Arthur Cravan

König der verkrachten Existenzen

Best of

Aus dem Französischen von Hanna Mittelstädt und Pierre Gallissaires

Dieses E-Book ist ein Auszug aus der Print-Version König der verkrachten Existenzen von Arthur Cravan, erschienen bei Edition Nautilus 2015.

ein mikrotext

E-Book erstellt mit Booktype

Cover: Andrea Nienhaus/Maja Bechert

Coverfoto: Cravan um 1908, Collection David und Marcel Fleiss

Covertypo: PTL Attention, Viktor Nübel

www.mikrotext.de – info@mikrotext.de

ISBN 978-3-944543-33-8

Alle Rechte vorbehalten.

© mikrotext 2016, Berlin und Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg 2015, Hamburg

Arthur Cravan

König der verkrachten Existenzen

Best of

Aus dem Französischen von Hanna Mittelstädt und Pierre Gallissaires

Unveröffentlichte Dokumente über Oscar Wilde

Oscar Wilde, von dem einige behaupten, dass er mit einer über der Augenbrauenpartie zwar gut ausgeprägten, aber fliehenden Stirn ausgestattet gewesen wäre, während sich sein edler ovaler Schädel nach hinten aufblähte, sagte, dass die wirklichen Fähigkeiten des Menschen sich nicht im vorderen, sondern im hinteren Teil des Schädels befänden, und er versicherte, dass Menschen mit großen Fähigkeiten ihre Ideen … im Hinterkopf hätten.

Natürlich hatte Oscar Wilde keine niedrige Stirn, aber mit seiner hohen Statur, seiner starken Korpulenz, ohne muskulös zu sein, machte er nicht gerade den Eindruck, eine Stirn wie Beethoven zu haben. Sein Profil hatte viel von dem Byrons. Im Übrigen sah Oscar Wildes Kopf ganz griechisch aus; nicht so sehr wie Statuen, sondern vielmehr wie die kleinen Figuren auf den Vasen und den Medaillen.

Seine blauen, dunstigen Augen, die sich in der Intensität des Blicks verdunkeln konnten, waren wunderbar im Augenbrauenbogen eingefasst, dessen dichte Augenbrauen sich souverän wölbten. Unmöglich konnte man sich einen mehrdeutigeren Blick vorstellen, der sich genauso gut in
poetischen Emotionen schmachtend verlieren, wie durch die äußere Welt leben konnte.

Die aristokratische Nase bestand vor allem aus Nasenflügeln, ein lebendiges Organ: weit offene und bebende Nasenflügel.

Die bleichen und vollen Lippen waren kein »schöner Mund«. Dieser war ein wenig brutal geschnitten, aber auf keinen Fall formlos, sondern perfekt gemeißelt: Der mittlere Teil war auf einer Ebene mit dem Gesicht, während die Winkel sich wie auf antiken Masken deutlich nach hinten wölbten.

Der Linie der Wangen haftete nichts Kleinliches an, sie war von großartiger Fülle.

In seiner Gesamtheit war Oscar Wildes Gesicht im Profil, wie wir es bereits erwähnten, recht griechisch, von vorn auch noch, aber vor allem in dem ausgewogenen, harmonischen oberen Teil; wenn die Lippen versiegelt waren, hatte der untere Teil vielmehr etwas Ägyptisches an sich, Rätselhaftigkeit, Unerbittlichkeit, Unbewegtheit einer Statue: eine Art zurückgezogene Grausamkeit.

In der Haltung der Ruhe strahlte Oscar Wilde Kraft aus: Dieser Haltung wohnte ein sehr sicheres Selbstvertrauen inne, was sie unvermeidlich herablassend erscheinen ließ, aber die intime Seite der Natur kam nichtsdestoweniger durch – der sinnliche, wollüstige Teil, der Teil der perfekten Gewandtheit, die das Tätigwerden kurz danach ins Spiel bringt.

Seine stattliche Figur in Richtung seines Gesprächspartners gebeugt, genau wie seine Mutter, Lady Wilde, schoss Oscar Wilde seine Spitzen und Pointen gegen ihn, ließ seine Aphorismen fallen; dann, wenn die einen und die anderen getroffen hatten, warf Wilde seinen Kopf nach hinten, als wollte er sagen: »Was können Sie dem entgegensetzen?« Im Übrigen füllte seine bloße und stille Gegenwart einen ganzen Salon, und wenn er sie mit der Sprache belebte, nahm diese Sprache, ohne laut zu sein, eine Färbung an, die sie von der ganzen umgebenden Unterhaltung unterschied.

Bekanntlich war Oscar Wildes Stimme bewundernswert, sie umfasste alle Variationen des Redeflusses, war manchmal überstürzt, breit, lebhaft und lustig, aber meistens maßvoll und überlegt, und dann auch schmachtend. Sein Akzent war samtig, abgerundet und hatte ab und zu einen nur leichten Kehlton, so als ob das Wort mehr Seele erhalten sollte. Seine Aussprache war sehr deutlich, bewusst – wie einstudiert –, sie verlieh den doppelten Buchstaben ihren ganzen Wert, wie z. B. bei den Worten adding, yellow, was in England kaum üblich ist; und sie hielt sich faul und wie verliebt bei den Vokalen auf. Im Übrigen, wenn Oscar Wilde seine Sätze auch in ihrer reinen Vorstellung genoss, so konnte er sie ebenfalls wegen ihres Klangs, ihrer reinen Worthaftigkeit genießen.

Denn, bemerkenswert war bei Oscar Wilde, dass er, wenn man so sagen kann, mit dem ganzen Körper sprach: Die Bewegung des Schultergelenks war unbeschwert, die des Handgelenks charmant, die Beugung von Hand und Unterarm hatte die Eleganz eines schönen, ausdrucksvollen Schwans, gerade diese Geste hat Oscar Wilde der Person Lord Henrys in »Dorian Gray« verliehen.

Fortsetzung folgt.

W. Cooper

André Gide

Als ich nach einer langen Periode schlimmster Faulheit fieberhaft davon träumte, wie ich sehr reich werden könnte (mein Gott! wie oft träumte ich davon!); als ich so beim Kapitel der ewigen Projekte war und der Gedanke mich allmählich erwärmte, unredlich zu Reichtum zu kommen, und zwar unerwarteterweise durch die Poesie – ich habe immer schon versucht, die Kunst als Mittel und nicht als Zweck zu betrachten –, sagte ich mir fröhlich: »Ich sollte Gide aufsuchen, der ist Millionär. Na, was für ein Jux, ich werde den alten Literaten um den Finger wickeln!«

Sogleich – denn genügt es nicht, sich in Schwung zu bringen? – verlieh ich mir eine außerordentliche Gabe zum Erfolg. Ich schrieb ein paar Zeilen an Gide, in denen ich mich auf meine Verwandtschaft mit Oscar Wilde berief; Gide empfing mich. Er staunte über meine Statur, meine Schultern, meine Schönheit, mein exzentrisches Wesen, meine Worte. Gide fraß einen Narren an mir, ich hielt ihn für angenehm. Schon machten wir uns davon nach Algerien – er wiederholte die Biskra-Reise, und ich konnte ihn sicher bis Somaliland mitreißen. Schnell bekam ich ein goldfarbenes Gesicht, habe ich mich doch schon immer etwas geschämt, weiß zu sein. Und Gide zahlte die Coupés 1. Klasse, die edlen Reittiere, die Palasthotels und die Liebschaften. Ich konnte endlich einigen meiner Tausenden von Seelen Substanz verleihen. Gide zahlte, zahlte, zahlte immer; und ich wage zu hoffen, dass er mich nicht auf Schadenersatz verklagen wird, wenn ich ihm gestehe, dass er, um die letzten Launen eines modernen Kindes zu befriedigen, in den krankhaften Ausschweifungen meiner galoppierenden Phantasie sogar sein so­lides Gut in der Normandie verkauft hatte.

Ach, ich sehe mich noch, wie ich mich damals vorstellte, die Beine auf den Polstersitzen des Mittelmeerexpress ausgestreckt und ungereimtes Zeug schwatzend, um meinen Mäzen zu unterhalten.

Man wird vielleicht von mir sagen, ich habe die Sitten eines Androgide. Wird man das sagen?

Im Übrigen hatte ich mit meinen kleinen ausbeuterischen Projekten so wenig Erfolg, dass ich mich rächen will. Ich muss hinzufügen, um unsere Leser in der Provinz nicht unbedacht zu beunruhigen, dass ich Herrn Gide vor allem von dem Tag an nicht mehr ausstehen konnte, an dem ich, wie ich es weiter oben angedeutet habe, einsah, dass ich nie auch nur 10 Centimes aus ihm herausholen würde, und andererseits dieses schäbige Jackett sich erlaubte, aus Gründen der Vortrefflichkeit, den nackten Cherub Theophile Gautier zu verreißen.

Ich ging also zu Herrn Gide. Es fällt mir ein, dass ich zu jener Zeit keinen Frack besaß, und ich bedaure es heute noch, denn ihn zu blenden, wäre mir ein Leichtes gewesen. Vor seiner Villa angekommen, wiederholte ich noch einmal die sensationellen Sätze, die ich im Laufe des Gesprächs einfließen lassen wollte. Kurz darauf klingelte ich. Ein Dienstmädchen öffnete mir (Herr Gide hat keine Lakaien). Man führte mich in den ersten Stock und bat mich, in einer Art kleiner, am Ende eines rechtwinkligen Flurs geborgener Zelle zu warten. Im Vorbeigehen warf ich in verschiedene Räume einen neugierigen Blick und versuchte dabei, mir im Voraus Aufschluss über die Gästezimmer zu verschaffen. Nun saß ich in meiner kleinen Ecke. Durch Butzenscheiben, die ich kitschig fand, fiel Licht auf ein Schreibpult, auf dem einige noch tintenfeuchte Blätter lagen. Natürlich konnte ich es nicht unterlassen, die kleine Indiskretion zu begehen, die Sie sich denken können. So kann ich Ihnen sagen, dass Herr Gide seine Prosa schrecklich züchtigt und den Setzern wohl erst den vierten Wurf übergibt.

Das Dienstmädchen kam mich holen und führte mich ins Erdgeschoss. Als ich den Salon betrat, bellten kurz unruhige Köter. Sollte jetzt die Vornehmheit verlorengehen? Aber Herr Gide wird schon kommen. Ich hatte jedoch reichlich Zeit, mich umzusehen. Moderne und für einen großen Raum wenig passende Möbel; keine Bilder, kahle Wände (schlichte Absicht oder eine Absicht, die etwas schlicht ist) und vor allem eine sehr protestantisch peinliche Ordnung und Sau­berkeit. Einen Augenblick lang brach ich sogar ziemlich un­angenehm in Schweiß aus bei dem Gedanken, ich könn-
te die Teppiche verdreckt haben. Ich würde die Neugierde wahrscheinlich etwas weitergetrieben oder der köstlichen Versuchung nachgegeben haben, mir irgendeine kleine Nippsache in die Tasche zu stecken, hätte ich mich des sehr deutlichen Gefühls erwehren können, dass Herr Gide sich durch irgendein geheimes kleines Loch in der Tapete informierte. Sollte ich mich getäuscht haben, bitte ich Herrn Gide, die öffentlichen und umgehenden Entschuldigungen annehmen zu wollen, die ich seiner Würde schulde.

Endlich erschien der Mann. (Was mir von dieser Minute an am meisten auffiel, war, dass er mir außer einem Stuhl absolut nichts anbot, wo doch um vier Uhr nachmittags eine Tasse Tee, wenn man sparen will, oder besser noch einige Liköre und orientalischer Tabak in der europäischen Gesell­schaft mit Recht als Mittel gelten, diese unerlässliche Stimmung zu erzeugen, die ihr einen gelegentlichen überwältigenden Glanz verleiht.)

– Herr Gide, begann ich, ich habe mir erlaubt, zu Ihnen zu kommen, jedoch glaube ich, Ihnen gleich sagen zu müssen, dass ich zum Beispiel das Boxen der Literatur bei Weitem vorziehe.

– Und doch ist die Literatur der einzige Punkt, an dem wir uns treffen können, entgegnete mir mein Gesprächspartner ziemlich trocken.

Ich dachte: Das ist einer, der lebt!

Wir redeten also über Literatur, und als er mir jene Frage stellte, die ihm besonders am Herzen liegen musste: »Was haben Sie von mir gelesen?«, stieß ich, ohne mit der Wimper zu zucken und indem ich so viel Treuherzigkeit wie möglich in meinen Blick legte, hervor: »Ich habe Angst, Sie zu lesen.« Ich kann mir denken, dass Herr Gide ganz schön mit der Wimper zuckte.

Es gelang mir nach und nach, meine berühmten Sätze einfließen zu lassen, die ich noch vor Kurzem wiederholt hatte, wobei ich mir dachte, der Romancier würde mir dankbar dafür sein, nach dem Onkel nun den Neffen verwenden zu können. Ich warf zuerst ganz lässig ein: »Die Bibel ist der größte Verkaufserfolg.« Kurz darauf, als er so gütig war, sich für meine Eltern zu interessieren: »Meine Mutter und ich«, sagte ich ziemlich witzig, »sind nicht geboren, um uns zu verstehen.«