Über die Autorinnen und den Autor

Dr. Ulrike Beckrath-Wilking

Nervenärztin, Fachärztin für Psychosomatische Medizin, Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin, Spezielle Psychotraumatherapie (DeGPT), EMDR-Therapeutin, Supervisorin für Traumatherapie, PITT und EMDR (EMDRIA), Dozentin, langjährige Leitung einer Psycho-/Traumatherapiestation; jetzt in eigener Praxis in München tätig.

Tel. (Praxis): 089-33039707

E-Mail: info@trauma-institut.net

Marlene Biberacher

Langjährig als Sozialpädagogin beim Evangelischen Beratungsdienst für Frauen im Bereich für junge Volljährige tätig; Traumafachberaterin, Dozentin an verschiedenen Akademien, Seminare, Vorträge und Supervision, eigene Beratungspraxis in Eching, Künstlerin.

Tel. + Fax: 089-45237806

E-Mail: info@trauma-institut.net

Volker Dittmar

Als Diplom-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut tätig in der Psychiatrischen Tagesklinik der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Regensburg am Bezirksklinikum Regensburg.

Aufbau und Leitung eines spezialisierten Angebotes für Patienten mit Traumafolgestörungen. Ausbildungen in Verhaltenstherapie und Psychodrama. Traumatherapeut mit vielfältigen Ausbildungen, u.a. in EMDR und PITT, Supervisior und NLP-Lehrtrainer, Dozent seit vielen Jahren im Bereich Traumatherapie (u.a. Curriculum Traumafachberatung), Gruppentherapie und Gesprächsführung

E-Mail: volker.dittmar@medbo.de

Dr. Regina Wolf-Schmid

Fachärztin für Nervenheilkunde, Fachärztin für Psychosomatische Medizin, Ärztliche Psychotherapeutin, Spezielle Traumatherapie (DeGPT). Weiterbildungen in Traumatherapie u.a. Fischer & Hofmann und PITT, zertifizierte EMDR-Therapeutin, Weiterbildungen in transpersonaler Psychologie und Trauerbegleitung. Nach langjähriger Tätigkeit in einer psychotherapeutischen Krisenstation, einer psychosozialen Beratungsstelle und in eigener Praxis in München jetzt als Oberärztin in der Psychosomatischen Clinica Holistica Engiadina in Susch (Schweiz) tätig.

E-Mail: regina.wolf-schmid@bluewin.ch

Ulrike Beckrath-Wilking, Marlene Biberacher,

Volker Dittmar, Regina Wolf-Schmid

Traumafachberatung, Traumatherapie & Traumapädagogik

Ein Handbuch für Psychotraumatologie im beratenden,

therapeutischen & pädagogischen Kontext

Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2013

Coverbild: © Marlene Biberacher (Mai)

Covergestaltung / Reihenentwurf: Christian Tschepp

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2012

Satz: Peter Marwitz, Kiel (etherial.de)

Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn

ISBN der Printausgabe 978-3-87387-899-0
ISBN dieses eBooks: 978-3-87387-900-3

Für Greta und Marlene, Viola, Lucia, Max, Joshua und Jolanda und alle großen und kleinen – und alle Inneren – Kinder dieser Welt.

Möge euer Weg in die Zukunft von leuchtenden Glückspunkten und lächelnden Sternen begleitet sein …

Dank

Dieses Buch wäre nicht entstanden ohne die mentale Unterstützung und mancherlei Verzicht von unseren Familien und Partnern, denen wir dafür besonders danken.

Wir danken auch unseren zahlreichen Klientinnen und Patienten, die uns mit ihrer Bereitschaft, sich auch auf Neues einzulassen, über viele Jahre ermöglichten, mit ihnen und von ihnen zu lernen – und uns dabei mit ihrem Mut, ihrer Kreativität und Tapferkeit oft tief berührten.

Besonderer Dank an die vielen Teilnehmer unserer Traumafachberater-Curricula, die uns viele Fragen stellten und mit kreativen Ideen bereicherten.

Wir können leider nicht alle namentlich nennen, denen wir uns zu Dank verpflichtet fühlen.

Ulrike Beckrath-Wilking dankt ihrem Exteam, das mit ihr den Aufbruch in die Traumatherapie wagte, viel umzulernen bereit war und zu engagierten empathischen Helfern und Helferinnen für so viele traumatisierte Menschen wurde. Ein besonderer Dank gilt Sepp Baumgartner, Judith Mauser und Petra Sadowski.

Und ein ebenso herzlicher Dank an Freunde und Kolleginnen, die Teile der Entwürfe kritisch gelesen haben, besonders an Angela Thalmaier, Rudolf Müller-Schwefe, Elke Schallehn-Melchert, Ursula Stahlbusch, Constanze Wilking, Christa Geppert.

Marlene Biberacher dankt dem Kollegium des Evangelischen Beratungsdienstes für Frauen, besonders Renate Frey, die vielfach Traumaberatung und Pädagogik in der Einrichtung fördert und unterstützt. Astrid Wagner, Eva von Kummant und Sarah Göhr, die im betreuten Wohnen für junge Frauen Traumaberatung und -pädagogik im bewegten Alltag mit den Klientinnen umsetzen und ihnen so Raum zum Wachsen eröffnen. Für ihr geduldiges Lesen und Diskutieren Dank an Beate Krauß, Christa Zinnecker, Sabine Kistler und Barbara Klonowski.

Volker Dittmars Dank geht an Pia Reiser und Gitte Fischbach, ohne deren Mut, Neugier, Tatkraft und auch Leidensbereitschaft der Aufbau der tagesklinischen Traumatherapiegruppe nie gelungen wäre. Großer Dank ebenso an Sebastian Grimm für sorgfältiges Lesen und geduldiges Kommentieren der Manuskripte.

Regina Wolf-Schmid dankt dem Team der ARCHE e.V. in München, speziell Michael Werner, das sich vor vielen Jahren des Themas Trauma angenommen und als eine der ersten Einrichtungen Beratungsangebote für traumatisierte Menschen geschaffen hat, und der Leitung und dem Team der Clinica Holistica Engiadina für die Unterstützung und Integration der traumatherapeutischen Arbeit. Herzlicher Dank an Angela Thalmaier für die anregende Unterstützung.

Besonders dankbar sind wir unseren Lehrerinnen und Lehrern, mit denen wir zusammenarbeiten und von denen wir lernen durften. Wir alle wurden sowohl von Luise Reddemann wie auch von Michaela Huber entscheidend beeinflusst, die Arbeit mit traumatisierten Klienten zu beginnen und in unsere Arbeitsbereiche zu integrieren. Michaela Huber ist für uns eine wichtige Schatztruhe voller Wissen, Herzenswärme und Wertschätzung, sie hat uns zu diesem Buch ermutigt, und wir danken ihr sehr für ihr anrührend warmherziges Vorwort.

Der entscheidende Anstoß kam für Ulrike Beckrath-Wilking von Luise Reddemann, nach deren PITT-Kursen sie eine Hospitation in ihrer damaligen Klinik endgültig überzeugte, das Konzept der von ihr oberärztlich geleiteten Psychotherapiestation in ein traumatherapeutisches umzuwandeln. In jahrelanger Zusammenarbeit und Assistenz in ihren Kursen hat sie aus ihrem reichen Fundus viel gelernt.

Volker Dittmar wurde durch die PITT-Ausbildung bei Luise Reddemann bestärkt, ein traumatherapeutisches Spezialangebot an der psychiatrischen Tagesklinik in Regensburg aufzubauen. Auch er konnte in langjähriger Assistenz in ihren Kursen von ihrem Wissen und ihrem Können profitieren.

Ein weiterer wissensreicher und unterstützender Mentor, dem wir dankbar sind, war und ist uns Arne Hofmann (Ulrike Beckrath-Wilking und Regina Wolf-Schmid).

Viele Fortbildungen und Kontakte haben uns zudem bereichert: Wir danken u.a. Suzette Boon, Woltemade Hartman, Helga Mattheß, Ellert Nijenhuis und Wolfgang Wöller.

Herzlichen Dank auch an den Junfermann Verlag, besonders an Heike Carstensen und den Verlagsleiter Stephan Dietrich, für deren freundliche Sorgfalt und die gute Zusammenarbeit! Und ebenso herzlich danken wir Dunja Reulein, die als Lektorin unser Rohmanuskript aufpoliert hat.

Vorwort

„Traumata können jeden treffen. Auswirkungen und Langzeitfolgen hängen von vielfältigen Faktoren ab, u.a. von der überwältigenden Wucht und von der individuellen Widerstandskraft (Resilienz) – aber auch davon, ob mitfühlende Menschen helfend und tröstend lange genug und taktvoll zur Seite stehen.“ So beginnt die Einleitung der Autorinnen und Autoren dieses Buches. Und der letzte Halbsatz davon enthält vielleicht den entscheidenden Hinweis darauf, warum Sie dieses Buch unbedingt lesen sollten: Viel, sehr viel, hängt beim Heilungsprozess nach überwältigenden Ereignissen davon ab, ob da jemand ist, der oder die auf freundliche, solide Weise – also respektvoll und wertschätzend und in angemessener Nähe bzw. Distanz – diesen Prozess begleitet. Dieser begleitende Hilfeprozess soll kompetent geschehen, denn es geht nicht ums Händchenhalten, auch wenn es wichtig sein kann, einem traumatisierten Kind, Jugendlichen oder Erwachsenen auch einmal die Hand zu halten. Aber worauf kommt es dann an?

Bei aller Fachkompetenz vor allem mitfühlend da zu sein, schreiben die Autorinnen und Autoren. Mitfühlend und helfend, tröstend und taktvoll, und das lange genug. Ein solcher Satz kann mich begeistern, wo liest man so etwas schon? Dass es dauert, von Verlusten und bodenlosem Entsetzen, von vielleicht jahrelangen Misshandlungen und Vergewaltigungen, von Vertreibung und Folter zu heilen, ist eine Botschaft, die Entscheider in politischen Gremien und Krankenkassen z.B. leider oft überhaupt nicht gerne hören. Kurzkontakte, Kriseninterventionen, ein paar Sitzungen Traumatherapie – dann soll es das aber auch gewesen sein. In Wirklichkeit dauert es sogar oft sehr lange, bis ein traumatisierter Mensch das Gefühl hat, „es“ hinter sich zu haben. Auch wenn die Betroffenen vielleicht ganz unterschiedliche Arten haben zu genesen. Manche schütteln sich ein paar Mal und können sich dann erfreulicheren Dingen zuwenden, ohne immer wieder Nackenschläge zu erleiden, zusammenzubrechen, sich in Süchten zu verlieren oder von schrecklichem Wiedererleben gequält zu werden. Andere jedoch haben das Gefühl, als gebe es keinen Ausweg aus dem Tal der Tränen und der Verzweiflung. Das kann man ihnen dann aber nicht als individuelle Schuld anlasten, sondern es liegt daran, wie gut ihr gesamter, auch sozialer Organismus – also ihr Gehirn, ihr Körper und ihr soziales Umfeld, zu dem auch professionelle Menschen gehören – mit der seelisch erschütternden Erfahrung umgehen kann. Die wenigsten traumatisierten Menschen, die ich kenne, lassen sich hängen oder versuchen, aus der erlittenen Unbill Kapital zu schlagen. Die meisten sind ungeheuer tapfer. Und viele finden Wege aus dem Überwältigtsein, die kreativ, aufbauend, stärkend, ablenkend, tröstend, versorgend und heilsam sind.

Letztlich lernen wir alle von uns selbst und gegenseitig unter uns Kollegen enorm viel, aber noch mehr von unseren Schutzbefohlenen, den Schülern, Klientinnen bzw. Patienten. In diesem Band finden Sie so viel Wissen über traumatisierte Menschen und was ihnen helfen könnte, versammelt aus den Bereichen Pädagogik, Beratung und Psychotherapie, dass Sie immer wieder darin schmökern, nachlesen, sich darin vertiefen können. Die drei Autorinnen und derAutor sind Praktiker, das merkt man dem Buch an, glücklicherweise! Sie verstehen etwas von den Urgründen von Verzweiflung und Not, in denen sich Menschen befinden können – und ebenso haben sie ein Herz und viel Bedenkenswertes für die Kolleginnen, die wissen wollen, wie kompetente Hilfe wirklich aussehen kann, und die selbst auf sich achten wollen, damit sie nicht ausbrennen. Alle vier Autoren sind auch Lehrende. Sie bieten ein erprobtes Curriculum an im Bereich Traumaberatung und -pädagogik, in dem sie das Beste aus den Wissensgebieten der Traumapsychotherapie und Traumaforschung vermitteln – auf dass es nicht nur hier und da einzelne Psychotherapeutinnen gibt, die ihre Unterstützung anbieten können wie einen Tropfen auf dem heißen Stein. Sondern es sollen viele Profis, die hauptberuflich mit Menschen arbeiten, möglichst viel Kompetenz erwerben. Diese kann reichen vom einfachen „Ach ja, das habe ich auch schon mal gehört, ich helfe Ihnen gern, Unterstützung zu finden“ bis zu den zahlreichen Möglichkeiten an den unterschiedlichen Arbeitsplätzen, den seelisch erschütterten Menschen selbst weiterzuhelfen.

Denn genau daran mangelt es bis heute: An dem Zutrauen, dem Wissen, der Geduld und der Handlungsfähigkeit vieler Lehrerinnen, Sozialpädagogen, Mitarbeiterinnen von Jugend- und anderen Ämtern – um nur einige Berufsfelder zu nennen –, sich mit von Gewalt oder Schicksalsschlägen schwer getroffenen Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen so einzulassen, dass sich die Betroffenen sicher, gut aufgehoben und verlässlich in ihrer Not begleitet und unterstützt fühlen könnten. Die Abwehr ist groß: „Das kann ich nicht“, „Das soll ich auch noch leisten – nein!“, „Was mache ich, wenn der/die immer mehr von mir will?“ sind nur einige der Bedenken, die viele Profis haben, sich mit traumatisierten Menschen zu beschäftigen. Andere Vorbehalte betreffen die eigene Psychohygiene: „Das verkrafte ich nicht“, „Ich habe selbst kleine Kinder“, „Ich kann dann bestimmt nicht mehr schlafen“ etc. Je mehr Furcht und Abwehr bei Professionellen im Sozial- und Gesundheitswesen vorhanden sind, desto eher werden traumatisierte Menschen abgewimmelt, entmutigt, sich Hilfe zu holen, abgewiesen, entwertet, beschuldigt und anderweitig schlecht behandelt.

Dieses Buch ist eine einzige Ermutigung: Doch, trauen Sie sich ruhig mehr zu, liebe Kolleginnen und Kollegen. Sie sind doch in Ihren helfenden Beruf gegangen, weil Sie Menschen unterstützen und fördern möchten und weil Sie über die Fähigkeit zu Empathie, also zu Mitgefühl, verfügen. Nun kommen immer mehr Menschen mit Ihnen in Kontakt, die schon einmal etwas von dem Wort „Trauma“ gehört haben. Menschen, die gezielt nach Hilfe suchen, weil sie selbst sich nicht allein helfen können. Sie brauchen jemanden an ihrer Seite, um sich letztlich dann größtenteils selbst am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen zu können. Sie brauchen – Sie. Ja, traumatisierte Menschen können anstrengend sein. Es geht ihnen oft, und manchen immer wieder und über lange Zeit, überhaupt nicht gut. Sie sind auch nicht immer gleich dankbar, sondern es dauert, bis sie bemerken, dass Ihr Verhalten – sicher, verlässlich, ruhig und (meist) wissend, was Sie tun, an ihrer Seite stehend – ihnen wirklich und merklich weiterhilft. Die meisten traumatisierten Menschen, denen ich im Laufe meines Lebens begegnet bin, waren allerdings außerordentlich dankbar, und zwar auf eine berührende Weise. Immer dann nämlich, wenn sie erst auf der Beziehung zu mir „herumgehüpft“ waren („Die wird mich doch auch verlassen, das kommt bestimmt noch!“ – „Wenn ich ihr jetzt aber meine wirklich böse Seite zeige, dann jagt sie mich bestimmt davon!“ – „Wenn ich ihr sage, was mein tiefstes Geheimnis ist, kann sie mich gewiss nicht mehr leiden“ etc.) und erlebten, dass ich einfach nicht zu „vertreiben“ war, sondern ausgehalten habe und geblieben bin –, dann wurde so gut wie immer ein Punkt erreicht, an dem sie begannen, sich ganz allmählich so weit zu entspannen, dass sie Vertrauen – ein sehr zartes Pflänzchen, besonders bei Gewaltüberlebenden! – entwickeln konnten. Und aus der Erfahrung, verlässlich begleitet und unterstützt zu werden, sozusagen „in guten und in schlechten Tagen“, wuchs in ihnen mehr und mehr die Fähigkeit, sich selbst mehr zuzutrauen, ihre kleinen, verzagten, „hässlichen“, „bösen“, „gemeinen“ Seiten anzuschauen, ihre Abgründe auszuloten und dafür zu sorgen, dass sie nicht weiter verletzt wurden. Dann kamen auch ihre kreativen Seiten immer stärker zum Zug: ihr Humor, ihre Klugheit (so viele Klientinnen sind ja in vielen Bereichen viel klüger als ihre professionellen Begleiter, und es wird ihnen guttun, das auch – nicht nur heimlich! – bemerken zu dürfen!), ihre Wertschätzung für die vielen Überlebensstrategien, die sie schon entwickelt haben, und das Verändern von destruktiven in konstruktive Bewältigungsmuster. Es freut mich immer ganz besonders, wenn gegen Ende einer solchen abenteuerlichen und intensiven professionellen Beziehungsarbeit die Erkenntnis der Klienten und Klientinnen steht: „Eigentlich habe ich das selbst gemacht, das hat sich alles von allein so gut entwickelt“, wenn neben dem Gefühl, dass da etwas organisch gewachsen ist, eine tiefe Freude über und Dankbarkeit für diese gemeinsame Arbeit entsteht und damit auch für alles das, was sie da unterwegs „bekommen“ haben. Apropos bekommen: Kann es überhaupt etwas Schöneres auf der Welt geben für eine „Menschenarbeiterin“, als zu spüren: „Das, was ich da mache, ist zutiefst sinnvoll – und es wirkt!“? Also: Lesen Sie dieses Buch. Schmökern Sie darin, bleiben Sie irgendwo hängen, denken Sie darüber nach, probieren Sie etwas aus, nehmen Sie es wieder zur Hand, gehen Sie in Fortbildungen, holen Sie sich Supervision, lesen Sie wieder mal hier und da nach – und leben Sie einfach mit diesem Buch. Es wird Ihnen guttun. Ach ja – und empfehlen Sie es weiter, damit es viele Leser und Leserinnen findet, denn genau das ist diesem Buch zutiefst zu wünschen.

Gordola/Tessin, im Mai 2012
Michaela Huber

Einleitung

Keine Katze mit sieben Leben,
keine Eidechse und kein Seestern,
denen das verlorene Glied nachwächst,
kein zerschnittener Wurm
ist so zäh wie der Mensch,
den man in die Sonne
von Liebe und Hoffnung legt.
Mit den Brandmalen auf seinem Körper
und den Narben der Wunden
verblasst ihm die Angst.
Sein entlaubter Freudenbaum
treibt neue Knospen,
selbst die Rinde des Vertrauens
wächst langsam nach.

(aus dem Gedicht „Wen es trifft“ von Hilde Domin)

Traumata können jeden treffen. Auswirkungen und Langzeitfolgen hängen von vielfältigen Faktoren ab, u.a. von der überwältigenden Wucht und von der individuellen Widerstandskraft (Resilienz) – aber auch davon, ob mitfühlende Menschen helfend und tröstend lange genug und taktvoll zur Seite stehen.

Menschen, die schon in ihrer Kindheit anhaltende Traumatisierung erlebten, brauchen oft mehr, als wir in herkömmlichen Ausbildungen als Psychotherapeuten, Pflegepersonal, Sozialpädagoginnen und in anderen helfenden Berufen gelernt haben. Ihr Leid – und oft die Hilflosigkeit der Helfer – machten klar, dass keine Therapiemethode für sich allein ausreichend war, und ließen nach neuen Wegen suchen. So, wie zur Heilung von Traumafolgen die dissoziiert gespeicherten Fragmente von Traumata wieder zusammengefügt werden müssen, so ist dazu auch eine Integration verschiedener Therapie- und Hilfsansätze erforderlich. Inzwischen gibt es dank vieler kreativer Therapeuten, Helfer und Forscherinnen eine Fülle hilfreicher traumaspezifischer Literatur und Therapieansätze und viele traumaspezifische Fortbildungen – meist jedoch nur für approbierte Therapeutinnen. Letztlich sind all die kreativen neuen Ansätze auch auf dem Boden der enormen Ressourcen und kreativen Bewältigungskräfte der Betroffenen entstanden, deren Selbstheilungspotenzial damit in den Fokus rückt und gewürdigt wird.

Wir erlebten als langjährig mit traumatisierten Klientinnen arbeitende Therapeuten und Sozialpädagoginnen, wie hilfreich traumaspezifisches Wissen, Haltung und Vorgehen sind – und wie gut dies für alle helfenden Berufsgruppen und Einrichtungen wäre, die mit komplex traumatisierten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu tun haben. Dies betrifft alle psychiatrischen Stationen – nicht ausschließlich Spezialstationen. Ebenso organmedizinische Stationen und Praxen und sozialpsychiatrische Einrichtungen, Einrichtungen der Jugendhilfe, der Wohnungslosenhilfe, der Behindertenhilfe, Beratungsstellen, die Justiz, JVAs usw. Und auch viele Berufsgruppen wie Gesundheits- und Krankenpflegerinnen, Sozialarbeiterinnen/-pädagogen, Lehrerinnen, Seelsorger, Hebammen usw. Diese Liste ließe sich in Bereiche ausweiten, an die wir momentan noch gar nicht denken. Durch Teilnehmerinnen unserer Fortbildungen werden wir immer wieder auf neue Berufsfelder aufmerksam, für die traumazentriertes Wissen hilfreich ist.

Wir begannen deshalb vor Jahren, unser Wissen und unsere langjährige Erfahrung in Kursen weiterzugeben, und bieten – neben weiteren traumaspezifischen Fortbildungen und Supervision – ein von der DeGPT und BAG/TP zertifiziertes Curriculum „Traumafachberatung und Traumapädagogik“ für therapeutische wie nichttherapeutische helfende Berufsgruppen an (www.trauma-institut.net).

Dieses Buch soll ein umfassendes Handbuch zu Theorie und Praxis sein. Es soll für Therapeuten, Beraterinnen und Pädagogen für ihre professionelle Haltung und ihre Interventionsangebote und damit für ihre Klientinnen, die unter den Folgen von Traumata leiden, hilfreich sein. Da man nur verstehen und verändern kann, worüber man etwas weiß – „die Brille bestimmt, was wir sehen können“ –, erschien uns auch ein umfassender aktueller Überblick zu theoretischen Hintergründen wichtig. Dieser kann natürlich nie vollständig sein. Vielleicht sieht manches in zehn Jahren durch eine neue Brille wieder ganz anders aus. Wir haben an Theorie ausgewählt, was uns als Verständnisgrundlage für die praktische Arbeit wichtig erschien, zumal es für Beraterinnen dazu noch keine umfassende Literatur gibt.

Das Buch soll sowohl eine Zusammenfassung der wichtigsten traumaspezifischen Themen wie Traumafolgen und -diagnostik, Neurobiologie, dissoziative Störungen, Phasen der Traumatherapie und Behandlungsmethoden bieten als auch eine praxisnahe Hilfe sein für stabilisierende traumaspezifische Arbeit in den verschiedenen beratenden und therapeutischen Kontexten.

Viele Menschen – und damit auch wir Helferinnen und Helfer – haben seelische Verletzungen erlebt. Ideale Eltern gibt es nicht. Denn auch sie hatten ihre Geschichte und waren einst Kinder, deren Seele – auch unbeabsichtigt und schicksalhaft – verletzt wurde, sodass sie sich vor diesem Schmerz schützen mussten und vielleicht für den ihrer Kinder nicht mehr offen genug sein konnten. Auch wir machen aus Überforderung, Erschöpfung und manchmal aus Unwissenheit und Unachtsamkeit Fehler. Aber es ist ein großer Unterschied, ob Bezugspersonen sich zugleich liebevoll fürsorglich bemühen, unbeabsichtigte Verletzungen bedauern und die Verantwortung klar übernehmen. Ob also ein Kind zugleich auch liebevoll betreut und getröstet wird – oder aber ob es gravierend vernachlässigt, geschlagen oder sexuell übergriffig behandelt wurde, ihm selbst auch noch die Schuld daran eingeredet wurde und es damit „mutterseelenallein“ war – wie viele unserer Klientinnen und Klienten. Auch dies hat oft eine generationenübergreifende Dynamik. Viele Helfer haben mit dysfunktionalen Familien zu tun, in denen sich eine solche transgenerationale Traumaweitergabe folgenschwer auswirkt.

Zunehmend kommen Klientinnen aus Krisengebieten, haben Hunger, Mangel, Krieg und Flucht erlebt. Sie kommen aus Kulturen, deren Regeln und Gesetze bei uns nicht gelten und die wir oft nicht leicht verstehen können. Auch hier sind spezifisches und traumasensibles Wissen und Vorgehen notwendig.

In der Kindheit komplex traumatisierte Menschen haben oft sehr destruktive Botschaften aufgenommen, unter deren Bann sie noch als Erwachsene stehen. Statt als kostbares Geschenk erleben sie sich als ungewollte Last und schuldig, als müssten sie ihre Existenzberechtigung erst verdienen. Als heilsames „Gegengift“ ist eine beharrlich lösungs- und ressourcenorientierte Sicht wichtig, ein Zutrauen und eine Haltung, dass die Klienten selbst alle notwendigen Selbstheilungskräfte in sich tragen, diese „nur“ geduldig gesucht, gewürdigt und reaktiviert werden müssen. Durch Üben kann auch neurobiologisch ein Gegengewicht aufgebaut werden zu den „Traumanetzwerken“, die viel leichter – nämlich durch Triggerreize reflexhaft – aktiviert werden. Entlastendes Wissen und Üben hilft den Betroffenen sehr. Vor allem aber muss es eingebettet sein in ein heilsames beratendes oder therapeutisches Beziehungsangebot. Und das stellt hohe Anforderungen an die Helfer. Ohne entsprechende Ausbildung und Supervision trägt die Wucht der traumaassoziierten Gefühle und Probleme sonst leicht zum Entgleisen oder gar Scheitern der Hilfsmaßnahme und oft – wenn auch unbeabsichtigt – zu einer Retraumatisierung bei.

Hier war Luise Reddemann eine unermüdliche Vorkämpferin, die mit der Psychodynamisch-Imaginativen Traumatherapie (PITT) den Boden bereitete für die psychodynamische Traumatherapie im deutschsprachigen Raum, später bestärkt von den Ergebnissen der „Positiven Psychologie“ und durch neurobiologische Forschungsergebnisse.

Als eine der erfahrensten und profiliertesten Pionierinnen der Traumatherapie ist Michaela Huber bekannt, die sich sehr engagiert, humorvoll und unerschrocken für Menschen mit komplexen posttraumatischen und schweren dissoziativen Störungen therapeutisch wie auch politisch einsetzt. Ihre Bücher zu Traumafolgen und -behandlung (Huber 2003a, 2003b) sind für Traumatherapeuten heute Standardliteratur. Sie brachte bereits 1995 mit dem Buch Multiple Persönlichkeiten ihr umfassendes Wissen zu Hintergründen, Umgang und Behandlung von Menschen mit schweren dissoziativen Störungen nach extremen Gewalterfahrungen in der Kindheit ins öffentliche und therapeutische Bewusstsein.

Luise Reddemann und Michaela Huber haben uns „angesteckt“ und für die Traumatherapie begeistert. Wir verdanken ihnen zudem viel wertschätzende Unterstützung.

Viele weitere erfahrene und bekannte Traumatherapeutinnen entwickelten kreativ eigene Strategien auf der Basis der jeweils neuen wissenschaftlichen und klinischen Erkenntnisse und der bereits andernorts entwickelten und bewährten Ansätze. Die Entwicklung schreitet rasant voran, gute Ideen sprießen wie Frühlingsblumen oft vielerorts gleichzeitig, wenn die Zeit reif dafür ist. So ist es gar nicht mehr möglich, die heute anerkannten traumatherapeutischen Grundsätze jeweils nur einem bestimmten Autor zuzuordnen.

Einen Paradigmenwechsel in der Psychotherapie scheint aktuell das Prinzip „Achtsamkeit“ – ursprünglich aus der buddhistischen Tradition – zu bewirken. In der Traumatherapie ist es unentbehrlich und wurde von Anfang an integriert. Erst der beobachtende Abstand ermöglicht Distanzierung von überflutenden Traumainhalten und eine schonende Traumakonfrontation. Es geht aber um viel mehr als Abstand. Achtsamkeit kann ermöglichen, ein Fundament an Selbstfürsorge und Halt in sich selbst aufzubauen oder wiederzuentdecken und „trotz allem“ wieder eine Wahl zu haben – und vielleicht sogar inneren Frieden zu finden.

Heute weiß man – wir glauben in unserer wissenschaftsgläubigen Welt etwas ja oft erst, wenn es durch wissenschaftliche Studien belegt wurde –, dass sich z.B. durch langjährige Meditationspraxis präfrontale Hirnareale strukturell verändern, die mehr Gelassenheit, Abstand und Mitgefühl ermöglichen. Achtsamkeitsbasierte Techniken sind sowohl die Basis vieler hilfreicher traumatherapeutischer Übungen und der Reorientierung in der Gegenwart bei dissoziativen Störungen als auch zentrale Elemente z.B. in der DBT (Dialektisch-Behaviorale Therapie nach M. Linehan) oder der MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction nach Jon Kabat-Zinn).

Doch berichten auch in ihrer Kindheit schwer traumatisierte Klientinnen, die keine oder kaum Beziehungserfahrungen von Fürsorge und Trost erlebten und erinnerten, nie meditierten und nicht religiös waren oder erzogen wurden, bisweilen von einer spontan in sich selbst entwickelten imaginativen Welt, in der sie diese tiefere Ebene von Halt und Eingebundensein in etwas Höherem erlebten, „aus dem man nicht herausfallen kann“. Vielleicht entsprechen diese Kräfte dem kollektiven Unbewussten und archetypischen Weisheiten. Vielleicht haben wir sie deshalb in uns, wenn auch mitunter tief verborgen, weil wir alle irgendwann die Erfahrung von Eingebettetsein und Geborgenheit gemacht haben, zumindest im Sinne des Einnistens in der Gebärmutter und des Genährtwerdens durch die Plazenta (Hüther & Krens, 2005; Reddemann, 2004a, 6. Auflage 2011). Vielleicht wird das alles auch irgendwann messbare wissenschaftliche Erkenntnis sein. Auf jeden Fall ist es wunderbar, dass Menschenkinder in sich Selbstheilungskräfte haben, die dem bewussten Ich oft nicht verfügbar waren und dennoch in der Not rettend auftauchten.

Heilung geschieht nicht durch uns Therapeutinnen und Berater, wir helfen allenfalls, einen inneren Prozess wieder anzustoßen, damit etwas in der Kindheit Vernachlässigtes nachreifen kann und das, was unter der Wucht des Traumas als Selbstschutz auseinandergerissen wurde, wieder „heile wachsen“ kann (Huber, 2011). Das achtsame Pendeln zwischen Ressourcen und Traumanetzwerken fördert dieses heilsame Verknüpfen und wird heute als die Basis der Traumaintegration verstanden.

Zurück zu diesem Buch:

Die Verbreitung traumaspezifischen Wissens und Fertigkeiten in den helfenden Berufsgruppen ist uns schon seit Jahren ein zentrales Anliegen. In unseren Kursen waren die Teilnehmerinnen immer wieder dankbar für ausreichende theoretische „Unterfütterung“, aber auch für viele praxisnahe Tipps, Übungsmöglichkeiten – und für Wiederholungen. Das Buch gibt daher zum einen eine Zusammenfassung der aktuellen Theorien der Psychotraumatologie, zum anderen war uns aber besonders wichtig, dass es als Handbuch viel praxisnahes Wissen zu traumaspezifischen Behandlungs- und Beratungsthemen vermittelt.

Dieses Buch wäre aber nie entstanden ohne die fruchtbaren Diskussionen und den Erfahrungsaustausch mit den vielen Kursteilnehmern, ihre Fragen und Anregungen, ihre vielfältigen beruflichen und persönlichen Hintergründe sowie unser aller Bereitschaft, unser Wissen und Handeln immer wieder neu infrage zu stellen.

Die einzelnen Kapitel sollen auch jedes für sich lesbar sein, deshalb wiederholt und überlappt sich manches: Die Wiederholung kann zugleich dem besseren Verständnis komplexer Inhalte wie dem „Einmassieren“ bzw. Aufbau neuer Lernnetzwerke dienen.

Das Kapitel über PITT findet sich – abgeschlossen lesbar – im Buchteil D: Traumaspezifische Behandlungsverfahren. Die Inhalte besonders der Stabilisierungsphase und der Ego-State-Arbeit können Sie aber ausführlicher auch in den jeweiligen Kapiteln finden. Ebenso überlappen sich naturgemäß die Kapitel über Ego-State-Arbeit mit der Beschreibung der Behandlung dissoziativer Störungen und der Theorie der Strukturellen Dissoziation inhaltlich weitgehend.

Das Buch wurde von klinischen Praktikerinnen für Praktiker geschrieben, aber wir wünschen uns, dass auch Klientinnen und Laien es lesen und davon profitieren.

Wir haben uns entschieden, den Genderaspekt zu berücksichtigen, indem wir gelegentlich beide Formen, im Wesentlichen jedoch im Wechsel die männliche und weibliche Form benutzen.

Wir haben uns bemüht, Literaturquellen so sorgfältig wie möglich zu zitieren, aber da wir vieles schon seit Jahren in unseren Fortbildungen vorgetragen und inzwischen von so vielen Seiten aus bedacht haben, ist die genaue Quelle allen Wissens, das in dieses Buch einfloss, nicht mehr immer nachzuvollziehen. Wir bitten dafür um Nachsicht.

„Jetzt weiß ich, dass es einen guten Sinn hatte, dass sich mein Licht in so viele Splitter aufteilte,
und ich bin allem in mir dankbar, weil es mir damit zu überleben half und dabei,
dass mein Kern trotz allem immer heil geblieben ist.“

(Zitat einer Überlebenden gegen Ende einer langen Traumatherapie)

A. THEORETISCHE GRUNDLAGEN DER PSYCHOTRAUMATOLOGIE

 

1. Geschichte der Psychotraumatologie

Die Betrachtung psychischer Traumata hat in ihrer Bedeutung im Laufe der Geschichte immer wieder zu- und abgenommen. Schon vor vielen Tausend Jahren haben Menschen gewusst, dass die Konfrontation mit überwältigendem Schrecken zu störenden Erinnerungen, Erregungszuständen oder Vermeidung führen kann. Psychiatrie und Psychologie hatten dagegen lange Zeit sehr unterschiedliche Ansichten darüber, welchen Einfluss dramatische Lebensereignisse auf die Physis und Psyche des Menschen haben können. Frühe Aufzeichnungen von Großbränden oder Kutschenunfällen berichteten von Reaktionen, die man heute der posttraumatischen Belastungsstörung zuordnen würde. Zu Anfang der Diskussionen über Traumata standen die Fragen: „Ist das Trauma organischen oder psychischen Ursprungs?“ und „Sind die Folgen eine Simulation oder echt?“

Mit fortschreitender Industrialisierung wurde die Eisenbahn zu einem immer bedeutsameren Transportmittel. In der Folge kam es zu mehreren schweren Unfällen mit zahlreichen Toten und Verletzten. 1867 wurde Eric Erichsen, ein berühmter englischer Chirurg, zum Erstbeschreiber der posttraumatischen Belastungsstörung. Die mit dem „Railway Spine Syndrome“ verbundenen Symptome wie Angst, Schlafstörungen, Albträume, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen sowie eine Vielzahl somatischer Erscheinungen erklärte er als Folge einer Rückenmarksschädigung durch die unfallbedingte Erschütterung. In Deutschland war 1884 die gesetzliche Unfallversicherung eingeführt worden, und erste Patienten wurden als Unfallopfer begutachtet. Zwei Jahre später schrieb der deutsche Neurologe Hermann Oppenheim in seiner Habilitationsschrift über die Bedeutung des Schrecks für die Nervenkrankheiten, in der das seelische Erleben als auslösendes Moment von Traumafolgestörungen anerkannt wurde. Oppenheim benutzte als Erster den Begriff „traumatische Neurose“ (Oppenheim, 1889). Sein Konzept stieß jedoch auf große Ablehnung, da er die Entschädigungspflicht bei Unfällen anerkannte.

Die Beschäftigung mit Kindesmisshandlung und sexualisierter Gewalt gegen Kinder begann in Frankreich. Ambroise Tardieu, Professor für Rechtsmedizin an der Pariser Universität, belegte in seinem Werk, dass in Frankreich zwischen den Jahren 1858 und 1869 11.576 Menschen wegen Vergewaltigung oder versuchter Vergewaltigung angeklagt worden waren, davon nicht weniger als 9125 wegen solcher Delikte an Kindern, fast immer Mädchen (Tardieu, 1878). Zugleich entstand eine intensive Diskussion, inwieweit die Aussagen junger Mädchen glaubhaft oder erlogen seien. Man nahm an, diese Kinder hätten ihre Eltern fälschlicherweise des Inzests beschuldigt. Ähnliche Reaktionen traten auf, als die ersten systematischen Untersuchungen der Beziehung zwischen Trauma und psychiatrischer Erkrankung an der „Salpetrière“ in Paris durchgeführt wurden. Der Neurologe Jean-Martin Charcot beschrieb als Erster, dass hysterische Anfälle dissoziative Zustände, also das Ergebnis erlebter unerträglicher Erlebnisse, darstellten. Dadurch wurde Pierre Janet inspiriert, das Phänomen der Dissoziation für die Bewältigung traumatischer Erfahrungen zu untersuchen (Janet, 1889). Sein wichtigster Verdienst war zu erklären, wie traumatische Erfahrungen als abgespaltene Anteile der Persönlichkeit im Unterbewusstsein überdauern, sich dem Bewusstsein über lange Jahre entziehen und zu Auslösern für spätere Erkrankungen werden können. Seine heute wieder sehr aktuellen Theorien gerieten jedoch jahrzehntelang in Vergessenheit. Andere Forscher richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Rolle der Suggestibilität bei der Hysterie, sodass bald ein größeres Interesse an der Behandlung der Simulation bestand als an der Linderung der traumatischen Erinnerungen der Patienten. Stattdessen kam es zu einer Umwertung der Aussagen von Frauen, die über früheren sexuellen Missbrauch berichtet hatten, und es wurde behauptet, es handele sich um eine „Pseudologia phantastica auf hysterisch-degenerativer Grundlage“, um eine kindliche Lügensucht oder um „genitale Halluzinationen“.

Auch Sigmund Freud hatte Charcot zu einem Studienaufenthalt in Paris besucht und war mit dessen Sichtweisen und Behandlungsformen der Hysterie konfrontiert worden. Zurück in Wien begann Freud zusammen mit Josef Breuer seine Studien zur Entstehungsgeschichte hysterischer Störungen. 1896 hielt er einen Vortrag „Zur Ätiologie der Hysterie“, in dem er die Hysterie als Folge sexueller Traumatisierungen verstand: „Ich stelle also die Behauptung auf, zugrunde jedes Falles von Hysterie befinden sich – durch die analytische Arbeit reproduzierbar trotz des Dezennien umfassenden Zeitintervalls – ein oder mehrere Erlebnisse von vorzeitiger sexueller Erfahrung, die der frühesten Jugend angehören“ (Freud, 1952). Die Reaktion der Kollegenschaft war jedoch vernichtend und führte rasch zu Freuds fachlicher und gesellschaftlicher Ächtung, sodass er bereits ein Jahr später seine Aussage widerrief und die Ausarbeitung seiner Theorien zur infantilen Sexualentwicklung und zum Ödipuskomplex begann. Die Folge war, dass den Aussagen missbrauchter Mädchen und Frauen nicht mehr geglaubt wurde und schließlich Karl Abraham 1907 schreiben konnte: „… dass in einer großen Anzahl von Fällen das Erleiden des sexuellen Traumas vom Unbewussten des Kindes gewollt wird, dass wir darin eine Form infantiler Sexualbetätigung zu erblicken haben“ (Abraham, 1907, S. 166). Damit war schließlich das Opfer zur Täterin geworden, und es dauerte noch viele Jahrzehnte, bis das Trauma des sexuellen Kindesmissbrauchs sowohl in der psychoanalytischen Vereinigung wie auch gesamtgesellschaftlich anders betrachtet werden konnte.

Der Erste Weltkrieg brachte eine neue Form der traumatischen Neurose hervor, die als Granatenschock („shell shock“) oder Schützengrabenneurose bezeichnet wurde. Der Stellungskrieg im Schützengraben, bei dem die Soldaten kaum Möglichkeiten zu Kampf oder Flucht hatten, war schließlich prädestinierend für die Entwicklung von Traumata. Nachdem jedoch bereits bei der Behandlung der Hysterie mehr die Behandlung der Simulation im Vordergrund stand, geriet auch die Behandlung von Kriegs-Syndromen eher zu einem Kampf gegen die Simulation. Aus dem Krieg heimgekehrte traumatisierte Patienten wurden als Rentenneurotiker abqualifiziert. Man behauptete, bei Kriegsneurosen handele es sich um „abnorme Reaktionen minderwertiger oder vorbelasteter Personen“. Man bezeichnete Unfallneurosen als „Wunschreaktionen ohne Krankheitswert“, und die erkrankten Soldaten galten als moralische Invaliden, als konstitutionell minderwertig oder als Feiglinge. Die gesellschaftliche und medizinische Reaktion auf die Schrecken des Krieges war also eindeutig verleugnend.

Neue Impulse zur Beschäftigung mit Traumafolgen kamen bereits während des Zweiten Weltkriegs aus Amerika. Abram Kardiner fasste die Ergebnisse der Arbeit mit Kriegsveteranen schon 1941 im Buch The Traumatic Neuroses of War zusammen. Er interpretierte die Folgen der Kriegsneurosen als eine Überforderung der individuellen Anpassungsfähigkeit an die Kriegserfahrungen. So kam es zu einer Wiederauferstehung des Konzepts der traumatischen Neurose. In den USA wurden mehrere Konferenzen und Symposien zur Erforschung der Folgen des Holocaust sowie des Atombombenabwurfs über Japan ausgerichtet, und es zeigte sich, welche erstaunlichen Ähnlichkeiten in der Psychopathologie zwischen den Holocaust-Opfern und den Opfern des Atombombenabwurfs von Hiroshima bestanden. Dadurch festigte sich immer mehr die Überzeugung, dass massive seelische Traumatisierungen zu deutlichen und oft anhaltenden Symptombildungen sowie Persönlichkeitsveränderungen führen. In Deutschland wurde, auch aus finanziellen Gründen wegen des Wiedergutmachungsgesetzes, über viele Jahre hinweg die Haltung vertreten, dass konstitutionell gesunde und normale Menschen jede psychische Belastung verkraften können, ohne dadurch dauerhaft geschädigt zu werden. So konnte Kurt Schneider, auf den über mehrere Jahrzehnte wesentliche Sichtweisen psychischer Erkrankungen zurückgingen, formulieren, dass schwere seelische Erschütterungen und Belastungen zwar vorübergehend abnorme Erlebnisreaktionen hervorrufen, die aber einige Zeit nach dem Vorfall der Belastung abklängen. Hielten diese Symptombildungen an, so müsste man von einer psychopathischen Konstitution ausgehen. 1964 schließlich stellte der Psychoanalytiker Kurt Eissler die Frage: „Die Ermordung von wie vielen seiner Kinder muss ein Mensch symptomfrei ertragen, um eine normale Konstitution zu haben?“

Der Vietnamkrieg mit seinen Folgen verhalf dann der Psychotraumatologie zu einem Durchbruch. Nach dessen Ende kehrten circa eine Million Veteranen mit Tapferkeitsmedaillen ausgezeichnet aus dem Krieg zurück, die zumindest zeitweise unter massiven posttraumatischen Belastungsstörungen litten. Parallel dazu gelang es der Frauenbewegung, die immer mehr gesellschaftlichen Einfluss bekam, das Thema der körperlichen und sexuellen Gewalt gegen Frauen endlich aus der gesellschaftlichen Tabuisierung zu befreien. Judith Herman beschrieb mit ihrem Buch Die Narben der Gewalt (1993) sehr detailliert die Folgen früher Vernachlässigung und sexueller Gewalterfahrung. Nachdem es jedoch in der bisherigen Geschichte der Traumatologie immer zu einer Dialektik zwischen Beschäftigung mit dem Trauma und Abkehr davon gekommen war, wurde bereits im gleichen Jahr die „False Memory Syndrom Foundation“ gegründet. Gleichwohl rückte das Problemfeld der innerfamiliären Gewalt immer mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Judith Herman resümierte: „Die Hysterie ist die Kriegs-Neurose des Geschlechterkampfes“ (1993/2003, S. 50). Auch der Psychoanalytiker Leonard Shengold (1979) zog die Parallele zwischen Holocaust und Missbrauch und Vernachlässigung in der Kindheit, indem er, wie schon andere Autoren vor ihm, deren Auswirkungen als „Seelenmord“ bezeichnete. Parallel entwickelte sich vor allem in den USA die Beschäftigung mit der „Multiplen Persönlichkeitsstörung“, die schließlich in der Diagnose der Dissoziativen Identitätsstörung ihren Niederschlag im DSM fand. 1980 wurde mit der Posttraumatic Stress Disorder die Aufnahme einer neuen traumaspezifischen Diagnose in das Diagnosemanual DSM-III-R eingeführt. Bereits in dieser Namensgebung findet sich anders als in der deutschen Bezeichnung „posttraumatische Belastungsstörung“ die Erkenntnis, dass traumatisierte Menschen unter erheblichem innerem Stress leiden.

Zwölf Jahre später erfolgte schließlich auch im ICD-10 die Möglichkeit der Diagnosestellung einer Traumastörung unter der Diagnose posttraumatische Belastungsstörung. In der BRD benötigte man über 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, um sich mit dem Traumathema und der Erforschung von Traumafolgestörungen wissenschaftlich zu beschäftigen. Dies zeigt, wie schwer es ist, besonders kollektive traumatische Erlebnisse bewusst wahrzunehmen, anzunehmen und aufzuarbeiten. Traumata, und das wird in diesem Buch noch häufiger erwähnt werden, unterliegen häufig einer Sprachlosigkeit, der Tendenz des Vergessens sowie einem Zwang der Wiederholung anstelle eines heilsamen Erinnerns.

Das Konzept der dissoziativen Störung geriet, wie beschrieben, lange Zeit in Vergessenheit und gewann erst durch veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen sowie neue Erkenntnisse wieder an Bedeutung. Janet erkannte vor nun schon über 120 Jahren, dass die unter traumatischen Bedingungen gemachten Erfahrungen nicht in den vorhandenen Erfahrungsschatz des Individuums integriert werden können, sondern anders im Gedächtnis abgespeichert werden. Diese Erfahrungen werden in dissoziierter und fragmentierter Form abgespeichert und sind dadurch der willentlichen Kontrolle und Beeinflussbarkeit entzogen. Sie wirken jedoch eigendynamisch weiter und zeigten sich zu Janets Zeit als sogenannte hysterische Symptome. Das Konzept der Dissoziation verlor ab circa 1910 seine Erklärungskraft, so u.a. durch die Einführung des Schizophreniebegriffs sowie durch die Dominanz psychoanalytischer Erklärungsbemühungen mit dem Fokus auf triebbedingten, konflikthaften intrapsychischen Prozessen anstelle real traumatischen Erfahrungen. Erst in den 1970er-Jahren wurde das Konzept der dissoziativen Störung wiederentdeckt, sowohl unter der Anerkennung der epidemiologischen und klinischen Bedeutung kindlicher Traumatisierungen wie der klinischen Relevanz von traumatischem Stress bei Kriegsveteranen des Vietnamkriegs. Obwohl beide Opfergruppen sehr unterschiedlich sind, zeigen sie übereinstimmend, dass spezifische psychische und körperliche Beschwerden wie Gedächtnislücken oder Entfremdungserleben als Folgen traumatischer Erlebnisse verstanden werden können. Ebenfalls bedeutsam für die Wiederentdeckung des Konzepts der dissoziativen Störung war die Veröffentlichung des Buches von Henri F. Ellenberger Die Entdeckung des Unbewussten im Jahr 1970, in dem die zentrale Bedeutung von Pierre Janet bei der Entwicklung der dynamischen Psychiatrie genau herausgearbeitet und sein Dissoziationskonzept gewürdigt wird. Auch die Popularisierung der multiplen Persönlichkeit über die Medien sowie die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit experimentellen wie auch therapeutischen Ansätzen zur multiplen Persönlichkeitsstörung ließen das Konzept der dissoziativen Störungen weiter in den Fokus der Aufmerksamkeit kommen. Auch heute noch ist das Konstrukt der Dissoziation nicht immer klar begrifflich erfassbar, und es gibt mindestens drei verschiedene Bedeutungsfelder der Dissoziation (Cardena, 1994):

Vor einigen Jahren hat nun die Arbeitsgruppe um van der Hart und Nijenhuis mit der Theorie der Strukturellen Dissoziation eine für die Psychotraumatologie wichtige aktuelle Konzeption des Dissoziationsbegriffs vorgelegt (van der Hart et al., 2008; siehe auch Kap. A.8).

In Deutschland wurde die Erforschung traumatischer Erfahrungen ebenfalls durch ein Eisenbahnunglück stark beeinflusst, der Eschede-Katastrophe im Jahr 1998, als ein voll besetzter ICE-Zug entgleiste und 101 Menschen ihr Leben verloren. Durch dieses Großereignis kam es in der Folge zu einer deutlichen Zunahme der Betrachtung von traumatischen Ereignissen, sowohl in der Forschung wie auch der Ausbildung von Fachkräften und Traumatherapeuten. So fand 1998 in Köln der erste internationale Traumakongress auf bundesdeutschem Boden statt, und von einigen Vortragenden wurde erwähnt, dass die BRD nun als eines der letzten Länder der modernen Industrienationen sich endlich offiziell dem Traumathema zuwende.

In den letzten Jahren hat es eine Vielfalt von Veröffentlichungen zum Thema Neurobiologie, Stressforschung, Psychotraumatologie und Traumatherapie gegeben. Aufgrund der rasend schnellen Entwicklung und der Erforschung der neurophysiologischen Hintergründe der Traumaentstehung und -verarbeitung entstehen auch immer wieder neue therapeutische und beraterische Ansätze. In diesem Buch soll der aktuelle Wissensstand zu zentralen Themen der Psychotraumatologie dargestellt werden.

2. Traumadefinitionen und Typologie von Traumatisierungen

Traumadefinitionen

1980 wurde im DSM-III auf der Grundlage empirischer Ergebnisse sowohl aus der Forschung an Kriegsveteranen als auch an KZ-Überlebenden die posttraumatische Belastungsstörung (deutsch: PTBS, englisch: PTSD) erstmalig in ein Klassifikationssystem für Erkrankungen aufgenommen. Diese verschiedenen klinischen Beobachtungen, später auch an Opfern sexueller Gewalt vorgenommen, führten zu der Annahme, dass nach dem Erleben von Extremsituationen ein übereinstimmendes Bild von posttraumatischen Belastungsstörungen auftritt. Heute wird die posttraumatische Belastungsstörung in den gebräuchlichen Krankheitsklassifikationssystemen DSM-IV und ICD-10 in einer weitgehend übereinstimmenden Form definiert. Die fünf Hauptkriterien der posttraumatischen Belastungsstörung sind:

Das letzte Kriterium weist darauf hin, dass die zeitlich unmittelbaren psychischen Folgen nach einem traumatischen Ereignis, die nur kurzfristig andauern, nicht als posttraumatische Belastungsstörung aufgefasst werden. Sie werden stattdessen als akute Belastungsreaktion (ICD-10) oder akute Belastungsstörung (DSM-IV) diagnostiziert.

Gemeinsames Merkmal von ICD und DSM ist die Bezogenheit auf ein auslösendes Ereignis. Gleichzeitig zeigt sich bei den Definitionen durch ICD und DSM die Schwierigkeit, allgemeingültig zu definieren, was genau ein Trauma ausmacht, da Belastungen und Bewältigungsmöglichkeiten sehr unterschiedlich sind. Was für den einen Menschen eine traumatische Extremerfahrung darstellt, kann für den anderen eine Situation sein, für die er ausreichend Bewältigungsstrategien besitzt und sie auch entsprechend anwenden kann. Daher muss zwischen objektiven und subjektiven Bedingungen eines Traumas unterschieden werden. Als objektive Bedingung einer traumatischen Situation wird ein Ereignis bezeichnet, das auch für andere Menschen eine extreme Belastung hervorrufen würde, wie z.B. die Bedrohung mit Waffengewalt. Subjektive Bedingungen einer Traumatisierung beschreiben das Erleben der Person, die auf die Bedrohung mit Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen reagiert.

Entsprechend ist die traumatische Situation im DSM-IV so definiert, dass sowohl das objektive (A1) wie das subjektive Kriterium (A2) erfüllt sein müssen: