RUEDIGER SCHACHE

SPÄTESTENS
IN
SWEETWATER

Roman

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nymphenburger

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© für die Originalausgabe und das eBook: 2012 nymphenburger in der
F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten.
Schutzumschlag: www.atelier-sanna.com, München
Schutzumschlagmotiv: mauritius-images, Mittenwald
Herstellung und Satz: Ina Hesse
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-485-06008-0

»Sind es nicht immer unsere Entscheidungen

an den Weggabelungen,

die unser Leben in genau die Bahnen lenken,

die wir später als Schicksal, Glück oder Zufall

ansehen?«

Arch Pinenoire

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PROLOG

Caleb Brooks strich mit der Handfläche über das grüne Straßenschild, das gar nicht hätte existieren dürfen. Er befreite die weißen Buchstaben von einer dünnen Staubschicht, die der Wind vom Wüstenboden aufgenommen und wie einen Schutz über den Ortsnamen gelegt hatte.

Sweetwater 3 Meilen

Nach einer grauenvollen Nacht ging endlich die Sonne auf. Die ersten Strahlen des Morgens tauchten Calebs Hand zusammen mit dem Schild in warmes Licht. Kleine Staubwolken wirbelten um seine Finger. Im Gegenlicht sah es aus, als würde Goldpuder zu Boden sinken.

Sweetwater. Noch vor zwei Wochen hatte er nie von diesem Ort gehört und nun war er zu seinem Schicksal geworden. Caleb hatte keine Ahnung, was ihn erwartete, wenn er den Hügel ein weiteres Mal hinab in die kleine Stadt fahren würde. Nur eines wusste er sicher: Hier war das letzte Zuhause, das er jemals haben würde.

VALENTINSTAG

›Es gibt Tage im Leben, die von überaus herausragender Bedeutung sind. Geliebte Menschen sterben. Andere werden geboren, wieder andere begegnen einem scheinbar zufällig. Die soeben noch für immer verloren geglaubte Liebe entsteht plötzlich an unerwarteter Stelle neu. In derselben Sekunde, in der die einen ihre größten Schicksalsschläge durchleben, geschehen bei anderen die größten Wunder. Es scheint, als könne der Flügelschlag eines Schmetterlings im Gefüge des Universums die Entscheidung über höchste Erfüllung oder alles zerstörendes Unglück bewirken. Doch wer bewegt diesen Flügel?

Glück oder Unglück – immer sind dabei Menschen miteinander verbunden. Die Liebe ist ein solches Band, ebenso die Ablehnung. Ja, auch sie schweißt zusammen, selbst wenn die Beteiligten glauben, sie würde sie voneinander trennen.‹

Caleb starrte auf den Bildschirm seines Notebooks, als wäre das Gerät für den Text verantwortlich. Seit einer Stunde versuchte er, die Einleitung seines Artikels zum Valentinstag zu schreiben. Dies hier war sie ganz sicher nicht. Valentinstag stand für Liebe und Verliebtheit, für Geschenke, gute Gefühle, Sinn und Hoffnung. Caleb war mehrfach ausgezeichneter Wissenschaftsjournalist. Er arbeitete seit vielen Jahren bei der New York Times und Artikel zu schreiben war sein Tagesgeschäft. Er fragte sich, warum er mit diesem einfachen Thema solche Probleme hatte.

»Jim Cummings ist für zwei Wochen ausgefallen«, hatte Dennis ihm an diesem Morgen verkündet. »Irgendeine Operation. Machst du den Valentinstag für ihn? Eine Spalte.«

Caleb hatte Dennis angestarrt, als sei er gerade gebeten worden, über eine Kochshow zu berichten. Dennis bemerkte es sofort.

»Mach es anders. Mach es neu. Mach es so, wie man dich kennt«, sagte er. »Gib dem Valentinstag eine neue Dimension. Bringe einen Aspekt ein, an den der Leser noch nie gedacht hat. Von mir aus erfinde die Bedeutung von Valentinstag neu, nur liefere mir nichts, was alle anderen auch schreiben. Kannst du das?«

Dennis kannte Calebs Schwachstelle: Er sucht Herausforderungen und Dennis forderte ihn heraus.

»Trägt der Papst rote Schuhe?«, hatte er geantwortet. »Klar kann ich das.«

Sein Chef und er pflegten einen legeren Umgang miteinander, denn sie hatten gemeinsam studiert. Caleb liebte das Schreiben mehr als das Organisieren, Kontrollieren und Delegieren. Er hatte Dennis den Vortritt gelassen, als vor einigen Jahren die Stelle zum Ressortleiter frei geworden war, obwohl die erste Wahl der Geschäftsführung ihm gegolten hatte.

Er nahm einen Schluck kalten Kaffee aus seiner IGNY-Bürotasse mit dem ausgebleichten roten Herz. Dann löschte er alles, was er geschrieben hatte. Valentinstag. Liebe. Das Thema streute Salz in seine größte Wunde: Abigail war an einem vierzehnten Februar aus seinem Leben verschwunden.

Er überlegte, ob es überhaupt möglich war, anderen Menschen auf einem Gebiet Hoffnung zu geben, ohne sie selbst zu haben. Konnte man zuversichtlich über die Liebe schreiben, wenn man die größte Liebe seines Lebens verloren hatte? Diesen Beitrag zu schreiben fiel ihm gerade erheblich schwerer, als die Entdeckung eines neuen Quasars oder ein Experiment in einem Teilchenbeschleuniger verständlich darzustellen.

Der Mauszeiger blinkte am Seitenanfang. Wie ein pochendes Herz. Caleb kam kurz das Bild, wie es in Redaktionen vor der Zeit von Computern ausgesehen haben mochte. Welche Berge an Schreibmaschinenpapier mit den verworfenen Versuchen von Journalisten, eine Sache richtig auszudrücken, mochten jeden Abend in den Container im Hinterhof des Zeitungsgebäudes gewandert sein? Heute genügte eine einzige Taste, um ein kleines Universum aus Gedanken zu beseitigen.

Als Redakteur gehörte es zu Calebs Aufgaben, selbstständig immer neue spannende Themen zu finden. Das bedeutete jedoch nicht, dass er immer nur schreiben konnte, was er wollte. Journalismus war zum kleinen Teil Idealismus und zum großen Teil Tagesgeschäft.

Dennis wollte eine besondere Geschichte und Caleb hatte sich einen Namen gemacht, wenn es um ungewöhnliche Themen ging. Eigentlich hatte er Biochemie studiert und sich später als Journalist auf Grenzthemen spezialisiert. Philosophie und Wissenschaft. Religion und Wissenschaft. Gefühle und Wissenschaft. Er arbeitete an den Berührungspunkten der Fachgebiete und nahm weder zum einen noch zum anderen Lager persönlich Stellung. Stattdessen suchte er die verbindenden Elemente.

Caleb sah gut aus. Mitte dreißig, fast eins neunzig, hellblaue Augen, scharf gezeichnete Nase, akzentuierte Augenbrauen, volles dunkelbraunes Haar, etwas länger und in leichten Wellen nach hinten gekämmt. Meist mit Dreitagebart, im Augenblick mit einem gepflegten Zweimonatsbart, der ihm eine attraktive Verwegenheit verlieh, zumindest wenn man den Bemerkungen der weiblichen Redaktionsmitglieder glauben durfte. Caleb kleidete sich weder besonders modisch noch besonders nachlässig. Boots, Chinos, Polohemden und darüber ein Sportsakko waren ihm lieber als weiße Hemden und Krawatten.

Wo immer er auftauchte, empfand man ihn als Sympathieträger. Mehr als einmal hatte man ihm angeboten, ein Fernsehformat zu moderieren, das sich mit seinen Schwerpunkthemen beschäftigt hätte. Lange hatte er abgelehnt, weil er in der Tiefe seines Herzens ein schüchterner Mensch war und sich in der Öffentlichkeit nicht wirklich wohlfühlte. Abby war hier sein großer Rückenwind gewesen. Niemals hatte sie ihn in den wenigen Jahren ihrer Ehe zu etwas gedrängt, doch immer hatte sie ihn darin unterstützt, sein Potenzial zu entfalten. Und so verdankte Caleb ihr viele der mutigen Artikel, die letztlich zu seiner Bekanntheit geführt hatten.

In der Woche, in der er kurz davor gewesen war, ein Angebot von der NBC für einen festen Programmplatz anzunehmen, hatte er Abby verloren. New York war in vielerlei Hinsicht eine sichere Stadt geworden, doch es war noch immer ein Ort mit völlig chaotischen Verkehrsverhältnissen. Viele der oft frisch eingewanderten Taxifahrer waren für ihren Job aus emotionaler Sicht gesehen völlig ungeeignet. Eine dieser fahrenden menschlichen Zeitbomben hatte Abigail vor die Motorhaube bekommen.

Während der Mann wahrscheinlich in Puerto Rico schon wieder Taxi fuhr, war Caleb nun allein. Das Zeitfenster für den Job bei der NBC hatte sich bereits während der Beerdigungsformalitäten geschlossen, abgesehen davon, dass Caleb in dieser Lebenssituation ohnehin nicht in der Lage gewesen wäre, den Schritt vor die Kamera zu tun. Und so bleib er beim Schreiben.

Er versuchte, sich auf sein Thema zu konzentrieren. Valentinstag. Wissenschaft und Liebe. Das hätte er wirklich gerne abgelehnt, doch professionell zu arbeiteten bedeutete, sein Privatleben aus der Arbeit herauszulassen.

Das Telefon klingelte. Er nahm den Hörer ab.

»Hast du Lust zum Bowlen heute Abend?« Es war Mike Knightley, einer der beiden Fotografen, mit denen Caleb wechselweise arbeitete, falls er nicht selbst die Bilder schoss.

»Lieber nicht«, entgegnete Caleb. »Ich bin gerade so amüsant wie ein Wasserrohrbruch um Mitternacht.«

»Genau deshalb habe ich an dich gedacht«, beharrte Mike. »Bowlen macht den Kopf frei. Außerdem sind Olivia Wynn und Christine Baker dabei. Eigentlich war es sogar Christines Idee. Du weißt schon, die Brünette aus der Grafik.«

»Mike, das ist wirklich nett. Gerne ein anderes Mal, okay?«

Sie verabschiedeten sich und er legte auf.

Der senkrechte Balken des Cursors pochte noch immer wartend am Seitenanfang. Caleb erinnerte sich an das Geräusch von Abbys Herz, wenn er seinen Kopf an ihre Brust gelegt hatte. Abby hätte gewollt, dass er einen Artikel über Liebe und Hoffnung schrieb. Einen guten Artikel! Er gab sich einen Ruck und beschloss, ihren Wunsch anzunehmen.

Für Journalisten mit Schreibblockaden konnten Suchmaschinen zu persönlichen Freunden werden. Manchmal half es, das festgefahrene Thema für eine Weile beiseitezulegen und sich anhand von Stichwörtern wie auf einer Brotkrumenspur durch die virtuelle Welt zu googeln. Selbst falls man hier keine wirklich neuen Informationen fand, erhielt das Gehirn Anregungen, die den Ideenfluss wieder zum Laufen brachten.

Caleb nutzte eine Methode, die er CloudWriting getauft hatte. Wörterwolken erzeugen. Erst die Wolke, dann der Regen. Erst die Schlüsselwörter und Fragmente, dann der Artikel um sie herum. Er tippte einige Wörter aus seiner Wolke in das Suchfeld von Google ein. Je mehr Stichwörter, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass eine Seite relevante Informationen enthielt.

›Liebe + Erfüllung + Schicksal + Seele + Valentinstag‹

Im Fenster des Browsers wurden zigtausende Einträge angezeigt. Wie er schnell erkannte, war das meiste davon Werbung für Blumen, Schmuck, Parfüms, Süßigkeiten, Reisen, Plastikherzen und ähnliche Dinge. Das Wort ›Valentinstag‹ war praktisch vollständig mit Konsum belegt, also ließ er es weg.

›Liebe + Erfüllung + Schicksal + Seele‹

Nun waren die meisten Treffer entweder Buchwerbungen oder esoterische Seiten. Einem verrückten Impuls folgend, tippte er ein Wort dazu.

›Liebe + Erfüllung + Schicksal + Seele + Abigail‹

Das führte zu erheblich weniger Treffern. Noch ehe er alle Ergebnisse der ersten Seite durchsehen konnte, sprangen seine Augen zu einem Eintrag in der Mitte.

Die Legende von Sweetwater. Von Arch Pinenoire

›Den wenigen Berichten nach begegnen sich Seelen … westlich von Oklahoma City die Erfüllung aller … die Kräfte des Schicksals Menschen trennen und wieder verbinden können … in unserem Land, an dem Liebe diese Gesetze zwischen Seelen außer Kraft … Der Name des Ortes wurde von denen, die wiederkamen, mit Sweetwater …‹

Caleb klickte auf den Link. Ein weißes Fenster ging auf mit dem Hinweis, dass die Seite unter dieser Adresse aus dem Internet entfernt worden war. Caleb kannte das schon. Es kam immer wieder vor, dass Seiteninhalte gelöscht oder Seitenadressen verschoben wurden und dennoch für einige Zeit in Suchmaschinen auftauchten. Einer verrückten Idee folgend, ergänzte er die Reihe der Suchbegriffe um seinen eigenen Vornamen.

›Liebe + Erfüllung + Schicksal + Seele + Abigail + Caleb‹

Wieder erschien auf der ersten Ergebnisseite derselbe Beitrag. Caleb suchte nach Fragmenten des Artikels, um zu erfahren, ob er inzwischen unter einer anderen Adresse abgespeichert war, doch offensichtlich war der Beitrag vollständig entfernt worden. Die Suche nach dem Verfasser ›Arch Pinenoire‹ ergab keinen weiteren Treffer.

Normalerweise hätte Caleb hier aufgehört, den Brotkrumen zu folgen. Was ihn jedoch nicht so einfach losließ, war die Tatsache, dass dieses Ergebnis ausschließlich zusammen mit seinem oder Abigails Namen auftauchte. Weder ein anderer Vorname noch eine andere Kombination von Suchwörtern führten zu dem toten Link.

Er recherchierte nach dem Inhaber der Website, doch die Adresse war abgemeldet. Der nächste logische Schritt wäre gewesen zu versuchen, beim bisherigen Webhoster Informationen über den ehemaligen Seitenbetreiber zu bekommen. Doch das würde erheblichen Aufwand bedeuten und er fragte sich, ob er sich nicht gerade in eine verrückte Fantasie verrannte. Andererseits liebte er ungewöhnliche Ereignisse. Wo andere aufhörten nachzufragen, fing seine Arbeit erst an.

Caleb entschied sich für einen anderen Weg und suchte im Internet nach dem Begriff ›Sweetwater‹. Es gab einige Orte mit diesem Namen, doch in keinem Fall fand er einen Hinweis auf eine Legende oder sonst eine Information, die ihn weitergebracht hätte.

Inzwischen war es Abend geworden. Die wenigen Kollegen von der Nachtredaktion hatten das Büro übernommen. Caleb schaltete das Notebook aus und verstaute es in seinem Koffer. Bis zum Valentinstag hatte er noch fast zwei Wochen Zeit.

Als er im Aufzug nach unten fuhr, dachte er noch einmal an die Überschrift im Ergebnis der Suchmaschine.

Die Legende von Sweetwater

Das hätte eine wirklich ungewöhnliche Geschichte werden können.

TRÄUME

Carol Ryder parkte ihr hellblaues achtundsiebziger Ford Cabriolet vor dem Laden. Es war ein Montagmorgen scheinbar wie jeder andere in den vergangenen sieben Jahren, seit sie die Buchhandlung von Walter Brinker übernommen hatte. Sie griff sich ihre Handtasche vom Beifahrersitz, stieg aus und schloss das Verdeck. Dann nahm sie die drei Stufen zum hölzernen Gehweg hinauf, der die Läden der Häuserzeile miteinander verband. Diese Art zu bauen stammte noch aus Zeiten, als die Wege nicht asphaltiert und oft schlammig gewesen waren. Carol gefiel es, dass ihr Geschäft etwas erhöht über der Straße lag.

Sie kramte den Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete die Ladentür. Ein angestoßenes Klangspiel erfüllte den Raum. Der zarte Duft von Holz, Papier, Kaffee und Leder strömte ihr entgegen. Carol liebte diese immer gleiche, vertraute Begrüßung noch genauso wie am ersten Tag.

Sie zog den Schlüssel ab. Ehe sie eintrat, warf sie, wie immer, seit ihr seltsamer Traum zum ersten Mal aufgetaucht war, einen Blick auf die Kreuzung der Main und Custer. Dort mündete die einzige Einfallstraße nach Sweetwater. Und wie jeden Tag atmete sie einmal tief durch, um dann ihr Geschäft zu betreten.

Carol schaltete das Licht ein. Sie legte ihre Handtasche auf einen der drei Sessel, die gleich neben dem Schaufenster für Kunden bereitstanden. Der Laden war tiefer als breit. Vier hölzerne Regalreihen zogen, schräg angeordnet, ihre langen Furchen bis in den hinteren, fensterlosen Teil.

Mütter und ihre Kinder machten das Hauptgeschäft des kleinen Buchladens aus. Vorn, in der Nähe des rechten Schaufensters und damit am hellsten Platz, hatte Carol die Familienecke eingerichtet. Eine Kinderbuchwand mit bunten Regalbrettern und noch bunteren Buchrücken. Davor eine Spielzeugkiste, ein hölzernes Schaukelpferd, ein Spielteppich mit einem Stadtplanmotiv, vier bunt lackierte Minihocker.

Carol ging zur Ladentheke. Sie schaltete die elektrische Espressomaschine ein, die nur eine Armlänge von der antiken Ladenkasse entfernt stand. Das Gebäude der Buchhandlung war eines der ältesten in Sweetwater. Als vor über hundert Jahren ein Fabrikarbeiter irgendwo im Land die letzte Feder an dieser Kasse justiert hatte, war Walter Brinkers Urgroßvater gerade dabei gewesen, den letzten Nagel in die Theke dieses Ladens zu schlagen. Sie hatte die Geschichte über das alte Haus im Laufe ihrer neun Jahre als Buchhändlerin bei Brinkers unzählige Male gehört.

Carol war Anfang dreißig, etwas über eins siebzig, schlank, mit schulterlangen kastanienbraunen Haaren. Große Augen in derselben Farbe blitzen unter sanft geschwungenen Brauen hervor. Ihr leicht ovales Gesicht, die vollen Lippen und der helle Teint verliehen ihr eine fast aristokratische Anmut, die ein wenig im Kontrast zu ihrem mädchenhaften Wesen stand.

Einiges in Carols Leben, besonders was Beziehungen betraf, wäre anders verlaufen, wenn sie nicht seit fast sieben Jahren diesen einen, immer wiederkehrenden Traum gehabt hätte. Einen Traum, der ihre Zukunft so klar und real zeigte, dass ihr keine andere Wahl blieb, als genau darauf zu warten.

In der vergangenen Nacht hatte sie ihn wieder geträumt, zum ersten Mal in diesem Jahr. Und wieder war er so intensiv, dass sie danach keinen Schlaf mehr fand. Also tat sie, was sie in diesem Fall immer machte: Sie ging in ihr Dachgeschoss und gab ihm eine Form.

DER ENTSCHLUSS

Caleb war es gewohnt, schlecht zu schlafen, seit die Betthälfte neben ihm leer war. Nachts, allein in der ehemals gemeinsamen Wohnung in der zweiundsiebzigsten Straße, kroch die Einsamkeit unter seine Decke und legte ihre kalten Klauen um sein Herz.

In dieser Nacht jedoch ging ihm das Phänomen mit der Suchmaschine nicht aus dem Kopf. Er war kein Spezialist für Suchalgorithmen, dennoch rasterte Calebs geschultes Gehirn immer wieder alle Möglichkeiten ab. Er versuchte, eine vernünftige Erklärung für das verstörende Ergebnis zu finden, während ein anderer Teil von ihm einfach nur in Ruhe schlafen wollte.

Für gewöhnlich beruhigte ihn Abigail in solchen Situationen. Er wusste, sie war immer bei ihm, auch wenn ihr Körper nicht mehr da war. Meist erlebte er ihre Anwesenheit als Gefühl von Trost oder als Zuspruch in sich. Doch heute fühlte es sich anders an. Es war, als wollte Abigail ihn zu einer ganz bestimmten Handlung bewegen. Nur verstand er die Botschaft nicht.

Nach endlosem Grübeln und Herumwälzen knipste er die Nachttischlampe an. Der Wecker stand auf ein Uhr zweiundzwanzig. Er holte sein Notebook, setzte sich wieder ins Bett und schaltete es ein. Wieder erschienen nach Eingabe der Stichwörter und ihrer beider Namen die Fragmente des gelöschten Beitrags. Obwohl es dafür keine logische Erklärung gab, konnte Caleb das Gefühl nicht loswerden, dass die Bruchstücke nicht durch Zufall auftauchten.

Er versuchte, aus den Satzteilen zu erschließen, um was es in dem Text ging. Vor allem drängte es ihn herauszufinden, von welchem Ort genau die Rede war. Die wenigen Worte lieferten nur drei Ansatzpunkte: den Ortsnamen selbst, den Hinweis auf die Nähe zu Oklahoma City und den Namen des Verfassers. Caleb suchte nach allen Orten mit dem Namen Sweetwater, elf, und brachte diese mit Oklahoma City in Verbindung. Wenn man nur solche zuließ, die eine ›westlich von‹ Beziehung hatten, blieben zwei Sweetwaters übrig. Eines davon allerdings südwestlich und über dreihundert Meilen entfernt, sodass es nicht wirklich infrage kam.

Der Ort, der vielleicht gemeint war, lag etwa hundertachtzig Meilen westlich von Oklahoma City. Abigail in ihm nickte. Caleb spürte, wie er ruhiger wurde, für ihn ein Zeichen, dass er auf dem richtigen Weg war. Er klappte sein Notebook zu und schaltete das Licht aus. Morgen würde er handeln.

DIE NACHT

Nachdem sein Flugzeug in Oklahoma City gelandet war, ging Caleb zum Schalter von Sunny Cars und nahm den roten Dodge Dakota Pick-up entgegen, den er von New York aus reserviert hatte. Er verstaute seinen Koffer und die Nylontasche auf der Notbank hinter dem Fahrersitz, befestigte die Halterung für sein Mobiltelefon mit dem Saugnapf an der Windschutzscheibe und suchte in der Navigationssoftware nach Sweetwater.

Der Ort musste etwa drei Stunden westlich liegen, doch das System fand nur Sweetwater in Texas, über dreihundert Meilen südwestlich. Er ärgerte sich, dass er den Ausdruck von Google Maps nicht mitgenommen und sich stattdessen auf sein Navi verlassen hatte. Im Handschuhfach fand er einen Straßenatlas, doch auch hier war kein Sweetwater verzeichnet. Vielleicht war der Maßstab nicht fein genug.

Caleb startete den Wagen. Er wusste, dass er in jedem Fall nach Westen musste. Nur die I-40 führte in diese Richtung, also folgte er ihren Schildern.

Nach fünfzehn Minuten kam eine größere Tankstelle in Sicht. Caleb hatte vor, einen besseren Atlas oder ein neueres Navi zu kaufen. Er parkte den Dodge, ging in den Laden und suchte nach einer regionalen Straßenkarte. Doch nirgends fand er das Sweetwater, das er suchte.

Caleb wandte sich in Richtung des Mannes, der hinter der Kasse stand, ein Endsechziger mit grauen schütteren Haaren und einer altmodischen Hornbrille. Sein ausladender Bauch blies sich unter dem rot-braun gemusterten Flanellhemd und der hellgrauen Latzhose auf wie ein Schwimmreifen kurz vor dem Platzen.

»Entschuldigen Sie bitte!«, sagte Caleb.

Der Alte schälte sich schnaufend um die Theke herum in Richtung der Regale. Jeder Schritt wirkte wie ein Ringen des Körpers gegen die Schwerkraft und die Schwerkraft schien keine schlechten Karten zu haben. Das linke Bein war bereits etwas lahm geworden. Er zog es schleifend hinter sich her.

»Hilfe, junger Mann?«

Schweißperlen auf der Stirn, fahle Haut, wunde Flecken auf den Handrücken. Caleb roch säuerlichen Atem. Der Mann hatte wahrscheinlich Diabetes.

»Ich suche einen Ort, der in dieser Region liegen muss«, sagte er, »aber ich finde keine Karte, auf der er verzeichnet ist.«

»Wohin soll’s denn gehen?« Er hatte entweder einen Sprachfehler oder keine Lust auf längere Sätze, was vielleicht mit seiner Kurzatmigkeit zusammenhing.

An der Stelle, wo der Hosenträger mit der Latzhose verknöpft war, steckte ein gelber Blechbutton mit der Aufschrift ›Hi, ich bin Frank und ich freue mich, Ihnen zu helfen‹.

»Ich möchte nach Sweetwater …«, Caleb warf nochmals einen Blick auf den Button, »… Frank.«

»Natürlich.« Frank, der sich freute, einem zu helfen, starrte Caleb durch die verschmierten Gläser seiner Hornbrille an, als wäre der nicht ganz dicht.

»Wie meinen Sie das?«, fragte Caleb irritiert.

»Natürlich suchen Sie Sweetwater vergebens auf den Karten.«

Er machte eine Pause, während der er Luft holte, als nähme er Anlauf für einen Buchstabiermarathon.

»Weil es nämlich Sweetwater nicht mehr gibt. Ist jetzt Bakerfield. So hundertachtzig Meilen im Westen. Bleiben Sie auf dem Highway bis zur Ausfahrt von Norway. Dann kommen Schilder.«

Auf den Wangen des Alten entdeckte Caleb ein Netzwerk winziger rotlila Äderchen.

»Man hat eine Stadt umbenannt? Einfach so?«

»Nicht einfach so.« Der Alte drehte sich um und watschelte zurück zur Kasse. »Es war wegen der Vorfälle.« Er machte mit einer Hand eine kreisförmige Bewegung durch die Luft. »Geht mich nichts an. Suchen Sie Bakerfield, dann finden Sie Sweetwater.«

»Welche Vorfälle?«

»Haben Sie getankt?«

»Nein. Was meinen Sie mit den Vorfällen?«

»Dann macht es neun fünfzig für die Karte.«

Frank-der-gerne-half wollte ganz eindeutig nicht weiter über das Thema reden. Caleb legte noch zwei Flaschen Wasser, zwei Cola und ein Paket Sandwiches zu der Karte, bezahlte und ging zurück zum Wagen.

Es wurde langsam Abend. Auf dem fast leeren Highway rollte der Dakota wie auf Schienen der untergehenden Sonne entgegen. Caleb hatte den Tempomaten eingeschaltet und Zeit zum Nachdenken. Er wollte einen Artikel über eine Legende schreiben. Das Erste, was er erfuhr, war, dass diese Legende ihren Namen gewechselt hatte. Das war schlecht. Wer wollte schon lesen, dass jemand seine große Liebe in Bakerfield traf, das früher Sweetwater hieß? Damit war die halbe Legende zerstört. Vielleicht war die ganze Sache ja auch ein Fehler und er sollte gerade besser an seinem Schreibtisch in der Redaktion sitzen.

Der Dodge gurgelte monoton vor sich hin, der vierspurige Highway bahnte sich seinen Weg fast schnurgerade durch die steppenartige Landschaft in Richtung Horizont und Caleb kämpfte damit, nicht am Steuer einzuschlafen. Um sich wachzuhalten, suchte er einen Musiksender, doch das Radio gab nur Rauschen oder kratzende Musikfragmente von sich. Entweder war er hier abseits aller Sendestationen oder die Antenne des Wagens war defekt.

Die vergangene, fast schlaflose Nacht begann, ihren Tribut einzufordern. Caleb kaute seine Sandwiches in winzigen Bissen. Solange er kaute und Cola trank, würde er nicht einschlafen.

Zwei Stunden später räumte auch der letzte Rest von Dämmerung seinen Platz am Himmel, um ihn für die Nacht freizugeben. Nach einer weiteren halben Stunde tauchte im Scheinwerferkegel ein Schild auf, das die Ausfahrt nach Norway ankündigte. Caleb setzte sofort den rechten Blinker, weil er insgeheim befürchtete, seine Schläfrigkeit könnte ihn auf den nächsten zwei Meilen die Abfahrt verpassen lassen. Inzwischen war es so finster geworden, dass es keine Welt mehr außerhalb der Scheinwerferkegel zu geben schien. Erst jetzt fiel Caleb auf, dass er seit mindestens einer Stunde weder überholt worden war noch Lichter eines Gegenverkehrs gesehen hatte.

Das Ticken des Blinkers im Wechsel war eine wohltuende Unterbrechung zum gleichförmigen Gurgeln des V8. Caleb hatte fast völlig sein Gefühl für Ort, Richtung und Zeit verloren. Der im Sekundentakt aufleuchtende Rechtspfeil erzeugte immerhin die Illusion, als wüsste er, wohin er fahren sollte.

Kurz hinter dem Ausfahrtschild für Norway verließ Caleb die Interstate. Als der Blinker am Ende der Kurve von selbst verstummte, fühlte er sich, als hätte er soeben die Grenzstation ins Niemandsland passiert.

Bis Norway fahren, dann kommen Schilder, hatte Frank mit der Latzhose gesagt. Doch hier waren keine Schilder. Weder für Bakerfield noch für Sweetwater noch für sonst einen Ort in dieser gottverlassenen Gegend.

Er folgte dem Scheinwerferlicht, das mühevoll einen Tunnel für den Dodge in die Dunkelheit bohrte. Zu beiden Seiten der gelben Lichtkegel tauchten immer wieder bleiche Dornbüsche aus dem Dunkel auf. Wie Knochengestalten, die den Rand der Landstraße entlang einer Veranstaltung entgegenpilgerten.

Nach einer halben Stunde, die Caleb wie eine ganze Nacht vorkam, erschien endlich eine Kreuzung mit Schildern. Die Straße gabelte sich in drei Richtungen: geradeaus nach Norway, zwölf Meilen. Rechts nach Bakerfield, achtundzwanzig Meilen. Auf dem Wegweiser, der nach links wies, stand:

Sweetwater 11 Meilen

Sweetwater und Bakerfield waren also zwei verschiedene Orte, die fast vierzig Meilen auseinander lagen. Sweetwater war nicht umbenannt worden. Frank von der Tankstelle hatte, aus welchem Grund auch immer, nicht die Wahrheit gesagt.

Elf Meilen. Zwanzig Minuten vielleicht. Er warf einen Blick auf die grün leuchtenden Ziffern in der Mittelkonsole. 22:43. Der Doppelpunkt blinkte im Sekundenrhythmus, als wäre die Uhr eine Art EKG des Wagens. Der Tageskilometerzähler stand auf zweihunderteinundvierzig Meilen. Deutlich mehr, als Google ihm gestern ausgewiesen hatte. In Calebs Erinnerung schienen Wochen vergangen zu sein, seit er zuletzt an seinem Computer im Büro gesessen hatte.

Im Licht der Fernscheinwerfer wirkten die Schilder übergrell und surreal, so als stünde dort etwas, was es eigentlich nicht geben konnte. Während Caleb fassungslos auf die Kreuzung starrte, spürte er, wie die Dunkelheit um ihn herum sich zu bewegen schien. Wie ein lebendes Wesen aus zähflüssiger Schwärze, das vorhatte, den Wagen von allen Seiten einzuschließen. Er fühlte auch Regungen hinter seinem Rücken. Vielleicht kamen die Dornbüsche langsam näher. Der rationale Teil in seinem Kopf sagte sich, dass das Irrsinn war. Doch als wäre Vernunft hier eine wertlose Währung, schoss ungebremste Panik in ihm hoch. Er musste sofort weg, irgendwohin, wo es Licht und Zivilisation gab.

Caleb schob den Hebel der Automatik wieder auf ›D‹ und bog nach links ab. Die Straße nach Sweetwater wirkte wie eine perfekte Kopie des bisherigen Weges. Der Pick-up pflügte sich wieder seine Bahn durch die Schwärze, wie eine Jacht, die ein Meer aus Dunkelheit vor sich zerteilt. Dreißig Minuten später zeigte der Zähler unter der Tachonadel zweihundertsiebzig Meilen. Sweetwater musste schon lange hinter ihm liegen, doch Caleb war sich sicher, keine Abzweigung verpasst zu haben. Er schaltete das Radio ein. Noch immer nur Rauschen. Das GPS seines Handys schien ebenfalls gestört. Die einzige Anzeige, die er bekam, war der Hinweis, dass im Moment keine Satelliten gefunden wurden. Er wählte die Nummer seiner Redaktion, wohl wissend, dass um diese Uhrzeit nur sein eigener Anrufbeantworter dran sein würde. Er wollte nur sicher sein, dass er nicht träumte. Die Verbindung zu seinem Büro wäre zumindest eine Art von Beweis.

Nach dreimaligem Läuten hörte er die Ansage seiner Stimme. Verzerrt, aber eindeutig. Das beruhigte ihn etwas. Um die Verbindung zu beenden, löste er für einen Moment seinen Blick von der Straße und sah auf sein Handy. In diesem Augenblick geschahen drei Dinge fast zeitgleich. Er entdeckte die SMS. Er nahm im Augenwinkel eine Frau am Straßenrand wahr. Und er kam von der Fahrbahn ab. Der Dodge war ein überaus stabiler und schwerer Wagen. Er rutschte in den Graben links von der Straße, reagierte auf Calebs Gegenlenkung und fand mit einem kleinen Sprung den Weg auf den Asphalt zurück. Caleb stieg mit aller Kraft auf die Bremse, der Pick-up drehte sich fast auf der Stelle einmal herum, bis er schließlich quer auf der Fahrbahn stehen blieb. Calebs rechtes Bein fühlte sich an wie aus Stahl und mit dem Bremspedal verschweißt. Der Motor gurgelte im Leerlauf, ein Geruch von Gummi stieg durch die Lüftung. Er prüfte das Display seines Handys. Die SMS war eine Nachricht seines Anrufbeantworters, die ihn darauf hinwies, dass er sich gerade selbst zu erreichen versucht hatte.

Er wendete den Wagen in die Richtung, aus der er gekommen war. Caleb war sich sicher, eine Frau mit schulterlangen Haaren in einem weißen Kleid gesehen zu haben. Doch obwohl er die Strecke mehrere Male abfuhr, konnte er niemanden entdecken. Er drehte wieder in die Richtung um, in der es nach Sweetwater ging. Und plötzlich war er sich nicht mehr sicher, woher er gekommen war.

»Na toll, was für ein Witz!«, rief er in die Dunkelheit vor dem Wagen. Dabei schlug er so kräftig auf das Lenkrad, dass die Schmerzwelle von seinem Handballen bis in die Schulter schoss. Nicht nur, dass er keine Ahnung hatte, wo er sich befand, nun wusste er nicht einmal mehr, wie er aus der Mitte dieses schwarzen Nichts wieder herauskommen sollte.

Der Doppelpunkt der Anzeige in der Mittelkonsole blinkte zwischen vier Kreisen. 00:00.

Caleb entschied sich, den Morgen abzuwarten. Bei Tageslicht konnte er sich wieder orientieren. Er ließ den Dodge im Schritttempo vom Asphaltstreifen der Fahrbahn rollen. Vor einem Dornbusch stellte er den Motor ab. Etwa um sechs würde es dämmern. Bis dahin würde ihm eine Mütze Schlaf guttun. Er betätigte den Knopf für die Zentralverriegelung, bemerkte, dass sie die ganze Zeit über bereits verschlossen gewesen war. Schnell drückte er noch einmal. Mit einem beruhigenden Klacken rasteten die Schlösser an den beiden Türen wieder ein.

Nur ein wenig schlafen. Als er von Fahrtlicht auf Parklicht umschaltete, schien die Dunkelheit einen Sprung auf das Auto zuzumachen. Als New Yorker war Caleb in einer Stadt aufgewachsen, die tatsächlich nie schlief. Vollkommene Dunkelheit war ihm nahezu fremd und diese Nacht hier übertraf alles, was er jemals erlebt hatte. Er hätte ebenso gut im Bauch eines Wals sitzen können, oder, im Weltall schwebend, in maximaler Entfernung von allem, was Licht erzeugte. Vielleicht befand er sich auch gerade in einem schwarzen Loch? Dann hätte das Blinken des Doppelpunkts in der Uhr aufgehört. Er schüttelte benommen den Kopf. Was für absurde Gedanken. In Caleb kämpfte die Müdigkeit noch eine Weile gegen die Angst vor dem an, was dort draußen lauerte. Bis die Müdigkeit gewann.

NICK

Nick McQueen lebte in der dritten Generation in Sweetwater. Er hatte die einzige Tankstelle im Ort von seinem Vater übernommen, der sie wiederum von Nicks Großvater geerbt hatte. Die Tankstelle, der damit verbundene Laden und die Werkstatt waren alles, was Nick je kennengelernt hatte. Und weil er nur das kannte, vermisste er auch nichts.

In seiner Jugend hatte Nick mehr Zeit vornübergebeugt unter Motorhauben oder zurückgebeugt in der Grube verbracht als andere Menschen in ihrem Bett. Wenn man jung war, schien nicht nur die eigene Zukunft unendlich zu sein, sondern auch die Reserven an Bandscheiben, Muskeln und Gelenken. Doch wenn das Zielband mit der Sechzig unwiderruflich vor der Brust zerrissen war, tauchten immer mehr Zahltage auf und der Körper erinnerte sich an jede einzelne Sünde.

Nick ging sonntags in die Kirche von Moses Benford am Ende der Main Street. Moses verfügte über die Gabe des Erzählens. Er nutzte sie, um den Besuchern seines Hauses von Gott und dem, was Gott wollte, zu berichten. Nick fand das gut, weil er Moses’ Geschichten verstehen konnte, im Gegensatz zu den meisten Geschichten, die in der Bibel standen.

Dieser Gott, von dem Moses erzählte, mochte Nick einen sicheren Arbeitsplatz gegeben haben, eine Aufgabe und ein Zuhause. Doch was seinen Körper betraf, hatte Nick Mühe, einen Grund für Dankbarkeit zu finden. Er schleppte mindestens vierzig Kilo Übergewicht mit sich herum, von denen er einfach nicht herunter kam. Eine der Folgen seines Diabetes mellitus waren die Fußschmerzen, die ihm an manchen Tagen jeden Schritt zu einer Qual machten. Dazu kamen die schlechten Augen, die ihn zwangen, eine Brille mit dicken Gläsern zu tragen. Als wäre das nicht schon genug, hatte Nick regelmäßig mit Migräneanfällen zu kämpfen.

Diese unerträglichen Kopfschmerzen machten Nick große Sorgen. Er glaubte, dass sie die Vorboten von Alzheimer wären, der Krankheit, an der sein Vater und sein Großvater gelitten hatten. Nick befürchtete, dieses Übel auch noch geerbt zu haben, deshalb trainierte er unablässig sein Gehirn. Er spielte seit Jahren in jeder freien Minute Memory gegen sich selbst oder Schach gegen seinen alten Minicomputer aus braunem Plastik. Ob dies oder etwas anderes der Grund war, konnte niemand sagen, aber jeder im Ort wusste, dass Nick über ein außerordentlich gutes Gedächtnis verfügte.

Alles in allem war Nick McQueen trotz seiner Einschränkungen kein Mann, der mit dem Leben haderte. Er versuchte aus dem, was ihm gegeben war, das Beste herauszuholen. So akzeptierte er seine chronischen Schlafstörungen, stand jeden Morgen um fünf Uhr dreißig auf und schaltete eine Stunde später das Licht im Laden und den Strom für die Zapfsäulen an. Selbst wenn um diese Zeit so gut wie nie ein Kunde kam.

Es gab nur einen Ort in Sweetwater, der abends länger geöffnet hatte als Nicks Tankstelle und das war Jennys Diner. Jenny schloss gegen zehn, Nick eine Stunde fünfzehn früher, was kein Zufall war. Er nutzte diese Zeit, um im Diner zu Abend zu essen. Nick konnte mit verbundenen Augen den Vergaser eines zweiundneunziger Buick zerlegen und wieder zusammensetzen. Beim Kochen jedoch beschränkten sich seine Fertigkeiten auf Pfannkuchen und das Öffnen von Konservendosen oder Tiefkühlpizzas. Jeden Abend, nachdem er Licht und Zapfsäulen ausgeschaltet hatte, tauschte Nick seine ölbefleckte Jeanslatzhose und das verwaschene rote Flanellhemd gegen eine saubere Cordlatzhose und ein frisches, blau gemustertes Flanellhemd. Das Waschen erledigte er selbst mit der Kaltwassermaschine hinten auf dem Hof, nur mit dem Bügeln hatte er es nicht. Und so traf der ›zerknitterte Nick‹, wie ihn seine Freunde liebevoll nannten, jeden Abend um dieselbe Zeit in Jennys Diner ein und setzte sich an den für ihn reservierten Tisch in der hintersten Ecke des Raums.

Dort erwartete ihn vielleicht schon Dave Stanton, wenn der nicht gerade wieder eine kalbende Kuh zu versorgen hatte. Oder Pat Garret, der Mann mit dem Namen einer Westernlegende, der in diesem Leben ein ziemlich braver Familienvater geworden war. Vielleicht setzte sich auch Phil Sullivan vom Kolonialwarenladen mit an den Tisch. Seit er seinen Sohn verloren hatte, trank er manchmal mehr, als er sollte, und die anderen passten immer ein wenig auf, dass er es nicht übertrieb.

Ziemlich sicher war Brian Cooper da, dem die Blockbuster-Videothek gehörte, denn er konnte noch immer weder Frau noch Freundin für die Abendgestaltung vorweisen. Unverständlicherweise, wie Nick fand, denn Brian war ein schlanker, junger und gesunder Mann.

Gelegentlich ließ sich auch Matthew Wyoming vom Supermarkt blicken. Der wiederum hatte zwar Freundinnen, doch die meiste Zeit ertrank er in Liebeskummer, weil er gerade wieder einmal verlassen worden war. Abends noch für eine Stunde ins Diner zu gehen und einige der Jungs zu treffen, ohne sie hinter der Ladentheke zu bedienen, war für Nick die Belohnung für die Mühen seines Tages.

Im Moment war es morgens, sechs Uhr dreißig. Nick schaltete, seinem Ritual folgend, Licht und Zapfsäulen ein und hängte die Nummernschilder an den Haken des Castrol Wandkalenders auf Mittwoch, den fünften Februar, um. Dann humpelte er durch die Tür hinter der Theke zurück in seinen kombinierten Wohn- und Küchenraum. Er bereitete sich, ebenfalls wie jeden Morgen, ein Frühstück aus zu viel Pfannkuchen mit zu viel Honig und zu viel süßem Kaffee. Irgendwann hatte ihm mal jemand gesagt, dass das nicht gut für seine Füße wäre und auch nicht für den Rest seiner Beschwerden, doch Nick hatte beschlossen, dass er sich die letzten Überbleibsel von Genuss in seinem Leben nicht auch noch nehmen lassen wollte.

Neben der Wohnküche führte eine Rundbogentür in Nicks Schafzimmer und von dort eine weitere ins Bad. Wenn man die Reparaturwerkstatt und das Lager noch dazunahm, waren die Eckpunkte von Nicks Leben damit weitgehend beschrieben.

Doch so bescheiden und einfach der Platz zu sein schien, an dem Nick McQueen lebte, so hatte er in Wahrheit eine alles andere als bescheidene Bedeutung. Die Tankstelle war die Eintrittsschwelle nach Sweetwater. Jeder, der jemals in diesen Ort gekommen war oder ihn verlassen hatte, war an dieser Tankstelle vorbeigefahren oder hatte hier getankt. Trotz seiner Beeinträchtigungen sah Nick alles, hörte alles und meldete alles, was irgendwie auffällig war. So gesehen war er nicht einfach nur ein übergewichtiger alter Mann in Latzhose: Nick war der Wächter der Schwelle.

SWEETWATER

Caleb wachte auf, als der Morgen dämmerte. Ein kurzer Blick auf die Uhr in der Mittelkonsole zeigte ihm, dass die Elektronik des Wagens durch den Ausflug in den Straßengraben gelitten hatte. Die Anzeige stand noch immer auf 00:00, der Doppelpunkt blinkte dennoch im Sekundentakt. Vermutlich hatte eine winzige Unterbrechung in der Stromversorgung dafür gesorgt, dass die Uhr sich auf Justiermodus gestellt hatte.

Als Erstes nahm Caleb die Schatten einer Bergkette wahr, die sich vor dem heller werdenden Firmament abzeichneten. Dann schälten sich die Umrisse vereinzelter Bäume und Wüstenbüsche aus dem Zwielicht. Kurz darauf tauchte der von einzelnen Grasbüscheln durchwirkte Sandboden auf. Als es schließlich so hell war, dass die Farben in die Welt zurückkehrten, entdeckte Caleb im Rückspiegel hinter dem Wagen ein Straßenschild. Er stieg aus. Seine Schuhe wirbelten kleine Staubwolken im sandigen Boden auf. Caleb ging mit einem Gefühl wie in einer Zeitlupe zum Heck des Dodge. Von dort aus konnte er das Schild lesen:

Sweetwater 3 Meilen