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Neues Handbuch
religionspädagogischer
Grundbegriffe

Herausgegeben von
Gottfried Bitter, Rudolf Englert,
Gabriele Miller und Karl Ernst Nipkow

Redaktion: Dominik Blum

Kösel

Copyright © 2002 Kösel-Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Kaselow Design, München
ISBN: 978-3-466-36598-2 (Gebundene Ausgabe)
ISBN: 978-3-466-36597-5 (Kartonierte Ausgabe)
ISBN: 978-3-641-10489-4 (E-Book)

www.koesel.de

Inhalt

Einleitung

I Grundlagen der Religionspädagogik


1 Religion, Glaube und Aufwachsen heute

Stefan Heil / Hans-Georg Ziebertz

2 Pädagogische Grundbegriffe – religionspädagogische Grundmuster

Karl Ernst Nipkow

3 Religiöse Bildung zwischen Subjekten und Strukturen

Norbert Mette

4 Die Bildungsverantwortung der Kirche in Staat und Gesellschaft

Reiner Preul

5 Geschichte der Religionspädagogik

Klaus Wegenast

6 Religionspädagogik – Begriff und wissenschaftstheoretische Grundlagen

Friedrich Schweitzer

7 Religionspädagogik im internationalen Vergleich

Ulrich Hemel

8 Ziele religionspädagogischen Handelns

Rudolf Englert

II Ausgangspunkte religionspädagogischen Handelns

1 Religiöse Phänomene

1.1 Zeichen – Riten – Symbolhandlungen

Michael Meyer-Blanck

1.2 Mythen und Märchen

Otto Betz

1.3 Literatur und Dichtung

Georg Langenhorst

1.4 Architektur und Kirchenraum

Roland Degen / Inge Hansen

1.5 Bildwerke

Günter Lange

1.6 Musik

Gottfried Bitter

2 Anthropologische Grundfragen und christliche Glaubenstraditionen

2.1 Religion – Religionskritik

Godwin Lämmermann

2.2 Gott – Gottesbilder

Werner H. Ritter

2.3 Evolution – Schöpfung

Guido Hunze

2.4 Leiden – Theodizee

Paul Petzel

2.5 Glück – Sinn – Heil

Gottfried Bitter

2.6 Gerechtigkeit – Frieden – Bewahrung der Schöpfung

Ulrich Becker

2.7 Liebe – Nächstenliebe – Gottesliebe

Gotthard Fuchs

2.8 Scheitern – Schuld – Vergebung

Reinhold Mokrosch

2.9 Jesus von Nazaret – Jesus Christus

Ingo Baldermann

2.10 Leistung – Gnade – Rechtfertigung

Christoph Bizer

2.11 Tod – Auferstehung

Franz-Josef Nocke

2.12 Hoffnung – Utopien – Reich Gottes

Henning Schröer

2.13 Gemeinschaft – Glaubensgemeinschaft / Kirche

Monika Scheidler

3 Gesellschaftliche Lebenswelten

3.1 Gesellschaft und Religion

Karl Gabriel

3.2 Sehnsucht und Sehnsüchte

Wilhelm Gräb

3.3 Interkulturalität

Peter Schreiner

3.4 Neue religiöse Bewegungen

Hanspeter Heinz

3.5 Arbeitswelt – Geld – Konsum

Thomas Ruster

3.6 Armut – Marginalisierung – Entfremdung

Ottmar Fuchs

3.7 Naturwissenschaft / Technik

Hans-Ferdinand Angel

3.8 Neue Medien – Virtualität – Wirklichkeitsverständnis

Klaus Müller

3.9 Kirche als Lebensraum und Institution

Jürgen Werbick / Reiner Preul

4 Lebensgeschichte

4.1 Lebensgeschichte(n) – Glaubensgeschichte(n)

Lothar Kuld

4.2 Religiöse Sozialisation

Ulrich Schwab

4.3 Konversion / Bekehrung

Hubert Knoblauch

4.4 Entwicklung und Identität

Friedrich Schweitzer

4.5 Religion in der Kindheit

Anton A. Bucher

4.6 Jugendliche und Religion

Ulrike Baumann

4.7 Gestalten erwachsener Religiosität

Walter Fürst / Andreas Wittrahm

4.8 Religiosität im Alter

Martina Blasberg-Kuhnke

III Dimensionen und Schwerpunkte religiösen Lernens

1 Überlieferung und Geschichte

1.1 Arbeit mit der Bibel / Bibeldidaktik

Horst Klaus Berg

1.2 Lernprozess Juden – Christen

Helga Kohler-Spiegel

1.3 Lernen aus der Geschichte des Christentums / Kirchengeschichtsdidaktik

Klaus König

2 Wahrnehmung und Handeln

2.1 Sprache / religiöse Sprache

Franz W. Niehl

2.2 Ästhetische Bildung

Gottfried Bitter

2.3 Ethisches und soziales Lernen

Gottfried Adam

2.4 Befreiungstheologisch orientiertes Lernen und politische Bildung

Josef Senft

2.5 Feministisch orientiertes Lernen

Silvia Habringer-Hagleitner

3 Gottesdienst und Glaubensreflexion

3.1 Spirituelle Bildung – Gebet – Meditation

Christian Grethlein

3.2 Liturgische Bildung

Dominik Blum

3.3 Theologische Bildung / Katechismusunterricht

Wolfgang Lentzen-Deis / Gabriele Miller

3.4 Ökumenisches Lernen / Lernen im Horizont der Einen Welt

Ralf Koerrenz

4 Pluralismus und Individualisierung

4.1 Pluralität und Pluralismus

Stefan Heil / Hans-Georg Ziebertz

4.2 Individualisierte Religiosität

Burkard Porzelt

4.3 Atheismus – Agnostizismus – Indifferentismus

Eberhard Tiefensee

4.4 Interreligiöses Lernen I: Islam

Johannes Lähnemann

4.5 Interreligiöses Lernen II: Hinduismus und Buddhismus

Hermann-Josef Frisch

IV Räume religiösen Lernens

1 Lernort Familie und Elementarbereich

1.1 Religiöse Erziehung in der Familie

Stephanie Klein

1.2 Kindergarten und Kindertagesstätte

Frieder Harz

2 Lernort Gemeinde

2.1 Katechese in der Gemeinde

Bernd Lutz

2.2 Familienkatechese

Herbert Bendel / Albert Biesinger

2.3 Sakramentenkatechese

Karl Heinz Schmitt

2.4 Erwachsenenkatechese / Katechumenat

Franz-Peter Tebartz-van Elst

2.5 Gemeindepädagogik

Karl Foitzik

2.6 Kindergottesdienst

Ulrich Walter

2.7 Christenlehre

Dieter Reiher

2.8 Konfirmandenarbeit

Volker Elsenbast

2.9 Gemeindebildungsarbeit

Jens Martin Sautter

2.10 Kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Elsbe Goßmann

3 Lernort Schule

3.1 Schule – Schulentwicklung – Schulkultur

Christoph Th. Scheilke

3.2 Schulen in kirchlicher Trägerschaft

Martin Schreiner / Wilhelm Wittenbruch

3.3 Schulseelsorge

Harmjan Dam

3.4 Religionsunterricht in staatlichen Schulen

Werner Simon

3.5 Grundschulreligionsunterricht

Dietlind Fischer

3.6 Religionsunterricht in der Sekundarstufe I

Matthias Hahn

3.7 Religionsunterricht in der Sekundarstufe II (Gymnasium)

Frauke Büchner

3.8 Religionsunterricht in der Sekundarstufe II (Berufsschule)

Gerd Birk

3.9 Sonderschulreligionsunterricht

Stephan Leimgruber

3.10 Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht

Reinhold Boschki / Claudia Schlenker

3.11 Alternative Organisationsformen (LER, Multi-faith Approach)

Raimund Hoenen / Werner Haußmann

3.12 Philosophie- / Ethikunterricht und Religionsunterricht

Barbara Brüning / Gisela Raupach-Strey

3.13 Religionslehrerinnen und Religionslehrer

Bernhard Dressler / Andreas Feige

4 Lernort Gesellschaft

4.1 Gesellschaftliche und ›religiöse‹ Milieus / Lernumwelten

Karl Gabriel

4.2 Basisgemeindliche Gruppen / Religiöse Bewegungen / Initiativen / Netzwerke

Michael Raske

4.3 Kirchliche Jugendarbeit

Werner Tzscheetzsch

4.4 Erwachsenenbildung

Rudolf Englert

4.5 Theologiestudium / Hochschulgemeinde

Ralph Güth

4.6 Religionspädagogische Fortbildung / Fernstudien

Dietlind Fischer

V Wege religiösen Lernens

1 Grundfragen der Religionsdidaktik

1.1 Lehr- und Lernbarkeit des Glaubens

Rainer Lachmann

1.2 Religionsdidaktische Konzeptionen

Peter Biehl

1.3 Korrelation von Glaube und Leben

Georg Baudler

1.4 Elementarisierung

Karl Ernst Nipkow

1.5 Symboldidaktik

Hubertus Halbfas

1.6 Geschlechtsspezifische religiöse Sozialisation

Sybille Becker

1.7 Richtlinien und Lehrpläne

Hans-Willi Winden

1.8 Lernerfolgskontrolle und Leistungsmessung

Bernhard Jendorff

2 Religionsmethodik

2.1 Gesprächsformen

Gabriele Faust-Siehl

2.2 Differenzierung und Sozialformen

Helmut Hanisch

2.3 Erzählen

Siegfried Zimmer

2.4 Umgang mit Texten

Franz W. Niehl

2.5 Umgang mit Bildern

Peter Orth

2.6 Umgang mit Lied und Musik

Ilse Kögler

2.7 Umgang mit Filmen

Thomas Kroll

2.8 Kreatives Gestalten

Klaus Petzold

2.9 Anspiel – Rollenspiel – Bibliodrama

Heiner Aldebert

2.10 Themenzentrierte Interaktion

Matthias Scharer

2.11 Handlungsorientiertes Lernen und Projektarbeit

Wolfgang Konukiewitz / Hilbert Meyer

2.12 Freiarbeit

Horst Klaus Berg

2.13 Stilleübungen

Eva-Maria Bauer

3 Unterrichtsmedien

3.1 Kinderbibeln

Christine Reents

3.2 Schulbibeln

Christoph Dohmen-Funke / Markus Hartenstein

3.3 Religionsbücher

Gabriele Miller / Jörg Thierfelder

3.4 Kinder- und Jugendbücher

Gabriele Cramer

3.5 Audiovisuelle Medien

Hans Mendl

3.6 Computer und Internet im Religionsunterricht

Hans-Ferdinand Angel

Abkürzungsverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Einleitung

Das erste »Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe« (1986) hat sich über fast zwei Jahrzehnte als ein Longseller erwiesen: aus den Impulsen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) und der Würzburger Synode (1971–1975) entwickelt, in der Planungsphase noch mitgeprägt von Adolf Exeler († 1983), herausgefordert von Veränderungsschüben im Selbstverständnis von Familie und Schule, von Einzelchrist und Gemeinde, von Sozial- und Kulturwissenschaften und endlich vom Wandel der öffentlichen und privaten Umgangsformen mit Religion. Die damals ausdrücklich angezielte zeitgenössische Kontextualität hat ihren Preis: Viele Kontexte haben sich in knapp zwanzig Jahren verändert, darum ist es Zeit für eine Neukonzeption. – Hier nun einige Leitvorstellungen:

Ein Handbuch gesicherter Ergebnisse und tastender Versuche

Das »Neue Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe« erscheint in einer weitgefächerten kulturellen Umbauphase, in ihr treffen bewährte Wege und neue epochale Herausforderungen aufeinander. Einerseits kann das Handbuch gesicherte Erkenntnisse zusammentragen: In großer Breite werden theologisches und pädagogisches Denken miteinander verbunden; die Konsolidierung der Disziplin als Wissenschaft setzt sich fort. Andererseits stoßen Theorie und Praxis auf neue epochale Herausforderungen; zu ihnen zählt die religionspädagogische Arbeit unter den Bedingungen radikaler Diaspora und vor allem eines gesteigerten Pluralismus.

Als Handbuch versteht sich der Neuentwurf, weil er das Vielstimmige und Vielgestaltige religionspädagogischer Praxis und Theorie in ein offenes Rahmenkonzept stellt; und als Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe, weil er auf Plausibilität und Praktikabilität ausgelegt ist und darum die in der Religionspädagogik wichtigen Gegenstände vorführt: unter »Begriffen« im weiteren Sinn werden hier auch charakteristische Themen und Sachverhalte, Konzepte und Perspektiven gezählt. So will das Neue Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe, das ist sein ausdrückliches Ziel, Studierenden wie Praktikern als ein umfassendes, aktuelles, in gleicher Weise hermeneutisches wie pragmatisch orientiertes Nachschlagewerk (wortwörtlich!) »zur Hand gehen«.

Ein Handbuch, das sich dem Bestimmen und Durchleuchten von religionspädagogischen Grundbegriffen widmet, setzt voraus, dass sich die Religionspädagogik in ihrem Selbstverständnis als eigenständiges Wissenschaftsfeld mit einem eigenen Methodenregister ausweisen kann. – Christliches Leben und Glauben hat seit seinen Anfängen mit Lernen und Lehren, mit Unterricht und Erziehung, mit kulturell-religiöser Überlieferung und Bildung zu tun, denn das Bemühen, den Geist des Evangeliums in alle Generationen zu tragen, ist eine notwendige Lebensäußerung der Gemeinden und Kirchen. Nur so pflanzt sich christliches Leben und Glauben in der Zeit fort. Seit Reformation und katholischer Reform ist den Kirchen die Bedeutung christlicher Erziehung und Bildung neu bewusst geworden. Aber erst im 18. Jh. – abgesehen vom theologisch motivierten Bildungsdenken des Johann Amos Comenius im 17. Jh. – wird dieses Leben- und Glauben-Lernen in theoretische Überlegungen einbezogen; gewiss nicht zufällig präsentiert sich in jenen Jahrzehnten die Pädagogik erstmals ausdrücklich als selbstständige philosophische Disziplin.

Als Praxistheorie der religiösen Erziehung und Bildung formt sich nun Schritt für Schritt jenes Ensemble von spezifischen Fragestellungen heraus, das seit dem Anfang des 20. Jh. ausdrücklich (von evangelischen und katholischen Autoren) »Religionspädagogik« genannt wird; der bis dahin gängige Begriff »Katechetik« tritt mehr und mehr in den Hintergrund.

Religionspädagogik befasst sich mit der wissenschaftlichen Reflexion und Orientierung religiöser Lernprozesse. Die Wortverbindung »Religion« und »Pädagogik« hat insofern eine programmatische Qualität, als sie die immer gebotene Verbindung von Religion und Bildung, von christlicher Theologie und erziehungswissenschaftlicher Reflexion verspricht; wissenschaftspraktisch ist die Religionspädagogik in den Rahmen der theologischen Disziplinen, näherhin als Teildisziplin in die Praktische Theologie eingeordnet, die im engen interdisziplinären Austausch mit den benachbarten Sozialwissenschaften (Soziologie, Psychologie, Philosophie, Erziehungs- und Kommunikationswissenschaft) steht.

Ein Handbuch ökumenisch geprägter Religionspädagogik

Seit vielen Jahren ist eine selbstverständliche Ökumene zwischen der evangelischen und katholischen Religionspädagogik und auch in der Praktischen Theologie insgesamt herangewachsen. Dementsprechend ist das Neue Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe durchgehend ökumenisch angelegt: im Selbstverständnis der Religionspädagogik und in der Bearbeitung der Grundbegriffe wie in der Zusammensetzung der Autoren- und der Herausgeberschaft. Das gemeinsame Profil stärken, die je besonderen konfessionellen Akzente nachzeichnen, für andere Konfessionen und Religionsgemeinschaften offen sein, dies zusammen bestimmt den Gesamtduktus der Neuedition.

Ein Handbuch auf christlich-theologischer Grundlage meint eine Theologie, die – unbeschadet ihrer eigenen wissenschaftlichen Eigenständigkeit – im lebendigen Gespräch mit der Kirche fragt und prüft, entwirft und plant; eine ihrer Grundaufgaben ist die Verantwortung für die Erziehungs- und Bildungsprozesse in den Kirchen. Evangelische und katholische Religionspädagogik haben hier teil an der Bildungsverantwortung der Kirchen. Diese Formel ist geeignet, die verschiedenen Formen des pädagogischen Handelns der Kirchen im innerkirchlichen Bereich (z.B. als Katechese oder Gemeindepädagogik, als begleitende Schulpastoral, als kirchliche Jugendarbeit und Erwachsenenbildung) wie im öffentlichen Bildungssystem (z.B. schulischer Religionsunterricht, Schulen in kirchlicher Trägerschaft, theologische Fakultäten) sozialwissenschaftlich und theologisch zu bündeln, denn trotz aller Unterschiede der Lernräume und Lernsituationen muss ihr innerer Zusammenhang im Blick bleiben.

Die Alternative zu einem solchen Ansatz wäre ein Handbuch auf religionswissenschaftlicher Basis. Ihm entspräche in der Schule eine Religionskunde im Zeichen einer religionswissenschaftlichen Didaktik. Religionswissenschaftliche Kenntnisse sind zwar schon heute und in Zukunft verstärkt zu berücksichtigen; sie werden aber für sich genommen dem Ernst des Pluralismus nicht gerecht. In einem Glaubensdialog (»Glaube begegnet Glauben«) und analog im »interkonfessionellen« und »interreligiösen« Lernen (Lernen »zwischen« verschiedenen konfessionellen und religiösen Traditionen und Überzeugungen!) begegnen sich Menschen letztlich im Zeichen der Wahrheitsfrage. Ebenso wünschen junge Leute, dass es wahrhaftig und mit offen gelegten Positionen zugeht. Die vergleichende Religionswissenschaft und ihre Unterdisziplinen (Religionsphänomenologie, Religionsgeschichte etc.) sprechen über die Religionen und klammern die Wahrheitsfrage aus.

Das Neue Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe vertritt ein Verständnis von Bildung, das mit einem Ausklammern der Wahrheitsfrage schwer verträglich ist. Dieses Verständnis stützt sich auf ein theologisches und ein pädagogisches Argument. Der Sache, für die eine Religionsgemeinschaft einsteht, ist es angemessen, dass sie von dieser Religionsgemeinschaft authentisch selbst interpretiert und im Unterricht dargestellt wird. Den Kindern und Jugendlichen gegenüber ist es pädagogisch angemessen, dass die Heranwachsenden die evangelische und die katholische, die jüdische und die muslimische Glaubens- und Lebenssicht jeweils in eigenständigen Fächern aus erster Hand kennen lernen. Lehrende und Lernende können dann ein Gespräch führen, das das Zeugnis (Bekenntnis) einschließt, während ein staatliches religionskundliches Pflichtfach »bekenntnisfrei« zu sein hat.

Gleichzeitig kann ein kooperatives Unterrichten die Schülerinnen und Schüler zu bildenden Begegnungen konkret zusammenführen; es muss nicht bei der Anbahnung des Verständnisses für die anderen – aufgrund des ökumenischen Geistes des eigenen Religionsunterrichts – stehen bleiben. Identität und Verständigung, Beheimatung und Begegnung fördernde Prozesse religiöser Bildung sollten und können sich so miteinander verschränken. Entwicklungsoffene Weite und spirituelle Vertiefung sind wie für die Schule so auch für Gemeindebildungsangebote und kirchliche Erwachsenenbildung die der Zukunft gemäße leitende Perspektive.

Das Handbuch verbindet die fundierende theologische Verantwortung mit der ebenso konstitutiven pädagogischen Anwaltschaft für die Kinder und Jugendlichen; es will pädagogisch für sie einstehen, sonst ist der Begriff Religionspädagogik ein falsches Etikett. Es nimmt die seit den 1980er-Jahren stärker in den Blick gekommene Perspektive einer subjektorientierten Arbeit auf. Es ist ihm ein Anliegen, aus der Sicht konkreter Kinder, Jugendlicher und Erwachsener heraus zu verstehen, welche Bereicherung diese durch die jüdisch-christliche Tradition erfahren, in welcher Art Anverwandlung sie auf diese Tradition reagieren, aber auch welche Schwierigkeiten sie mit ihr haben bzw. warum diese Tradition sie vielleicht ganz gleichgültig lässt. Damit versteht es religiöses Lernen nicht mehr als einen normativen Prägevorgang, sondern, im Sinne des dynamischen Prinzips der Korrelation, als ein dialogisches und ergebnisoffenes Gespräch zwischen dem Glauben der Juden und Christen einerseits und den Erfahrungen und Lebensperspektiven der Menschen heute andererseits.

Ein Handbuch der Reflexion und Orientierung über religiöse Lernprozesse

In seiner weitgefächerten Anlage will das Handbuch der Praxis religiöser, christlicher Erziehungs- und Bildungsverantwortung in allen Bereichen religionspädagogischen Handelns und den unterschiedlichen Räumen religiösen Lernens dienen: in Familie und Kindertagesstätte, in der Gemeindepädagogik und Gemeindekatechese, im schulischen Religionsunterricht und in der kirchlichen Jugendarbeit, in der religiösen Erwachsenenbildung und in der Aus- und Fortbildung. Diese weitwinklige Perspektive kann nicht spezielle Handbücher ersetzen, wie sie zu einzelnen Tätigkeitsfeldern vorliegen (z.B. zur Didaktik und Methodik des schulischen Religionsunterrichts oder zur Konfirmandenarbeit); aber in seiner Eigengestalt halten wir das Handbuch für unersetzlich, weil es die Vielfalt religionspädagogischer Handlungsfelder im Überblick und im Verweisungszusammenhang integrierend vor Augen stellt und für eine Religion klärende, vermittelnde und begleitende Praxistheorie aufschließt.

Die fünfteilige Gliederung des Neuen Handbuchs religionspädagogischer Grundbegriffe und die Reihenfolge der Hauptteile bedeuten nicht, dass eine Benutzerin, ein Benutzer sich von vorne nach hinten durcharbeiten muss, dies widerspricht dem Charakter des Handbuchs. Gleichwohl ist der Aufbau nicht zufällig: eine religionspädagogische Logik bestimmt die Abfolge der Hauptteile und ihrer Untergliederungen:

(1) Teil I entfaltet Grundlagen der Religionspädagogik, die für alle Arbeitsfelder übergreifend grundsätzliche Orientierungen, Zuordnungen und Einordnungen ermöglichen. Sie wollen zeigen, worauf das eigene Tun fußt, welche Ziele in den Blick kommen, welche Spannungen auszugleichen sind und wo persönliche Entscheidungen getroffen werden müssen.

(2) »Aufmerksam wahrnehmen!« – Das Handbuch will im Teil II über Ausgangspunkte religionspädagogischen Handelns dazu verhelfen, auf die Menschen heute zu schauen und die Sachverhalte wahrzunehmen, ehe man vielleicht zu flink gängigen Mustern und Routinen folgt. Es gilt, die sich heute immer stärker pluralisierenden Voraussetzungen zu erkennen und ihre religionspädagogischen Herausforderungen zu bedenken:

die unmittelbar religiösen und die mittelbar religiös bedeutsamen Phänomene in der Kultur in Geschichte und Gegenwart (II.1),

die Erfahrungen des christlichen Glaubens und ihre Ausdrucksformen, gebündelt in theologischen Topoi bzw. Themen (II.2),

die Rolle von Religion inmitten herausfordernder neuer gesellschaftlicher Kontexte (II.3),

Religion im Lebenslauf, das Wechselverhältnis von Lebens- und Glaubensgeschichte in den Stadien des Lebens (II.4).

Mit dieser breiten Einführung stellt das Handbuch das Panorama religionspädagogischen Denkens und Handelns vor.

(3) Um die Fülle zu ordnen, konzentriert sich Teil III auf Dimensionen und Schwerpunkte religiösen Lernens. Diese Dimensionen und Schwerpunkte ergeben sich unter verschiedenen Gesichtswinkeln:

Sie zeigen sich geschichtlich als der Weg der geglaubten Offenbarungsgeschichte Gottes und der erzählten Erfahrungsgeschichte des Glaubens Israels und der Christen mit ihrem Niederschlag in der biblischen Überlieferung sowie in der Kirchen- und Christentumsgeschichte.

Sie werden sichtbar im Blick auf die politische, soziale, ethische, ästhetische und sprachliche Dimension menschlicher Existenz. Ferner erwachsen religionspädagogische Aufgaben in besonderen religiösen Situationen und Vollzügen (z.B. Liturgie, Spiritualität, Gebet) sowie aus neuen theologischen Aufbrüchen (z.B. Befreiungstheologie, Feministische Theologie) und

insbesondere im weltanschaulich-religiösen Pluralismus, in christlich-ökumenischen, in interreligiösen (Islam, fernöstliche Religionen) und in weltanschaulichen Kontexten (Humanismus, Liberalismus, Spätmoderne, Atheismus, Indifferentismus).

(4) Teil IV zu Räumen religiösen Lernens enthält als einziger an einigen Stellen Parallelbearbeitungen je nach den vorhandenen katholischen und evangelischen Institutionen im Feld von Gemeindekatechese (kath.) bzw. Gemeindepädagogik (ev.), denn hier werden die einzelnen Lernorte mit ihren räumlichen, atmosphärischen Vorgegebenheiten vorgestellt.

(5) Der Teil V endlich – überschrieben mit Wege religiösen Lernens – schreitet den weiten Kreis grundsätzlicher didaktischer Fragen und konkreter methodischer Formen ab. Hier tut sich der Reichtum der praktischen Möglichkeiten auf, in schulischer Hinsicht mit zahlreichen Überschneidungen zur allgemeinen Schul- und Unterrichtsarbeit und in Gemeindepraxis.

Ab Kapitel zwei bietet das Handbuch Mind-Maps an, die die Themenfelder grafisch strukturieren helfen und durch die von ihnen kenntlich gemachten Bezüge zwischen den einzelnen Artikeln zum Weiterlesen und zum Weiterdenken animieren wollen. Der Komplexität von Religion in Kultur und Gesellschaft stellt dieses Handbuch nicht eine vorgespiegelte Eindeutigkeit im konkreten religionsunterrichtlichen und katechetischen Alltag entgegen, wohl aber Klarheit in argumentativ entwickelten sozialwissenschaftlichen und theologischen Überlegungen. Die Vielfalt der Voraussetzungen wird nicht durch ein Rezeptdenken beantwortet, sondern durch die zu stärkende Selbstständigkeit derjenigen, die in der Praxis eine unvertretbare Verantwortung wahrzunehmen haben.

Ein Handbuch, das fragen und prüfen, antworten und einladen will

Das Neue Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe ist ausdrücklich auf die religionspädagogisch Handelnden ausgelegt; dementsprechend werden der Benutzerin und dem Leser Ansichten vorgestellt, die ihre jeweiligen Perspektiven nicht verstecken, sondern gerade mit ihrem persönlichen Profil zum aufmerksamen Mitdenken und Mitplanen einladen. Denn das Handbuch will die unsere Jahre markierenden Vieldeutigkeiten nicht in schlichte Lösungen pressen, vielmehr zu einer elementaren sozialwissenschaftlichen und theologischen Erörterung hinführen, die zum Unterrichten und Erziehen, Fördern und Begleiten religiöser Mündigkeit lockt. Das Handbuch will diesem Ziel in doppelter Weise dienen: Indem die Artikel die Fachkompetenz zur Phänomen-, Problem- und Sachanalyse bei den Lehrenden zu fördern versuchen – durch Beiträge, die nicht überreden, sondern klären und abwägen –, kann dieser das eigene Urteil freisetzende Stil in der religionspädagogischen Praxis analog auch den Lernpartnern (Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen) zugute kommen. Die Weite des Phänomenansatzes und das eben angedeutete Verständnis christlich inspirierender Bildungsverantwortung fügen sich organisch zusammen (und wehren einen platten religionspädagogischen Naturalismus genauso ab wie kerygmatistische Neigungen).

Die Herausgeber waren ehrgeizig genug, für jeden Beitrag jeweils kompetente Autorinnen und Autoren zu gewinnen (das ist uns wohl gelungen). Da aber weder ein wissenschaftstheoretisches Konzept noch gar eine religionspädagogische Denkrichtung vorgegeben wurde, ist eine unüberhörbare Vielstimmigkeit zusammengekommen – einzig in Form gebracht durch die äußeren Gliederungselemente. Auch etwas ungewöhnliche, vielleicht sogar schrille Stimmen werden nicht geglättet, denn wir Herausgeber rechnen mit der Lust der Leserinnen und Leser, zwar auch altbewährte, aber vor allem junge, frische Stimmen hören zu wollen (ein Handbuch ist ja kein wohltemperiertes Lehrbuch).

Nun ist es an der Zeit, den Autorinnen und Autoren aufrichtig Dank zu sagen, denn wir sind nicht nur ihrer erwarteten Fachkompetenz begegnet, sondern auch ihrem großzügigen Entgegenkommen: bei (notwendigen) Kürzungsvorschlägen, beim Drängen auf termingerechte Abgabe der Manuskripte wie zugleich auch beim Aushalten der langwierigen Entstehungsprozesse. Einen ganz ausdrücklichen Dank schulden die Herausgeber Dominik Blum, der als Redakteur alle logistischen Fragen erkannt, geklärt und gelöst hat, und zwar im Umgang mit etwa hundertzwanzig Autorinnen und Autoren; er begleitete die langen Wege von der Idee bis zum fertigen Manuskript; dass dabei auch seine ganz eigenen Stücke mit eingingen, versteht sich von selbst. Bei diesen schriftleiterischen Arbeiten standen ihm hilfreich zur Seite Sabine Bohrmann, Kerstin Usadel und Florian Müller, angeführt von Stefan Altmeyer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Religionspädagogischen Seminar Bonn; wir danken ihnen für die aktive Präsenz über zwei Jahre hin und mehr. Gleich bei den ersten Planungsgesprächen stand uns hilfreich Winfried Nonhoff als Lektor im Kösel-Verlag zur Seite; für die aktive Mitarbeit bei der Endredaktion haben wir Margarete Stenger kräftig zu danken.

Endlich wünschen wir uns für das Neue Handbuch neugierige Benutzerinnen und Benutzer, die sich rasch für eine geplante Unterrichtseinheit oder ein anstehendes Prüfungsgespräch kundig machen wollen. Außerdem wünschen wir uns aufmerksame Leserinnen und Leser, die über die dringliche Kurzinformation hinaus Lust und Zeit zum Weiterlesen, zum suchenden und zum entdeckenden Lesen mitbringen, vielleicht sogar der angegebenen Literatur in pragmatischem und hermeneutischem Interesse nachgehen, denn wir verstehen dieses neue Handbuch als religionspädagogischen Treffpunkt und als Ausgangspunkt beim Entdecken von Religion als Erinnerung und Versprechen.

Gottfried Bitter, Rudolf Englert, Gabriele Miller, KARL ERNST NIPKOW

I. Grundlagen der Religionspädagogik

Die Religionspädagogik hat es mit der Reflexion und Gestaltung religiöser Erziehung und Bildung zu tun. Das ist eine facettenreiche Aufgabe. Doch worum es im Einzelnen dabei auch immer geht – es gibt grundlegende Fragen, die durchgängig zu bedenken sind: Wie sind die Voraussetzungen zu beurteilen, unter denen die religionspädagogische Arbeit heute zu geschehen hat (Gegenwartsbewusstsein!, vgl. I.1), wie die Spannungen, die dabei zu bewältigen sind (etwa zwischen Subjekt und Strukturen: vgl. I.3, zwischen Kirche und Gesellschaft: vgl. I.4), wie die möglichen Zielperspektiven, an denen sich diese Arbeit orientieren kann (vgl. I.8)?

Für den sach- und situationsgerechten Umgang mit diesen Fragen kann die Religionspädagogik freilich auch auf grundlegende Ressourcen zurückgreifen: auf die Geschichte, die sie im Rücken hat (Wissenschaftsgeschichte, vgl. I.5), auf die fachliche Begrifflichkeit und das methodische Instrumentarium, mittels derer sich die einschlägigen Problemlagen »abbilden« und analysieren lassen (vgl. I.2/I.6), auf die Modelle, mit denen man jenseits des nationalen Tellerrandes gute Erfahrungen gemacht hat (vgl. I.7).

I.1
Religion, Glaube und Aufwachsen heute

I.3 Religiöse Bildung zwischen Subjekten und Strukturen

II.2.1 Religion – Religionskritik

II.3.1 Gesellschaft und Religion

II.4.1 Lebensgeschichte(n) – Glaubensgeschichte(n)

II.4.2 Religiöse Sozialisation

III.4.1 Pluralität und Pluralismus

III.4.2 Individualisierte Religiosität

1 Vom Lamento zur Herausforderung

Es besteht kein Zweifel: Aufwachsen heute ist nicht zwingend ein Aufwachsen mit Religion, schon gar nicht mit Glaube. Wenn wir einen kirchlich geprägten Begriff von Religion und Glaube zu Grunde legen, müssen wir eingestehen: Es geht ohne! Die Bedeutung, die dem Christentum als Religion und den Kirchen als institutionellen Religionsträgern im Gemeinwesen insgesamt zugemessen wird, ist schwächer geworden. Religionspädagogische Konzepte, die ihre Wünsche für die Gegenwart und Zukunft aus der Vergangenheit ableiten, sind nicht mehr tragfähig. So, wie ehemals Heranwachsende religiös erzogen werden konnten, ist es heute nicht mehr möglich. So, wie vormals ein persönliches religiöses Bekenntnis und eine öffentliche Religionsausübung kulturell und sozial abgestützt wurden, ist es heute nicht mehr denkbar.

Das Lamento hilft jedoch nicht weiter, denn es erschließt kaum neue Handlungsmöglichkeiten für Gegenwart und Zukunft (vgl. Ziebertz 2001a). Für die jüngere Generation gibt es keinen normativen Fixpunkt, von dem aus bewertet werden könnte, was sich verbessert oder verschlechtert hat. Die Beantwortung der Frage, wie christliche Religiosität heute und in Zukunft gelebt werden kann, ist religionspädagogisch nicht hinreichend aus der Vergangenheit ableitbar. Es gilt, in unserer Zeit neue Wege zu finden, die religiöse Dimension des menschlichen Lebens kommunikativ zu verflüssigen und christliche Sprachangebote zu erschließen. Die zweitausendjährige Geschichte des Christentums gibt selbst das Beispiel, wie immer wieder neu versucht worden ist, die Möglichkeiten christlicher Existenz für den Einzelnen und das Zusammenleben auszuloten.

Die Voraussetzungen, in dieser Zeit mit Religion und Glaube aufzuwachsen, sind weder eindeutig günstig noch schwierig oder gar ausweglos. Sie betreffen die Beziehung zwischen gesamtgesellschaftlichen (globalen) Entwicklungen (2), den Institutionen (3) und den Einzelnen (4). Vor diesem Hintergrund können einige allgemeine Aufgaben für die religionspädagogische Begleitung des »Aufwachsens mit Religion und Glaube heute« genannt werden (5).

2 Bedeutungsverlust ideologischer Großsysteme

Am Beginn des dritten Jahrtausends ist die Krise ideologischer Systeme unübersehbar. Das augenfälligste Beispiel ist der Zusammenbruch des Kommunismus. Aber auch andere Weltbilder wurden erschüttert. Vertreter der Postmoderne (J.F. Lyotard) weisen auf die Versprechen der Aufklärung, des Idealismus und des Historismus hin, ein uniformierendes Prinzip zur Geltung bringen zu wollen: die umfassende Emanzipation der Menschheit, der ziel- und vernunftgesteuerte Aufbau der Weltgesellschaft und die Sinnfindung durch die Interpretation des Geschichtlichen. Solche Gedankensysteme repräsentierten Leitideen, die Wissen und Handeln gesteuert und Einheit zustande gebracht haben. In der postmodernen Gesellschaft müsse jedoch jeder Versuch scheitern, innerhalb der Vielfalt uniformierende Prinzipien zur Geltung zu bringen (vgl. Türk 1990). Auch wenn diese Zeitdiagnose nicht ohne weiteres verworfen werden kann, zeigt sich die Wirksamkeit von Ideologien auf andere Weise. Sie haben sich multipliziert, ihre Formen und Inhalte erscheinen differenzierter und ihre Reichweite ist zeitlich begrenzter. Niklas Luhmann spricht von selektiver Spezialisierung bzw. funktionaler Differenzierung. »Leitende Ideen« sind nicht verloren gegangen, aber sie haben ihren monolithischen Charakter eingebüßt und ihre Wirkung ist oftmals subtiler. Zudem gibt es neue Ideologien, die erst im Kontext zunehmender Technisierung und Kommerzialisierung entstehen konnten und verstärkt über die (neuen) Medien transportiert werden. Sie lösen alte ab oder vermischen sich mit ihnen.

Das Christentum ist, wie andere Groß-Religionen auch, von diesen Veränderungen betroffen. Der Selbstanspruch der christlichen Religion zielt auf die Bereitstellung von Parametern für ein einheitliches Weltbild, gesellschaftlich wird ihr diese Funktion aber nicht mehr zugewiesen. Sie hat vor allem in den vom Christentum geprägten westlichen Ländern an normierender Kraft für das öffentliche und private Leben eingebüßt. Religion ist selbst zu einem gesellschaftlichen Teilbereich geworden, der mit anderen Weltbild-Produzenten um Anerkennung konkurriert. Um erfolgreich sein zu können, wird sich das Christentum auf die ausdifferenzierte Moderne einlassen und seine veränderte Rolle annehmen müssen.

3 Wandel der Institutionen und Organisationen

Der Bedeutungsverlust ideologischer Großsysteme hat weitreichende Folgen für Institutionen und Organisationen als Träger und Verbreiter von Weltanschauungen. Es ist unübersehbar, dass Parteien, Gewerkschaften, Verbände und Kirchen Mitglieder und Einfluss verlieren. Im Vordergrund steht weniger ihr substanzieller, sondern mehr ihr funktionaler Beitrag zum Wohl des Einzelnen und zur Gestaltung des Gemeinwesens. Institutionen und Organisationen werden funktionsspezifisch aufgesucht, verbunden mit einer gesteigerten Erwartung an Leistung und Professionalität.

Die Kirchen spüren diese Entwicklung (vgl. Nüchtern 1997). Die Leistungserwartung an die Kirchen ist etwa im Bereich des Religionsunterrichts, der Begleitung an den existenziellen Wendemarken des Lebens (Übergangsriten) oder der Diakonie und Caritas ungebrochen. Andere kirchliche Vollzüge verzeichnen niedrigere Akzeptanz. Obwohl Formen der Selbsttranszendierung oder das Handeln mit Symbolen gesellschaftlich durchaus Konjunktur haben, profitieren die Kirchen nur unwesentlich davon. Sie werden daher ihre Angebote professionalisieren und sich an Leistungskriterien und qualitativen Standards messen lassen müssen. Das »Service-Prinzip« ist allerdings nicht gleichbedeutend mit einer Unterwerfung unter Marktmechanismen. Es schließt Kritik und Protest durchaus ein, wenn diese helfen die Welt in der Perspektive des Evangeliums neu zu sehen. Als Plattform insgesamt braucht es jedoch eine modernitätsbejahende Grundeinstellung.

Den Kirchen stehen zur Gestaltung ihres Verhältnisses zur kulturell-gesellschaftlichen Umwelt idealtypisch fünf unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten offen: Absonderung, Anpassung, Ausdehnung, Sektionierung oder kritischer Dialog. Will Kirche plurale Gesellschaft mitgestalten, kommen nur die beiden letzten Typen infrage. Sektionierung bedeutet, dass die Kirche ihre Rolle als Teilsystem neben anderen Teilsystemen anerkennt. Wenn diese Rolle wahrgenommen wird, zeugt dies bereits von einer nüchternen Sicht auf die Möglichkeiten und Grenzen kirchlichen Lebens in der Gegenwart. Freilich: Die Kirche kann Koalitionen bilden und über Systemgrenzen hinweg agieren. In diesem Sinn geht das Modell des kritischen Dialogs über die Sektionierung hinaus. Zwar wird der Kirche gesellschaftlich ein Sektor zugewiesen, aber sie verhält sich nicht sektoral, d.h. sie schaut über die Grenzen hinaus – auch um den Preis, den jeder wirkliche Dialog impliziert, dass sich alle beteiligten Partner ändern können.

4 Freiheit und Wahlzwang des Individuums

Zwischen den Voraussetzungen der modernen Gesellschaft und dem einzelnen Menschen gibt es zahlreiche Wechselwirkungen. Menschliche Identität ist immer ein Resultat aus Individuation und Vergesellschaftung. Die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft hat ihr Spiegelbild in einer strukturellen Individualisierung. Die Gesellschaft braucht individualisierte Menschen mit einer hohen Ausprägung von Autonomie und Selbstverantwortlichkeit, die die Heterogenität des modernen Zusammenlebens selbstständig zu integrieren verstehen und daraus Orientierung schöpfen. Gleichzeitig forciert sie Individualisierung. Praktisch bedeutet dies: Menschen verkehren nicht nur in einheitlichen Gesellschaftssegmenten, sondern wechseln zwischen verschiedenen Rollen. Um handlungsfähig zu sein, müssen sie die darin geltenden unterschiedlichen Regeln und Codes kennen und beherrschen. In diesem Sinne ist der Individualisierungsbegriff eine analytische und keine moralische Kategorie. Er hilft zu verstehen, warum auch auf dem Gebiet der Religion eine eindeutige Verschiebung der Machtbalance von der Institution zum Individuum verzeichnet werden kann. Aus der Vielheit vorfindbarer Sinnangebote muss der Einzelne ein eigenes Weltbild gestalten. Freiheit und Wahlzwang sind miteinander verwoben. Zwangsläufig kommt es dabei zu synkretistischen Prozessen. Synkretismen können als Versuch gedeutet werden, durch die Heterogenität hindurch ein persönlich befriedigendes einheitliches Weltbild herzustellen. Um handlungsfähig zu sein, müssen die unterschiedlichen Rollen und damit verbunden die unterschiedlichen »Ichs« irgendwie zusammengebracht werden. Dies kann immer weniger durch die Subsumtion unter eine Großideologie und deren kulturell-milieuhafte Lebensform passieren, sondern muss durch das Individuum selbst geleistet werden. Dazu greifen Menschen auf kulturell vorfindbare Orientierungen zurück. So gilt für den Bereich Religion, dass kulturell abrufbare Religionsmuster im deutschsprachigen Raum immer noch zu einem wesentlichen Teil von der christlichen Religion geprägt sind, auch wenn die christlichen Kirchen nicht mehr über ein Monopol auf Religion verfügen.

5 Aufwachsen mit Religion und Glaube heute

Die skizzierten strukturellen Kennzeichen bilden den kontextuellen Rahmen für religiöse Bildung und Erziehung. Wie kann darin »Aufwachsen« religionspädagogisch begleitet werden und welche spezifischen religiösen Lernprozesse sind dazu notwendig?

5.1 Religiöses Lernen im Zeitbezug

»Aufwachsen heute« ist ein Aufwachsen in dieser sich rasch verändernden Gesellschaft. Vertrautes und Bekanntes (Tradition) spendet oftmals nur noch eine fragile Sicherheit, denn die Zukunft ist ungewiss. Begriffe wie »Globalisierung« und »Postmoderne« sind Versuche, die gegenwärtigen Entwicklungen in einem größeren Zusammenhang zu deuten. Erziehung und Bildung finden unter diesen Voraussetzungen statt und wollen junge Menschen bei der Entwicklung ihrer Lebensfähigkeit unterstützen. Es geht um den Erwerb von Kompetenzen für die Gegenwart und Zukunft, in Kenntnis der Vergangenheit. Religiöse Bildung partizipiert an diesem allgemeinen Auftrag und spezifiziert ihn durch die Herausarbeitung der religiösen Dimension des menschlichen Lebens. Allerdings ist das, was Heranwachsende im zukünftigen Leben nötig haben werden, immer weniger vorhersagbar. Für die religiöse Bildung heißt das, die Ungewissheit, Fraglichkeit und Widersprüchlichkeit der Welt nicht vorschnell mit einer »Antwort-Didaktik« zu harmonisieren oder zuzudecken, sondern die Fraglichkeit selbst als Motor für religiöse Kommunikation zu nutzen (vgl. Oevermann 1995). Die christliche Religion ist in ihren biblischen Texten und in ihrer historischen Entfaltung selbst ein Beispiel für die Kultivierung des Fragens nach dem Woher und Wohin. Mit der Frage, »wie« wir die Welt sehen können, wird bereits ein religiöses Programm entfaltet (vgl. Luther 1992).

5.2 Lerninhalte und -methoden: Religion und Glaube entlang des Lebenslaufs

Konträr zu allen Säkularisierungsprophezeiungen zeigt sich »Religion« in modernen Gesellschaften auf vielgestaltige Weise. Für religiöse Lernprozesse in Schule, Gemeinde und Erwachsenenbildung stellt sich die Herausforderung, die gesellschaftliche und individuell vorfindbare pluriforme Religionspraxis mit der christlichen Überlieferung zu korrelieren. Empirische Studien zeigen, dass moderne Menschen durchaus an eine höhere Macht oder allgemeine Kraft glauben, die den Kosmos ordnet (vgl. Ziebertz 2001b). Christlich gewendet bekommt diese Macht einen Namen. Sie erscheint als der jüdisch-christliche Gott, der in der Welt der Menschen Gerechtigkeit und Liebe etabliert und entscheidend zur Konstituierung der modernen Vorstellung vom Humanum beigetragen hat. Sich auf diesen Gott einzulassen ist freilich das Ergebnis einer Entscheidung. Diese Entscheidung wird nur in wenigen Fällen einmal getroffen, sie ereignet sich vielmehr ein Leben lang.

Religionspädagogische Methoden zur Initiierung und Begleitung religiösen Lernens müssen komplementär zum Lerninhalt sein. Kann sich der Glaube entlang des Lebenslaufs verändern und in vielgestaltiger Weise vorkommen, ist es eine zentrale religionspädagogische Aufgabe, die jeweilige Gestalt des Glaubens überhaupt aufzudecken. Religiöse Bildung setzt beim Subjekt an und rekonstruiert die individuelle Form des Glaubens in der Prägung durch religiöse, in der westlichen Kultur häufig christliche Muster. Die christliche Religion kommt dann als Deutungsalternative ins Spiel. Religiöse Bildung leistet demnach zweierlei: Zum einen den in der jeweiligen Lebenspraxis verankerten Glauben und seine Bestandteile bewusst zu machen, zum anderen Religion als weiterführendes Sinnangebot anzuschließen. Glaube in seinem individuellen »Fall« kann ebenso als kritische Rückfrage an Religion fungieren wie auch Religion als Korrektiv individuellen Glaubens. Beide Dimensionen stehen, konform zur Mitteilungsgeschichte der christlichen Botschaft insgesamt, kommunikativ-dialogisch zueinander.

5.3 Lernbereiche: Wissen, Haltung, Gemeinschaft und transformatives Handeln

Lerninhalte und -methoden realisieren sich in vier Bereichen religiösen Lernens: Wissen, Haltung, Gemeinschaft und transformatives Handeln (vgl. Seymour 1997). Wissen will Informationen in der Form von Kenntnissen über religiöse Traditionen vermitteln. Ohne Wissen ist eine kontextuelle Einordnung von Erfahrungen kaum möglich. Haltung zielt auf Wertorientierung und Spiritualität. Gemeinschaft zeigt, dass menschliches Leben auf Sozialität angewiesen ist. Religiöse Gemeinschaften tradieren ein »kollektives Gedächtnis«, an dem Menschen in Kenntnis der Vergangenheit die Gestaltung der Gegenwart und Zukunft prüfen können. Transformatives Handeln schließlich zielt auf die Konsequenzen für die Alltagsbewältigung.

Diese vier Dimensionen sind im besten Fall verzahnt. Sie entsprechen anthropologisch dem Wissen-Wollen, dem Vertrauen-Können auf einen Geist, der dem Leben Richtung gibt, dem Angenommen-Sein in Gemeinschaft, die sich selbst übersteigt, und dem Handeln auf eine neue Zukunft hin.

5.4 Kontext: Religionsfähigkeit und Öffentlichkeitstauglichkeit des kirchlichen Christentums

Religiöse Bildung ist nicht unwesentlich davon abhängig, wie die Religionsfähigkeit (vgl. Drehsen 1994) und Öffentlichkeitstauglichkeit des Christentums (vgl. Ziebertz 1999, 110–227), das im deutschsprachigen Bereich die beiden großen christlichen Kirchen repräsentieren, insgesamt eingeschätzt wird. Was die Religionsfähigkeit betrifft, sind angesichts der »Wiederentdeckung des Religiösen« neue Formen des gesellschaftlichen Dialogs notwendig. Das Christentum muss die Fähigkeit (wieder-)gewinnen, funktionale Religiosität und substanzielle Religion in ihrer Wechselseitigkeit zu erschließen. Religionsfähigkeit setzt voraus, moderne religiöse Suchbewegungen überhaupt wahrzunehmen und sie zu verstehen. Die Offerte, diese Suchbewegungen mithilfe der anthropologisch gesättigten christlichen Tradition zu strukturieren und zu verinhaltlichen, muss nicht von dieser Religiosität wegführen, sondern kann sie vertiefen. Was die Öffentlichkeitstauglichkeit betrifft, stehen Teile der christlichen Tradition in der Gefahr, sich selbst zu marginalisieren. Die Erfahrung der Bedeutungsveränderung der christlichen Religion vom überwölbenden Horizont zum Segment in der Gesellschaft kann zum enttäuschten Rückzug auf die »kleine Herde« führen; allerdings wird der Prozess der Marginalisierung auf diese Weise eher beschleunigt. Stattdessen ist gerade die Kompetenz zum Dialog gefragt, und zwar mit allen Bereichen der Gesellschaft, in denen Fragen des Lebens heute und in Zukunft virulent sind. Nicht der Ausstieg, sondern der Einstieg der Kirchen in die Gesellschaft könnte religiöses Lernen positiv flankieren. Auf diese Weise könnte vermieden werden, dass in religiösen Lernprozessen individuelle und gesellschaftliche Bezugnahmen vorherrschen und institutionelle (kirchliche) zum Problem werden.

Literatur

Drehsen, Volker, Wie religionsfähig ist die Volkskirche? Gütersloh 1994.

Luther, Henning, Religion und Alltag. Stuttgart 1992.

Nüchtern, Michael, Kirche in Konkurrenz. Stuttgart 1997.

Oevermann, Ulrich, Ein Modell der Struktur von Religiosität. Zugleich ein Strukturmodell von Lebenspraxis und von sozialer Zeit. In: Wohlrab-Sahr, Monika (Hg.), Biographie und Religion. Frankfurt/M. 1995, 70–182.

Seymour, Jack L., Mapping Christian Education. Nashville 1997.

Türk, Hans Joachim, Postmoderne. Mainz/Stuttgart 1990.

Ziebertz, Hans-Georg, Religion, Christentum und Moderne. Stuttgart u.a. 1999.

Ziebertz, Hans-Georg, Warum die religiöse Dimension der Wirklichkeit erschließen? In: Hilger, Georg/Leimgruber, Stephan/Ziebertz, Hans-Georg, Religionsdidaktik. München 2001a, 107–122.

Ziebertz, Hans-Georg, God in Modern Individualized Religiousness. In: Ziebertz, Hans-Georg/ Schweitzer, Friedrich/Häring, Hermann/Browning, Don (Hg.), The Human Image of God. Leiden u.a. 2001b, 329–346.

STEFAN HEIL / HANS-GEORG ZIEBERTZ