Ulli Schubert

Fußballschule am Meer. Volles Risiko

Mit Illustrationen von Elisabeth Holzhausen

 

 

 

Band 4

 

 

Mit Illustrationen

von Elisabeth Holzhausen

 

 

 

 

 

 

Der Zug wurde langsamer und kam schließlich mit einem sanften Ruck zum Stehen. Finn warf sich die Sporttasche über die Schulter und stieß die Tür auf.

«Norden, hier ist Norden. Der auf Gleis 1 eingefahrene Regional-Express aus Hannover fährt nach kurzem Aufenthalt weiter über Norddeich nach Norddeich-Mole und endet dort!»

Es war eine Frauenstimme, die über die Lautsprecher die ausgestiegenen Fahrgäste auf dem Bahnsteig begrüßte. Eine echte, menschliche Stimme, kein Computer wie im Hauptbahnhof von Hannover, und sie klang so unverwechselbar norddeutsch, dass Finn sich gleich wieder heimisch fühlte. Dabei stammte er gar nicht von der Küste. Doch die kurze Zeit, die er jetzt in der Fußballschule des FC Norderdünen wohnte, hatte ihn sein eigentliches Zuhause bereits vergessen lassen. Nur seine Mutter vermisste er manchmal noch.

Finn schloss die Augen und atmete tief durch die Nase ein. Er wollte nicht an die Vergangenheit denken, sondern lieber das Meer riechen. Aber das klappte natürlich nicht. Der Bahnhof von Norden lag über fünf Kilometer von der Nordsee entfernt, und außerdem stand Finn direkt neben der Lok. Es war so laut und stank so heftig nach verbranntem Öl, dass er lieber schnell das Weite suchte.

Beziehungsweise Manni Brenneisen, den «Mann für alle Fälle» in der Fußballschule am Meer. Er war Mitte zwanzig, lang, dürr, mit schulterlangem glattem Haar und wartete wie verabredet mit seinem alten VW-Bus auf dem Parkplatz neben dem Bahnhofsgebäude auf Finn.

Norderdünen hatte keinen eigenen Bahnhof. Es gab zwar einen Bus, der auch an der Hafenmole in Norderdünersiel hielt – allerdings fuhr er am Sonntag nur alle paar Stunden und außerhalb der Feriensaison sogar noch seltener. Die meisten Touristen kamen sowieso mit dem eigenen Wagen, und alle anderen wurden wie Finn vom Bahnhof in Norden oder Esens abgeholt.

Sogar Olli Hansen, der Besitzer des Campingplatzes, bot seinen Gästen so einen Shuttleservice an, und offenbar sollte er an diesem Tag in Anspruch genommen werden. Sein Mini-Bus plus Anhänger stand jedenfalls auch auf dem Parkplatz, direkt neben dem Wagen von Manni. Die beiden Männer lehnten an ihren Autos, hielten die Arme vor der Brust verschränkt und redeten über die Dinge, über die Männer auf der ganzen Welt redeten: Fußball, Baumärkte, Autos und Frauen.

Finn war noch kein Mann – jedenfalls kein richtiger. Außerdem war das Wochenende ziemlich anstrengend gewesen. Deshalb versuchte er gar nicht erst, sich an dem Gespräch zu beteiligen, sondern begrüßte die beiden Männer nur mit einem angedeuteten Kopfnicken, wuchtete seine Sporttasche auf die mittlere Sitzbank und wollte gerade einsteigen und es sich auf dem Beifahrersitz bequem machen, als Manni Brenneisen ihn zurückpfiff.

«Stopp!», sagte er und zeigte ein so übertrieben freundliches Lächeln, dass Finn sofort Übles schwante.

«Du könntest uns helfen», sagte Olli Hansen prompt.

Finn rollte innerlich die Augen. Bis kurz vor Abfahrt des Zuges hatte er noch beim Sichtungstraining des Niedersächsischen Fußballverbandes in Hannover auf dem Fußballplatz gestanden. Natürlich hatte er nicht nur tatenlos herumgestanden – ganz im Gegenteil: So ein heftiges Training wie an den vergangenen beiden Tagen hatte Finn noch nie erlebt! Kondition, Ausdauer, Beweglichkeit, Kraft, Ballbehandlung, taktisches Verständnis – die Trainer hatten nichts ausgelassen. Aber Finn hatte durchgehalten, und das machte ihn stolz. Immerhin hatte er sich zwei Tage lang erfolgreich mit den größten Talenten seiner Altersklasse gemessen, die Niedersachsen zu bieten hatte. Und das waren nicht wenige!

Entsprechend platt und ausgepowert war Finn. Schon im Zug war er zweimal kurz eingeschlafen, und selbst im halbwegs wachen Zustand hatte er nur geträumt: von einer heißen Dusche, einem Abendbrotbüfett, so groß wie ein Strafraum, und von seinem Bett.

Es war also kein Wunder, dass Finn weder die Kraft noch die Lust hatte, den beiden Männern zu helfen – wobei auch immer. Aber das ließ er sich lieber nicht anmerken. In der Fußballschule am Meer wurde erwartet, dass man sich gegenseitig half und unterstützte. Das hatte Finn schmerzhaft lernen müssen. Und obwohl der Campingplatz von Olli Hansen nicht zur Fußballschule gehörte und Finn das Gefühl nicht loswurde, dass die beiden Männer schon eine ganze Weile auf dem Parkplatz gestanden und miteinander gequatscht hatten, anstatt schon mal anzufangen – womit auch immer –, stieg er aus Mannis altem VW-Bus wieder aus.

«Was soll ich tun?», fragte er ergeben.

«Morgen kommt eine Schulklasse», sagte der Besitzer des Campingplatzes. «Für zehn Tage.»

«Und?»

«Sie kommen mit dem Fahrrad!»

Finn hob seine Augenbrauen und sah Olli Hansen mit einem Blick an, der sehr deutlich ausdrückte, was er dachte: Ja und, was geht mich das an?

«Das Gepäck wurde vorausgeschickt und ist heute Mittag mit dem Zug angekommen», erklärte der Campingplatzbesitzer. «Unglaublich, was die Kinder heutzutage alles mitschleppen. Entweder kommen wesentlich mehr Schüler, als angemeldet sind, oder jeder einzelne hat tatsächlich zwei Koffer oder Rucksäcke dabei!»

«Oder jedes Mädchen hat drei Koffer mitgebracht und die Jungs alle nur einen Rucksack», sagte Finn und dachte an seine Sporttasche in Mannis VW-Bus. Dafür, dass er lediglich zwei Tage und eine Nacht weg gewesen war, war sie auch ziemlich vollgestopft. Aber dabei handelte es sich hauptsächlich um Sportklamotten. Sogar Fußballschuhe zum Wechseln hatte er eingepackt, und die meisten Sachen hatte er tatsächlich gebraucht. Kein Wunder, bei vier Trainingseinheiten in gerade mal knapp zwei Tagen.

Ansonsten besaß er nicht übermäßig viele Klamotten, und auch Luca, seinem Mitbewohner und selbsternannten Bruder, würde ein nur halb so großer Kleiderschrank locker genügen.

Ganz anders sah es dagegen bei Brit, Dani, Julia und den anderen Mädchen im Sportinternat aus. Deren Schränke waren so vollgestopft, dass sich die Türen nicht mehr schließen ließen, und mindestens die gleiche Menge an Klamotten lag auch noch überall in den Zimmern verteilt herum oder hing frisch gewaschen auf den Wäscheständern.

«Wahrscheinlich hast du recht», meinte Manni Brenneisen. «Aber Mädchen ziehen sich ja auch dreimal am Tag um und Jungs nur dreimal in der Woche.»

«Wenn überhaupt», murmelte Finn.

«Da spricht offenbar einer aus Erfahrung», sagte der Campingplatzbesitzer und lachte. «Nun, wie auch immer – die erste Fuhre habe ich heute Nachmittag schon zum Zeltplatz gebracht. Aber dadrinnen stapeln sich immer noch mindestens eine Million Koffer!»

Er deutete in Richtung Bahnhofsgebäude.

«Ich wollte eigentlich beim Tragen helfen. Aber dann haben wir uns wohl irgendwie festgequatscht», bestätigte Manni, was Finn bereits vermutet hatte.

«Ich gebe hinterher auch ein Eis aus», versprach Olli Hansen.

Als wäre dieser Satz das Startsignal gewesen, setzten sich die beiden Männer in Bewegung. Finn trottete ihnen automatisch hinterher, obwohl ein Eis das Letzte war, wovon er in diesem Moment träumte. Und obwohl er fest davon überzeugt war, dass er noch nicht einmal genügend Energie haben würde, um auch nur eine einzige Socke zu dem Minibus tragen zu können.

Als er ein paar Augenblicke später doch mit einem Rucksack beladen und einen Koffer hinter sich herziehend über den Parkplatz wankte, konnte er immer noch nicht glauben, dass er dazu tatsächlich in der Lage war. Vor allem aber fragte er sich, ob es wirklich noch Hilfsbereitschaft war, das Gepäck ihm vollkommen fremder Menschen durch die Gegend zu schleppen, oder schon Dummheit!

Offenbar hatte er über die Frage nicht nur nachgedacht, sondern sie auch laut ausgesprochen.

«Mit die Dummen ist Gott», sagte Manni nämlich.

Der Spruch war ungefähr genauso dämlich wie «Dumm kickt gut» oder der von einem Fußballerzitat abgewandelte Satz «Erst waren wir nicht schlau genug, und dann kam auch noch mangelnde Intelligenz hinzu!». Trotzdem beschloss Finn, sich ihn zu merken. Für den Fall, dass er mal wieder eine Arbeit in der Schule versemmelte oder im Unterricht eine Frage nicht beantworten konnte. Oder wenn er Brit mal wieder zum Lachen bringen wollte. Die liebte die Fußballersprüche fast so sehr wie Finn!

«Soweit ich weiß, handelt es sich um eine 7. Klasse aus Hamburg», sagte Olli Hansen, als ob Finn die Besitzer der Gepäckstücke durch diese Information weniger fremd wären. «Sie haben die Reise bei einem Fußballturnier gewonnen.»

«Als Trostpreis?», konnte Finn sich nicht verkneifen zu fragen.

«He, mein Zeltplatz ist tipptopp in Ordnung!», beschwerte sich Olli Hansen prompt. «Und die Blockhütten, in denen die Schüler wohnen, sind nagelneu!»

Auch Manni Brenneisen schüttelte empört den Kopf. «Hast du was gegen Norderdünersiel?», fragte er. «Oder gegen Herrn Petersen? Er hat den Preis nämlich gesponsert!»

Als Finn den Namen des Präsidenten des FC Norderdünen hörte, wusste er, dass er mal wieder einen Fehler gemacht hatte. Auf den reichen und mächtigen, aber stets hilfsbereiten und keineswegs geizigen Wurstfabrikanten ließ nämlich niemand an der ostfriesischen Nordseeküste etwas kommen. Erst recht nicht, seit er vor kurzem einen Sport- und Vergnügungspark gebaut hatte, in dem alles geboten wurde, was fit oder Spaß machte: Tennis-, Squash- und Badminton-Courts, Bowling- und Kegelbahnen, eine Soccer-Halle, ein Indoor-Spielplatz, ein 18-Loch-Golfplatz, ein Aquarium mit Hai-Tunnel, ein Multiplex-Kino, Bars, Restaurants und sogar ein Spielcasino. Das riesige Areal lag am Ortsrand von Norderdünersiel, gleich hinter dem Fischerhafen, und sollte in Zukunft auch außerhalb der Badesaison die Touristen an die Nordseeküste locken. Viele Menschen aus der Region hatten dort einen gutbezahlten Arbeitsplatz gefunden. Alleine dafür hätten die Ostfriesen, die sonst eher ruhig und zurückhaltend waren, Sören Petersen zu ihrem König gemacht und ihm jeden Morgen begeistert die Füße geküsst!

Doch die ungekrönte Majestät war nicht nur ein Wohltäter gegen die Arbeitslosigkeit – der Wurstfabrikant liebte auch den Fußball und hatte große Pläne mit dem FC Norderdünen. Wenn alles so lief, wie er es sich vorstellte, sollten die Nordseekicker schon in wenigen Jahren nicht mehr gegen Aurich, Leer oder Wiesmoor spielen, sondern gegen die Bayern, Schalke, Dortmund und den HSV. Einen ersten Vorgeschmack auf künftige Bundesligazeiten hatte bereits die Einweihungsfeier des hypermodernen Stadions gegeben, das Herzstück des Sportparks, in dem 30 000 Zuschauer Platz fanden, als der SV Werder Bremen mit all seinen Starkickern angetreten war!

Das erste Spiel auf dem neuen heiligen Rasen des FC Norderdünen hatten jedoch ganz offiziell Finn und seine Freunde bestritten. Nach hartem Kampf hatten sie das Vorspiel gegen die U13 der Werderaner knapp mit 2 : 3 verloren. Finn hatte bei diesem Spiel trotz der Niederlage als Abwehrspieler geglänzt und wenige Tage später die Einladung zu einem Sichtungstraining des Niedersächsischen Fußballverbandes erhalten!

«Weißt du eigentlich, wem du das Wochenende in Hannover zu verdanken hast?», fragte Manni, als alle Gepäckstücke der Hamburger Schüler auf Olli Hansens Anhänger verstaut waren und sie endlich in Richtung Norderdünersiel fuhren.

Finn sah ihn fragend an. «Den Scouts?», vermutete er. «Einem der vielen Spielerbeobachter, die bei dem Spiel gegen Bremen zugeschaut haben … oder etwa nicht?»

Manni Brenneisen nickte.

«Okay, die haben vermutlich deinen Namen an die zuständigen Leute beim Fußballverband weitergegeben. Aber von wem kam wohl der Tipp, dass sie sich nicht nur die Spieler von Werder, sondern auch den rechten Außenverteidiger des FC Norderdünen mal genauer ansehen sollten?!»

Finn dachte nach, doch er konnte sich niemanden aus der Fußballschule vorstellen, der so etwas für ihn tun würde. Jedenfalls keinen der Erwachsenen. Dafür hatte er in den vergangenen Wochen einfach zu viel Mist gebaut.

«Pitt Fischer», sagte Manni in die Stille hinein, die während Finns Denkprozess entstanden war.

«Was ist mit ihm?»

«Er war es, der sich für dich eingesetzt hat.»

«Pitt Fischer? Unser Trainer?!», rief Finn und schüttelte den Kopf. Nein, das war unmöglich. Der Trainer hasste ihn. Zumindest mochte er ihn nicht, davon war Finn überzeugt.

«Er hält große Stücke auf dich», sagte Manni.

Ja klar, dachte Finn, und die Erde ist eine Scheibe, ein Fußball eckig und der Schuss von Frank Lampard im Achtelfinalspiel Deutschland gegen England bei der WM 2010 in Südafrika war nicht drin!

«Ist heute ‹Rechter-Außenverteidiger-Verarsch-Tag›, oder was?», fragte Finn empört.

Manni grinste.

«Klar, das ist doch jeder Tag! Deswegen haben wir dich eben auch die Koffer und Rucksäcke der Hamburger schleppen lassen», sagte er und lachte über das dumme Gesicht, das Finn machte. «Aber dein Trainer mag dich wirklich. Du bist ein guter Abwehrspieler und bringst alles mit, um eines Tages ein Ausnahmekicker zu werden: Durchsetzungsvermögen, Härte, Umsicht, Spielwitz, Intelligenz. Schade allerdings, dass der letzte Punkt nur für den Fußballplatz gilt …»

«He, ich nehme doch schon Nachhilfestunden, um in der Schule besser zu werden!», protestierte Finn.

«Und darüber freut sich niemand mehr als dein Trainer!»

Finn biss sich auf die Lippen und schaute angestrengt aus dem Seitenfenster. Er war es einfach nicht gewohnt, dass sich jemand über ihn freute. Das hatten schon seine Eltern nur sehr selten gemacht. Eigentlich nie. Deshalb war er ja von zu Hause in die Fußballschule am Meer gezogen. Deshalb und weil er Fußballprofi werden wollte.

«Hat er das wirklich gesagt?», fragte er leise.

«Hat er», bestätigte Manni. «Und auch dass er dich mag. Genau wie Herr Petersen, Steffi, deine Freunde – und natürlich ich. Wir alle mögen dich und sind jederzeit für dich da!»

«Hör schon auf», sagte Finn schroff. «Du hörst dich an wie ein Sektenprediger!»

Manni schien über den Vergleich nicht böse zu sein.

«Kann sein», sagte er jedenfalls ungerührt. «Aber im Gegensatz zu solchen Leuten meine ich es ernst.»

Finn schluckte.

«Schön wär’s», murmelte er, und dachte: Ich hab’s doch gewusst: Rechter-Außenverteidiger-Verarsch-Tag !