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3. Auflage 2020
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bushidoersguterjunge GmbH
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Coverfoto: Michael Wilfling
Covergestaltung: Ben Baumgarten, GrafixXXL, Berlin
Lektorat: Redaktionsbüro Sieck, Neumünster
Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern
 
ISBN Print 978-3-86883-473-4
ISBN E-Book (PDF) 978-3-86413-160-8
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86413-167-7
 
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Für Mama

Inhalt

Titel
Impressum
Inhalt
Intro
Von der Straße zum Richter zurück
Ausbildungsheim, Arbeitsamt, Abendschule
Bushido – ein Krieger wird geboren
Eine Herde schwarzer Schafe
Der Universal Soldier
Auf dem Klo mit Rammstein
Auf-die-harte-Tour
Gangbang: Wer nicht kommt, wird nicht gezählt!
Selina
Die üblichen Frauengeschichten
Electro Ghetto
Hast du eins, willst du mehr
Der Rapper, der im Knast war
Das Auge der Fatima
Mama, ich sehe dich!
Himmel über Berlin
Du sprichst wie ein Mann? Steck ein wie ein Mann!
Das Leben ist hart
Das Autogramm auf der Nazi-Glatze
Das Café
Ein Sommermärchen in der Katzbachstraße
ersguterbulle
Die Opfer-Festivals
Eine Runde Klartext
Der 11. September
Deutsch-Test mit Atze Hape
50 Jahre Bravo
Amerika: Das Land der unbegrenzten Opfer
MTV: Ihr seid nur Show – ich bin das Biz!
Krawall auf der Reeperbahn
Sonny Techno – raus aus meinem Ghetto
Tanz der Teufel
Du Hund!
Für eine Million, da würde ich ...
Schlampenstress an der Strippe
Im Taxi mit Sido
La vita e rosa
Der Kuss auf dem Hermannplatz
Mein erster Fick
Brillantenfieber
Mädchenchaos in Berlin
Mein persönlicher Albtraum
Der 1-Million-Euro-Deal
Ein Kinostar im Gangster-Café
Der ECHO 2008
Outro
Bonuskapitel: Reich mir deine Hand
Diskografie, Erfolge, Auszeichnungen

Intro

Es begann alles mit einer Idee, einem Stift und einem leeren Blatt Papier. Eines Abends setzte ich mich an meinen Schreibtisch und fing an, meine Gedanken aufzuschreiben. In diesem Moment war das für mich nichts Besonderes. Im Gegenteil. Es fühlte sich ganz natürlich an. Wer hätte schon ahnen können, dass diese paar Zeilen mein ganzes Leben verändern würden?

 

Wenn ich mich heute umsehe – meine Villa, meine Autos, die Frauen, meine Klamotten, mein Bankkonto, mein Schmuck, der Ruhm –, dann habe ich das einzig und allein dieser einen Idee zu verdanken. Ich denke oft darüber nach, warum ich derjenige bin, der angehimmelt wird, und nicht mein dämlicher Nachbar oder Paolo, der Pizzabäcker von der Oranienstraße. Ich habe aber keine Erklärung gefunden. Es ist ein Phänomen.

 

Jedes Mal, wenn ich auf meine Uhr sehe und mir meine 6000-Euro-­Breitling entgegenfunkelt, werde ich daran erinnert: Alles, was ich habe, kommt von meinen Fans. Sie bezahlen das alles. Sie kaufen meine CDs, Konzerttickets, Klingeltöne, T-Shirts, DVDs – und was mache ich? Ich krieche nachmittags aus meinem Bett, koche Espresso, setze mich in Jogginghose und Unterhemd vor meinen Computer und beobachte, wie mein Bankkonto immer dicker wird. »Wieso kaufen sich die Leute das alles?«, frage ich mich. Ich bin doch nur ein ganz normaler Junge.

 

Es sind aber nicht nur die materiellen Dinge, die mich immer wieder ins Grübeln bringen. Vielmehr sind es die Emotionen, die ich bei den Menschen erwecke. Auf meinen Konzerten stehen 16-jährige Mädchen in der ersten Reihe und können jede Textzeile mitsingen, sogar von meinen alten, nicht so bekannten Songs. Ich beobachte sie von der Bühne aus sehr genau, wie sie mir kreischend zujubeln, Heulkrämpfe bekommen und sogar in Ohnmacht fallen. Dann schaue ich auf diese riesige Menschenmasse und denke mir: Genauso fühlt sich also Robbie Williams! Nur dass ich cooler bin als er.

 

Ich muss mich noch nicht einmal besonders anstrengen. Es reicht schon, mit tief heruntergezogener Kapuze auf die Bühne zu gehen und einfach nur bewegungslos dazustehen. Die Leute drehen trotzdem durch. Wenn ich dann noch langsam die Kapuze abnehme und sie mein Gesicht erkennen, schreien sie sich die Lunge aus dem Leib. Verrückt, oder?

 

Absurd ist auch, dass Rap für mich nicht einmal Arbeit ist. Ich gehe einfach auf die Bühne und ziehe meine Show durch. Obwohl ich nicht sonderlich kreativ bin, weiß ich, dass mindestens die Hälfte der Leute wieder zu einem meiner nächsten Konzerte kommen werden. Was ich bei meinen Fans so krass finde, ist diese unendliche Dankbarkeit, die sie mir entgegenbringen. Man muss sich das mal vorstellen: Die geben 30 Euro für ein Konzertticket aus, erleben ihren Star für zweieinhalb Stunden und sind einfach nur dankbar, dabei gewesen zu sein. Obwohl sie schon 40 Euro für eine CD und ein T-Shirt ausgegeben haben und am nächsten Tag zu spät zur Arbeit kommen, weil sie bis morgens um fünf Uhr am Bahnhof auf den nächsten Zug warten müssen, würden sie es immer wieder tun. Um sich die Wartezeit in der Kälte zu verkürzen, laden sie sich aus Langeweile auch noch neue Klingeltöne von mir herunter. Nicht illegal bei irgendeinem russischen Billiganbieter, sondern ganz offiziell bei »Jamba!«, weil sie sich denken: Scheiß auf die drei Euro, ist ja für Bushido!

 

Sie geben mir alles und erwarten als Gegenleistung lediglich, dass ich ihnen ein paar Stunden meiner Zeit widme. Und was mache ich, ich Vollidiot? Ich komme mit einer dämlichen roten Sportjacke und ohne Haargel auf die Bühne, pople in der Nase, schnicke den Eumel zur Seite, schnappe mir das Mikrofon und sage: »Magdeburg, ich glaube, ich habe einen Popel in der Nase.« Was passiert? Die Halle tobt! Ich lasse mir wirklich den bescheuertsten Unsinn einfallen, nur um zu sehen, wo die Grenze liegt. So, wie ein kleines Kind Eltern austestet, wie weit es gehen kann. Wirklich! »Die Typen aus meiner Band sind alles Streber«, sage ich dann, oder: »Runzheimer, mein Bassist, sieht aus wie Brad Pitt.« Ganz egal, was ich sage, die Leute drehen durch. Selbst die Mädchen lachen bei meinen schlechten Frauenwitzen, die schon in den 90ern nicht mehr lustig waren. Ich wundere mich ja fast schon selbst, dass sich noch nie jemand darüber beschwert hat. Sie lieben mich einfach, wie ich bin. So etwas nennt man wohl Loyalität. Es mag sich lächerlich anhören, aber für sie bin ich ein Held. Und Helden haben nun mal keine Fehler.

 

Wenn ich auf der Bühne stehe und meine Witze erzähle, spüre ich sehr genau, wie das Publikum glaubt, wieder etwas Neues über mich erfahren zu haben, wieder ein Stück näher an mir dran zu sein, wieder etwas mehr zu meiner Familie zu gehören. Irgendwie schaffe ich es, in ihnen dieses »Wir-Gefühl« zu wecken. Was konnte Jürgen Klinsmann, was seine Vorgänger nicht konnten? Genau das!

 

Nach meinen Konzerten gehen diese Kinder wieder nach Hause zu ihren Eltern, die vielleicht Ärzte, Lehrer, Rechtsanwälte oder Beamte sind, und summen Sätze wie »Ich sehe mehr Fotzen als ein Gynäkologe« vor sich hin. Das ist doch richtig abgefahren. Der Vater eines solchen Kindes findet es bestimmt nicht so toll, dass seine Tochter meine Musik hört, aber was will er machen? Verbieten kann er es ihr nicht, also macht er das einzig Richtige und schlägt sich auf ihre Seite, in der Hoffnung, durch mich an sie heranzukommen. Nach dem Motto: Wenn ich meiner Tochter erlaube, auf ein Bushido-Konzert zu gehen, findet sie mich vielleicht auch ein bisschen cool. Das habe ich alles schon erlebt. Die Sache ist ja die: Egal, wo ich hingehe, die Kinder sind überall. Durch sie ziehe ich über kurz oder lang auch die Erwachsenen in meinen Bann. Es ist alles nur eine Frage der Zeit.

 

Ich wollte immer nur das Beste aus meinem Leben machen, deshalb bereue ich auch im Nachhinein keinen einzigen Tag und keine einzige Tat. Es musste alles genau so passieren, damit ich heute dieses Buch schreiben kann. Was zählt, ist die Gegenwart. Hat mir meine Vergangenheit geschadet? Nein. Auch wenn manche Schmierblätter immer wieder die Erziehungsmethoden meiner Mutter infrage stellen. Ganz ehrlich: Da scheiß ich drauf. Es ist doch so wie im Fußball. Die Eigenheiten eines Trainers können noch so behindert sein, solange seine Mannschaft gewinnt, hat er alles richtig gemacht. Vor der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland wurde Jürgen Klinsmann von allen Seiten wegen seiner ungewöhnlichen Trainingsmethoden ausgelacht. Sechs Monate später war er der Retter des deutschen Fußballs. Mir ging es ähnlich. Früher hat niemand auch nur einen Pfifferling auf mich gesetzt. Nicht einmal meine angeblich besten Freunde haben an mich geglaubt. Heute bin ich Multimillionär und einer der größten Popstars Deutschlands. Und wo sind die anderen geblieben? Ich will damit sagen, das ganze Leben ist eine verfickte Achterbahnfahrt. Damals ging es mir und meiner Familie sehr schlecht, wir hatten kaum genug Geld, um jeden Tag etwas Warmes zu essen. Mittlerweile sieht die Situation zum Glück etwas anders aus, aber wer weiß schon, was in zehn Jahren passiert. Komm damit klar oder du hast verloren! Es kommt immer nur darauf an, dass man an sich und seine eigenen Fähigkeiten glaubt. Du findest mich nicht cool? Kein Problem. Dann verpiss dich aus meinem Leben, aber nerv mich nicht weiter.

 

Die Mentalität des typischen deutschen Rap-Fans ist die, stocksteif in der Ecke des Clubs zu chillen und dem, der auf der Bühne steht, die kalte Schulter zu zeigen. Nach dem Motto: Ich bin sowieso cooler als du! Auf meinen Konzerten bräuchte ich theoretisch kein Mikrofon, weil meine Fans ohnehin jeden Text auswendig können und laut mitsingen. Bei »Endgegner« lege ich einfach mein Mikrofon auf den Boden, setze mich an den Rand der Bühne, trinke einen Schluck Cola und höre zu, wie meine Fans mir mein eigenes Lied vorrappen. Genau das macht den kleinen Unterschied aus. Diese gegenseitige Liebe, die über Jahre gewachsen ist, vergeht nicht so schnell. Was müsste ich denn tun, damit diese Leute, die mich jetzt so krass verehren, mich nicht mehr cool finden? Dieser Fanatismus kann nicht von heute auf morgen verschwinden. Auch wenn sich das natürlich viele wünschen würden.

 

Ich war der Erste, der diesen asozialen Gangster-Lifestyle an eine breite Öffentlichkeit herangetragen hat. Und ich bin der Einzige, dem die Kinder zuhören. Was sollen ihnen denn schon eine Sarah Connor, ein Sido, eine LaFee oder ein Xavier Naidoo vom Leben erzählen? Die haben doch selbst nichts zu melden. Was jetzt kommt, klingt sicher ein bisschen blasphemisch, aber es eignet sich gut als Beispiel. Damals, bei den Propheten, war es doch ganz genauso. Man konnte sie fast an einer Hand abzählen und trotzdem veränderten sie die Welt. Sie machten einfach das, woran sie glaubten. Natürlich handelten sie im Namen Gottes, sie verbreiteten seine Geschichte, aber aus irgendeinem Grund folgte ihnen das normale Volk – und zwar bedingungslos. Bei vielen mächtigen Staatsoberhäuptern, Diktatoren oder Freiheitskämpfern war das genauso. Irgendetwas müssen sie in den Menschen ausgelöst haben, dass sie ihnen bedingungslos folgten. In jeder Epoche gibt es sie, eine kleine Zahl von Personen, die diese außergewöhnliche Fähigkeit besitzen, Massen zu begeistern.

 

Als ich in der neunten Klasse war, fand an meiner Schule eine Schulsprecherwahl statt und alle Streber des Gymnasiums hatten sich zur Wahl gestellt. Ich war mit meiner Freundin Katrin noch einen kiffen, deshalb kamen wir zu spät in die Aula. Wir setzten uns auf zwei freie Plätze am Rand und ich schaute mir diese ganzen Voll­idioten an, die sich superwichtig vorkamen, nur weil sie eine Eins in Mathe hatten. Das ging irgendwie nicht klar. Sofort griff ich Katrins Hand und blickte ihr tief in die Augen.

»Weißt du was?«, sagte ich stolz und hob meine Brust. »Ich werde jetzt Schulsprecher!«

Katrin schaute mich nur ungläubig an und dachte, ich wollte sie verarschen.

»Hast du zu viel gekifft oder was?«, lachte sie mich aus.

»Nein, im Ernst. Wenn du willst, gehe ich jetzt nach da oben und werde Schulsprecher. Das ist doch kein Problem!«

Tommy, einer dieser Hardcore-Streber, saß neben uns und bekam mit, was ich zu Katrin sagte.

»Na los, Angeber. Lass dich nominieren, wenn du dich traust«, rief er abfällig zu mir rüber.

Dieser Hurensohn! Ich überlegte noch, ob ich ihn schlagen sollte, als Katrin auch noch Öl ins Feuer goss.

»Geh doch hoch, geh doch hoch! Machste eh nicht«, stichelte sie von der Seite und boxte mich liebevoll in den Bauch.

Sie ließ mir keine Wahl. Ich stand auf und ließ mich nominieren. Zuerst lachten mich alle voll krass aus und schüttelten den Kopf. »Was hatte der asoziale Trottel dort oben bei all den Schlaubis verloren?«, dachten sie sich bestimmt. Mir war das egal.

 

Jeder Kandidat musste eine Rede halten. Als ich dran war, schnappte ich mir das Mikrofon und quatschte einfach drauf los. Ich redete irgendein sinnloses Zeug. Ich hatte noch nicht mal ein Konzept. Eigentlich war es genauso wie heute, wenn ich auf der Bühne stehe. Na ja, was soll ich sagen? Eine Stunde nach meiner Ansprache war ich Schulsprecher unserer Oberschule. Ich wollte diesen Eierköpfen einfach nur beweisen, dass ich cooler war als sie.

 

Was sagt uns das? Glaube an dich und du kannst alles erreichen, was du willst. Lass dich von keinem Idioten vollquatschen und glaube nicht alles, was in der Zeitung steht. Bilde dir deine eigene Meinung, und wenn du denkst, dein Lehrer redet Unsinn, dann sag es ihm einfach. Hätte ich mein Leben lang die Eier von irgendwelchen Spasten geleckt, die meine Vorgesetzten waren, dann wäre ich heute überall – nur nicht da, wo ich gerade stehe.

 

Die Zeit ist reif für meine Geschichte. Ach ja, falls ich irgendwem damit auf die Füße treten sollte, bitte nicht persönlich nehmen. Falls doch, gebe ich euch noch einen kleinen Tipp mit auf den Weg: Lest das Buch erst mal in Ruhe zu Ende. Ihr werdet schon merken, warum. Also, haut rein …

Von der Straße zum Richter zurück

Ich hatte nie die Absicht, ein Dealer zu werden. Für ein Gramm Zero-Zero 20 Mark zu bezahlen, fand ich auf Dauer aber einfach zu teuer. Das musste man doch auch anders organisieren können, dachte ich, setzte mich mit Stift und Papier an den Küchentisch und rechnete nach. Würde ich beim Großhändler 50 Gramm Dope kaufen und nur 30 Gramm davon zum Straßenpreis weiterverkaufen, hätte ich meine Auslagen wieder raus und könnte die restlichen 20 Gramm praktisch umsonst smoken. Perfekt! Endlich machten mir meine Mathe-Hausaufgaben auch mal Spaß.

 

Wie es sich für einen wohlerzogenen Sohn gehörte, fragte ich natürlich vorher bei meiner Mutter um Erlaubnis. Nicht ganz ohne Hintergedanken, denn ich brauchte schließlich etwas Startkapital für mein kleines Unternehmen und wollte sie dazu bringen, mir die ersten 50 Gramm zu sponsern. Wir saßen am Küchentisch, wie immer, wenn es etwas zu bereden gab, und ich kam direkt zur ­Sache.

»Mama, ich brauche Geld!«

»Wofür denn, mein Junge?«

»Ich möchte Drogen verkaufen«, versuchte ich ihr die Situation ganz sachlich zu erklären. Doch ganz so einfach, wie ich dachte, war es dann doch nicht.

Meiner Mutter schlief das Gesicht ein, als sie meine Worte hörte. Sie saß wie versteinert auf ihrem Küchenstuhl und konnte nicht so recht glauben, was ihr Sohn da gerade erzählte. Ich nutzte die Gelegenheit und rasselte meinen Businessplan herunter. Am Ende meiner kleinen Rede fügte ich noch hinzu: »Mama, das ist auch gar nicht gefährlich. Alles, was ich brauche, sind 450 Mark.«

Ein Gramm Gras kostete im Einkauf circa 8 Mark. Verkaufen konnte man es für 15 Mark. Die Gewinnspanne lag also bei fast 100 Prozent. Sie saß immer noch regungslos da.

»Du bekommst das Geld auch in drei Wochen zurück«, sagte ich etwas hilflos, »und ich werde dir bestimmt keinen Kummer bereiten. Das verspreche ich!«

Sie überlegte vielleicht zehn Sekunden, dann stand sie auf, ging ins Wohnzimmer, holte ihre Sparbüchse aus dem Versteck und gab mir, ohne etwas zu sagen, die 450 Mark in neun braunen 50-Mark-Scheinen. Wahnsinn.

 

Nach einiger Zeit merkte ich, dass umso mehr Kohle am Ende für mich übrig blieb, je weniger ich selbst rauchte. Ich konnte also nicht nur umsonst kiffen, sondern nebenbei auch noch mit meiner Freundin ins Kino gehen. Was für ein Leben! Ich war 14 Jahre alt und fühlte mich wie ein verdammter König.

 

Schnell lernte ich, wie das Geschäft funktionierte. Mit Marihuana zu dealen, war schon ganz gut, aber die richtigen Scheine wurden mit anderen Drogen gemacht. LSD zu verchecken lohnte sich nur im großen Stil, aber selbst da war der Gewinn immer noch der kleinste. Danach kam schon Gras, dicht gefolgt von Ecstasy, aber den Jackpot, tja, den Jackpot konnte man nur mit Kokain knacken. An das Zeug muss ich ran, dachte ich mir. Das konnte ja nicht so schwer sein. War es auch nicht. Um auszuprobieren, wie das mit dem Koks lief, kaufte ich erst mal eine kleine Menge für 80 Mark. Zu Hause streckte ich das Zeug mit Mehl, füllte es in kleine Tütchen ab und verkaufte es an dumme Wochenend-Party-Touristen in Mitte und an diese versnobten Charlottenburg-Kids, die die Kohle ihrer reichen Eltern verpulverten. Ganz easy machte ich so einen Gewinn von 140 Mark am Tag. Bingo! Meine Mutter wollte ja immer, dass ich mir einen Nebenjob suchte. Jetzt hatte ich einen und konnte sogar richtig gut davon leben.

 

Um auf Nummer sicher zu gehen, musste ich sie bis zu einem gewissen Grad in meine Geschäfte einweihen. Es ging nicht anders, schließlich wohnte ich bei ihr und dass eines Tages die Bullen vor unserer Tür stehen würden, war mir ohnehin klar. Ich erzählte ihr also, wo ich die Drogen bunkerte – unten im Heizraum des Kellers – und klärte sie über ihre Rechte auf. Ich ahnte, dass die Bullen, wenn überhaupt, über meine Mutter versuchen würden, an mich heranzukommen. Es war also wichtig, ihr ein genaues Briefing zu geben.

»Mama, wenn wirklich die Polizei bei uns auftaucht, lass dich nicht verarschen. Du kannst sie ruhig reinlassen, kein Problem, aber sie dürfen nur mein Zimmer durchsuchen. Sie dürfen weder in die Küche noch ins Wohnzimmer oder in ein anderes Zimmer der Wohnung. Mach dir aber keine Sorgen. Falls sie kommen, werden sie ohnehin nichts finden«, versuchte ich sie zu beruhigen.

 

Natürlich sprang meine Mutter nicht gerade an die Decke vor Freude, aber was blieb ihr schon übrig? Ich hätte meinen Willen so oder so durchgesetzt, das wusste sie genau. Sie fand es auch nicht cool, als ich mein Abitur hinschmiss, aber nachdem sie verstanden hatte, dass meine Entscheidung getroffen war, akzeptierte sie einfach die neue Situation. Ich hatte vor meiner Mutter schon immer den größten Respekt, trotzdem gab es Fragen, auf die ich einfach die bessere Antwort wusste. Ich war schon immer mein eigener Herr. Vielleicht lag es daran, dass ich ohne meinen leiblichen Vater aufwuchs und schon früh lernen musste, Verantwortung für mein eigenes Leben zu übernehmen. Wenn meine Mutter mich etwas fragte und ich mit Nein antwortete, war das auch kein Thema mehr.

 

Als ich mit der Dealerei richtig loslegte, war mein kleiner Bruder zehn Jahre alt. Während ich die Drogen in kleine Päckchen abfüllte, lag er auf meinem Bett und spielte auf der Playstation. Er hatte von meinem Business ja noch keine Ahnung. Zum Glück! Ich hatte damals zwei Plattenspieler, die Technics 1210er, die auch von allen guten DJs benutzt wurden. Man konnte die Plastikdeckel, die die Plattenspieler vor Staub schützen, hinten abnehmen. Bei den coolen DJs flogen sie eh nur in der Ecke herum. Sie waren perfekt, um darin mein Gras aufzubewahren. Ich kaufte immer zwischen 700 und 800 Gramm und schüttete alles in die beiden Plastikdeckel rein. Manchmal saß ich auch einfach nur vor diesem riesigen Berg Gras und schaute ihn mit großen Augen an. Wenn an einem meiner »Abfülltage« die Bullen gekommen wären, na ja, dann hätten sie mich am Arsch gehabt. Und zwar ohne Gleitcreme. Hardcore gefickt!

 

Auf meinem Schreibtisch stand eine Digitalwaage, mit der ich das Koks abwog. Ab und an kam auch meine Mutter in mein Zimmer, guckte ein wenig blöd aus der Wäsche, aber das Einzige, was sie sagte, war: »Meine Buben, das Essen ist fertig!«

Ich habe die beste Mama der Welt. Das wusste ich schon immer, nicht nur in solchen Momenten. Ich sah rüber zu meinem kleinen Bruder, wie er ahnungslos seine Autorennen fuhr.

»Okay, Mama, wir kommen gleich«, rief ich und schob noch das ­Kokain zur Seite.

 

»Wenn das Wörtchen wenn nicht wär, wär ich schon längst ein Millionär.« Diesen behinderten Spruch sagten die kleinen Mädchen immer in meiner Schule auf. Für mich stellte sich diese Frage nie. Natürlich machte ich mir Gedanken über mein Leben, aber diese Was-wäre-wenn-Fragen waren für mich nichts weiter als sinnlose Zeitverschwendung. Was wäre, wenn meine Mutter nicht gewollt hätte, dass ich verticke? Was wäre, wenn sie sich offensiv gegen mich gestellt hätte? Was wäre, wenn ich mein Abi gemacht hätte? Was wäre, wenn ich morgen im Lotto 100 Millionen gewinnen würde? Ja, was wäre dann? Natürlich gab es Situationen, in denen mich diese Gedanken verfolgten, aber ich wollte darüber gar nicht erst weiter nachdenken, weil es ja zu keinem Ergebnis führte. Ich glaube an das Schicksal und dass unser Leben sowieso vorherbestimmt ist. Warum also sollte ich mich fragen, wo der Weg hätte hinführen können? Was wäre, wenn ich mit einer anderen U-Bahn-­Linie gefahren wäre? Na, dann wäre ich halt in Spandau herausgekommen und nicht in Alt-Mariendorf. Und jetzt?

Mal gewinnt man …

Dieser Typ wollte bei mir 200 Gramm Gras kaufen. Er war schon ein bisschen älter als ich, so Ende 20, ich war 16. Er war supernervös, da er anscheinend für sich und seine Studenten-Kumpels eine Sammelbestellung organisieren sollte. Irgendwie hatte ich aber keinen Bock, ihm was zu verkaufen. Keine Ahnung wieso, der Typ war mir einfach unsympathisch. Wie er schon aussah mit seinen alternativen Hippie-Klamotten und seiner kleinen runden ­Schlaumeier-­ Brille. Ich hätte darauf wetten können, dass er einer von diesen ­Politikwissenschaften- oder Sozialpädagogik-Studenten war, die zu wissen glaubten, wie die Welt funktionierte. Jedenfalls bettelte er und bettelte und irgendwann gab ich nach. Ich war ja kein Unmensch. Trotzdem, wer so weltfremd war, schrie förmlich danach, verarscht zu werden. Ich fuhr in einen Teeladen und kaufte mir 200 Gramm Kräuter, die so ähnlich aussahen wie Gras. Zu Hause vermischte ich sie mit ein paar Gramm richtigem Dope, verrieb alles zwischen meinen Händen, damit es schön nach Gras roch, und packte es in eine Tüte. Am nächsten Tag trafen wir uns. Der Idiot tat so, als hätte er so einen Deal schon hundert Mal abgezogen, öffnete die Tüte und schnüffelte am Inhalt. Dann schaute er mich an und sagte: »Das ist extrem guter Shit, Mann!«

 

Ich musste mir auf die Zunge beißen, damit ich nicht zu lachen anfing. Was für ein Idiot! Mit 16 Jahren einem zehn Jahre älteren Typen 2000 Mark abzuknöpfen, für Kräuter, die mich vier Mark gekostet hatten, fand ich schon ein bisschen witzig. Ich hatte an dem Tag jedenfalls was zu feiern. Und im Studentenwohnheim wurden sie high von Kräutertee.

… mal verliert man

Es lief aber nicht immer so. Auch ich bin mehrmals schulbuchmäßig abgezogen worden. Eine Aktion war besonders krass. Ich war mit einem Typen in Tempelhof verabredet, ganz in der Nähe meiner Wohnung. Ich hatte 200 Pillen Ecstasy bestellt, die ich nun abholen wollte. Der Deal ging reibungslos über die Bühne und ich machte mich auf den Heimweg. Plötzlich wechselte ein Mann die Straßenseite und kam auf mich zu. Ich kannte ihn von irgendwoher, konnte ihn in dem Moment aber nicht so richtig einordnen. Er quatschte mich an und versuchte mich in ein Gespräch zu verwickeln. »Na, wie gehts?«, »Was machst du so?«, »Lange nicht gesehen!« – der übliche Small-Talk-Schwachsinn. Dann ging es ganz schnell. Wie aus dem Nichts tauchten vier Jungs auf und umzingelten mich. Dann lag ich auch schon am Boden. Natürlich steckte der Dealer, bei dem ich die Pillen gekauft hatte, mit den Jungs unter einer Decke, aber was sollte ich machen? Beweise dafür hatte ich nicht. Einfach dumm gelaufen. Aber wie heißt es so schön: »If you cant stand the heat, get the fuck out of the kitchen!«

Ich wurde so hardcoremäßig zusammengeschlagen, dass mich meine Freundin Selina sofort ins Krankenhaus brachte. Mein Jochbein war geprellt, die Haut um das linke Auge war aufgeplatzt und die Nase angebrochen. Mein ganzes Gesicht war grün und blau. Ich sah aus wie ein verdammter Regenbogen. Als der Arzt mit mir fertig war, kam Selinas Mutter vorbei, um uns abzuholen. Auch das noch! Sie kannte natürlich den Grund, weshalb ich verprügelt worden war. Es war ja nicht das erste Mal. Was für eine Hurensohn-Situation: Erst wirst du beim Dealen abgezogen, bekommst übelst auf die Fresse, musst ins Krankenhaus, wirst von der Mutter deiner Freundin abgeholt und kannst dir dann auch noch anhören, was für ein Scheißversager du bist. Korrekt!

 

Als meine Mutter mich später sah, war sie natürlich nicht begeistert, aber sie versuchte immerhin, mir keine Vorwürfe zu machen. Sie hatte einfach nur Angst um ihren Sohn, aber so war das Leben in Berlin nun mal. Jeder meiner Freunde bekam schon mal eine auf die Fresse und ist blutüberströmt nach Hause gekommen. Das war keine große Sache bei uns im Viertel.

Gangster in Mamas Wohnung

Als mein Kumpel Vader Geburtstag hatte, organisierte er in seiner Wohnung eine kleine Party. Ich wollte nicht lange bleiben, nur kurz vorbeischauen, um zu gratulieren. Aus welchen Gründen auch immer hatte ich an jenem Tag ein seltsames Gefühl im Bauch und sagte zu Selina, dass es nicht lange dauern würde. Gemeinsam verließen wir die Wohnung meiner Mutter. Ich fuhr zu Vader, sie zu sich nach Hause. Später wollten wir uns wieder bei mir treffen. Ich ging auf die Party, chillte mit den Jungs und rauchte ein bisschen was, als mich nach einer Stunde meine Mutter anrief und wie verrückt ins Telefon heulte: »Komm nach Hause! Komm nach Hause! Es ist etwas Schlimmes passiert!«

 

Ach du Scheiße, dachte ich, und machte mich im Eiltempo auf den Heimweg. Ich hatte meine Mutter am Telefon noch nie so aufgelöst erlebt. Als ich in die Wohnung kam, traf mich der Schlag. Das Wohnzimmer sah aus, als hätte ein Blitz eingeschlagen. Alles war verwüstet. In den anderen Zimmern sah es nicht besser aus. Meine Mutter und mein kleiner Bruder saßen schweigend in der Küche. Sie waren kreidebleich. »Was ist denn hier passiert?«, fragte ich.

 

Sofort fingen beide an zu weinen. Ich nahm sie schnell in den Arm und versuchte, sie zu beruhigen. Als meine Mutter sich wieder etwas gefangen hatte, fing sie an zu erzählen. Kurz nachdem ich auf die Party gegangen war, hatten drei maskierte Männer unsere Wohnung gestürmt, meinen Bruder in seinem Zimmer eingesperrt, meine Mutter auf den Boden gelegt und gefesselt. Dann hatten sie ihr eine Knarre an die Schläfe gehalten. Sie wollten wissen, wo das Geld und die Drogen versteckt waren. Als sie ihnen gesagt hatte, sie hätte keine Ahnung, waren die Typen durchgedreht und hatten sich selbst auf die Suche gemacht. Als sie nicht fündig wurden – ich hatte ja alles im Heizungskeller gebunkert –, hatten sie aus Ärger und Verzweiflung die komplette Wohnung verwüstet. Diese Hurensöhne!

 

Als ich meine Mutter sah, wie sie zitternd, heulend und mit den Nerven völlig am Ende auf dem Küchenstuhl saß, schwor ich mir, mit der Dealerei aufzuhören. Wenn ich auf die Fresse bekam, okay, kein Problem, damit konnte ich leben, aber wenn meine Familie plötzlich mit in die Sache hineingezogen wurde, ging es eindeutig einen Schritt zu weit. Das war es nicht wert. Bis heute habe ich nicht herausgefunden, wer diese Wichser eigentlich waren. Vielleicht Kunden, denen ich mal etwas verkauft hatte, oder irgendwelche rivalisierenden Dealer. Keine Ahnung.

 

Noch am gleichen Abend beschloss ich, mein Leben zu ändern. Ich wollte das Kapitel Drogen für immer schließen. Es gab nur ein Problem: Ich hatte eine große Lieferung offen, die nicht mehr rückgängig zu machen war. Noch ein letztes Mal, schwor ich mir, dann sollte endgültig Schluss sein. Das Schicksal nahm seinen Lauf.

Mein letzter Deal

Wie vereinbart traf ich mich mit dem Dealer, um meine Lieferung in Empfang zu nehmen. Wir machten das nicht bei ihm zu Hause, sondern draußen auf der Straße. Immer an einem anderen Ort. Diesmal hatten wir uns einen dieser vielen kleinen Parks in Mitte ausgesucht. Die Übergabe klappte problemlos und ich machte mich wieder auf den Heimweg in die Oranienburger Straße. Ich traf Vader und wir chillten an der Bushaltestelle gegenüber der jüdischen Synagoge, während wir auf den Bus warteten. Vader, der N, hatte nichts Besseres zu tun, als mit seinem Edding die komplette Plexiglasscheibe der Bushaltestelle vollzutaggen. Ich meinte noch zu ihm, dass er das ausnahmsweise mal lassen sollte, aber er grinste nur und machte weiter. Wie der Zufall so wollte, fuhr genau in dem Moment die Kripo in einem Zivilfahrzeug vorbei und konnte alles genau beobachten. Sie warteten, bis wir in den Bus stiegen, nahmen über Funk mit dem Busfahrer Kontakt auf und zogen uns an der nächsten Haltestelle raus. Als die Bullen in den Bus kamen, wusste ich intuitiv schon Bescheid. Es war einfach nicht mein Tag. Fuck!

 

Vorsichtig nahm ich meinen Rucksack von der Sitzbank, legte ihn langsam zu meinen Füßen und kickte ihn am Boden entlang zwei Reihen nach vorn. Es half nichts. Die beiden Bullen liefen schnurstracks auf Vader und mich zu.

 

»Personenkontrolle, bitte aussteigen!«, meinte der eine, während der zweite uns aus sicherer Entfernung in Schach hielt. Wir stiegen aus. Sicherheitshalber legten sie uns Handschellen um. Das war in Berlin Standard, also noch kein Grund zur Beunruhigung. Noch! Während wir an der Haltestelle chillten, kontrollierte Bulle Nummer eins unsere Personalausweise. Bulle Nummer zwei war noch im Bus. So eine abgefuckte Kacke. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Ich schloss die Augen und betete, dass sie meinen Rucksack nicht finden würden. Vergeblich.

»Was haben wir denn hier?«, fragte mich plötzlich Bulle Nummer zwei und hielt meinen Rucksack in die Luft.

»Keine Ahnung!«, tat ich unschuldig. »Na, wenn Sie mich fragen, sieht das aus wie ein Rucksack.«

Der Bulle schaute mich böse an. Er fand meinen Witz anscheinend nicht so lustig wie ich. Als er den Rucksack auf die Vorderseite drehte, fing er an zu grinsen und ich wusste warum. In einer kleinen durchsichtigen Tasche befand sich meine Monatskarte inklusive Name und Unterschrift. Was für ein dummer Anfängerfehler!

 

Sie fanden 800 Gramm Gras, 50 Gramm Kokain und eine Digitalwaage. Ich war am Arsch. Und alles nur, weil Vader die Bushaltestelle beschmieren musste. Sie brachten mich aufs Revier und hielten mich erst mal 24 Stunden fest. Natürlich wollten sie wissen, woher ich den Stoff hatte, aber ich hielt mich an den Ehrenkodex und sagte kein Wort. Ich dachte mir irgendwas aus, von wegen, ich hätte das Zeug von einem Schwarzen im Mauerpark gekauft. Natürlich glaubten sie mir nicht, das war schon klar, aber was hätte ich schon sagen sollen – die Wahrheit? Auf gar keinen Fall. Ich war kein Verräter. Ganz so schlecht, wie ich zuerst dachte, war meine Lage aber doch nicht. Die Bullen hatten mich weder observiert noch direkt beim Dealen erwischt. Durch einen dummen Zufall schnappten sie halt einen Dealer. Sie waren zwar genervt, dass ich nichts ausplauderte, hatten aber kein persönliches Interesse daran, mich einzubuchten. Das war mein Glück im ­Unglück.

 

Morgens um vier standen die Bullen dann bei meiner Mutter vor der Wohnungstür, um mein Zimmer zu durchsuchen. Auf diesen Moment hatte ich sie ja immer vorbereitet. Meine Mutter wusste Bescheid, sie kannte ihre Rechte und Pflichten. Als sie versuchten, ihr mit ihrem Psychoterror-Gerede Angst einzujagen – nach dem Motto: »Wenn Sie uns nicht helfen, muss ihr Sohn zehn Jahre ins Gefängnis!« –, blieb sie ganz cool und sagte: »Meine Herren, das ist Ihr Problem! Da ich nicht davon ausgehe, dass Sie die Schuhe ausziehen, folgen Sie mir bitte in sein Zimmer. Hier gehts lang.«

Natürlich fanden sie nichts. Was für eine Mama!

Die Jugendgerichtshilfe

Mein Verfahren kam vor das Jugendgericht. Da ich erst 17 und somit noch nicht volljährig war, wurde die Jugendgerichtshilfe hinzugezogen. Die Aufgabe dieser L ist es, die sozialen, fürsorglichen und erzieherischen Aspekte in Strafverfahren vor den Jugendgerichten zum Ausdruck zu bringen. Sie unterstützen zu diesem Zweck die Behörden durch die Ergründung der Persönlichkeit, der Entwicklung und der Umwelt des Beschuldigten und geben Empfehlungen zu den Maßnahmen, die ergriffen werden sollen. Während der Verhandlung kann so ein Jugendgerichtshelfer dann mildernd auf das Urteil einwirken. Doch zwischen Theorie und Praxis liegt wie so oft ein meilenweiter Unterschied. Ich dachte, der Jugendgerichtshelfer war, wie der Name schon sagt, da, um mir zu helfen. Da hatte ich leider falsch gedacht.

 

Am Anfang war noch alles ganz cool. Ich saß in seiner Praxis und wir unterhielten uns über Gott und die Welt. Wir hatten richtig lange Sitzungen, und ab und zu machte der Typ sogar ein Späßchen. Es kam mir auch nicht wie eine Strafe vor, mit ihm über mein Leben zu reden. Er musste ja ein Profil von mir erstellen, das war sein Job, also zeigte ich mich entsprechend kooperativ. Eines Tages, nach fünf oder sechs Sitzungen, präsentierte er mir schließlich sein Ergebnis. Ich war gespannt.

 

»So, dann wollen mir mal«, fing er an. »Lieber Anis, ich bin der festen Überzeugung, dass deine Mutter dich nicht korrekt erzogen hat. Sie trägt deswegen auch eine gewisse Mitschuld an der Tatsache, dass du ein Drogendealer geworden bist.«

Wie bitte? Hatte ich was verpasst? Wieso brachte der auf einmal meine Mutter ins Spiel? Er war doch sonst immer so cool gewesen.

»Was soll das denn jetzt?«, fragte ich total schockiert und sah schon meine Felle davonschwimmen.

»Nach unseren Gesprächen komme ich zu dem Schluss, dass deine Mutter es versäumt hat, dich verantwortungsbewusst zu erziehen«, fuhr er fort. »Du kannst dich deswegen in einer Gesellschaft nicht normal bewegen und hast nie gelernt, Autoritätspersonen zu akzeptieren.«

Okay, ich hatte verstanden. Der Typ wollte mich in die Pfanne hauen.

»Sag mal, willst du mich verarschen, du Vollidiot?«, fauchte ich und rutschte mit dem Stuhl ein Stück näher ran. »Nur weil ich Drogen verkauft habe, behauptest du, meine Mutter hätte mich nicht gut erzogen? Wer bist du, dass du dir ein solches Urteil über mich und meine Familie erlauben kannst?«

 

Solche direkten Worte war er wohl nicht gewohnt, er reagierte ziemlich hektisch und teilte mir mit, dass er sein Mandat niederlegen würde und ich auch nicht mehr zu kommen bräuchte. Das entsprechende Gutachten würde er dem Richter vorlegen und damit wäre für ihn die Akte »Ferchichi« geschlossen. Der Typ, der eigentlich da war, um mir zu helfen, ließ mich fallen wie einen nassen Sack. Wenn ich ehrlich sein soll, war ich sehr enttäuscht, denn mir wurde schlagartig bewusst, dass er mich in den vorangegangenen Gesprächen, die ich offen und ehrlich geführt hatte, die ganze Zeit angelogen hatte. In Wahrheit hatte ich bei ihm von Anfang an keine echte Chance.

Mein Richter

Der Tag des Gerichtstermins war gekommen. Der Staatsanwalt hatte mich auf dem Kieker, wahrscheinlich steckte er sogar mit dem Jugendgerichtshelfer unter einer Decke. Sie wollten unbedingt ein Exempel an mir statuieren. Ich hörte mir das Gesülze an und wartete, bis der Richter etwas zu dem Fall sagte. Auf ihn kam es ja an. Wir kannten uns schon aus der Vergangenheit, aber da ging es nur um kleinere Delikte wie Graffiti, Ruhestörung und Vandalismus. Ich war auf die Fragen des Richters gespannt, als er zu meiner großen Verwunderung plötzlich meinem ehemaligen Jugendgerichtshelfer das Wort erteilte. Ich hatte eigentlich gedacht, für ihn war das Kapitel »Ferchichi« bereits geschlossen. Ich drehte mich um und sah, wie er aufstand und sich nach vorn setzte. Dann legte er los: Ich wäre uneinsichtig und mit den üblichen Resozialisierungsmethoden nicht zu bekehren, meine Mutter hätte meine Erziehung sträflich vernachlässigt, ich wäre eine Gefahr für die Gesellschaft und so weiter und so fort. Er ratterte das volle Programm runter. Wie auch immer – ich war erledigt.

 

Nachdem in aller Ausführlichkeit dargelegt worden war, was für ein schlechter Mensch ich sei, rief mich der Richter zu sich nach vorn.

»Anis, Sie haben ja gar nichts«, meinte der Richter zu mir. »Abitur abgebrochen, keine Ausbildung, kein Praktikum absolviert, keinen festen Job – nichts! Was wollen Sie denn später mal machen?«

»Ich weiß es nicht«, meinte ich etwas verlegen.

Ich wusste es wirklich nicht.

»Was würden Sie denn machen, wenn Sie jetzt sofort nach Hause gehen könnten?«, fragte er.

Ich überlegte kurz, aber mir fiel nichts ein.

»Gar nichts«, erwiderte ich ehrlich und zuckte mit den Schultern.

Der Richter nickte, machte sich seine Notizen und ich durfte mich wieder setzen.

 

Der Staatsanwalt wollte mich einbuchten, das war klar. Der Richter hingegen wollte mich von der Straße wegholen. Ihm war es wichtiger, mich aus dem »gar nichts« herauszubekommen, als mir eine Bewährungsstrafe zu geben, die das Problem schließlich ja doch nicht gelöst hätte. Nach langer Diskussion einigten sie sich darauf, auch weil ich noch nicht vorbestraft war, mich in eine Jugendmaßnahme zu stecken. So kam ich in ein Ausbildungsheim nach Wannsee, was ich, ehrlich gesagt, gar nicht so schlimm fand. Viel schlimmer empfand ich das deutsche Rechtssystem. Das muss man sich mal vorstellen: Irgendein Vollidiot, der sich Psychologe schimpft, bekommt vom Staat die Macht, nach ein paar Gesprächen über mein Leben zu entscheiden. Das ist doch krank! Hätte ich nicht so einen coolen Richter gehabt, wer weiß, was aus mir geworden wäre. Wie war das noch mal mit den Was-wäre-wenn-Fragen? Einfach nicht darüber nachdenken. Ist besser so.

Ausbildungsheim, Arbeitsamt, Abendschule

Das Don-Bosco-Heim am Wannsee

Meiner Mama fiel ein Stein vom Herzen, als ich endlich eine – in ihren Augen – vernünftige Aufgabe gefunden hatte. Obwohl von »finden« ja nicht wirklich die Rede sein konnte, wohl eher von »gefunden worden«. Im Prinzip hatte sie aber recht. Ich nahm also mit den Leuten dieser »Ausbildungsstätte für benachteiligte Jugendliche« Kontakt auf und informierte mich über die verschiedenen Programme. Ich konnte zwischen einer Lehre als Tischler, Tierpfleger, Maler und Lackierer, Schreiner, Schlosser, Garten- und Landschaftsbauer und Florist wählen. Irgendwie war das alles nicht so prickelnd, aber ich musste mich schließlich für eine Sache entscheiden. Also gut, Augen zu und durch. Aus dem Drogendealer wurde ein Maler und Lackierer. Korrekt.

 

Dann kam mein erster Tag. Es war Montag früh, der Wecker klingelte um 5.15 Uhr und mir wurde schlagartig klar, dass sich in den kommenden drei Jahren an dieser Uhrzeit nichts ändern würde. Ich gewöhnte mich besser gleich daran. Ohne zu frühstücken rannte ich los zur S-Bahn-Station, erwischte um 5.52 Uhr gerade noch so die S1 und fuhr durch bis zur Endstation Wannsee. Von dort ging es um 6.12 Uhr weiter mit dem Bus.

 

Das Ausbildungsheim befand sich unweit des Wannsees auf einer kleinen Insel. Willkommen auf Alcatraz, dachte ich, als ich zum ersten Mal vor den Toren stand. Pünktlich um 7 Uhr meldete ich mich in der Werkstatt und durfte, quasi zur Begrüßung, erst mal den ganzen Tag Heizkörper abschleifen. Acht Stunden lang. Na toll, das fing ja gut an. Auf dem Nachhauseweg überlegte ich schon, wieder alles hinzuschmeißen. Nach nur einem Tag. Das konnte doch wirklich nicht wahr sein.

 

Als ich in der S-Bahn saß und einen Abtörn schob, erinnerte ich mich an meinen ersten Nebenjob bei Burger King. Meine Mutter wollte so gerne, dass ich es wenigstens mal versuche, also tat ich ihr den Gefallen und füllte das Bewerbungsformular aus. Dummerweise wurde ich sofort genommen. Meine Aufgabe bestand darin, die Burger zu braten. Ein richtiger Opfer-Job. Bevor ich das erste Mal die Bruzzelkelle schwingen durfte, musste ich mir im Büro des Filialleiters ein Einführungsvideo angucken, das im Prinzip davon handelte, dass Burger King die Guten und McDonald’s die Bösen waren. Ich gab mir wirklich Mühe, aber ich konnte mir von diesem Idioten, der seine Frau wahrscheinlich seit Jahren nicht mehr bestiegen hatte, beim besten Willen keine Vorschriften machen lassen. Das ging einfach nicht. Ich ließ mir zehn Mark auszahlen, der Lohn für eine Stunde Arbeit, und verpisste mich wieder. Mein erster Ausflug in die Arbeitswelt dauerte genau eine Stunde.

 

So einfach war es diesmal nicht. Erstens hatte ich keine Wahl und zweitens hatte ich dem Richter mein Ehrenwort gegeben, dass ich die Ausbildung bis zur Gesellenprüfung durchziehen würde. Mein Wort wollte ich auf gar keinen Fall brechen. Bei einer normalen Lehre musst du auch morgens antanzen und den ganzen Tag knechten, sagte ich mir und biss die Zähne zusammen. Die Ausbildungsstätte war zwar doch kein Gefängnis à la Alcatraz, aber ich merkte schnell, dass dort ein sehr rauer Wind wehte. Das erste Jahr war dementsprechend auch das schwerste. Ich konnte mich nur langsam an dieses neue Klima gewöhnen, aber ich gebe zu, dass die Zeit während der Ausbildung mich auf jeden Fall diszipliniert und mir in meinem späteren Leben mehr genutzt als geschadet hat. Also, werter Herr Richter, alles richtig gemacht.

Meister Rafik Rolf Amrouche

Mein Meister war auf eine bestimmte Art und Weise ein super Typ und ich war sein Lieblingsazubi. Nicht, weil ich mich bei ihm einschleimte, ganz im Gegenteil, sondern weil ich ganz einfach der Beste des gesamten Jahrgangs war. Er förderte mich ständig und wollte mich sogar beim Bundesausschuss des Maler- und Lackiererhandwerks anmelden. Das waren so lustige Messen, zu denen jedes Bundesland seine besten Maler schickte, die dann in mehreren Disziplinen gegeneinander antraten. Das ging weiter bis zu den Weltmeisterschaften. So ein Blödsinn. Da hatte ich ja gar keinen Bock drauf. Viel zu viel Stress. Mein Meister sah in mir jedenfalls sehr viel Potenzial. Kein Wunder, die anderen Azubis waren allesamt Idioten. Zugegebenermaßen war ich aber auch wirklich gut. Wenn ich mal ernsthaft mit einer Sache beginne, versuche ich darin immer so perfekt wie möglich zu werden. Das hatte nicht zwangsläufig etwas mit der Ausbildung als Maler und Lackierer zu tun, sondern ist eine Charaktereigenschaft von mir. Ich habe es schon immer gehasst, wenn Leute nur halbe Sachen machen. Wenn ich in der Schule ein Thema richtig interessant fand, bekam ich immer auch eine gute Note für meine Arbeit. Leider fand ich die Schule zu oft zu langweilig. Oder ich hatte die falschen Lehrer, keine Ahnung. Mein Meister legte jedenfalls großen Wert darauf, dass ich nicht immer die gleichen Arbeiten machte, sondern ließ mich die ganze Bandbreite erlernen. Das bedeutete, eine Woche Fußboden verlegen, eine Woche tapezieren, eine Woche Wände spachteln und so weiter. So wurde es nie langweilig. Natürlich konnte ich mir eine angenehmere Beschäftigung vorstellen, aber ich war ja nicht zum Spaß dort.

 

Ach, mein Meister war zwar ein harter Hund, aber immer korrekt. Ich mag ihn heute noch gerne, den Herrn Rafik Rolf Amrouche, obwohl wir uns damals leider nicht im Guten trennten. Im April 2008 traf ich ihn nach sechs Jahren zum ersten Mal wieder. »Anis«, sagte er, »Respekt, was du aus deinem Leben gemacht hast. Ich wusste damals schon, dass in dir etwas Besonderes steckt. Auch wenn du das vielleicht nie so direkt mitbekommen hast, du warst für die anderen immer der Anführer. Sie haben auf dich gehört. An deiner Rolle hat sich also bis heute kaum etwas verändert. Mach weiter so. Ich bin stolz auf dich.«

Mein neuer Kumpel Patrick

Ab dem zweiten Lehrjahr machte mir die Ausbildung sogar ein bisschen Spaß, was aber hauptsächlich daran lag, dass ich einen gewissen Patrick Losensky kennenlernte. Er kam ein Jahr nach mir ins Heim. Jeden Montag trafen sich die Azubis in der Werkstatt und warteten auf den Wochenplan, den der Meister im Rotationsverfahren erstellte. Die Leute aus dem zweiten Jahr, so wie ich, bekamen einen Rookie zugewiesen, um den sie sich eine Woche lang zu kümmern hatten. Irgendwann war ich dann mit meinem Gesellen zufälligerweise auf der gleichen Baustelle, für die auch dieser Patrick eingeteilt worden war. Ich will nicht sagen, dass es Liebe auf den ersten Blick war, dafür war er viel zu hässlich, aber wir verstanden uns auf Anhieb und wurden beste Kumpels. Wir hatten den gleichen Humor, liebten die gleichen Dinge, interessierten uns für Hip-Hop und Graffiti und hatten den gleichen Lebensstil. Nachts gingen wir zusammen sprühen und tagsüber therapierten wir auf der Baustelle die anderen Azubis. Das war schon eine coole Zeit. Ferchichi & Losensky gab es ab sofort nur noch im Doppelpack. Patrick Losensky nannte sich später übrigens Fler. Ich bereue keinen einzigen Tag mit ihm. Er war ein prima Kerl.

Beim Arbeitsamt

Aggro Berlin

 

Ich wollte wirklich, ich meine, ich meldete mich ja freiwillig an der Abendschule an, aber als ich mir am ersten Tag die Leute anschaute, die mit mir das Abi nachholen wollten, verging mir der Spaß ziemlich schnell. In der ersten Unterrichtsstunde merkte ich, wie asozial ich war. Nicht darauf bezogen, irgendwelche Leute zu beschimpfen, sondern asozial in der eigentlichen Bedeutung, sprich nicht sozial. Ich konnte mit anderen Menschen, die ich selbst nicht cool fand, nicht in einem Raum sitzen. Das ging nicht. Diese Leute waren einfach dumm, richtig dumm, und mit dummen Menschen wollte ich nichts zu tun haben. Ich hatte mich ein Jahr lang von der Gesellschaft isoliert und bemerkte plötzlich, dass ich den Sprung zurück nicht schaffen würde. Ich kam mir vor wie einer, der frisch aus dem Knast entlassen wird; einer, der weiß, nie mehr in seinem Leben einen besseren Job zu finden als Kellner oder Bauarbeiter.

 

Da saß ich also mit diesen gescheiterten Existenzen, den alleinerziehenden Müttern, den kaputten Typen, die zwar alle noch was aus ihrem Leben machen wollten, denen man aber ansah, dass sie es niemals schaffen würden. Es war so trostlos wie auf dem Arbeitsamt. Trotzdem hielt ich es ganze drei Wochen durch. Ich wusste zwar schon am ersten Tag, dass diese Veranstaltung nichts für mich ist, aber ich wollte mir diesmal ein bisschen mehr Zeit geben. Es war sinnlos. Ich sah ein, dass ich derjenige war, der am falschen Platz war, und nicht die Institution an sich, also verabschiedete ich mich vom Abitur und konzentrierte mich voll und ganz auf die Musik. Einen Versuch war es immerhin wert.