht erst zu denken.

Meine Lehrerin empfahl mir, mich nach handwerklichen Berufen umzusehen, da sie vermutete, dass ich mit einem Hauptschulabschluss im handwerklichen Bereich die besten Chancen hätte. Das war ein sehr schwerer Moment in meinem Leben. Ich fühlte mich wertlos und schämte mich sehr. Ich mochte absolut nichts, was mit handwerklichen Tätigkeiten zu tun hatte. Ganz im Gegenteil. Ich war ein großer Fan von Büchern und liebte das Lesen. Ich verschlang alles, von Science-Fictionromanen bis hin zu Sachbüchern – alles, was ich in die Hände bekam.

Ich wollte nicht auf die Hauptschule und danach eine Ausbildung machen. Ich wollte doch Politikerin werden, meine Eltern als politisch Verfolgte stolz machen und mich für andere Menschen einsetzen. Ich wollte so viel mehr.

An diesem Tag fasste ich, ganz im Stillen, einen Entschluss. Ich erinnere mich ganz genau an diesen Moment. Ich wollte es allen zeigen: meiner Klassenlehrerin, den Kindern, die mich auslachten, meinen Eltern, einfach allen – mir und der ganzen Welt!

Ich kann das! Ich werde meine Träume erfüllen, auch wenn ich die Einzige war, die zu diesem Zeitpunkt daran glaubte.

Gegen die Empfehlung meiner Klassenlehrerin meldete ich mich in der nächstgelegenen Realschule an und wurde zu meiner Freude tatsächlich aufgenommen. Ab diesem Tag holte ich den Stoff der vergangenen Schuljahre selbstständig nach. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten änderten sich meine Noten nach einem Jahr schlagartig. Nach vier Jahren hartem Kampf wurde ich bei der Abschlussprüfung als Klassenbeste und Jahrgangsbeste aus der Realschule mit einer Empfehlung für das Gymnasium entlassen.

Doch auch im Gymnasium bekam ich nie die Anerkennung, die ich mir so sehnlichst wünschte. Es war noch viel schlimmer als zuvor: Die Mitschülerinnen und Mitschüler des von mir vermuteten Elitegymnasiums verachteten mich aufgrund meiner Herkunft und meines gesellschaftlichen Status. Sie nannten mich »Gettokind«, wollten in der Klasse nicht neben mir sitzen und beschwerten sich lauthals bei den Lehrkräften, wenn mir, im Vergleich zu ihnen, bessere Noten für mündliche Leistungen gegeben wurden. Ich saß immer in der ersten Reihe, damit ich den Spott in ihren Gesichtern nicht sehen musste, und kämpfte mich eisern durch bis zum Abitur. Während der drei Jahre auf dem Gymnasium gab es viele Momente, in denen ich aufgeben wollte. Ich quälte mich zur Schule und weinte häufig ganz allein auf der Mädchentoilette. Nach der Schule saß ich stundenlang in meinem Zimmer und lernte, weil der Stoff und die psychische Belastung für mich sehr schwer waren. Vor allem die Umstellung von der Realschule auf das Gymnasium war eine große Herausforderung für mich.

Als Ausgleich neben der Schule hatte ich schon früh angefangen zu tanzen. Am liebsten mochte ich die Stilrichtung Hip-Hop. Am Anfang trainierte ich viel in Jugendzentren und Freizeitheimen. Schnell wurde eine bekannte Tanzschule in Hannover auf mich aufmerksam. Durch deren Unterstützung konnte ich an etlichen Wettbewerben teilnehmen und gewann sogar einige Titel.

82133_KJB_Abb_007.jpeg

Mit 15 Jahren arbeitete ich als Background-Tänzerin und trat viel im Fernsehen und auf großen Veranstaltungen auf. So konnte ich nebenbei etwas Geld verdienen und mir ein Hobby aufbauen. Das Tanzen half mir, den ganzen Stress loszuwerden, und es war für mich immer eine Möglichkeit, meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Das Wichtigste am Tanzen jedoch war (unabhängig von meinen schulischen Leistungen, meiner Herkunft oder Lebensgeschichte), dass ich etwas hatte, bei dem ich zu 100 Prozent an mich selbst glauben konnte. Das bestärkte mich sehr und ermöglichte mir neue Perspektiven. Vieles, was ich beim Tanzen gelernt hatte, konnte ich so auch auf schulische Anforderungen anwenden. Vor allem das erlernte Selbstvertrauen und der Kampfgeist waren für mich im schulischen Kontext hilfreich. Bis heute begleitet mich das Tanzen, wie ein Schatten meiner selbst.

Ich setze das Tanzen häufig in verschiedenen Projekten mit Kindern und Jugendlichen ein, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Durch das Tanzen gewinnt man einen ganz anderen Zugang zu Menschen und kann ihnen beibringen, dass es neben der Sprache noch andere Ausdrucksmöglichkeiten geben kann. Beispielsweise eine Choreografie, in der man alles darstellen kann, was sich manchmal mit Worten gar nicht ausdrücken lässt.

Während meiner Studienzeit habe ich gemeinsam mit meinem Lebenspartner, der ebenfalls ein Flüchtlingskind war (jedoch aus dem Kosovo), in verschiedenen Projekten mitgewirkt, und gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen, die ähnliche Probleme hatten, haben wir preisgekrönte Tanzprojekte auf die Beine gestellt.

Heute habe ich einen Bachelorabschluss in Politikwissenschaft und einen Masterabschluss im Fach Sozialpolitik. Ich spreche fünf Sprachen, drei davon fließend. Mein Schwerpunkt an der Universität in Bremen waren Migrationspolitik, Bildungspolitik und Asylrecht.

Auch beruflich konnte ich mich etablieren. Seit März 2015 arbeite ich bei der Senatorin für Kinder und Bildung in Bremen und bin zuständig für die Beschulung von Kindern und Jugendlichen von Flüchtlingen und Zugewanderten, die ohne Sprachkenntnisse nach Deutschland kommen. Zu meinen Aufgaben gehört es, sogenannte Vorkurse an Schulen zu errichten. Vorkurse sind jahrgangsübergreifende Klassen, die an einer Schule integriert werden. Hier lernen alle Schülerinnen und Schüler, die ohne Kenntnisse der deutschen Sprache eingeschult werden, vier Stunden täglich Deutsch. Parallel werden die Kinder und Jugendlichen ab dem ersten Tag in das schulische Regelsystem integriert. Das heißt: Neben der intensiven Sprachförderung im Vorkurs gehen die Schülerinnen und Schüler teilweise schon in ihre zukünftigen Klassen. Beispielsweise in den Mathematik-, Sport- oder Kunstunterricht. Diese Vorkursangebote für Kinder von Flüchtlingen und unbegleitete minderjährige Flüchtlinge finden in der Nähe von Übergangswohneinrichtungen oder Einrichtungen der Jugendhilfe statt. Wenn Flüchtlingsfamilien aus Übergangswohneinrichtungen in entfernte Stadtteile in Wohnungen umziehen, ist dies gegebenenfalls mit einem Wechsel des Vorkurses für die Kinder von Flüchtlingen verbunden. Nach Möglichkeit wird aber ein weiterer Schulwechsel vermieden. Nach dem Vorkursbesuch wechseln die Schülerinnen und Schüler ganz in ihre Regelklassen. Ich bin der Überzeugung, dass der Integrationsprozess in das Schulsystem nur gelingen kann, wenn die Schüler das Vorkursangebot parallel zur Integration in das Regelsystem nutzen können.

Die Vermittlung der deutschen Sprache ist in den Lerngruppen eine Herausforderung, weil die Bildungshintergründe der Kinder und Jugendlichen sehr unterschiedlich sind: So reicht das Spektrum von der Notwendigkeit einer Grundalphabetisierung bis hin zu Jugendlichen, die vor ihrer Flucht kurz vor einer Hochschulzugangsberechtigung standen. Die Zuweisung in die jeweiligen Kurse erfolgt über mich, da ich über die tagesaktuellen Zahlen der Auslastung in den Vorkursen verfüge.

Mit den Kindern und Jugendlichen aus Flüchtlingsfamilien wird besonders sorgsam umgegangen. Die meisten Familien waren lange Zeit auf der Flucht und haben bis zu ihrem Ziel Deutschland mehrere Stationen von Lagern, Einrichtungen und Aufnahmestellen durchlaufen. Auch die Zeit in Übergangswohnheimen, Zelten oder Notunterkünften ist häufig unangenehm. Vor allem für Kinder. Sie kennen die Sprache nicht, die Menschen um sie herum sind fremd und es gibt keinen wirklichen Rückzugsort für sie. Die Schule kann in diesem Zusammenhang eine große Stütze sein. Der Vorkurs bietet einen sicheren, geschützten Raum, in dem die Kinder erst einmal ankommen können. Sie haben die Möglichkeit, durchzuatmen und sich langsam an alles Neue heranzutasten. Auch Lehrkräfte können im Rahmen der Vorkurse eine große Unterstützung sein.

82133_KJB_Abb_008.jpeg

In meiner Sprechstunde sitzen oft Kinder vor mir, die mich mit erwartungsvollen Augen anschauen. Meistens sprechen sie noch gar kein Wort Deutsch. Wenn ich diese Kinder dann Monate später in ihren Vorkursen besuche, kann ich es manchmal gar nicht glauben, wie gut sie schon deutsch sprechen und wie viele Kontakte sie bereits zu anderen Mitschülerinnen und Mitschülern geknüpft haben. Es zeigt mir noch einmal mehr, dass jeder seinen Beitrag für eine bessere Gesellschaft und Zukunft mit unterstützender Hilfe und Arbeit leisten kann. Mir wird außerdem bewusst, dass ich trotz aller Widrigkeiten in meiner Lebensbiografie auf kein Ereignis verzichten möchte.

All diese Ereignisse, Erfahrungen und Schicksalsschläge haben dazu beigetragen, dass ich mich ganz genau in die Gefühlswelt der Kinder, Jugendlichen und deren Familien hineinversetzen kann. Es führt dazu, dass ich mich mit neuen Ideen, Initiativen und Engagement für eine bessere Lebenssituation und mehr Chancen einsetzen kann. Vielleicht ist das alles passiert, damit ich heute den Lebensbiografien dieser Kinder eine positive Rolle spielen kann, wenn auch nur eine ganz kleine.

Nicht alle Kinder und Jugendlichen müssen zwangsläufig solch schlechte Erfahrungen machen wie ich damals. Wenn die richtigen Strukturen gegeben sind, erzielt man im besten Fall genau das Gegenteil: nämlich ein großes Gefühl der Sicherheit, Akzeptanz vonseiten der Klassenkameradinnen und Klassenkameraden sowie Verständnis und Unterstützung durch die Lehrkräfte. Zusätzlich gibt man diesen Kindern eine Chance: eine Chance, in Zukunft ihr Leben so zu gestalten, wie sie es selber möchten. Eine Chance, Bildung zu erfahren und nicht benachteiligt zu sein bzw. zu werden.

Für mich ist es ein sehr schönes Gefühl, zu wissen, dass meine Arbeit gezielt bei den Kindern und Jugendlichen ankommt. Wenn ich am Abend die Lichter in meinem Büro ausmache und erschöpft nach Hause gehe, stelle ich mir das Lächeln der Kinder vor, wenn sie von der Heimleitung erfahren, dass sie einen Schulplatz bekommen haben. Das hellt meine Laune immer sofort auf, und ich weiß, dass sich die harte Arbeit in jeder Hinsicht gelohnt hat.

82133_KJB_Abb_009.jpeg

Scharajeg,

27 Jahre, wurde als zweites Kind ihrer Eltern in Bayreuth geboren. Zu diesem Zeitpunkt lebten ihre Eltern als politische Flüchtlinge aus dem Iran in einem Asylheim. Heute arbeitet Scharajeg Ehsasian in der Bildungsbehörde Bremen und kümmert sich um die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen mit Migrations- und Fluchthintergrund.

Ankommen in Anderswo

Text von Christiane

Der Nachtzug bleibt in Aachen stehen. Es ist halb drei. Die Bundespolizei steigt zu, ruft, trampelt, macht Licht an. Um elf Uhr abends bin ich in Hamburg in den Zug gestiegen, zum Frühstück werde ich in Paris sein. Gleich sind wir aber erst mal in Belgien, dem Niemandsland zwischen Deutschland und Frankreich, dem Land zwischen meiner Mutter und meinem Vater, zwischen meiner Kindheit und meiner Jugend.

Sieben Jahre lang pendelte ich dreimal im Jahr zwischen Hamburg und unserem kleinen Dorf in der Normandie hin und her. Als ich neun war, hatte sich meine Mutter im Sommerurlaub in einen Franzosen verliebt. Er besuchte uns dreimal in Hamburg, und dann sagte meine Mutter einfach zu uns: »Wir ziehen nach Frankreich.« Mein Vater war entsetzt. Plötzlich wohnten wir weit weg von ihm, in Bellengreville. Ein typisch französisches Dorf in der Normandie. Hier war es so flach wie in Norddeutschland und es regnete genauso oft wie in Hamburg. Die Häuser standen aneinandergereiht links und rechts von der Landstraße. Es gab einen Bäcker, eine industrielle Töpferei und einen Schlachter.

Schon zweimal hatten wir unseren Urlaub in der Bretagne verbracht. Dort gab es Crêpes und Croissants zu essen und wir waren nackt in den Atlantik gesprungen. Ein großes Zeltlager war zwischen den Dünen aufgebaut und wir hatten die Freiheit genossen. Meine Mutter sang uns französische Volkslieder vor, und ich liebte das Meer und die Steilküste. Im Gegensatz zu meiner Schwester stellte ich mir das Leben in Frankreich schön und aufregend vor.

82133_KJB_Abb_010.jpeg