Theologische Studien NF 2 – 2011

Friedrich Schweitzer


Menschenwürde und Bildung

Religiöse Voraussetzungen der Pädagogik in evangelischer Perspektive

Inhaltsverzeichnis

Titelei

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Zur Einleitung Fragestellungen, Ziele, Vorgehensweise

I. Menschenwürde und Bildung im evangelischen Bildungsdenken

1. Vorüberlegungen: Begriffe und Sachen

2. Erziehungsbedürftigkeit statt Bildungsanspruch: Kann sich eine auf der Menschenwürde gründende Bildung auf die reformatorische Tradition berufen?

3. Bildung in Freiheit und Humanität: Verzweckung und Nützlichkeitsdenken als Versuchung für Eltern, Staat und Kirche

4. Unverlierbare Würde gegen Ausgrenzung: Der lange Weg zur Bildungsgerechtigkeit

5. Menschenwürde und Religionsfreiheit: Religiöse Bildung als Ausdruck der Freiheit

6. Evangelische Bildung als Sozial-, Kultur- und Herrschaftskritik

7. Dem Anderen im Dialog begegnen – interreligiöse Bildung im Zeichen der Menschenwürde

8. Ergebnisse und weiterführende Fragestellungen

II. Theologische Voraussetzungen

1. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen als Begründung von Menschenwürde und Bildung

2. Sünde und Gewaltherrschaft, Rechtfertigung und Erneuerung des Menschen

3. Christliches Ethos: Menschenwürde und Bildung im Horizont entgrenzender Gerechtigkeit

4. Die besondere Würde des Kindes

III. Im Diskurs mit der Erziehungswissenschaft

1. Menschenwürde, Bildung und Pluralität: Erziehungswissenschaftliche und theologische Zugänge

2. Menschenwürde und Bildung in erziehungswissenschaftlichen Bildungstheorien

3. Perspektiven für einen erziehungswissenschaftlichen Umgang mit Menschenbildern in der Pluralität

IV. Menschenwürde als Bildungsinhalt

1. Menschenwürde und Allgemeine Bildung

2. Menschenwürde als integrative Perspektive für den Religionsunterricht

3. Menschenwürde als generatives Thema für fächerverbindenden Unterricht

V. Rückblick – Ausblick – Aktuelle Perspektiven

Literaturverzeichnis

Fußnoten

Seitenverzeichnis

|7| Vorwort

Es bedarf heute kaum einer Begründung dafür, sich mit dem Thema Menschenwürde zu befassen. Die Aktualität und Dringlichkeit der damit verbundenen Herausforderungen liegen ebenso auf der Hand wie der Bedarf an weiteren Klärungen, innerhalb wie außerhalb der Theologie. Dass so viel von Menschenwürde gesprochen wird, ist gerade kein Beleg dafür, dass auch wirklich klar wäre, was damit gemeint ist. Eher gilt umgekehrt: Je mehr von ihr die Rede ist, desto weniger erweist sich das Gemeinte als selbstverständlich. Manche bezeichnen die Menschenwürde deshalb bereits als eine Leerformel, die besser überhaupt aus dem Vokabular gestrichen werden sollte. Andere weisen hingegen darauf hin, dass der Abschied vom Begriff der Menschenwürde unvermeidlich auch einen dauerhaften Verlust an Humanität nach sich ziehen würde. Je schwieriger es ist, sich auf die Menschenwürde zu berufen, desto wichtiger wird es auch.

Die Bezugsprobleme erweisen sich dabei als überaus komplex und als weit ausdifferenziert. Die bioethischen und medizinethischen Fragen etwa reichen vom Anfang des Lebens bis an dessen Ende, und die sozialen und politischen Bedrohungen der Menschenwürde sind ein leider wahrhaft globales Problem. Wie kann die Würde des Menschen wirklich geschützt werden? Inwiefern und für wen ist sie am Ende wirklich, mit dem deutschen Grundgesetz gesprochen (Art. 1,1 GG), »unantastbar«?

Auch die Verbindung von Menschenwürde und Bildung gehört in diesen Umkreis aktueller Herausforderungen. Das Recht auf Bildung erwächst aus der Menschenwürde, und umgekehrt verpflichtet diese Würde, wo sie bestimmungsgemäß gelebt werden soll, zur Wahrnehmung von Bildungsmöglichkeiten. Dies gilt zumindest in evangelischer Sicht, womit zugleich eine weitere Problemdimension angesprochen ist. Beide, Menschenwürde und Bildung, werden heute in unausweichlich pluralen Zusammenhängen thematisiert, also von unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Voraussetzungen her. Dies bedeutet eine Begrenzung der Reichweite und des Verpflichtungscharakters des jeweiligen Verständnisses, aber muss es deshalb auch zu einem Relativismus einerseits oder einem strikten Neutralitätsdenken andererseits führen? Kann ein evangelisches Verständnis |8| von Menschenwürde und Bildung heute noch öffentliche Bedeutung beanspruchen – gerade auch in der Pluralität?

Eine kleine Studie wird nur einen Teil der damit angesprochenen Fragen behandeln oder gar beantworten können. Ihr Reiz liegt in der Beschränkung und Konzentration – im vorliegenden Falle auf das evangelische Bildungsverständnis. Für diese Konzentration können zumindest Gründe angegeben werden. Denn auch hier gilt: Obwohl heute so oft von einem Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Bildung gesprochen wird und man sich in der Kirche darauf beruft, bleibt doch vieles unklar und wird wenig entfaltet. Zugleich wird gerade der Zusammenhang mit Bildung in der breiten Literatur zur Menschenwürde noch immer eher selten aufgenommen, auch in der Theologie.

Beschränkt ist die Studie auch in formaler Hinsicht. Doch hat eine thesenhafte Form bekanntlich durchaus Vorteile. Manche werden auch für die nur knappen Literaturhinweise dankbar sein, während andere vielleicht vermissen, was ihnen besonders wichtig scheint. Deshalb sei an dieser Stelle wenigstens pauschal auf die zum Teil ausgezeichneten Artikel in den üblichen Nachschlagewerken (TRE, RGG, LThK u. a.) verwiesen, die auch ich selber mit Gewinn konsultiert habe. Zitiert wird in den Anmerkungen im Übrigen nur mit Kurztitel; die vollständigen Nachweise finden sich im Literaturverzeichnis am Ende der Studie.

Ich freue mich, dass die nun in neuer Folge erscheinenden Theologischen Studien sich so früh auch auf pädagogische Fragen eingelassen haben. Das hat durchaus Tradition. Heft 2 der ursprünglichen Reihe war dem Thema Evangelium und Bildung gewidmet, und kein anderer als Karl Barth hat diese Schrift damals verfasst. Seine Thesen werden auch im Folgenden eine Rolle spielen.

Danken möchte ich besonders Thomas Schlag, der mich als Mitherausgeber der Reihe zu dieser Studie angeregt und ihr Entstehen begleitet hat. Katharina Blondzik und Annika Fiedler haben mich bei der Manuskripterstellung unterstützt, während Kristina Lamparter mich unermüdlich mit Literatur versorgt hat. Auch ihnen gilt mein besonderer Dank!

Friedrich Schweitzer

|9| Zur Einleitung
Fragestellungen, Ziele, Vorgehensweise

Der Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Bildung wird heute vielfach thematisiert. Im Zentrum stehen dabei zumeist Fragen nach Herausforderungen am Beginn und am Ende des Lebens – von extrauteriner Zeugung, pränataler Diagnostik und Stammzellenforschung bis hin zur Sterbehilfe. Zwangsläufig sind dabei auch religiöse und religiös-ethische Dimensionen berührt, da es unvermeidlich um unterschiedliche Vorstellungen vom Menschsein und von dessen Würde geht. Davon zeugt auch die aktuelle rechtlich-politische Debatte um die Begründung und Auslegung der Menschenwürde in den Menschen- und Grundrechten.

Zahlreiche gesellschaftliche und politische Initiativen berufen sich auch auf die Menschenwürde, wenn sie Bildungsmöglichkeiten für diejenigen einklagen, denen sie noch immer vorenthalten werden. Ein solches Verständnis von Menschenwürde schließt sich mehr oder weniger ausdrücklich den Menschenrechten an oder auch den entsprechenden Garantien im Recht der Einzelstaaten, in Deutschland etwa dem Grundgesetz mit den Grundrechten. In deutlichem Kontrast zu solchen Garantien steht etwa der Befund, dass beispielsweise Kinder mit einem sogenannten Migrationshintergrund weithin von vornherein geringere Bildungschancen haben als andere Kinder.

Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Bildung ist zugleich ein Thema innerhalb der Kirche. Bei pädagogischen Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft, etwa bei Kindergärten, wird vermehrt nach deren christlichem oder evangelischem Profil gefragt. Beantwortet wird diese Frage gern mit dem Hinweis auf das besondere Menschenbild, für das man sich häufig auf die Gottebenbildlichkeit beruft. In einer solchen Einrichtung seien alle Kinder willkommen, und alle seien gleich anerkannt. Die Gottebenbildlichkeit wird hier auf Kinder bezogen und als Voraussetzung der Menschenwürde interpretiert.

Eine rechtliche Begründung dafür, dass die Menschenwürde einen Anspruch auf Bildungsmöglichkeiten konstituiert, fällt in der Tat leicht. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) beispielsweise spricht schon in der Präambel von der »angeborenen Würde« sowie von der Anerkennung der »gleichen und unveräußerlichen |10| Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen«. Artikel 1 unterstreicht dies nachdrücklich: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.« Artikel 26,1 schließlich hält unmissverständlich fest: »Jeder hat das Recht auf Bildung.« Und ähnlich heißt es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (1949), gleich in Art 1,1: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Zusammen mit dem »Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit« (Art. 2,1) ergibt auch dies eine Begründung für das Recht auf Bildung. Und um noch ein weiteres wichtiges Dokument zu nennen – das »Übereinkommen über die Rechte des Kindes« (sog. Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, 1989) bestätigt in Art. 28 erneut das »Recht des Kindes auf Bildung« und verweist darüber hinaus auf die »Chancengleichheit« (Art. 28,1) sowie auf das »Recht jedes Kindes auf einen seiner körperlichen, geistigen, seelischen, sittlichen und sozialen Entwicklung angemessenen Lebensstandard« (Art. 27,1).1

Der Zusammenhang von Menschenwürde und Bildung scheint also evident. Doch das bedeutet noch lange nicht, dass er auch zur wirksamen Richtschnur für politisches und pädagogisches Handeln geworden wäre. Denn bereits die programmatische Berufung auf diesen Zusammenhang in unserer Gegenwart lässt erkennen, dass mit erheblichen Realisierungsproblemen zu rechnen ist. Aus der Evidenz von Bildungsrechten erwächst auch in diesem Falle noch keine Garantie für deren praktische Gewährleistung, schon gar nicht im Sinne einer wirklichen »Chancengleichheit«, wie aus der entsprechenden Bildungsforschung längst bekannt ist.2 In der Realität reproduzieren die auf »Chancengleichheit« eingestellten Bildungssysteme allemal die Unterschiede bei den Kindern vor dem Schuleintritt. Das zeigen ebenso die Ergebnisse der Bildungsreformen der 1960er Jahre, die auch international im Zeichen der »Chancengleichheit« standen, wie die aktuellen Befunde aus den PISA-Schulvergleichsuntersuchungen.3

Man kann dies auch so ausdrücken: Hinter den Realisierungsproblemen zeichnen sich weiterreichende Motivations- und Spezifizikationsprobleme ab. Rechtstexte besonders so abstrakter Art, wie es |11| die Grund- und Menschenrechte sind, entbinden bei den Menschen offenbar – trotz ihrer zumindest beabsichtigten Evidenz – nicht sogleich auch eine entsprechende Bereitschaft oder Motivation dafür, sich für ihre Realisierung einzusetzen. Auch wer sich gerne für sich selbst auf solche Rechte beruft, zieht daraus offenbar nicht notwendig die Konsequenz, sich auch für die Rechte anderer einzusetzen.

Bei der »Würde des Menschen« dürfte dies auch damit zusammenhängen, dass gar nicht so leicht zu sagen ist, was damit eigentlich gemeint sein soll. Es fällt schwer, diese »Würde« zu spezifizieren, sie also näher zu bestimmen, so dass sie als Grundlage pädagogischen Handelns in Anspruch genommen werden kann. Denn dazu ist ein bestimmtes Menschenverständnis erforderlich, wie es abgekürzt gern als Menschenbild bezeichnet wird.

Damit stoßen wir zugleich auf ein weiteres Problem, das sich vor allem dem Staat in diesem Zusammenhang stellt. Das staatliche Recht in demokratischen Staaten kann und darf keine Menschenbilder vorschreiben, weil dabei unvermeidlich religiöse und weltanschauliche Überzeugungen ins Spiel kommen, deren Freiheit und damit Pluralität jede moderne Demokratie doch wesensmäßig voraussetzen muss. Aber wie soll pädagogisches Handeln dann noch von der Menschenwürde her begründet werden?

In dieser Hinsicht tun sich Überzeugungs- und Glaubensgemeinschaften wie die Kirche naturgemäß leichter, weil sie wesensmäßig ein Bekenntnis einschließen. Aber was bedeutet beispielsweise das Apostolische Glaubensbekenntnis für Bildung? Und auch wenn für die Evangelische Kirche an die Bekenntnisbedeutung der biblischen Schriften gedacht werden kann, sieht es hier doch nicht viel besser aus. Denn wer etwa dem Hinweis auf Gen 1,27 als Urkunde der Gottebenbildlichkeit des Menschen folgt und die Kommentare zur Bibel zu Rate zieht, erfährt dort kaum etwas über Bildung. Insofern stellt sich auch innerhalb der christlichen Überlieferung für den Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Bildung ein grundlegendes Vergewisserungsproblem hinsichtlich der eigenen normativen Quellen.

Fasst man die Realität evangelischer Bildungseinrichtungen in den Blick, so wie dies beispielsweise unlängst mit Hilfe einer empirischen Untersuchung zu dem Verein Christliches Jugenddorf geschehen ist, wird weiterhin deutlich, dass innerhalb solcher Einrichtungen auch faktisch keineswegs Einigkeit hinsichtlich der religiösen und anthropologischen |12| Grundlagen herrscht.4 So zählt das dort tätige Personal nach eigener Aussage das Gleichheitsgebot an vorderster Stelle zu den Prinzipien, an denen man sich im christlich-pädagogischen Handeln orientieren will, während die Ausrichtung an der Gottebenbildlichkeit des Menschen weit abgeschlagen auf einem der letzten Ränge erscheint. Insofern ist auch für die Kirche und ihre pädagogischen Einrichtungen von einem ausgesprochenen Problem der Selbstverständigung zu sprechen. Es muss offenbar allererst genauer geklärt werden, in welchem Sinne man sich hier an Menschenwürde oder Gottebenbildlichkeit orientieren kann oder will.

Selbst Theologen, die wie etwa Eilert Herms zu Recht darauf hinweisen, dass die christliche Überlieferung zumindest als eine Antwort auf das Motivations- und Spezifizierungsproblem anzusehen ist, nehmen deutlich wahr, dass auch daraus weitere Fragen resultieren.5 Denn nach der Trennung von Staat und Kirche kann das Ziel nicht darin bestehen, die gesamte Gesellschaft von Staats wegen auf ein bestimmtes Menschenbild zu verpflichten. Das Spezifizierungsproblem taucht deshalb nun in der Gestalt des Pluralitätsproblems in veränderter Weise noch einmal auf. Allerdings, so die Hoffnung, kann dieses Problem im Dialog der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften wirksamer bearbeitet werden als vom Staat, der sich auf ein religiöses und weltanschauliches Neutralitätsgebot verpflichtet sieht. Wo unterschiedliche Verständnisse des Menschen offen zum Ausdruck kommen, da können sie in ein Verhältnis zueinander gesetzt, aber auch kritisch befragt werden. Genau dies soll der anzustrebende Dialog der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften leisten.

Mit diesen sechs auf Menschenwürde und Bildung bezogenen Problemstellungen, die zum Teil Staat und Gesellschaft, zum Teil die Kirche und zum Teil beide gemeinsam betreffen: das Problem von

ist der Horizont umrissen, in dem sich die vorliegende Studie bewegt.

|13| Noch genauer bestimmt werden müssen allerdings die besondere Zielsetzung und Perspektive dieser Studie und damit auch das Vorgehen. Die genannten Probleme werden herkömmlicherweise vor allem in der Systematischen Theologie und besonders in der (theologischen) Ethik behandelt. Auf deren Sichtweisen und Ergebnisse wird auch im Folgenden immer wieder zurückgegriffen. Die Studie selbst zielt jedoch auf einen Beitrag zum evangelischen Bildungsverständnis, das in seiner thematischen Ausrichtung auf den Zusammenhang von Menschenwürde und Bildung in der Gegenwart noch erstaunlich wenig Klärung erfahren hat. Als erstaunlich ist dies deshalb zu bezeichnen, weil etwa die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) in den letzten Jahren mit großem Nachdruck ein evangelisches Verständnis von Menschenwürde herausgestellt hat und darin geradezu das Zentrum eines evangelischen Beitrags nicht nur zur deutschen Gesellschaft, sondern auch zu einem europäischen Werteverständnis sieht. Bildung soll dabei eine wesentliche Rolle spielen. So wird etwa in der Erklärung des Rates der EKD aus Anlass der Ratspräsidentschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union (Dezember 2006) auf die aus evangelischer Sicht zentrale Stellung der Menschenwürde hingewiesen6 Sie sei das »Fundament« der »europäischen Grundwerte«. Erläutert wird dies so: »Europäische Politik nach diesen Wertvorstellungen zu gestalten heißt, sie am Maßstab der Menschenwürde und eines ihr entsprechenden Menschenbildes auszurichten. Dazu gehört es, Bildungschancen für alle zu eröffnen und Befähigungsgerechtigkeit insbesondere für die junge Generation zu verwirklichen.« Damit richtet sich die Kirche gegen nach wie vor bestehende Benachteiligungen im Bildungssystem, die überwunden werden sollen. Die Menschenwürde lasse es darüber hinaus auch nicht zu, »dass der Bildungsanspruch jedes Menschen auf den Erwerb von beruflichen Kompetenzen reduziert wird«. Damit ist die theologische Begründung für ein umfassendes Bildungsverständnis angesprochen, das beispielsweise auch konstitutiv die religiöse Bildung einschließen muss.

Solche Stellungnahmen machen zugleich deutlich, dass das Verständnis von Menschenwürde heute nicht nur plural, sondern auch umstritten ist. Zu den traditionellen Fragen wie der, worin genau denn die Menschenwürde bestehe, treten in der Gegenwart neue kontroverse Herausforderungen. Das gilt nicht nur für den medizinethischen Bereich, |14| wo etwa im Blick auf das sogenannte therapeutische Klonen erheblicher Dissens besteht, bis hinein in die evangelische Kirche und Theologie.7 Auch in anderen Hinsichten werden grundlegende Fragen im Verständnis von Menschenwürde heute sehr kontrovers diskutiert, etwa hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Freiheitsrechten und Leistungsrechten: Folgen aus der Menschenwürde nur Ansprüche und Schutzregelungen für die menschliche Freiheit oder ergeben sich daraus auch Leistungsansprüche, die darauf zielen, dass Menschen zu einem menschenwürdigen Dasein befähigt werden müssen? Und wessen Pflicht ist es gegebenenfalls, dann auch tatsächlich für die Erfüllung solcher Ansprüche zu sorgen? Wie bedeutsam diese Frage gerade im Blick auf Bildung und Bildungsmöglichkeiten ist, wird sich beim Thema der Befähigungsgerechtigkeit zeigen.

Dabei führt auch der Bildungsbegriff vor kaum weniger weitreichende Fragen grundsätzlicher Art. Lange Zeit wurde dieser Begriff in der Erziehungswissenschaft kaum mehr gebraucht, weil er eine so (fast) nur in der deutschen Sprache und Tradition auftretende Sonderentwicklung darstelle (viele europäische Sprachen kennen nur ein Wort für Erziehung und Bildung: education o. ä.). Kritisiert wurde auch die idealistische Überfrachtung des Bildungsbegriffs. In historischen und theologischen Studien wird hingegen gern auf den christlich beeinflussten Ursprung des Bildungsbegriffs im Mittelalter verwiesen. Theologisch kann daraus auf eine besondere Anschlussfähigkeit des Bildungsbegriffs geschlossen werden – anders als der Erziehungsbegriff sei der der Bildung von Anfang an offen für theologische Deutungen. Neuere erziehungswissenschaftliche Darstellungen streben demgegenüber nach einer weltanschaulich neutralen Fassung des Bildungsverständnisses. In einer pluralistischen Gesellschaft soll sich die Erziehungswissenschaft nicht von religiösen Traditionen abhängig machen.

Ohne Zweifel ließe sich eine begrenzte Studie, wie sie hier vorgelegt wird, allein mit Klärungen zum Verständnis der beiden Begriffe Bildung und Menschenwürde füllen. Damit geriete sie freilich in die Gefahr, vorliegende Darstellungen zu verdoppeln, während die bislang nur selten aufgenommene Frage nach dem Zusammenhang von Menschenwürde und Bildung im evangelischen Bildungsverständnis dahinter zurücktreten würde. Im Folgenden wird deshalb dieser Zusammenhang ins Zentrum gestellt und werden Fragen nach dem Verständnis |15| sowohl von Menschenwürde als auch von Bildung nur aus diesem Zusammenhang heraus aufgenommen. Diese Vorgehensweise bringt es auch mit sich, dass der Studie keine systematische Unterscheidung zwischen Erziehung und Bildung oder gar ein Bildungsverständnis, das sich gegen den Erziehungsbegriff profiliert, zugrunde gelegt werden kann oder soll. Anders als in früheren Zeiten, in denen Bildung weithin mit Schule assoziiert wurde, fließen die Begriffe Erziehung und Bildung im heutigen Gebrauch weithin so ineinander, dass eine klare Unterscheidung jedenfalls nicht vorausgesetzt werden kann. Solche Unterscheidungen müssen vielmehr im jeweiligen Kontext entwickelt und geprüft werden.8

Vor diesem Hintergrund lässt sich nun auch der Aufbau der nachfolgenden Darstellung beschreiben: Dem genannten Interesse folgend nehme ich den Zusammenhang von Menschenwürde und Bildung zunächst vom evangelischen Bildungsdenken und seiner Tradition her auf (1). In einem zweiten und dritten Schritt soll es dann um theologische Vertiefungen (2) sowie um den Diskurs mit der Erziehungswissenschaft (3) gehen, eben weil es sich angesichts der Pluralität nicht mehr von selbst versteht, welche Relevanz christliche Menschenbilder oder ein evangelisches Bildungsverständnis über die Kirche hinaus haben können. Nur noch thesenhaft umschrieben werden kann (4), dass die Menschenwürde auch einen Bildungsinhalt von zentraler |16| Bedeutung ausmacht. Rückblick und Ausblick sowie aktuelle Perspektiven für die Praxis (5) runden die Studie ab.

|17| I. Menschenwürde und Bildung im evangelischen Bildungsdenken

1. Vorüberlegungen: Begriffe und Sachen

Nachdem in der Einleitung Gesagten ist die Aufgabe dieses Teils bereits weitgehend geklärt: Es muss nun darum gehen zu prüfen, wie sich der Zusammenhang von Menschenwürde und Bildung im evangelischen Bildungsdenken widerspiegelt. Zugespitzt: Kann der Bezug auf die Menschenwürde tatsächlich als ein zentraler Schwerpunkt des evangelischen Bildungsverständnisses bezeichnet werden? Insbesondere ist dabei zu fragen, ob und wie dieses Denken auf die sechs genannten Probleme und Herausforderungen – von Realisierung, Motivation und Spezifikation, von Vergewisserung, Selbstverständigung und Pluralität – selbst antwortet und wie es weitergehend auch unter veränderten Herausforderungen auf diese Herausforderungen zu antworten erlaubt.