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Vreni Merz

Vinzenz Pallotti

Ein leidenschaftliches Leben

Herausgegeben von Adrian Willi

Mit Fotos von Michael Meier

Kösel

Copyright © 2012 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlag: Weiss/Werkstatt/München

Umschlagmotiv: Michael Meier, Thun

ISBN 978-3-641-09546-8

Der Kösel-Verlag ist Mitglied im KM. katholischermedienverband e.V., www.katholischer-medienverband.de.

Weitere Informationen zu diesem Buch und unserem gesamten lieferbaren Programm finden Sie unter www.koesel.de

Anmerkung:

Ortsbezeichnungen, Namen und Jahreszahlen sind authentisch, Zitate aus historischen Dokumenten wurden kursiv gesetzt.

Auftakt

Rom 1845, mitten im Sommer. Morgenluft liegt über den Dächern, noch frisch und kühl, bevor die Sonne heiß vom Himmel brennt. Stattliche Häuser umsäumen die schmalen Gassen, an den verwitterten Mauern blättert die Farbe ab. Vor den hohen Fenstern sind die meisten Läden geschlossen, um die unbarmherzige Hitze von den Wohnräumen fernzuhalten. Menschen eilen über das Kopfsteinpflaster, winken einander zu oder halten einen kurzen Schwatz, bevor sie weiterziehen. An der Ecke hält ein Gemüsehändler seine Ware feil: frische Salatköpfe, pralle Tomaten und Obst in allen Farben.

Im alten Stadtteil am Tiber hat soeben der Tag begonnen.

Da kommt einer des Wegs. Leicht vornübergebeugt geht er zielstrebig voran – ein kleiner Mann mit schnellen Schritten. Mittlerweile ist er stadtbekannt. Seine Stirnglatze ist unübersehbar, die Adlernase markant. Von Weitem erkennt man ihn. Das lange, schwarze Kleid wärmt ihn wohl mehr als nötig, aber solcherlei Äußerlichkeiten kümmern ihn kaum. Er hat zu tun, er ist in Eile, denn seine Zeit ist kostbar. Don Vincenzo, dove vai?

Vielleicht zur Pia Casa, wo die Mädchen wohnen, die er in turbulenten Zeiten von der Straße geholt hat? Oder zu einem Reichen des römischen Adels, mit dem er gute Beziehungen pflegt, um, wenn nötig, Geld zu bekommen? Es ist aber auch möglich, dass er eine einfache Frau und ihre Kinder besucht in einer kargen Behausung, weil Rang und Name ihm nicht wichtig sind. Vielleicht ist er auf dem Weg zum Hospiz von Santo Spirito in Sassia, wo verwundete Soldaten in den Betten liegen, oder er geht zu einem unbekannten Sterbenden in einem verlassenen Winkel der Stadt, um ihn in den Tod zu begleiten. Gut möglich, dass er verabredet ist mit einem hohen kirchlichen Würdenträger – oder mit dem Seifenhändler Salvati, der über die Jahre sein Freund geworden ist.

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Blick über die Dächer von Rom

Rechts des Tibers, unweit des Vatikans, liegt der Stadtteil Regola. Hier wurde Vinzenz Pallotti 1795 geboren, hier lebte und wirkte er. Blick vom Dach des Generalats der Pallottiner an der Piazza San Vincenzo Pallotti. Im Hintergrund ist die Kuppel des Petersdoms zu sehen.

Vinzenz Pallotti, lass dich begleiten auf deinen vielfältigen Wegen! Erlaube uns, einen Blick in dein aufregendes Leben zu werfen. Dabei möchten wir nicht nur deine interessanten Werke kennenlernen, sondern auch deine außerordentlichen Charakterzüge aufspüren. Dürfen wir? Bitte bedenke, dass wir Menschen des 21. Jahrhunderts sind: Die Zeiten haben sich drastisch geändert, seit du vor mehr als 150 Jahren durch die Straßen Roms gegangen bist. Unsere Gesellschaft ist eine andere geworden. Wir sind moderne Frauen und Männer in einer globalisierten Welt, wir jetten von Ort zu Ort, leben in Patchworkfamilien, haben Computer und Mobiltelefone. Und nicht zuletzt: Die katholische Kirche, die zu deiner Zeit im Zentrum von allem stand, ist für viele von uns an den Rand gerückt. Stattdessen hat sich eine Vielfalt an Religionen und Kulturen breitgemacht, mit der wir täglich konfrontiert werden. Jener Gott, der dir so selbstverständlich war und mit dem du zutiefst verbunden warst, ist heute vielen Menschen fremd geworden. Wir fragen, zweifeln und suchen. – Wir können nicht anders.

Doch sind wir dabei voller Neugier – und nur guten Willens! Was wir an dir entdecken, werden wir im Herzen bewegen und im Kopf bedenken. Denn du warst ein hervorragender Mensch, der aus der Masse »hervorragte« im wahrsten Sinne des Wortes. Du hast Institutionen gegründet und Leute ermächtigt. Viel hast du ihnen zugetraut – den Frauen, Männern und Kindern, sogar den Kranken und Schwachen. Nicht nur den Klerikern hast du Aufträge erteilt und Verantwortung übertragen. Es war deine feste Überzeugung, dass alle ihren Beitrag leisten müssen für eine bessere Welt. Unermüdlich hast du Konzepte entwickelt und Briefe geschrieben, hast andere ermutigt und bestärkt. Dir war kein Mensch zu wenig und keine Arbeit zu viel.

Nicht umsonst bist du geehrt worden und dennoch ganz bescheiden geblieben. Jedes Gehabe lag dir fern. Doch war es nicht zu vermeiden: Schon zu Lebzeiten nannten dich die Römer »il Santo« – mit südländischer Inbrunst.

Als Zeitgenossen von heute stehen wir ihm nüchterner, aber mit großem Respekt gegenüber. In diesem Buch möchten wir seine Spuren verfolgen und behutsam versuchen, Antwort auf die Frage zu finden: »Vinzenz Pallotti, wer bist du?« Dabei werden jene Gedanken nicht verschwiegen, die im Blick von heute auf damals spontan auftauchen: Erstaunliches und Faszinierendes, aber auch Fragwürdiges und Befremdendes werden zur Sprache kommen, wenn wir sein Leben betrachten.

Es ist kein Zufall, dass Vinzenz Pallotti ausgerechnet während des Zweiten Vatikanischen Konzils, das Türen öffnete für Aufbruch und Reform, vom volksnahen und beliebten Papst Johannes XXIII. heiliggesprochen wurde. Es war am 20. Januar 1963. Zum 50-jährigen Jubiläum dieses Ehrentages ist das vorliegende Buch erschienen.

Vreni Merz

Juli 2011

Hilfe, aber schnell!

Die Kleine schreit. Sie stemmt sich mit aller Kraft gegen den Eingang und klammert sich am Türgriff fest. »Da bleiben! Ich will nicht fort.«

Vergeblich versucht das junge Mädchen, ein Bündel Kleider über die Schultern geschlagen, die kleine Schwester an der Hand zu fassen und fortzuziehen.

»Komm schon, wir müssen hier weg.«

Sind das nicht die Kinder Fattoris? Sie wurden kurzerhand aus der Wohnung gewiesen, nachdem die Eltern starben. Eine unheilbare Krankheit hatte sie mitten aus dem Leben gerissen, in dem sie noch dringend nötig gewesen wären. Weil sie die Miete nicht weiter bezahlen können, stehen die verwaisten Kinder nun schutzlos auf der Straße, zwei Mädchen und vier Knaben. Ein paar junge Männer torkeln ihnen entgegen, Bierhumpen schwenkend. Sie wollen den Kindern den Weg versperren und weichen dann grölend zur Seite. Dem ältesten Mädchen, selbst noch ein Kind, steht die Angst ins Gesicht geschrieben. Es hält Ausschau nach einer offenen Tür, muss für sich und die Geschwister eine Bleibe suchen, wenigstens für die bevorstehende Nacht. Wo sollten sie hin? Sie hatten kein Dach mehr über dem Kopf.

Auf der andern Seite der Gasse breitet ein Obdachloser seine Decke aus – ein durchlöchertes Tuch, das ihn ein wenig vor der Kälte schützt. Schon geht der Tag zur Neige, die Schatten werden länger, legen sich gespenstisch zwischen die Hausmauern. Der Mann setzt sich hin und steht wieder auf, rafft seine Lumpen zusammen und bringt sie zum Kirchenportal schräg gegenüber. Dort, in der Nische, kann er der Zugluft besser entkommen.

Am Anfang des 19. Jahrhunderts hatten die Menschen nichts zu lachen. Vor allem in Rom war die Lage prekär. Ganze Familien verloren ihr Einkommen, Jugendliche plünderten Häuser, Bettler lungerten in den Straßen herum. In der einst reichen und prunkvollen Stadt wussten viele nicht, wo sie schlafen konnten, wenn der Winter kam und der Nachtwind durch die Gassen pfiff. Es klang wie Spott in den Ohren der Armen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! Mit ihrer vielversprechenden Parole hatte die Französische Revolution nichts als Gräuel und Krieg ins Land gebracht. Hunger und Elend waren an der Tagesordnung.

Don Vincenzo hatte alle Hände voll zu tun. Geistlicher Zuspruch stand jetzt nicht an erster Stelle. Wer will Hungrigen von Gott erzählen, bevor sie gegessen haben? Wo Not ist, muss man erst einmal Hand anlegen. Er sammelte Geld für Bedürftige und verteilte Gutscheine für Nahrungsmittel. Er gab seinen Mantel weg und kaufte sich einen neuen, den er bald darauf dem nächsten Bettler verschenkte. Doch was er tat, schien viel zu wenig zu sein – ein Fass ohne Boden.

An jenem Abend setzte er sich an den Schreibtisch. Viel Zeit wollte er dort nicht verbringen, aber jetzt musste es sein: Das Gesuch, das er fein säuberlich zu Papier brachte, stellte er keinem Geringeren als dem Papst. Die sechs unmündigen Kinder des Handwerkers Fattori aus der Pfarrei San Giovanni dei Fiorentini, schrieb er mit spitzer Feder, haben innerhalb von zwölf Tagen Vater und Mutter verloren. Das Älteste, ein Mädchen, sei 15-, das jüngste etwa fünfjährig. Der Hausbesitzer habe sie einfach weggeschickt. Der Pfarrer helfe so weit wie möglich, aber sein Einkommen sei so klein, dass er die Kinder nicht länger unterstützen könne. Da müsse der Heilige Vater selbst einspringen und mit den Armen arm und mit den Waisen elternlos sein.

Hat der Papst gehandelt? Wurde den Kindern geholfen? Pius VIII. war selbst gesundheitlich angeschlagen und bereits sterbenskrank, aber Briefe von Vinzenz Pallotti konnte er nicht einfach beiseiteschieben. Denn der hartnäckige Bittsteller doppelte nach, klopfte an Türen, die sonst verschlossen geblieben wären.

Es blieb nicht bei diesem einzigen Bittbrief. Unzählige Gesuche hat Vinzenz Pallotti im Verlauf seines Lebens geschrieben. Man muss die Macht der Mächtigen nutzen, sie packen, wo man sie packen kann. Auf keinen Fall darf man sie sitzen lassen in ihren Elfenbeintürmen. Ganz im Gegenteil: Alle Hebel muss man in Bewegung setzen und die Herren aus der Ruhe bringen, ihnen, wenn nötig, ins Gewissen reden. Bloß schonen darf man sie nicht!

Ihre bekannte Güte gibt mir den Mut, schrieb Vinzenz Pallotti an Kardinal Mario Mattei, Ihnen folgende Anliegen dringend zu empfehlen. Das beigeschlossene Bittgesuch (…) verdient beachtet zu werden (…) – Olivani ist Familienvater, möchte gerne Arbeit, aber er bekommt keine. Er verdient zeitweilig eine Unterstützung. Der Kammerdiener des Kardinals Drago hat mir schon oft erzählt, dass Eure Eminenz allen helfe. – Gewusst wie! Offenbar hat er die richtigen Worte gefunden. In einem andern Brief wandte er sich an den Arzt Peter Paul Azzochi: Ich habe ein herrliches Werk der Nächstenliebe, das Sie tun könnten, und ich schmeichle mir, dass Ihr Eifer diese Gelegenheit nicht unbenützt vorübergehen lässt: Die Witwe Fanni in der Via della Cancelleria 77 ist krank. Auch andere in ihrer Familie sind krank. Sie ist zu arm, um den Arzt zu holen. Wenn Sie da helfen wollten (…) und Ihrem guten Werk die Krone aufsetzen, wenn Sie für die arme Familie auch noch die Arzneien besorgen könnten.

Reiche, die haben, sollen geben – nicht wahr, Vinzenz? Man muss nur auf sie zugehen. Und ihnen hie und da ein bisschen Honig um den Bart streichen. Das hast du getan. Bei vornehmen Adligen bist du eingekehrt, um sie für gute Werke zu gewinnen, denn sie können mit ihren reichlichen zeitlichen Mitteln, auch ohne sich des ihnen gemäßen Komforts und des Genusses der erlaubten Vergnügungen zu entsagen, bedeutende Summen (…) beisteuern. – So hast du später in deinen Satzungen geschrieben.

Die Fürsten Mario und Pompeius Gabrielli haben Pallotti gekannt und ließen ihn nie lange warten, wenn er Geld für Bedürftige brauchte. Selbst die Familie Torlonia, das reichste Fürstenhaus Roms, war ihm vertraut, die Herzoge Gaetani und Cesarini, Fürst Philippo Albani und die Fürstin Borghese mit Tochter und Söhnen, mehrere Grafen und Gräfinnen gehörten zu seinem Bekanntenkreis. Er selbst war arm wie eine Kirchenmaus, aber klug genug, um zu wissen, wie man zu irdischen Gütern kommt.

Erinnerst du dich an die Herzogin von Fiano?

»Ich kann Ihnen heute kein Geld geben«, hat sie mit tonloser Stimme gesagt und ihre Hände verlegen in den Rockfalten vergraben, als du sie besuchtest in ihrem Palast. »Diesmal nicht, Don Vincenzo, es tut mir leid! Doch wenn Sie wirklich etwas brauchen, kommen Sie doch ein andermal vorbei!«

»Bestimmt werde ich kommen«, hast du mit Nachdruck entgegnet, »und zwar bald!«

»Wann?«

»Am Fest Sankt Homobonus!«

»Ach so.«

Die Herzogin stutzt, denn von einem solchen Fest hat sie noch nie gehört.

»Wann ist es denn, das Fest Homobonus?«

»Heute, gnädige Frau, auf den Tag genau«, hast du geantwortet, den Schalk in den Augen, »heute, am 13. November!«

Sie konnte nicht ausweichen, stammelte Ausreden.

»Ich bin gerade in einer ungünstigen Lage, verzeihen Sie!«

Damit wollte sie dich höflich verabschieden. Es gelang aber nicht.

»Prego Signora, die Hilfe ist dringend, eine Mutter weiß nicht, wohin sie sich wenden soll. Sie hat keine warmen Kleider für ihre Kinder und der Winter steht vor der Tür, das Jüngste ist krank und braucht den Arzt. Gehen Sie doch noch einmal hin und schauen Sie nach, ob Sie nicht doch etwas finden!«

Die Herzogin verschwand. Nach einer Weile kam sie zurück mit einer kleinen Münze und schämte sich, sie zu geben. So wenig für die große Not! Aber sie beteuerte immer wieder, sie habe nicht mehr zur Verfügung, ein nächstes Mal wieder, heute leider nicht.

Dann drückte sie dir das Geldstück in die Hand und ließ dich ziehen. Du hast sie wohl ziemlich verwirrt zurückgelassen, als sie dich weggehen sah, die breite Treppe hinunter und die Straße entlang.

Und plötzlich kommt ihm in den Sinn, dass noch jemand Schuhe braucht. Eine stämmige Bäuerin hat ihn bereits am frühen Morgen angesprochen, sie müsse unbedingt welche haben. Mitten auf der Via Giulia ist sie ihm entgegengelaufen und hat ihn mit lauter Stimme aufgehalten: »Schauen Sie, Don Vincenzo, die durchgetretene Sohle und mittendrin das Loch, mein einziges Paar.«

Willst du nun deine Schuhe hergeben, sie gleich von den Füßen nehmen? Nein, das nun doch nicht – sie wären ohnehin zu klein gewesen. Aber die Schuhe sind dringend, du siehst es mit eigenen Augen. Es gibt keinen Grund, die Frau zu vertrösten.

Ob Frau Salvati ein Paar übrig hätte? Die Frau des wohlhabenden Kaufmanns hat Schuhe für jede Gelegenheit: Schuhe für den Sommer, Schuhe für den Winter, Schuhe zum Einkaufen, Schuhe für den Kirchgang. Er hat sie selbst gesehen, die endlose Reihe von Schuhen neben der Tür, als er im Rione Monti bei den Salvatis zu Besuch war. Wer braucht so viele Schuhe für sich allein? Auch vornehme Frauen können immer nur ein einziges Paar tragen! Und überhaupt: Frau Salvati ist großzügig und verständnisvoll, er kennt sie. Am selben Tag wird er sie gefragt haben, die Frau seines Freundes, mit dem er seit Jahren bekannt ist.

Mit ihm hat er große Pläne verwirklicht.

Ein Haus für Mädchen

Während in Deutschland, Ungarn und Polen die Pest bereits wütete, brach in Rom – gleichsam als Vorbote – ein gefährlicher Grippevirus aus. Viele Menschen starben. Aber es kam schlimmer: Im Sommer 1837 wurden auch in Rom die ersten Cholerafälle gemeldet. Die Ärzte taten, was sie konnten, doch waren sie machtlos. Die Seuche verbreitete sich rasant, die medizinische Versorgung blieb auf der Strecke. In der ganzen Stadt, die damals erst 150 000 Einwohner zählte, soll sie insgesamt 5 000 Opfer gefordert haben. Dramatische Szenen spielten sich ab. Man konnte nicht aus dem Haus gehen, ohne jemand zu treffen, der Mitteilung machte von dem Tod eines Freundes, den man vielleicht am Tage zuvor noch gesund gesehen hatte, und ach, wie viele hatte ich zu beweinen …, schreibt ein Augenzeuge. Wenn man nach Hause zurückkehrte, klopfte man mit zitternder, bebender Hand an und forschte angstvoll auf dem Gesicht des Öffnenden, ob während der Abwesenheit nicht ein Unglück geschehen sei. In der Nacht konnte man wegen der Aufregung nur schwer Schlaf finden, und wenn doch die Müdigkeit siegte, wurde man häufig aufgeweckt, sei es durch das Gehen von Personen, die eilig einen Priester oder Arzt suchten, oder von dem Geräusch der Wagen, die die Leichen fortbrachten, oder von dem Geschrei und Weinen eines Menschen, der einen Verwandten verloren hatte.

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Giacomo Salvati

Bildnis Giacomo Salvatis (1779–1858), römischer Kaufmann und einer der treuesten Wegbegleiter von Vinzenz Pallotti.

Frauen und Männer, die Vinzenz Pallotti zusammengerufen hatte, leisteten Hilfe, wo sie konnten. Sie lösten in den Leihhäusern verpfändete Gegenstände ein, um für bedürftige Kranke Kleider und Betten zu beschaffen. Sie eilten zu den Sterbenden, um ihnen und den Angehörigen in den letzten Stunden beizustehen. Doch die Not war groß. Zahllose Kinder verloren ihre Eltern und damit ihr Zuhause.

»Don Vincenzo, was können wir tun?« – Giacomo Salvati zupft ihn am Ärmel, bevor er aus dem Haus verschwindet. Denn der eilige Abbate ist eben auf dem Sprung zu einer Frau, für die, laut Aussagen der Ärzte, keine Hoffnung mehr besteht. Wo werden ihre Töchter wohnen, die sie zurücklässt? Der Vater ist bereits vor drei Wochen gestorben, nun hat sich auch die Mutter mit der Seuche angesteckt.

Vinzenz Pallotti zieht die Augenbrauen hoch. »Was fragst du, Giacomo? Dir wird wohl etwas einfallen, um für die kleinen Mädchen zu sorgen.«

Das waren klare Worte. Giacomo Salvati kennt den entschiedenen Tonfall, der solche Sätze begleitet. Wenn Vinzenz so redet, hat es keinen Sinn, ihn länger zu bemühen. Dann ist der eigene Kopf gefragt – und beide Hände, um das Nötige zu tun.

Am Abend nimmt Giacomo Salvati die verwaisten Kinder zu sich nach Hause. Im Kreise seiner Familie löffeln sie warme Suppe und schlüpfen in saubere Betten. Sie haben Glück: Ab sofort wohnen sie im geräumigen Haus des großzügigen Kaufmanns. Denn Giacomo Salvati ist ein Mann der Tat. Er würde kaum zu Vinzenz Pallottis Gefährten zählen, wenn er nicht bereit wäre, schwierige Situationen zu meistern und sofort zu handeln. Und seine Frau macht mit. Sie stellt ein paar Teller mehr auf den Tisch und befiehlt den eigenen acht Sprösslingen zusammenzurücken, um den Zugezogenen Platz zu machen.

»Mit gutem Willen ist vieles machbar, nicht wahr, Giacomo?« Frau Salvati nimmt den größeren Topf aus dem Schrank und stellt ihn aufs Feuer. Ihrem Mann wirft sie einen fragenden Blick zu: »Was geschieht mit all den andern Kindern, die allein auf sich gestellt sind? Wer sorgt für die Kleinen, die noch nicht gehen, nicht selbst essen und sich anziehen können?«

Giacomo Salvati hält Ausschau nach geeigneten Plätzen, fragt da und dort in den reichen Familien des römischen Adels, ob sie bereit wären, ein Kind aufzunehmen. Er steht vor den Toren vornehmer Paläste, zieht die verschnörkelten Glockenzüge und lässt sich von Dienstboten in ein Vorzimmer führen. Dort wartet er oft lange, bis ihn die Herrschaften empfangen.

»Ja, schicken Sie uns ein Mädchen, doch soll es sich anständig benehmen.«

»Nun ja, wir nehmen ein Kind, aber klein soll es sein, wir möchten es selbst erziehen.«

»So kommen wir nicht weiter, Don Vincenzo, wir müssen uns etwas einfallen lassen. Es wird mühsam, ja unmöglich, für so viele Kinder neue Eltern zu finden. Vor allem die Mädchen brauchen eine Heimat. Und Frauen brauchen sie, die mit ihnen sind und sie ins Leben begleiten. Ein geräumiges Haus sollten sie haben, mit hellen Zimmern und gemütlichen Schlafräumen, mit Esstischen und Spielecken. Wo steht das Haus, das wir suchen?«

Eigentlich wäre die städtische Unterstützungskommission für die Armen beauftragt gewesen, für die Waisen zu sorgen, die sich damals in Rom immer zahlreicher auf der Straße herumtrieben. Vinzenz Pallotti wandte sich an die Zuständigen, er bat sie inständig, nicht länger untätig zu sein, vor allem auf die Mädchen zu schauen und sie vor Missbrauch zu schützen. Nichts geschah. Mehrere Versuche, an verschiedenen Orten Wohngemeinschaften zu bilden, scheiterten. Endlich tagte die Kommission, um die Situation zu besprechen – und fasste den Entschluss, Vinzenz und seinen Gefährten das stattliche Gebäude des ehemaligen Kollegs Fuccioli an der Via Sant’Agata dei Goti zur Verfügung zu stellen.

»Hier könnt ihr wirken!«, ließen die Herren nach der Sitzung verlauten – und schoben die Verantwortung ab.

Vinzenz zögerte nicht. Er erteilte sofort Aufträge an Maurer und Schreiner, um am Gebäude ein paar bauliche Veränderungen vorzunehmen. Bald darauf wurden die Räume zweckmäßig und wohnlich eingerichtet. Endlich war es soweit: Am 5. Juni 1838 konnte die Pia Casa di Carità eröffnet werden. Welch ein Fest! Schon früh am Morgen machten sich die Mädchen bereit und hüpften von einem Bein aufs andere. In einem farbenprächtigen Umzug sollten sie einziehen in ihr Haus – festlich geschmückt und gekleidet. Doch am Himmel zogen Wolken auf, und sie bangten um ihre Kränze im Haar, um die sorgsam geflochtenen Zöpfe. Bloß nicht nass werden! Vinzenz Pallotti lächelte. »Erst kommen wir, der Regen nach uns!«, scherzte er und ging selbst ohne Hut und Schirm voraus. Das Wetter hielt sich gut, und alle kamen trockenen Fußes an. Ist das unser Haus, so hoch, so groß? Weit standen die Fenster offen, als wollten sie alle willkommen heißen, die sich zum Eingang drängten. Als erster jedoch trat Giacomo Salvati über die Schwelle. Denn er war es, der sich längst um die verwaisten Kinder gekümmert und für sie gesorgt hatte. Er war ein verdienter Mitbegründer des Hauses – und überglücklich, sein Ziel erreicht zu haben.

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Darstellung des Festzuges anlässlich der Einweihung des Mädchenwohnheims

Gründungsfeierlichkeiten für das Mädchenwohnheim »Pia Casa di Carità«. Der Festumzug wird angeführt vom Ehepaar Salvati, das maßgeblich beteiligt war an der Gründung und Finanzierung des Hauses, gefolgt von Vinzenz Pallotti und den künftigen Bewohnerinnen im Sonntagsstaat.

Ein gut geführtes Haus will organisiert sein. Vinzenz Pallotti bemühte sich, die nötigen Strukturen zu schaffen – nicht zu viele, aber auch nicht zu wenige. Die Leitung übertrug er Elisabetta Cozzoli. Sie war verwitwet, lebte in der Region Apulien und hatte acht Kinder großgezogen. Im Frühling 1838 zog sie nach Rom und lernte dort Vinzenz Pallotti kennen. Seine Anfrage überraschte und erschreckte sie zugleich.

Ob sie diese Herausforderung annehmen sollte? Noch hatte sie nicht reiflich überlegt, was eine solche Aufgabe für sie bedeuten könnte, ob sie ihr überhaupt gewachsen sei. Vinzenz Pallotti kommt ihr zuvor: »Eine Frau wie Sie haben wir gesucht! Wir könnten uns keine bessere denken. Acht Kinder haben Sie geboren, ernährt und ins Leben begleitet, jetzt kommen noch ein paar dazu. Als oberste Chefin werden Sie das Haus in Schwung halten – gemeinsam mit ein paar tüchtigen Frauen!«

Pallottinerinnen

Kein Wunder, dass dir die Pia Casa ans Herz gewachsen ist. Doch dir allein, lieber Vinzenz, ist das geglückte Projekt nicht zu verdanken. Wie hättest du nur Zeit gefunden für alle Schritte, die zur Gründung nötig waren? Du hattest schon Arbeit genug. Wie gut, dass du auf engagierte Menschen zählen konntest!