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Corinna Kammerer / Shirley Michaela Seul

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Mein Leben mit Computern und ihren Angehörigen

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Corinna Kammerer / Shirley Michaela Seul

Im zarten Alter von fünf Jahren reparierte Corinna Kammerer das Kofferradio ihrer Eltern und erlebte so zum ersten Mal, wie beglückend es sein kann, wenn ein Gerät das tut, was es soll. Heute leitet die studierte Physikerin eine Firma für Netzwerktechnik, Standortvernetzung, Hard- und Software und betreut über 100 Stammkunden. Corinna Kammerer lebt in der Nähe von Ulm.

Shirley Michaela Seul ist eine erfolgreiche Belletristik- und Sachbuchautorin. Sie lebt im Fünfseenland bei München. www.shirleyseul.de

Über dieses Buch

Verschollene Diplomarbeiten, kompromittierende Suchverläufe, peinliche Fotos – Corinna Kammerer ist nichts Menschliches fremd. Zu häufig hat sie Einblicke gehabt in die Dateien und Ordner ihrer Kunden. Seit fünfzehn Jahren arbeitet sie mit Computern und ihren Angehörigen und ist zur Stelle, wenn »er« sich mal wieder aufgehängt hat. Mit viel Feingefühl für die Nöte ihrer Kunden, aber auch für die meist unverstandenen Geräte, erzählt sie von den komischen, skurrilen und manchmal auch berührenden Momenten ihrer täglichen Arbeit. Die perfekte Unterhaltung für alle, die gerne einen Blick auf die Bildschirme der anderen werfen.

Impressum

eBook-Ausgabe 2013

Knaur eBook

© 2013 Knaur Taschenbuch

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: © FinePic®, München / Helmut Henkensiefken

ISBN 978-3-426-41609-9

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Prolog

Nichts geht mehr

Da sind Sie ja endlich! Hier drehen schon alle durch!«

Mit diesem Satz werde ich häufig begrüßt. Manchmal schmeichelt er mir, manchmal empfinde ich ihn als Last. Es kommt auf den Tonfall an. Und der hängt wiederum davon ab, wie lange jemand an einer plötzlich über Nacht verschollenen Doktorarbeit saß, wie viele Rechner an einem amokenden Netzwerk hängen, wie dringend eine Mail erwartet wird. Wo Computer sind, gibt es auch Katastrophen … und natürlich die lieben Angehörigen der Computer. In Extremfällen offenbart sich dann der wahre Charakter eines Menschen. Ein Computerproblem ist immer ein Extremfall. Darunter leide nicht nur ich, sondern auch das Gerät. Hin und wieder begegnet mir eine Beule im Gehäuse. Andere kommen nach einem Wackelkontakt an der Steckdose mit einem blauen Auge davon. Wieder andere werden stets sehr liebevoll behandelt. Mit Kosenamen angesprochen. Mein Kleiner. Das Genie. Mein Bester. Mein ausgelagertes Gehirn. Diese Liebesbezeichnungen haben ihre Gültigkeit verloren, wenn ich erscheine. Denn vor mir ist immer der Fehler aufgetaucht. Fällt es bei Mitmenschen schon schwer, Fehler zu verzeihen, so geht das bei Computern gar nicht. Die müssen laufen. Sind doch schließlich Computer!

 

Ich bin die natürliche Folge eines Fehlers. Ich werde angerufen, wenn es brennt, was häufig bedeutet: Nichts geht mehr. Subjektiv betrachtet. Denn zwischen Er fährt nicht hoch und Nichts geht mehr besteht ein Unterschied wie zwischen einem Kratzer im Lack und einem Totalschaden.

Es heißt, Schönheit liege im Auge des Betrachters. Desaster ebenso. Nichts kann heißen, der Anschluss der Maus ist abgefallen. Nichts kann ebenso heißen, drei von vier Datenplatten sind ausgefallen, und der Server verweigert jeden Zugriff, bis er wieder vier Räder, also Platten hat, weil er das für sein Gewohnheitsrecht hält.

 

Als ich meine berufliche Selbständigkeit als Administratorin vor rund 15 Jahren begann, erschrak ich bei solchen Anrufen bis ins Mark. Dann stellte sich heraus, dass sie meistens nur Geisterbahnen waren. Großer Schreck, nichts dahinter. Zum Beispiel: Der Bildschirm in der zentralen Verwaltungsstelle eines Unternehmens bleibt dunkel. Drama! Alle Telefone laufen heiß. Horrorszenarien werden genüsslich und/oder panisch diskutiert. Gerade heute! Wo wir dringendst auf die Daten warten! Was sollen wir jetzt bloß machen?

… Zum Beispiel den Helligkeitsregler, den der Putzmann am Abend zuvor beim Abstauben auf null gewischt hat, zurückdrehen. Nichts geht mehr kann alles Mögliche bedeuten. Nur in den seltensten Fällen heißt Nichts geht mehr, dass nichts mehr geht. Es ist keine Aussage über Leben oder Tod, sondern die Mitteilung, dass eine bestimmte Person einen für sie nicht lokalisierbaren Fehler festgestellt hat. Da ich eine andere Person bin, stehen meine Chancen besser, den Fehler zu identifizieren. Es kann allerdings dauern. Manchmal Tage. Möglichkeiten gibt es unzählige. Das ist das Schreckliche an meinem Beruf. Und das Wunderbare. Ich liebe Herausforderungen! Natürlich male ich mir tunlichst nicht aus, was wäre, wenn wirklich nichts mehr ginge. Ich betrachte das als eine Art Zen-Übung. Tief durchatmen und die Aussage zu dem Menschen zurückgeben, von dem sie stammt. Für den beim Support um Unterstützung bittenden Kunden geht subjektiv nichts mehr. Was das objektiv heißt, muss erst ermittelt werden.

 

Meine Ermittlungen können schnell von Erfolg gekrönt sein oder aber ins Dickicht führen. Manche Täter verwischen ihre Spuren gründlich, so dass die Rückverfolgung zur Ursache äußerst aufwendig ist. Manchmal findet sich eine Leiche im Netz. Hin und wieder läuft eine Anwendung Amok. Zum Beispiel, indem sie ständig Protokoll darüber führt, was sie tut. Das hält der stärkste Rechner nicht aus. Sein Rechenhirn läuft über. Das Genie gibt den Geist auf. Und heißt dann nicht mehr mein bestes Stück.

Sondern Er.

Er will nicht mehr.

Er spinnt.

Ich habe keine Ahnung, was der da macht.

 

Ich nicke.

Der Satz stimmt – nicht nur temporär. Niemand weiß so ganz genau, was Computer eigentlich machen: Größtenteils sind sie im Untergrund aktiv. Wir schauen auf den Bildschirm und sehen den geringsten Teil der Persönlichkeit des Computers. Eigentlich ist der Bildschirm eine Maske, auf der die Geräte uns lediglich zeigen, was sie glauben, dass für den Anwender interessant ist, und worum sie gebeten wurden. Das tun sie, weil man es ihnen mal gesagt hat: Man hat sie darauf programmiert. Computer sind bemüht, auf jede Anfrage korrekt zu reagieren, wobei sich ihr Verständnis von korrekt auf ihre Art von moralischen Vorstellungen bezieht. Was hinter dem Bildschirm vor sich geht, bleibt uns verborgen. Wir sehen ja auch nicht ins Hirn unseres Gegenübers. Bittet man einen Computer, alle Prozesse aufzulisten, die gerade laufen, wird man staunen, was der so alles macht. Nebenher. Neugierig? Bei Windows sehen Sie das mit dem Taskmanager: Steuerung + Alt + Entfernen. Na ja, fast. Sie sehen jenen Teil, von dem Microsoft annimmt, dass er für den Benutzer interessant sein könnte. Um wirklich alle Prozesse aufzulisten, bedarf es Zusatzprogramme. Mit den Bordmitteln allein klappt das nicht. Unter Linux schon – top heißt der Befehl auf der Konsole, und eine lange Liste rollt über die Mattscheibe. Sollten Sie einen Apple benutzen, schauen Sie sich die Aktivitätsanzeige in den Dienstprogrammen an. Alles erfahren wir zwar nicht, aber man kann sich schon wundern, was die lieben Kleinen so treiben. Vor unseren Augen … hinter unserem Rücken.

Die Epilepsie im Handgelenk

Gestern Abend ist der Fehler zum ersten Mal aufgetreten. Aber da dachten wir noch, jetzt ist ja gleich Feierabend«, schilderte der Chef der mittelständischen Firma, der mich am Samstagmorgen um sieben Uhr aus dem Wochenende geschrillt hatte, seinen Notfall.

Normalerweise hätte ich den Auftrag nicht angenommen, diese Firma gehörte nicht zu meinem Pool. Doch einer meiner Stammkunden hatte mich empfohlen. Da musste ich ran, auch wenn es mir widerstrebt, in ein fremdes Netzwerk einzudringen.

Der Chef führte mich zu zwei Mitarbeiterinnen. Er musste dringend telefonieren, was mich keineswegs wunderte. Chefs zeigen höchst ungern, dass sie keine Ahnung haben. Und wenn sie das überspielen, passiert meist der schwerste anzunehmende Unfall.

Zweimal wurde ich bereits Zeugin, als ein Chef mit einem beherzten Schlag auf den für alle anderen verbotenen Schalter sein Unternehmen lahmlegte. Weshalb man ihn selbstverständlich nicht zur Rechenschaft ziehen konnte. Der Computer war schuld, die Epilepsie im Handgelenk oder eben: ich. Letzteres bin ich gewöhnt. Und es ist mir auch am liebsten.

 

Die beiden Projektmanagerinnen begrüßten mich förmlich. Ihr dick aufgetragenes Make-up konnte ihre Begeisterung, den Samstagvormittag in der Firma zu verbringen, nicht übertünchen.

»Wahrscheinlich ein Virus«, meinte eine.

»An meinem Rechner geht die Verwaltungsmaske nicht mehr auf«, sagte die andere. »Wenn das nicht klappt, ist unser Betrieb lahmgelegt.«

Um herauszufinden, wie ansteckend dieser Befall war, erkundigte ich mich: »Wie viele Rechner haben das Problem denn noch?«

»Neun.«

»Wie viele sind es insgesamt?«

»40«, antwortete die eine.

Und die andere ergänzte: »Das fing schon gestern an, kurz vor Feierabend.«

Immer wieder begegnet mir das Phänomen, dass Menschen glauben, ein Computer würde sich über Nacht erholen, ein schlimmer Fehler würde sich in Luft auflösen. Übrigens haben die Leute damit gelegentlich recht.

»Was machen Sie denn mit den Geräten?«

»Unsere Kunden verwalten«, erklärte die eine.

»Aber es geht ja nichts mehr«, widersprach die andere.

Ich stellte meinen Arztkoffer auf den Tisch neben dem Computer. »Zeigen Sie mir mal, wie das genau aussieht, dass nichts mehr geht.«

 

Müde, blässlich, mit schwach flatterndem Puls flackerte mich ein Röhrenmonitor an. Dem ging es nicht gut. Der hatte lange keine Kontrolluntersuchung genossen. Auch als Röhrenmonitor muss einer nicht flackern. An einem einzelnen Monitor lässt sich der Zustand eines Netzes ablesen. Dieses hier machte einen verwahrlosten Eindruck. Das Programm reagierte nicht. Zu dritt starrten wir auf eine Sanduhr. Meine Anamnese dauerte nur wenige Minuten, dann war die Diagnose klar: Die Impfung war das Problem. Ein Update des Virenscanners hielt den Rechner fest in seinen Fängen. Er war bis aufs äußerste mit sich selbst beschäftigt und hatte keine Kapazitäten frei, anderweitige Anforderungen zu erfüllen. Womöglich litt er darunter. Rechner sind ja von Haus aus dienstbeflissen, allein dazu auf der Welt, die Befehle auszuführen, die sie erhalten. Wäre der Rechner in einem gepflegten Zustand, hätte sich irgendjemand seiner angenommen, hätte das nicht passieren müssen. Doch die vorhandene Hardware war den modernen Anforderungen nicht gewachsen. Keinesfalls muss man sich im Jahresrhythmus eine neue Hardware zulegen. Die Systeme laufen lange. Allerdings sollte man auf alte Systeme keine neuen Programme schrauben und das womöglich stetig wiederholen. Da braucht man sich nicht zu wundern, wenn der Rechner eines Tages nur noch in Zeitlupe funktioniert – oder gar nicht mehr. Eine Pferdekutsche wäre mit einem 200-PS-Motor auch überfordert.

 

In diesem Unternehmen war ein Wechsel der Systemadministration oder der Hardware oder am besten beides angesagt, was ich beim Abschied freundlich andeutete. Als ich den funkelnden Glaspalast verließ, fühlte ich mich euphorisch. Problem gelöst. Hypervirenscanner explantiert, soliden Virenscanner implantiert. Noch mal davongekommen. Gelöste Probleme fühlen sich großartig an. Belohnungshormonbonbon! Man merkt gar nicht, dass man welche gehabt hat. Ich würde mein Wochenende nicht damit verbringen, durch virtuelle und/oder reale Verliese zu robben und Fehler zu suchen. Jetzt würde ich an diesem wundervollen Sommersamstagvormittag erst mal frühstücken. Ich steuerte eine Bäckerei an, um mir zur Erstversorgung einen Cappuccino zu holen. »Guten Morgen!«, grüßte ich die lange Schlange der Wartenden.

Wahrscheinlich bedient hier eine Wochenendaushilfe, so wie ich, dachte ich mir. Doch diese Wochenendaushilfe war nicht davongekommen. Den Tränen nahe, war sie kurz davor, auf ihre Registrierkasse einzuschlagen, die schrill kreischte. Ich reimte mir das Drama zusammen. Offenbar funktionierte die Kasse nicht.

»Das kann noch dauern«, warnte mich mein Vordermann in der Schlange. »Die Kasse geht nicht.«

»Die Dame hinter dem Tresen ist neu hier.«

»Ihre Kollegin kommt erst in einer halben Stunde.«

»Die kennt sich null aus.«

»Das ist ihr erster Tag.«

»Jeder muss mal anfangen.«

»Aber gerade heute!«

Jetzt war ich voll umfänglich im Bilde. Als die Tür sich öffnete und eine weitere Kundin hereinkam, war ich an der Reihe, den Fall zu schildern. Da rief jemand nach vorne: »Schreiben Sie doch alles auf!«

»Wie aufschreiben?«, fragte die karottenrothaarige Verkäuferin, noch keine 20, dafür mindestens zwei Dutzend Piercings und Ohrringe.

»Auf Papier! Mit einem Stift!«

»Aber das ist ja to-tal um-ständ-lich«, schniefte sie.

»Haben Sie die Kasse schon mal ausgeschaltet und dann nach 30 Sekunden wieder eingeschaltet?«, mischte ich mich ein, obwohl das normalerweise nicht meine Art ist, aber mein Koffeinnotlicht blinkte besorgniserregend. Außerdem löst man mit diesem Vorgang 80 Prozent aller Probleme. Nicht nur im technischen Bereich, nebenbei bemerkt.

»Wo denn?«, fragte sie jämmerlich.

»Hinten rechts oder links«, rief ein Mann von vorne rechts. Ein anderer von hinten links enterte den Thekenbereich. Zwei weitere folgten. Männer, na klar. Erst mal machen. Dann gut fühlen. Wenn kaputt, Computer schuld.

»Hier ist der Schalter.«

»Ja, das ist er.«

»Soll ich?«

Die Menge murmelte zustimmend.

Die Verkäuferin erstarrte, als ein langgezogenes, schließlich ersterbendes Piepsen ertönte. War das jetzt die Kündigung oder der Neustart ins Berufsleben?

 

Als ich zehn Minuten später bestens gelaunt mit einem Cappuccino und einem Croissant auf der Straße stand, klingelte mein Handy. Ich stellte den Kaffeebecher auf das Dach meines Kombis. Nicht vergessen, nahm ich mir wie so oft vor. Mal klappt es, mal nicht. Meine nächste Anschaffung musste klappen: ein Allrad. Ich wohne auf der Alb, und die Winter sind hart, lang und schneereich, man nennt die Gegend schwäbisch Sibirien.

Birgit las ich auf dem Handy-Display.

»Hey, hallo Birgit«, meldete ich mich hocherfreut. Wahrscheinlich würde sie mich fragen, ob ich bei dem herrlichen Wetter mit ihr ausreiten wollte. Klar wollte ich. Diese Reiterfreundschaft, die sich im letzten Jahr entwickelt hatte, machte mich nicht nur beim Galoppieren glücklich. Meine Kindheit hatte ich am liebsten auf einem Ponyhof verbracht. Birgit hatte zwei herrliche Pferde, den Schecken Justin und das Painthorse Gina. Ein sehr feinsinniges Pferd mit wunderschönen, sanften Augen. Ich spürte schon ihre samtweiche Schnauze in meiner Hand. Und wenn sie mich erst anstupste!

»Corinna!«, rief Birgit und klang gar nicht entspannt und nach Ausritt.

Um Gottes willen, es ist was mit den Pferden, schoss mir durch den Kopf. Kolik? »Ja?«, fragte ich schnell.

»Nichts geht mehr!«, rief Birgit.

Ich atmete auf.

Lockere Schrauben

Das erste technische Gerät, das für mich eine Bedeutung hatte, war ein Kofferradio von Schaub Lorenz. Einen Fernseher gab es damals bei uns noch nicht. Es war eines der ersten Kofferradios, nach den riesigen Röhrenradios mit einem Gehäuse aus Nussbaumholz. Das kleine Radio hatte eine eigene Antenne und war allabendlich das Zentrum der Aufmerksamkeit meiner beiden großen Schwestern, die gerne Schlager hörten. Bis eines Tages ein Drama geschah und das Gerät beim Einschalten keinen Mucks mehr von sich gab. Egal, wer es wie schüttelte, beschwor oder beschimpfte. Ich versuchte es auch mit Streicheln. Doch nichts half.

 

Am nächsten Morgen, als alle aus dem Haus waren – außer meiner Mutter und mir –, nahm ich mir das Radio vor. Ich holte einen kleinen Schraubenzieher aus Vaters Werkzeugkasten im Keller und zerlegte das Gerät in alle Einzelteile. Ich erinnere mich an die Morgensonne, die auf mein Werk schien, und an die Faszination, die diese kleinen Teile auf mich ausübten. Manche sahen aus wie winzige Tanks, andere wie Städte mit Straßen und Knotenpunkten, von hoch oben fotografiert. Ich sah mir alles lange an und hatte nicht den Schimmer einer Ahnung, was die Ursache für den Fehler sein könnte. Mit meinen fünf Jahren wusste ich ja noch nicht einmal, dass es Elektrotechnik gab. Aber ich hatte es mir immerhin angeschaut. Mit befriedigter Neugier schraubte ich alles wieder zusammen, in beliebiger Reihenfolge, nicht überstürzt, sondern konzentriert, nachdem ich Teil für Teil lange betrachtet und einen guten Platz dafür gesucht hatte. Es blieben nur wenige Schrauben und Winzigkeiten übrig, und als ich fast fertig war, rief meine Mutter nach mir. »Corinna, was machst du? Es ist so ruhig bei dir.«

Meine Mutter kannte mich ja schon ein paar Jahre und wusste, dass Ruhe nicht unbedingt Gutes zu bedeuten hatte, wie bei wissbegierigen Kindern üblich.

»Radio reparieren«, antwortete ich und setzte die letzte Platte des Gehäuses wieder auf. Hinter mir verdichtete sich die Atmosphäre zu einem Gewitter. Dieses rollte in Gestalt meiner lieben Mama ins Wohnzimmer und donnerte sogleich los: »Das darf ja wohl nicht wahr sein!« Meine Mutter hob das Radio hoch. »Wenn das jetzt kaputt ist!«

Aber es ist doch schon kaputt, dachte ich und hoffte: gewesen.

Meine Mutter steckte den Stecker in die Dose.

»Und nun die Nachrichten. Bonn«, brüllte die Nachrichtensprecherstimme los.

Meine Mutter zuckte zusammen. Sie drehte den Ton leiser und starrte mich an.

»Aber das war doch … kaputt?«

Gewesen, dachte ich.

Bei meinen Schwestern löste die erfolgreiche Reparatur Begeisterungsstürme aus, und ich durfte fortan die Schlagerparade bis zum Schluss mit anhören.

 

An dieses frühkindliche Erlebnis denke ich hin und wieder zurück. Es enthält bereits alle Elemente, die mir beim Umgang mit Technik Tag für Tag begegnen: die wunderbaren Funktionen, die uns beglücken, wenn ein Gerät das tut, was wir wollen. Die Enttäuschung, die häufig in Wut übergeht, wenn es seine Dienste versagt. Die Hilflosigkeit – meist der anderen, hin und wieder auch meine eigene – und der Wunsch, die Situation zu retten, damit es kein Donnerwetter gibt und alle wieder froh sind.

Der Schritt ins Innere der Technik: Die Aufregung beim Öffnen des Gehäusedeckels – was werde ich dort vorfinden? Wird mich dieses Abenteuer in Teufels Küche führen? Und schließlich das Erfolgserlebnis: Es funktioniert oft schon, wenn man dem Gerät einfach nur etwas Aufmerksamkeit widmet. Zu viel Aufmerksamkeit sollte man ihm allerdings nicht schenken. Alles eine Frage des Maßes.

 

Neulich hörte ich, dass es normal sei, kurz vor einem Abgabetermin – Doktorarbeit, umfangreiches Konzept, Buch – ein massives Computerproblem zu erleiden.

»Ich hielt das für Humbug«, erzählte mir die Frau, der es dann doch passiert war. »Alle hatten mich gewarnt. Am Ende der Doktorarbeit würde dieser Fall eintreten. Und dann ist es passiert. Drei Tage vor Abgabetermin. Zuerst der Drucker. Dann die Maus, und zum Schluss blieb der Bildschirm dunkel.«

Ich nickte. Diese Kette von Geschehnissen, die gerne auftritt, wenn Mensch und Maschine unter Druck geraten, war mir schon mehrfach begegnet. Da kann man sich schon mal gewisse Fragen stellen. Nur nicht einem Techniker natürlich. Man würde einen dieser Blicke ernten. Ließe man einen solchen Blick durch einen Filter laufen, erhielte man folgende Meinung:

Die hat keine Ahnung!

Die spinnt sich was zusammen!

Technik ist schließlich kein Mummenschanz.

… Aber manchmal treibt sie gern Schabernack …

Abstürze und andere Katastrophen

Bei meiner Physik-Diplomarbeit hatte ich ein riesiges Computerproblem. Vier Tage vor Abgabe blieb der Bildschirm meines Notebooks schwarz, egal, was ich anstellte. Nach dem Einschalten ertönte zwar noch ein hoffnungsfroher Piepser, darüber hinaus fand das Gerät aber keinen Anschluss an seinen Chor. Leider hatte mich vor so etwas niemand gewarnt, daher war die Sicherungskopie im Geiste Asbach Uralts – höchstens die Hälfte der Arbeit würde sich rekonstruieren lassen.

An meiner körperlichen Reaktion las ich ab, dass es sich um einen ernsten Notfall handeln musste: Mir brach der kalte Schweiß aus. Zitternd schloss ich den Deckel des Notebooks, packte den Tabernakel sorgsam ein und trug ihn zu Jonathan und Walter, meinen beiden besten Freunden in jener Zeit, den frühen 1990er Jahren. Sie ließen sich die Misere kurz schildern und sagten wie aus einem Munde: »Den brauchen wir gar nicht erst einzuschalten.« Das ehrte mich zwar, verringerte meine Panik jedoch nicht.

»Sonst fällt euch nichts dazu ein?«, fragte ich.

Wie beim Wasserballett zuckten sie die Schultern synchron im Sekundentakt.

»Und was soll ich jetzt machen?«

»Am besten, du bringst das Teil sofort zu Manfred.«

Manfred war eine bekannte Größe an der physikalischen Fakultät. Er arbeitete seit Jahren an seiner Habilitation, lebte genau genommen an der Uni und hatte eine Schwäche für streikende Computer – damit war er zu der Zeit einer von wenigen. Seine Art, Kaffee zu kochen, hatte er vermutlich mit Hilfe einer Packung Filtertüten erlernt, auf der eine Filtertüte randvoll mit Kaffeepulver prangte. Sein Kaffee erinnerte farblich eher an Schmieröl, aber für gewisse Extremsituationen war er genau das Richtige: ein gallenbitterer Schocker fürs Nervensystem.

Ich kannte Manfred nur vom Hörensagen und einer Tasse Kaffee, die ursprünglich für jemand anders bestimmt war. Es war nicht einfach, seine Aufmerksamkeit zu erregen, als Mensch hatte man hier die denkbar schlechtesten Karten. Doch womöglich hielt ich mit meinem streikenden Notebook die Eintrittskarte zu Manfreds Höhle in Händen.

Walter tippte schon auf das Telefon. Grün. Hörer mit Spiralkabel. Kleiner Aufdruck in Silber rechts unten: Polizei 110, Feuer 112.

»Ah, hallo Manfred. Du, wir haben da ein Problem …« Während Walter dieses nun schilderte, erteilte Jonathan mir genaue Instruktionen, wie ich mich Manfred nähern sollte: »Zuerst kaufst du am Schweizer Bahnhofskiosk eine Stange blaue Gauloises ohne Filter.«

»Warum am Schweizer Kiosk?«, fragte ich.

»Ihr Nichtraucher macht mich fertig«, stöhnte Jonathan, ehe er es mir erklärte: »Wegen des Preises! Das ist doch das Gute hier: Kannst dir immer aussuchen, in welchem Land du die beste Ware zum billigsten Preis kriegst.«

Das war eine Hauptbeschäftigung nicht nur vieler Mathe-StudentInnen in Konstanz an der Grenze zur Schweiz.

Jonathan fuhr fort: »In der Fakultät klopfst du an Manfreds Bürotür. Laut. Es kann dauern, bis er öffnet. Gegebenenfalls genügt es nicht, dass du mit der Faust klopfst. Es ist ratsam, einen Stein in der Hand zu haben, sonst schlägst du dir die Knöchel wund. Auf keinen Fall darfst du eintreten, ohne dass er es merkt. Dann regt er sich auf, und es geht gar nichts mehr. Irgendwann hört er dich schon. Er öffnet, du reichst ihm zuerst das Notebook, dann die Gauloises, hörst du, das ist wichtig. Zuerst das Notebook. Sprich ihn auf keinen Fall an! Schon gar nicht fragst du ihn, wie lange es dauert. Schau ihm nicht in die Augen. Am besten fragst du ihn nichts, du denkst nicht mal dran, wissen zu wollen, wann er eventuell Zeit hat, sich deinem Notebook zu widmen.«

Vertraut mit den Umgangsformen der Spezies Naturwissenschaftler, leuchtete mir das alles ein, und ich tat, wie mir geheißen. Als Manfred mein Heiligtum in Händen hielt und die Tür überraschend sanft vor meiner Nase schloss, sendete ich ein Stoßgebet zu einem neuen und hoffentlich zuständigen Heiligen für die Reanimation defekter Geräte. Die da oben waren inschallah offen für technischen Fortschritt, oder sollte das etwa auch noch der heilige Christophorus übernehmen, der ja mit den Autofahrern schon völlig überlastet war?

 

Dank Manfreds Hilfe gab ich meine Diplomarbeit am letzten Tag der Frist noch rechtzeitig ab. Der Inhalt war vollständig, nur für die sprachliche Korrektur hatte die Zeit nicht mehr gereicht. In manchen Sätzen fehlten die passenden Formulierungen, speziell in der Einleitung waren zwei Sätze unvollständig. Als mein Professor die Arbeit gelesen hatte, stellte er fest: »Sie hatten wohl ein Computerproblem?« Keine Spur einer Unterstellung, es könnte sich dabei um eine Ausrede handeln, lag in seinem Ton. Da wusste ich wieder einmal, dass ich beim richtigen Prof gelandet war.

Stressübertragung

Eigentlich brauchen wir uns nicht zu wundern, dass uns die Computer hin und wieder im Stich lassen, denn das haben wir ihnen zum Teil sogar beigebracht. Ein dergestalt sozialisiertes Gerät ist womöglich lernfähig. Oder, wie man es von Hunden und ihren Besitzern kennt: Wie der Herr, so ’s G’scherr.

 

Manche Leute rufen nach der Party am Donnerstagabend freitags im Büro an und melden sich krank. »Mir ist total schlecht.«

Kaum haben sie den Hörer aufgelegt, wird ihnen wirklich schlecht. Schlagartig. Der gewonnene Freitag zerrinnt unter den Fingern: womöglich zwischen Toilette und Eimer. Man sollte sich die Krankheiten, die man angeblich hat und deswegen kriegt, vorher überlegen. Wer seinen Computer zum Zeugen werden lässt, wenn er Telefonate führt, in denen er eine verbummelte Abgabefrist oder ein sonstiges Versäumnis auf die Technik schiebt, braucht sich nicht zu wundern, wenn die Technik auch diesen Befehl diensteifrig in die Tat umsetzt. So werden aus Lügen traurige Wahrheiten:

 

 

Wer hat heutzutage kein Verständnis für solche Katastrophen? Das kennt man doch! Das fällt unter höhere Gewalt. Auch Gott lässt sich nicht in die Karten schauen. Und außerdem gibt es da ja noch den Menschen, der vor dem Computer sitzt. Psychodynamische Effekte nenne ich ein Phänomen, das mir immer wieder mal begegnet, besonders in Firmen mit suboptimalem Betriebsklima:

Ein Mitarbeiter hat ein vermeintliches Computerproblem. Dieses Problem existiert aber genau genommen nicht. Der Mitarbeiter bildet sich das nur ein. An allem ist der Computer schuld. Auch daran, dass der Chef einen Urlaubsantrag verliert oder dass ein Kunde schlechte Laune hat. Es ist der Computer. Man könnte auch sagen: Er opfert sich. Alle Kolleginnen und Kollegen spielen mit und halsen ihre Missverständnisse und Misserfolge dem schwarzen Schaf auf. Dabei besteht dessen einziger Fehler darin, etwas langsam geworden zu sein in letzter Zeit, weil betreffender Mitarbeiter ihn mit Programmen, die ihm auf den Magen schlagen, überfüttert hat.

Ich wundere mich oft, dass die Geräte trotzdem noch so fleißig sind und unermüdlich rechnen. Bei den Arbeitsbedingungen! Eines Tages wird der Support angerufen. »Das blöde Ding nervt mich zu Tode! Der wird immer langsamer.«

Nun ist das Problem aber nicht der Computer, sondern derjenige, der davorsitzt. Deshalb finde ich keinen richtigen Fehler, außer einer Magenverstimmung, womit der Mitarbeiter aber nicht zufrieden ist. Wenn man da als Administratorin keine V-Leute aus der Abteilung im Rücken hat, die einem flüstern, was Sache ist … dann hat man wirklich ein Problem! Und gelegentlich selbst eine Magenverstimmung.

Pfoten weg