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Christoph Türcke

Hyperaktiv!

Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Zunehmend mehr Kinder bringen Eltern und Lehrer an den Rand der Verzweiflung, weil sie von ständiger Unruhe getrieben sind und sich in Schule, Familie und Jugendgruppen zu Störenfrieden entwickeln. «Aufmerksamkeitsdefizit» bzw. «Hyperaktivität» lautet die ärztliche Diagnose für dieses vor dreißig Jahren zum ersten Mal beschriebene Syndrom. Doch ist nicht unsere gesamte Medien- und Informationsgesellschaft, mit dem Computer als Taktgeber, permanent in heller Aufregung? Sind die Kinder nicht nur jene Wesen, an denen dies besonders auffällig wird? Christoph Türcke spricht von einer «Aufmerksamkeitsdefizitkultur». Was mit dem Film begann, hat durch das Fernsehen und dann den Computer eine ungeheure Steigerung erfahren: Unsere Aufmerksamkeit wird von den Bildmaschinen absorbiert und zermürbt – eine Erfahrung, die schon das kleine Kind bei seinen Eltern machen muß.

Was aber für die Diagnose des allgegenwärtigen Defizits an Aufmerksamkeit gilt, gilt erst recht für seine Therapie: Sie ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Statt unseren Kindern Ritalin zu verabreichen, um sie ruhigzustellen, sollten wir besser Gegenmaßnahmen treffen, um den Schwund an Fähigkeit zu ungeteilter Aufmerksamkeit aufzuhalten. Einen Schritt in diese Richtung unternimmt der zweite Teil dieses Buches. Er plädiert für die stärkere Verankerung von Ritualen im Schullalltag. Ritualkunde, so seine These, muß zu einem regulären Schulfach werden. Eine Streitschrift, die nicht nur Eltern und Erzieher herausfordert, sondern die Grundlagen unserer Gesellschaft auf den Prüfstand stellt.

Über den Autor

Christoph Türcke ist Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Im Verlag C.H.Beck sind von ihm erschienen: Erregte Gesellschaft. Philosophie der Sensation (22011), Vom Kainszeichen zum genetischen Code. Kritische Theorie der Schrift (2005), Philosophie des Traums (32011).

 

 

Für Angelika

Inhalt

Vorwort

1. Aufmerksamkeitsdefizitkultur

Das opfernde Tier

Profanierung

Maschinelle Wiederholung

Bildschock

Hirnstörung

ADHS-Herd

Kulturstörung

Geteilte Aufmerksamkeit

Multitasking

Neunmonatsrevolution

Introitus interruptus

Konzentrierte Zerstreuung

Repsychotisierung

Nachsitzen

2. Ritualkunde: Skizze eines Schulfachs

Vorklärung

Deregulierung

Primarunterricht

Lesen und
schreiben

Fachkonferenz

Soziale Strukturen

Werte

Bekennen lernen

 

Nachbemerkung und Dank

Literaturverzeichnis

Vorwort

Philosophie hat es mit dem Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem zu tun. Das Allgemeine geht alle an, aber niemanden besonders. Für sich genommen ist es egalisierend, unpersönlich, unanschaulich, abstrakt, mit einem Wort: uninteressant. Wann immer uns etwas berührt, erregt, erschüttert, zermürbt oder beglückt, so ist es etwas Besonderes. Nur ist das Besondere auch das Abgesonderte, Zusammenhanglose. Für sich genommen bleibt es unverständlich. Es verstehen heißt mehr darin erkennen als es selbst: einen Zusammenhang, eine Konstellation, ein Muster, kurzum, etwas Allgemeines. Genau darum geht es auf den folgenden Seiten: das Allgemeine im Besonderen, aber auch das Besondere im Allgemeinen. Verhandelt wird ein Phänomen, das in allen von Hochtechnologie durchdrungenen Gesellschaften bei Kindern und Jugendlichen rasant um sich greift und alle Beteiligten unruhig, unsicher und sprachlos macht. Der Name, den es auf sich gezogen hat, stammt aus der Psychiatrie: Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS). Das klingt wie die prägnante Diagnose einer Krankheit, ist aber bloß ein Hilfswort für etwas Unverstandenes. Es fehlt nicht an Bemühungen, es zu verstehen. ADHS-Studien laufen auf Hochtouren. Aber sie kommen nur wenig voran. «Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück», sagte Karl Kraus.[1] Ähnlich ist das bei ADHS, einem Phänomen, das die Fachleute gern «multifaktoriell» nennen. Je genauer sie es unter die Lupe nehmen, je mehr sie es in Faktoren zerlegen, desto nachdrücklicher weist es von sich weg und über sich hinaus. Wer klären will, was ADHS ist, lädt sich weit mehr auf als nur dieses Phänomen. Er bekommt es mit etwas höchst Allgemeinem zu tun: einer ganzen Aufmerksamkeitsdefizitkultur.

Damit steht weit mehr zur Verhandlung, als allen Beteiligten lieb sein kann. Sie werden auf eine Grundsatzfrage zurückgeworfen, die längst beantwortet schien. Was ist das eigentlich: Aufmerksamkeit? Jeder, der einem anderen «Paß auf» zuruft, glaubt das zu wissen und unterstellt, daß der andere es ebenso weiß. Aber was bekannt ist, ist damit noch längst nicht erkannt. Bestimmte Dinge lernt man erst dann verstehen, wenn sie sich nicht mehr von selbst verstehen – wenn sie bedroht sind. Und tatsächlich hat eine historische Phase begonnen, in der sich menschliche Aufmerksamkeit als ein verlierbares Gut herausstellt. Um so dringlicher die Frage: Wie wurde denn dieses Verlierbare einst erworben? Wie konnte es so in die menschliche Natur eingehen, daß es jahrtausendelang wie eine natürliche Mitgift erschien? Wer ernstlich versucht, aktuelle Aufmerksamkeitsdefizite zu verstehen, sieht sich unversehens in ferne Vergangenheit gelotst und steht vor der Frage, was eigentlich unter Menschwerdung zu verstehen ist. Es gilt sogar, Menschheitsgeschichte noch einmal neu verstehen zu lernen: als Wiederholungsgeschichte. Nein, nicht im Sinne einer ewigen Wiederkehr des Gleichen. Wiederholung ist ja nie nur dasselbe noch einmal, immer verläuft sie auch anders – zu anderer Zeit, unter anderen Umständen, mit anderen oder zumindest anders gestimmten Beteiligten. Nie tritt sie nur auf der Stelle; stets variiert sie auch, anfangs zumeist unmerklich, im Laufe längerer Zeiträume aber immer offensichtlicher.

Veränderungen, die durch Wiederholung zustande kommen, sind in der Regel nachhaltig. Sie verfliegen nicht so schnell wie sporadische launenhafte Abweichungen von eingespielten Verhaltensweisen. Menschliche Geschichte ist denn auch durch bestimmte Wiederholungspraktiken, mit denen Stämme, Clans, Familien, Völker seit vielen Jahrtausenden ihre Lebensverhältnisse zu bewältigen suchen, mindestens ebenso intensiv vorangetrieben worden wie durch Umbrüche. Umbrüche, Aufstände, Revolutionen bleiben folgenlos, wenn sie sich nicht dauerhaft etablieren – in kollektiven Wiederholungspraktiken niederschlagen. Menschliche Wiederholungsgeschichte hatte seit ihren altsteinzeitlichen Anfängen ein bestimmtes Grundmuster. Vor etwa zwei Jahrhunderten jedoch geriet sie an einen neuralgischen Punkt, wo sie, ohne zu wissen, wie ihr geschah, gleichsam in Parthenogenese, einen neuen Wiederholungstyp in die Welt setzte. Der aber ist ebenso ihr Kind wie ihr Kontrapunkt. Er ist aus ihr hervorgegangen, aber er geht ihren Weg rückwärts. Und erst wenn man sich klarmacht, was für eine Wende damit eingeleitet wurde, kann man ermessen lernen, wovon ADHS der Vorbote ist.

Daß die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit verlierbar ist, ist eine neue Erfahrung. Es folgt daraus aber nicht, daß sie verloren werden muß. Man kann gegensteuern. Einer der zentralen Orte hierfür ist die Schule. Daher beginnt dieses Büchlein zwar mit einem Schattenriß zur Menschheitsgeschichte, aber es endet mit einem Vorschlag für den Schulalltag. Skizziert wird ein Schulfach, das quer zur bestehenden Fächeraufteilung steht, aber Kräfte gegen das grassierende Aufmerksamkeitsdefizit sammeln und strukturell festigen könnte. Sein vorläufiger Name: Ritualkunde. Die Ausführungen dazu machen zwar ein eigenes Kapitel aus. Aber dessen separate Lektüre ist nicht ratsam. Voll verständlich wird es erst im Lichte der Argumentation, die zu ihm hinführt.

1. Aufmerksamkeitsdefizitkultur

Man muß nur müde sein, Angst oder Schmerzen haben, an einer Enttäuschung laborieren oder nicht wissen, wie man sich entscheiden soll, und schon kann man sich nicht mehr konzentrieren. Das ist ganz normal und zudem mit einer berechtigten Hoffnung verbunden: Sobald der Störfaktor beseitigt ist, wird die Konzentrationsfähigkeit wie von selbst zurückkehren. Im folgenden geht es um etwas anderes: die dramatisch wachsende Zahl von Kindern und Jugendlichen, die nie konzentrationsfähig geworden sind, bei nichts verweilen, nichts durchhalten können, jedes Spiel, jedes Gespräch, jeden freundschaftlichen Kontakt sogleich wieder unterbrechen, ohne daß es dafür eine klare Ursachenlage gäbe. Fachleute führen alles Mögliche an: Hirnstörungen, psychotische Disposition, zerrüttete Familienverhältnisse, niedrigen Sozialstatus, prinzipienlose Erziehung, zu viel Fernsehen. Doch ständige motorische Unruhe und gravierendes Aufmerksamkeitsdefizit findet sich auch bei Kindern, die keinerlei Hirndefekt aufweisen, nichts Psychotisches erkennen lassen und in wohlhabenden, halbwegs intakten Familien mit gemäßigtem Fernsehkonsum leben. Was fehlt ihnen? Die meisten Betroffenen, zumindest in Mitteleuropa und Nordamerika, haben genügend Nahrung und Kleidung. Nicht selten neigen sie zu Übergewicht und werfen weg, was ihnen nicht schmeckt. Oft verlangen sie nach Markenklamotten und tragen anderes nur widerwillig. Sie haben Zugang zu Schulen, Bibliotheken und modernen Geräten der Massenkommunikation (Fernseher, Computer, Handy). Sie verfügen über reichlich Spielzeug. Um so auffälliger, wie wenig Befriedigung sie aus diesen Dingen ziehen. Haben sie von alledem zu viel?

Zumindest zeugt ihr Verhalten ebenso von Überdruß wie von Entbehrung. Irgend etwas Elementares muß in ihnen gestört sein. Deshalb stören sie ihrerseits ihre Umgebung und bringen Eltern und Lehrer gelegentlich an den Rand der Verzweiflung. Doch was ist gestört? Lange Zeit war «Störung» vorrangig ein Begriff des politischen Vokabulars; Störung der öffentlichen Ordnung war damit gemeint – für die einen die Gefahr schlechthin, für andere der rettende Notausgang. Die europäische Arbeiterbewegung etwa war erklärtermaßen auf eine umfassende Störung eingeschliffener sozialer Abläufe aus; nicht um das Gemeinwesen zu zerstören, sondern um zu verhindern, daß es die Mehrheit seiner Mitglieder ruiniert. Ihre Hauptstörungswaffe war die Niederlegung der Arbeit: der Streik.

Politischer Streik ist nie Selbstzweck; stets unterbricht er die bestehende Ordnung um einer anderen, besseren willen. Die Beteiligten wissen, daß sie nicht dauerhaft vom Streik und im Streik leben können. Kinder, die alles, was sie anfangen, sogleich wieder unterbrechen, wissen das nicht. Sie verstehen noch nichts von Politik und streiken dennoch. Ihr Streik ist kaum mehr als ein psychosomatischer Reflex, aber gerade deshalb etwas ganz Existentielles. Sie bestreiken ebenso ihre Umgebung wie sich selbst – aus Not, nicht aus Vorsatz oder Überzeugung. Im Vergleich dazu nimmt sich der politische Anarchismus nahezu gemütlich aus. Sein Optimismus, daß sich die menschlichen Verhältnisse von selbst harmonisch regeln werden, wenn nur erst alle staatlichen Institutionen und Gesetze beseitigt sind, zehrt vom Urvertrauen in eine alle Menschen umfassende kulturelle Grundstabilität. Dies Vertrauen fehlt ADHS-Kindern. Ihr Anarchismus ist radikaler. Er widerlegt, daß kulturelle Stabilität gleichsam mit der Mut termilch eingesogen wird und zur menschlichen Grundausstattung gehört. Er erinnert daran, daß Kultur weder vom Himmel gefallen noch angeboren ist; daß alles, was die Menschheit von andern Tierarten unterscheidet, mühsam erworben wurde. Evolutionstheoretisch weiß man das eigentlich; es von Kindern des 21. Jahrhunderts demonstriert zu bekommen, ist gleichwohl erschütternd. Für die Fachleute aus Neurobiologie, Psychiatrie, Psychologie und Pädagogik sind diese Kinder Objekte detaillierter Defizit-Ursachenforschung. Der Philosoph hingegen nimmt sie erst einmal als Subjekte wahr, die ihm Fragen stellen – durch ihr Verhalten. Was macht kulturelle Stabilität aus? Wie hat es zu ihr kommen können? Welche Opfer hat ihr Erwerb gekostet? Das sind nichts Geringeres als Menschwerdungsfragen. Sie nötigen dazu, das dunkle Kapitel der menschlichen Frühzeit erneut aufzuschlagen – sozusagen noch einmal von vorn anzufangen. Das kostet Selbstüberwindung. Aber es lohnt sich. Die gesamte Defizit-Ursachenforschung rückt dadurch in neues Licht.

Das opfernde Tier

Menschen sind Wiederholungstäter. Mehr noch: Erst dadurch, daß sie auf artspezifische Weise zu Wiederholungstätern wurden, wurden sie zu Menschen. Sowenig wir vom Menschheitsanfang auch wissen, eines ist sicher: Zur Menschwerdung gehört die Ausbildung von Sitten und Gebräuchen. Deren Elementarformen aber sind sakrale Riten, und die wiederum haben eine gemeinsame Wurzel: das Opferritual. Wer sich archäologisch auf die Spuren der frühen Menschheit begibt, stößt unweigerlich auf Rückstände und Beigaben der Opferdarbringung. Steinzeitliche Siedlungsplätze sind regelmäßig um ein sakrales Zentrum gruppiert, sei es ein Opferstein, ein Totempfahl, ein Berg oder eine Grabstelle, und Begräbnis ist von Opferung nicht scharf trennbar. Und wer die ältesten Erzählungsschichten der Menschheit erkundet, stößt auf Mythen, in denen der Opfervollzug entweder selbst die zentrale Handlung darstellt oder sie wie ein Generalbaß grundiert. Töten – das tun auch Tiere, gelegentlich auch ihresgleichen. Aber rituell töten, in feierlicher Versammlung an einem bestimmten Ort nach einem festgelegten Schema: das ist eine Besonderheit der Spezies Homo sapiens. Das griechische Verb rezein ist das Wortgedächtnis für diesen Sachverhalt. Es bedeutet sowohl «Opfer darbringen» als auch generell «handeln, tätig sein» und nimmt damit das Opfern als Inbegriff menschlichen Handelns, als die menschenspezifische Tätigkeit – ganz ähnlich übrigens wie das lateinische operari, aus dem im Deutschen ebenso «operieren» wie «opfern» geworden ist.[2]

Der Mensch ist das opfernde Tier. Aber er hat das Opfern erst lernen müssen, und zwar ohne Lehrer oder Erzieher, die es ihm hätten beibringen und seine ersten ungelenken Versuche wohlwollend unterstützen und korrigieren können. Es wird Tausende von Jahren gedauert haben, bis sich feste Opferrituale bildeten. Jedenfalls dürften die menschlichen Kollektive, die vor etwa 30.000 Jahren in der Lage waren, die Wände der Höhlen von Chauvet so zu bemalen, daß wir heute noch sprachlos davorstehen, schon einen hochentwickelten Opferkult praktiziert haben. Nicht unwahrscheinlich, daß dessen Anfänge, je nach Weltgegend, weitere zehn, vielleicht aber auch zwanzig oder vierzig Jahrtausende zurückreichen. Man kann sich hier leicht um ein paar Jahrzehntausende verrechnen, was die Altsteinzeitforscher denn auch als ganz normale Fehlertoleranz in Kauf nehmen. Eines freilich ist gewiß: Opfer sind keine Kleinigkeit. Man schlachtet nicht Frösche oder Fliegen, sondern Menschen und Großtiere – das Kostbarste, worüber man verfügt. So etwas tut man nicht aus Spaß, sondern nur unter äußerstem Druck: weil man sich anders nicht zu helfen weiß, weil man sich damit Entlastung zu verschaffen glaubt.

Nur: Was ist am Opfer entlastend? Es wiederholt doch Grauen und Leiden, es tut doch das, wovon es entlasten will. Das ist absurd. Nur hat diese Absurdität eine geheime Logik. Man kommt ihr auf die Spur, wenn man ein Verhalten genauer untersucht, das heute nur noch als pathologisches geläufig ist: den traumatischen Wiederholungszwang. Sigmund Freud war aufgefallen, daß Leute, die im Krieg oder bei Eisenbahnunfällen einen traumatischen Schock erlitten hatten, im nächtlichen Traum immer wieder in die schockierende Situation zurückversetzt wurden, sie immer wieder durchlebten, immer wieder schweißgebadet und zitternd aufwachten. Warum taten sie das, warum verdrängten sie das Schreckliche nicht einfach? Offenbar weil es viel zu mächtig war, um sich verdrängen zu lassen. Und das brachte Freud auf einen Verdacht. Geschah die absurd erscheinende Wiederholung nicht, um gegen das Eindringen traumatisierender Naturgewalt, das man nicht hatte verhindern können, nachträglich Abwehrkräfte zu mobilisieren? War der nervenzerrüttende Wiederholungszwang nicht eigentlich ein Selbstheilungsversuch des Nervensystems: ein Versuch, geeignete Nervenbahnen anzulegen, in denen ein ungeheurer, unerträglicher Erregungsschwall kanalisiert und erträglich gemacht werden könnte?[3]

Damit hat Freud etwas kaum zu Überschätzendes entdeckt. In der Tat, der traumatische Wiederholungszwang ist ein Notwehrphänomen: der verzweifelte Kunstgriff eines hochempfindlichen Nervensystems. Wir wissen nicht, wie es so empfindlich hatte werden können, warum gerade ihm dieser Kunstgriff gelang und wie lange es gedauert hat, bis er eingeübt war. Wo seine ältesten Spuren greifbar werden, tritt er uns schon als entwickelte Kulturtechnik entgegen: entfaltet zu einem Opferritual.[4] Daß «Götter» dessen Vollzug «verlangen», ist schon eine relativ späte nachträgliche Rationalisierung. Der Zwang zum Opfer erklärt sich gewiß nicht durch den Willen von Göttern. Wohl aber läßt sich das Dämmern von Gottesvorstellungen aus diesem Zwang erklären. Allerdings nicht ohne weiteres. Denn der Zwang an sich bleibt unverständlich, solange seine Logik nicht als die physiologische des Wiederholungszwangs erkannt wird: Grauenhaftes vollziehen, um von Grauenhaftem loszukommen, durch ständige Wiederholung Unerträgliches allmählich erträglich, Unfaßliches faßlich, Ungewöhnliches gewöhnlich machen. Das kann anfangs kaum mehr als ein reflexartiger Vorgang gewesen sein, bar jeder Vorstellung von höheren Mächten, lediglich ein kollektives Ausagieren gemeinsam gemachter traumatischer Erfahrungen.

Ausagieren erleichtert. Doch Wiederholung von Grauenhaftem bleibt grauenhaft. Der Wiederholungszwang brachte Linderung, war aber selbst hochgradig linderungsbedürftig, und in seinem Linderungsdrang nahm er eine Wendung, über die viel zu wenig gestaunt wird. Er begann sich selbst auszulegen. Zunächst in ganz wörtlichem Sinne: Er legte sich nach außen. Einen inneren Zwang wahrnehmen, als käme er von außen, in der Gestalt einer zudringlichen höheren Gewalt: das war die primäre Auslegungsleistung. Psychoanalytiker würden von Projektion sprechen. Nur daß die in ihrem Anfangsstadium weit mehr tat, als nur innere Wünsche nach außen zu kehren. Sie eröffnete erst einmal die Dimension, in der solche Umkehrungen stattfinden können: den menschlichen Imaginationsraum. Das ist ein imaginärer Innenraum ohne jede meßbare physische Ausdehnung – ein metaphysischer Fluchtraum. Man nennt ihn auch den mentalen Raum. Vielleicht wird man nie ganz verstehen, wie er sich öffnete. Doch daß er dies nicht aus Lust und Laune tat, sondern nur auf heftiges inneres Drängen, darf als gewiß gelten. Der traumatische Wiederholungszwang eröffnete sich diesen Raum auf seiner verzweifelten Flucht vor sich selbst. Er verflüchtigte sich darin zu einer Bildgestalt, deren Anfänge wir uns kaum vage und diffus genug vorstellen können und die dennoch etwas qualitativ anderes als bloß ein Nachbild von Netzhauteindrücken war, nämlich etwas Eingebildetes, Bedeutendes – und insofern noch in einer weiteren Hinsicht Auslegung des Wiederholungszwangs: seine Interpretation. Sie deutete ihn, stellte sich als sein Wozu, sein Adressat dar: die höhere Macht über ihm. Sie gab ihm einen Sinn, und Sinn stiftet, was Halt, Schutz und Rettung verheißt.