image

Helga Rohra

Aus dem Schatten treten

Warum ich mich für unsere Rechte
als Demenzbetroffene einsetze

Mit einem Nachwort von
Dr. Elisabeth Stechl und Prof. Dr. Hans Förstl

Schreibassistenz: Falko Piest

image

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren AutorInnen und zum Verlag finden Sie unter: www.mabuse-verlag.de.

Wenn Sie unseren Newsletter zu aktuellen Neuerscheinungen und anderen Neuigkeiten abonnieren möchten, schicken Sie einfach eine E-Mail mit dem Vermerk „Newsletter“ an: online@mabuse-verlag.de.

Elektronische Ausgabe 2014
© 2011 Mabuse-Verlag GmbH
Kasseler Str. 1 a
60486 Frankfurt am Main
Tel.: 069–70 79 96–13
Fax: 069–70 41 52
verlag@mabuse-verlag.de
www.mabuse-verlag.de

Lektorat: Palma Müller-Scherf, Berlin
Umschlaggestaltung: Caro Druck GmbH, Frankfurt am Main
Umschlagfoto: © www.sammyhart.com


ISBN: 978-3-940529-86-2
eISBN: 978-3-86321-160-8

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Zur Autorin

Widmung

  1. Einleitung

  2. Vor den ersten Symptomen

  3. Sommer 2008: Etwas stimmt nicht mit mir

  4. Der erste Arztbesuch – „Gehen Sie spazieren“

  5. Warum bleibt eine Demenz bei Frühbetroffenen lange unerkannt?

  6. Frühjahr 2009: Uniklinik – Warten, hoffen

  7. Die Diagnose – Ich habe das Gefühl, ich falle

  8. Was ist eine Lewy-Body-Demenz und wie sieht ihr Verlauf bei mir aus?

  9. Sommer 2009: Ganz unten – und erste Hilfe bei der Alzheimer Gesellschaft

10. Der Kampf gegen die Ämter

11. Der Termin beim Gutachter

12. Herbst und Winter 2009: Helen Merlin, „Ich spreche für mich selbst“

13. Scham oder die Schwierigkeit, offen mit den Symptomen umzugehen

14. Januar 2010: Stimmig! – Ich trete aus dem Schatten

15. März 2010: Thessaloniki – Auf eigene Faust

16. Mein Alltag und wie ich ihn bewältige

17. 16. März 2010: Wahl in den Vorstand der Alzheimer Gesellschaft München

18. Die Medien

19. Rednerin auf einem Demenzkongress – Warum mich manche Gesprächspartner für gesund erklären

20. Juli 2010: Auf dem Golfplatz

21. Warum der Vergleich von Demenzbetroffenen mit Kindern schief ist

22. Dinge, die ich mir von Gesunden im Umgang mit Menschen mit Demenz wünsche

23. Unscheinbare Hürden im Alltag

24. Kongresse – Vorträge – Veranstaltungen

25. Sichtbarkeit und „Demenz-Ausweis“

26. Meine liebsten Grübeleien

Danksagung

Nachwort

Wichtige Adressen

Bücher und DVDs – Einige Empfehlungen

Zur Autorin

image

Helga Rohra, geb. 1953, arbeitete freiberuflich als Übersetzerin mit dem Schwerpunkt Medizin/Naturwissenschaften. Mit Anfang Fünfzig erfuhr Sie, dass Sie an einer Demenz vom Lewy-Body-Typ erkrankt ist. Diese Form der Demenz erzeugt neben typischen Beschwerden wie Vergesslichkeit und Orientierungsschwierigkeiten auch optische Halluzinationen.

Helga Rohra wurde zu einer Aktivistin, die sich einmischt, um die Sache der Menschen mit Demenz zu vertreten: „Ich bin dement, na und?“, ist ihr Motto. Mit Scharfsinn und einer gehörigen Portion Humor hält Sie unserer Gesellschaft den Spiegel vor: Sie zeigt, wie unbeholfen wir Demenzbetroffenen gegenübertreten. Und wie wenig wir ihnen dabei gerecht werden.

Ihr Buch und Auftritte vor Fachleuten und in der Öffentlichkeit halfen ihr bei der Bewältigung der Diagnose. Als erste Demenzbetroffene überhaupt wurde sie in den Vorstand einer Alzheimer-Gesellschaft gewählt. Inzwischen ist sie unermüdlich auf Reisen und als Vorsitzende der „European Working Group of People with Dementia“ in ganz Europa aktiv.

Kürzlich erscheinen eine Hörfassung Ihres Buches sowie eine Übersetzung in ihrem Herkunftsland Rumänien. Helga Rohra lebt in München.

Bei der Abfassung ihres Buchs begleitete sie Falko Piest als Schreibassistent. Falko Piest ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Demenz Support Stuttgart gGmbH.

Weitere Informationen: www.helgarohra.de

Ich widme dieses Buch allen Betroffenen
und deren Angehörigen
.

1. Einleitung

Mein Name ist Helga Rohra. Ich bin 58 Jahre alt, Simultandolmetscherin, alleinerziehende Mutter und lebe seit über drei Jahren mit der Diagnose Demenz. Ich möchte Ihnen hier erzählen, wie diese Diagnose mein altes Leben über den Haufen warf, welchen Herausforderungen ich mich seitdem stellen muss und wie es mir gelungen ist, meinem Leben einen neuen Sinn zu geben.

Aber keine Angst, meine Erzählung ist weder eine Horrorgeschichte über den „langen Weg ins Vergessen“ noch eine Schilderung der Mühsale, die eine Demenz mit sich bringt – ganz im Gegenteil.

Wenn Sie selbst mit einer Demenz leben oder Symptome an sich bemerken, die auf eine Demenz hinweisen können, möchte ich Ihnen Folgendes zeigen: Eine Demenz ist nicht das Ende! Auch mit einer Demenz können Sie ein erfülltes Leben haben, wenn Sie sich mit der Behinderung arrangieren. Ich will nichts beschönigen. Eine Demenz ist kein Kinderspiel und fordert Sie jeden Tag aufs Neue heraus. Aber man kann damit leben. Glauben Sie mir.

Wenn Sie ein Angehöriger sind oder in Beruf und Ehrenamt mit Menschen mit Demenz arbeiten, möchte ich Sie einladen zuzuhören. Vielleicht kann Ihnen die Lektüre dieses Buches helfen, das Erleben und die Bedürfnisse von Menschen mit einer beginnenden Demenz besser zu verstehen. Aber seien sie gewarnt! In manchen meiner Geschichten über meine Erlebnisse erhalten die Unterstützer von uns Betroffenen einen milden Tadel. Missverstehen Sie das nicht als Angriff, sondern versuchen Sie die konstruktive Kritik anzunehmen.

In diesem Buch spreche ich in allererster Linie für mich selbst und berichte von meinen Erlebnissen als Aktivistin. Andere Betroffenen haben andere Erfahrungen gemacht und bewerten diese auf ihre Weise. Meine Beobachtungen erheben keinerlei Anspruch auf Allgemeingültigkeit, wenngleich ich mir einige Verallgemeinerungen nicht verkneifen konnte. Es ist mir ein wichtiges Anliegen, auf die spezielle Lebenssituation von jüngeren Menschen mit einer beginnenden Demenz aufmerksam zu machen, weil sich die Bedürfnisse von uns sogenannten Frühbetroffenen nicht unerheblich von denen älterer Menschen mit Demenz unterscheiden. Worüber aber meiner Meinung nach viel zu wenig gesprochen wird.

Mir wird häufig die Frage gestellt, wie sich mein Leben durch die Demenz verändert hat, und jedes Mal fällt mir die Antwort schwer, denn ich muss ja das Heute mit dem Damals vergleichen, mich beispielsweise daran erinnern, was mir damals wichtig war, und überlegen, ob es das heute auch noch ist. Erinnerungen sind aber eine trügerische Angelegenheit und das nicht nur bei Menschen mit Demenz. Auch ein gesunder Mensch muss sich ehrlicherweise fragen, ob seine Erinnerungen der Wahrheit entsprechen. Auch gesunde Menschen schönen bewusst oder unbewusst ihre Erfolge und verdrängen ihre Niederlagen. Jedes Mal, wenn wir eine Geschichte erzählen, weicht die Erzählung ein bisschen von der vorherigen Version ab, weil eine Geschichte aus der Vergangenheit immer im Licht und vor dem Hintergrund der Gegenwart erzählt wird. So unterliegen auch „gesunde“ Erinnerungen einem gewissen Wandel. Durch die Demenz wird das Erinnern schwieriger. Die Vergangenheit ist für mich nicht mehr der feste Fels, auf dem das Heute baut. Die Erinnerungen gleichen manchmal eher einem trügerischen Moor, das hier fest und sicher ist, dort aber schwankend und unbeständig, das Dinge verschluckt und sie aber auch unerwartet wieder frei gibt. Die Antwort auf die Frage, welche Veränderungen die Demenz in mein Leben gebracht hat, ist daher immer eine aktuelle – nämlich so, wie ich mich gerade erinnere. Auch aus diesem Grund habe ich das Bedürfnis, Ihnen zu erklären, wie es zu diesem Buch kam.

Am liebsten würde ich Ihnen jetzt erzählen, dass Herausgeber und Verlag mir das Buchprojekt angeboten haben, woraufhin ich mit Begeisterung zustimmte, mich an den Schreibtisch setzte und mit Feuereifer begann zu schreiben. So einfach war es aber leider nicht. Es stimmt schon, ich wurde gefragt, ob ich nicht über meine Erlebnisse als Demenzbetroffene berichten wolle, aber einfach loslegen und schreiben konnte ich nicht. So leicht es mir fällt, zu erzählen und über meine Erlebnisse zu sprechen, so schwer fällt mir das Schreiben von langen Texten, besonders wenn sie von meinen Erfahrungen handeln. Diese Fähigkeit hat mir die Demenz genommen. Durch sie ist das Heraufbeschwören von Erinnerungen so anstrengend geworden, dass ich sie anschließend nicht mehr aufzuschreiben vermag. Wie also sollte aus meinem gesprochenen Wort und meinen kurzen Notizen der Text werden, den Sie heute als Buch in den Händen halten? Die einfachste Lösung wäre ein Ghostwriter gewesen, der wie bei so mancher Autobiografie das Schreiben übernimmt, als Person aber im Verborgenen bleibt. Ein solches Vorgehen kam jedoch weder für mich noch für den Herausgeber oder den Verlag in Frage. Es sollte erst gar nicht der Eindruck entstehen, ich hätte das Buch von Anfang bis Ende allein geschrieben.

Mein Partner bei diesem Buch ist Falko Piest. Er selbst würde seine Funktion als Schreibassistenz bezeichnen. Eine Rolle, die er schon einmal übernommen hat, bei einem anderen Buchprojekt, zu dem ich auch beigetragen habe. 2009 haben wir uns kennengelernt und gemeinsam mein Kapitel in Ich spreche für mich selbst: Menschen mit Demenz melden sich zu Wort verfasst, das noch unter meinem Pseudonym Helen Merlin erschienen ist. Seit dieser Zeit haben wir als eingespieltes Team zusammen mehrere Artikel geschrieben und sind immer wieder auf Veranstaltungen aufgetreten. Falko Piest beschäftigt sich schon von Berufswegen intensiv mit der Betroffenenperspektive. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Demenz Support Stuttgart GmbH widmet er sich ganz der Teilhabe und Selbstartikulation von Menschen mit Demenz.

Für das jetzige Buch hat Falko mir viele Stunden lang zugehört, nachgefragt und mit mir diskutiert. Aus den Tonaufzeichnungen, die wir von unseren Gesprächen machten, ist in Verbindung mit meinen eigenen Notizen und Kalendereinträgen letztlich dieser Text entstanden, nicht am Stück und auch nicht fortlaufend chronologisch, sondern kapitelweise. Immer wenn eine Episode geschrieben war, hat er mir den Text geschickt, so dass ich ihn kommentieren und Änderungswünsche einbringen konnte. Nach und nach ist daraus ein komplettes Buch geworden.

2. Vor den ersten Symptomen

Ich wurde am 19. März 1953 als Helga Anneliese Schuller in Siebenbürgen, Rumänien, geboren, bin dort aufgewachsen und zur Schule gegangen. Als Angehörige der deutschen Minderheit emigrierte ich 1972 zusammen mit meinen Eltern und meinen zwei Brüdern nach Deutschland, wo wir zunächst in einem Auffanglager bei Nürnberg untergebracht waren. Wir sind dann recht schnell nach München zur Schwester meiner Mutter gezogen. Eine meiner ersten Erinnerungen an München sind die Olympischen Spiele 1972, die damals die ganze Stadt in ihren Bann zogen. Das kosmopolitische Flair, die Freiheit und die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten übertrafen alles, was ich in Rumänien erlebt hatte. Für mich war klar, dass ich so schnell wie möglich unabhängig sein und auf eigenen Beinen stehen wollte, schon um der Enge in der Wohnung meiner Tante zu entfliehen. Am liebsten hätte ich Medizin studiert, allerdings wurde mein rumänisches Schulabschlusszeugnis nicht als dem deutschen Abitur gleichwertig anerkannt und so suchte ich mir eine Alternative. Da mich Fremdsprachen schon seit meiner Kindheit fasziniert haben – ich bin ja auch zweisprachig aufgewachsen–, entschied ich mich für eine Ausbildung zur Dolmetscherin. Bei der ersten Gelegenheit schrieb ich mich am Sprachen- und Dolmetscherinstitut München ein, das meinen rumänischen Abschluss akzeptierte. Ich belegte Englisch mit dem Schwerpunkt Naturwissenschaften als Hauptfach und in den Nebenfächern Französisch und Italienisch. Was mir noch fehlte, war eine eigene Wohnung. In den Studentenwohnheimen war kein Zimmer zu bekommen, aber über eine Anzeige in der Zeitung fand ich eine Stelle als Au-pair in einer Industriellenfamilie. Somit hatte ich Kost und Logis frei und bekam obendrein ein mehr als großzügiges Gehalt, sogar der Führerschein wurde mir bezahlt.

In direktem Anschluss an das Staatsexamen fand ich eine Anstellung als Lehrkraft in einer Schule für Fremdsprachenkorrespondenten in Waldkraiburg, dem Wohnort meiner Eltern. Einerseits war es eine schöne Herausforderung für eine frischgebackene Absolventin und so sehr ich die Lehrtätigkeit auch mochte, sprachlich fühlte ich mich eher unterfordert und ich begann deshalb nebenberuflich für Firmen zu dolmetschen.

Nach einer kurzen und glücklosen Ehe ließ ich mich von meinem ersten Mann scheiden, was in den 1970er Jahren in der bayerischen Provinz geradezu ein Skandal war. Um mich nicht ständig für meine Scheidung rechtfertigen zu müssen, verließ ich Waldkraiburg und zog wieder nach München. Dort begann ich, mich als freiberufliche Dolmetscherin zu etablieren. Bei einem meiner Aufträge, einer Besichtigungstour in einer Münchner Brauerei, lernte ich meinen zweiten Mann Volker Rohra kennen, der damals als Lehrer tätig war.

Leider zerbrach unsere Ehe, als unser Sohn Jens in die zweite Klasse kam und ich verließ mit ihm das gemeinsame Haus. Wir zogen in eine kleine Wohnung am Stadtrand von München, in der wir heute noch wohnen. Für Jens war das eine schwierige Umstellung. Ein paar Monate zuvor war bei ihm das Asperger-Syndrom, eine milde Form von Autismus, diagnostiziert worden, wodurch er in besonderem Maße auf Verlässlichkeit und ein stabiles Umfeld angewiesen ist. Für mich begann eine Zeit des genauen Planens und Organisierens. Da ich von meinem Exmann nicht finanziell abhängig sein und meine Brötchen selbst verdienen wollte, musste ich meine Dolmetscheraufträge sehr genau mit den Schulzeiten meines Sohnes koordinieren. Manchmal nahm ich ihn einfach mit, was ihm gefiel und meine Auftraggeber meist nicht störte.

Obwohl unser Alltag sehr strukturiert war und mein Arbeitstag häufig um sechs Uhr begann und bis in den späten Abend dauerte, führte ich ein glückliches Leben. Die Tage waren erfüllt von Aktivitäten, minutiös geplante Termine und Aufgaben hielten mich auf Trab. Sprachen waren mein Leben und ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen, als freiberuflich zu arbeiten. Jeder Tag brachte neue Herausforderungen und ich freute mich, wenn ich mein Bestes geben konnte. Wenn ich nicht als Dolmetscherin gearbeitet habe, unterrichtete ich Studenten und Nachhilfeschüler. Je nach Auftragslage übersetzte ich mal aus dem Englischen, Französischen oder Rumänischen. Wie andere Dolmetscher hatte auch ich mich spezialisiert. Mein Schwerpunkt lag auf der Medizin und der medizinischen Forschung, weil mich in diesem Bereich die Inhalte sehr interessierten. So nahm ich gern und oft an medizinischen Fortbildungen teil. Besonders das menschliche Gehirn mit seiner ungeheuren Leistungs- und Anpassungsfähigkeit faszinierte mich. Es ist schon eine Ironie des Schicksals, dass einmal auch eine gründliche Schulung zur Betreuungskraft für Menschen mit Demenz auf meinem Fortbildungsprogramm stand.

Besonders viel Freude bereitete mir die Arbeit mit den jungen Leuten, die ich unterrichtete. Ich ließ mich gern auf die Schüler ein, versuchte, ihre Stärken zu erkennen, und sie entsprechend zu fördern. Offensichtlich waren die Schüler mit mir zufrieden, denn allein die Mund-zu-Mund-Werbung reichte aus, dass ich immer gut zu tun hatte.

Es war mir immer wichtig, mit Menschen in Kontakt zu sein, ich war auf Harmonie bedacht, schöpfte meine innere Kraft aus der Achtung der Anderen, aus deren Lob und aus meinem Glauben. Ich weiß nicht, ob ich ein religiöser Mensch bin, zumindest gehe ich nicht regelmäßig in den Gottesdienst. Gleichwohl schöpfe ich seit jeher Kraft und innere Stärke aus Gebeten und Meditation. Es liegt mir fern zu missionieren und andere von meinen Einstellungen überzeugen zu wollen. Ich muss den Glauben an Gott aber erwähnen, weil er eine wichtige Kraftquelle in meinem Leben war und ist. Ich bin auch davon überzeugt, dass ich ohne diese Kraftquelle heute nicht in der Lage wäre, von meinen Erlebnissen zu berichten.

Wenn ich über all das schreibe, wird mir bewusst, wie anders mein Leben heute ist. War ich es, die dieses Leben hatte? Und ich spüre eine unendliche Wehmut, aber zugleich auch Stolz.

Ich bin trotzdem ich geblieben, mit und ohne Demenz!

3. Sommer 2008: Etwas stimmt nicht mit mir

Es hat eine Weile gedauert, bis mir auffiel, dass mit mir etwas nicht stimmte. Es war auch nicht an etwas Konkretem festzumachen, vielmehr war es die Summe vieler kleiner Merkwürdigkeiten, die mich irgendwann aufmerken ließ.

An manchen Tagen überforderte mich mein durchstrukturierter Tag, es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren und systematisch zu arbeiten. Zunächst dachte ich, es sei Erschöpfung, die ich mir mit der Arbeitsbelastung in meinem Multitasking-Job erklärte. Das allein war noch nicht besorgniserregend. Dann bemerkte ich immer häufiger, dass mir beim Übersetzen von einer Fremdsprache in eine andere bestimmte Vokabeln nicht mehr spontan einfallen wollten. Eine ungewohnte Situation für mich, da ich hier normalerweise sehr schnell sein konnte. Es war frustrierend für mich, Einschränkungen in einer Fähigkeit zu erleben, wegen der ich als Dolmetscherin gebucht wurde.

Der letzte Auftrag, an den ich mich noch gut erinnern kann, war eine internationale Medizinkonferenz Anfang 2008 zum Thema Multiple Sklerose. Während der Veranstaltung war alles glatt gelaufen, der Auftraggeber war zufrieden. Ungefähr eine Woche nach der Konferenz bot mir der Veranstalter einen Folgeauftrag an. Es sollten noch Skripte von Fachbeiträgen übersetzt werden. Gerne hätte ich den Auftrag angenommen, aber ich war wie vor den Kopf gestoßen. Mir wollte nicht einfallen, was ich bei dieser Konferenz übersetzt hatte. Alles war wie weggewischt, dabei hatte ich mich tagelang in das Vokabular eingearbeitet. „Es kann doch nicht sein, dass du dich an nichts mehr erinnerst“, sagte ich mir, aber es half nichts. Unter dem Vorwand, ich hätte keine freien Kapazitäten, empfahl ich eine Kollegin. Aus Scham und aus Furcht vor Regressansprüchen konnte ich nicht die Wahrheit sagen. Schließlich hätte sich der Veranstalter auf den Standpunkt stellen können: „Wenn sie sich nicht mal mehr an die Inhalte der Konferenz erinnert – wer weiß, was die Rohra da übersetzt hat?“

Immer häufiger kamen andere Symptome hinzu. Beispielsweise fing ich mitten im Satz an, Wörter zu verdrehen. „Schau, da kommt der Hausmeister“, wollte ich sagen – aber ich sagte: „Schau, die Haussocke.“ Ich konnte bestimmte Gegenstände nicht mehr benennen – wie heißt noch mal das Ding, aus dem das Salz herauskommt? „Oh Gott“, dachte ich mir, „das kann ja lustig werden, wenn solche Versprecher am falschen Ort passieren!“ Anfangs lachten mein Sohn und ich noch darüber und wir begangen „diese Perlen“ aufzuschreiben.

Einerseits nahm ich es mit Humor und schob es auf die Müdigkeit. Andererseits war es für mich eine völlig neue, beängstigende Situation. Meine Freunde, Menschen, die mich gut und schon Jahre kannten, sagten, ich spräche plötzlich sehr umständlich, meinten aber auch: „Irgendwie gehört es zu dir, weil du immer gerne auf Umwegen sprichst.“ Wenn ich im Gespräch mit ihnen bestimmte Zusammenhänge nicht gleich verstand oder wenn ich auf eine Frage etwas Unzusammenhängendes antwortete, hörte ich aber auch mal ein: „So blöd kann doch niemand sein!“ Nur mein Sohn klopfte mir dann auf die Schulter und sagte: „Du packst das schon, du brauchst mehr Ruhe.“

Ohne Aufträge blieb ich immer häufiger und länger zuhause. Wenn Jens unterwegs war, in der Schule oder beim Sport, kam eine große Trauer über mich. Ich fühlte mich unfähig, überhaupt irgendetwas zu arbeiten. Es war nicht nur diese Ungewissheit, was mit mir los war, sondern auch die Kraftlosigkeit und das Gefühl, überhaupt nicht richtig denken zu können. Nach einiger Zeit beschloss ich, mit Freunden im Internet zu chatten, um mich über meine Sorgen auszutauschen. Ich saß vor dem Laptop und konnte ihn gerade noch einschalten. „Aber wie geht es weiter, wie lautet mein Passwort?“ Alles war weg.