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Digitale Hysterie

Georg Milzner ist Diplompsychologe und in eigener Praxis als Psychotherapeut tätig. Seit vielen Jahren arbeitet er mit Kindern und Jugendlichen und erforscht den Einfluss der digitalen Medien auf den Menschen. Der Vater von drei Kindern ist Autor mehrerer Bücher; er lebt und arbeitet in Münster und in Düsseldorf.

Impressum

Dieses Buch ist auch als Printausgabe erhältlich:

ISBN 978-3-407-86406-2

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© 2016 Verlagsgruppe Beltz, Werderstraße 10, 69469 Weinheim

Umschlaggestaltung: www.anjagrimmgestaltung.de,

Stephan Engelke (Beratung)

Umschlagillustration: © Thomas Kappes, gutentag-hamburg.de

Lektorat: Katharina Theml

Herstellung: Lelia Rehm

E-Book

ISBN 978-3-407- 22244-2

1 2 3 4 5 20 19 18 17 16

Inhalt

Einleitung

1
Ein kleiner Krieger hat Albträume

Computerkinder in meiner Praxis

Torben – Bildschirm ist nicht gleich Bildschirm

Von Ängsten gebannt

Falscher Alarm

Begründete Entwarnung

Kinder spielen auf der Höhe ihrer Zeit

Das digitale Dilemma

2
Machen Computer uns dümmer?

Wenn aus Zahlen Sorgen werden

Die aufgeheizte Debatte

Marco – Eigensinn als Stärke oder Problem?

Jenseits der Klischees

Was nicht benutzt wird, wird schlechter

Verderben Computerspiele die Sprache?

Intelligent, aber anders

Computerlernen im Labor

Experten in der Irrtumsschleife

3
Wie gefährlich sind Computerspiele?

Spiel: Versuch einer Definition

Erst mal kennenlernen

Ein Update für Eltern

Was lernt man beim Gamen? Ein Selbstversuch

Ins Netz anstatt in den Wald?

Kleinere Welt mit mehr Möglichkeiten?

Auch Wissenschaftler benutzen Computerspiele

Spielen für die Hirnforschung

4
Computersucht oder Leidenschaft?

Ein Blick in die klinische Forschung

Bestimmungsmerkmale einer Sucht

Kann ein Computer eine Droge sein?

Sucht ist etwas anderes als Gewohnheit

Gewohnheitsmäßiger Datenabruf als Erwachsenenproblem

Quentin Tarantino und der Exzess

Von der Absurdität der Medienabstinenz

Die schärfsten Waffen: Anteilnahme und mediale Mischkost

5
Die neue alte Angst: Bildschirm und Gewalt

Hätte man Goethe verbieten müssen?

Der Beginn der Bildschirmgewalt-Debatte

Stimulieren oder abreagieren?

Das Verschwinden des Mitleids

Die reale und die virtuelle Gewalt

Verstörende Trainingseffekte

Gehemmter Spieldrang begünstigt Gewalt

Kein Bildschirmproblem, sondern ein gesellschaftliches Problem

6
Neue Wege für kreative Köpfe: eine Bilanz

Nachbauen und neu erfinden

Ein Automat schreibt Gedichte

Technik und Ausdruck

Warum Computer unsere Kreativität nicht gefährden

Ausflug ins Spieleland

Gaming und Hochkultur

Vielfältig verwendbar, aber kein Schöpfer

7
Das Computerproblem als Beziehungsproblem

Multikommunikation

Wir haben alle ein bisschen ADS

Kleine Aufmerksamkeitsethik

Programmiertes Mitgefühl

Sexualisiert das Internet die Kindheit?

Sexuelle Funktionsstörungen bei Jugendlichen

Digitale Verwahrlosung

Virtuelle Scheinbefriedigung

8
Wie gefährlich sind Facebook & Co.?

Die Skepsis der Tigermutter

Schlechte Laune durch Twitter, Facebook und Co.

Einsam miteinander?

Vernetzung macht nicht glücklicher

Facebook und die Kultur des Narzissmus

Marlene – Selfie und Sexting

Mobbing im Netz

Rohe Umgangsformen

Selbstverteidigung im Netz

Kämpfer im Netz

Überanpassung an die Massen im Netz

Die Zukunft sozialer Netzwerke

9
Selbststeuerung lehren statt Spiele verbieten

Damien – der Computer und die Amygdala

Warum Computerkinder aus evolutionärer Sicht besser dran sind

Wie soll man dosieren?

Versuchen, beide Seiten zu sehen

Erst uns und dann unsere Kinder besser verstehen

10
Was Kinder im digitalen Zeitalter von uns brauchen

Die Zukunft unserer Kinder beginnt heute

Eltern des digitalen Zeitalters

Ungeteilte Aufmerksamkeit schaffen

Das Modellverhalten überprüfen

Miteinander nachdenken

Feedback erwünscht

Sinnlichkeit: das Mehr für die virtuelle Welt

Unterstützung statt Sorge

Von heutigen Problemfällen zu künftigen Experten?

Kinder für das Kommende bereit machen

Danksagung

Anmerkungen

1. Ein kleiner Krieger hat Albträume

2. Machen Computer uns dümmer?

3. Wie gefährlich sind Computerspiele?

4. Computersucht oder Leidenschaft?

5. Die neue alte Angst: Bildschirm und Gewalt

6. Neue Wege für kreative Köpfe: eine Bilanz

7. Das Computerproblem als Beziehungsproblem

8. Wie gefährlich sind Facebook & Co.?

9. Selbststeuerung lehren statt Spiele verbieten

10. Was Kinder im digitalen Zeitalter von uns brauchen

Wir übersehen oft, dass geistige Beweglichkeit der Lohn für dauernde Veränderungen, Gefahren und Sorgen ist.

H. G. Wells, Die Zeitmaschine

für Konrad

für Jakob

für Antonia

Einleitung

I

Ist es nicht verrückt, was mit unseren Kindern geschieht? Sie kommen von der Schule nach Hause, und das Erste, was sie ersehnen, ist das Lenkrad für die Wii oder der Zugang zum iPod. Anstatt nach draußen zu gehen oder zu lesen, Lego zu bauen, mit Freunden zusammenzusitzen oder Fußball zu spielen, ist es der Zugang zum elektronischen Spiel, den sie suchen. Haben sie dann halbherzig die Erlaubnis erhalten, für eine halbe Stunde am Computer zu spielen, so gibt es alsbald ein Problem. Denn die halbe Stunde genügt nicht, es ist eben eine neue Spielmöglichkeit eingetreten, ein neues Level hat begonnen, oder es fehlen nur noch wenige Punkte, um …

Beharren wir, die Erwachsenen, darauf, dass das Gerät jetzt, nach Ablauf der abgesprochenen 30 Minuten abgeschaltet wird, jetzt also, so stehen Katastrophen im Raum. Das geht nicht, nicht sofort, es ist wahnsinnig gemein, dieses Level muss noch gespielt werden, bitte noch nicht, gleich! Aus. Der Kasten ist aus, der Bildschirm schweigt, ein wütendes Kind stürmt aus dem Zimmer, halb weinend und halb ohnmächtig vor Zorn, zumindest aber keinesfalls bereit, mit seiner Zeit nun etwas »Sinnvolles« anzufangen.

Kennen Sie das? Oder kennen Sie Eltern, die das kennen? Es kommt in den meisten Familien vor, in jedem zweiten Haushalt schätzungsweise. Doch es gibt auch die andere Variante, in der Eltern nicht regulierend eingreifen, und da spielt das Kind dann weiter, Stunde um Stunde. Die Stimmungskrise bleibt nun zwar aus, aber der Schaden verlagert sich nur. Kinder, die nach einer mehrstündigen Stimulationsorgie vom Computer kommen, fallen am Morgen durch Unruhe auf. Sie machen den Klassenclown, stoßen seltsame Laute aus (die die Lehrerin nicht kennen kann, weil sie die einschlägigen Spiele nicht kennt), versagen beim Diktat und haben Mühe mit den einfachsten Rechenschritten. Und irgendwie wirken sie stumpf und überhitzt zugleich, sind vom Unsinn magisch angezogen und reagieren doch auf jeden Spaß nur ganz kurz, als müsse alsbald ein weiterer kommen und das Entertainment am Laufen halten.

Was ich hier in kurzen Absätzen entwerfe, das sind Szenarien, von denen ich tagtäglich höre oder die mir tagtäglich begegnen. Manchmal in milderer, oftmals auch in gesteigerter Form. Dazu sehe ich Erwachsene, Eltern zumeist, die entweder von Sorge geprägt oder aber dem Bildschirm selbst schon in auffälliger Weise zugeneigt sind. Entstehen dann, entweder im Umfeld von Vorträgen oder in klinischen Sitzungen, Gespräche, so ist von einem Wunsch nach Orientierung die Rede, von einem Bedürfnis, herauszufinden, was denn nun gut ist an der fortschreitenden Computerisierung und was man den Kindern eigentlich verbieten müsste. Verwirrung ist das hauptsächliche Merkmal dieser Gespräche oder vielmehr der Fragen, die hier im Raum stehen. Verwirrung angesichts von Entwicklungen, die die Erwachsenen mit Sorge erfüllen, während die Kinder und Jugendlichen sie eher begrüßen. Ist dieser Zwiespalt nun etwas, das auf eine Gefahr verweist, die die Nachwachsenden noch nicht zu begreifen vermögen? Etwas, vor dem man sie warnen oder das man zumindest unter Kontrolle behalten muss? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Betrachten wir die Angelegenheit doch einmal anders …

II

Ist es nicht irre, was mit unseren Kindern geschieht? Sie aktivieren ein Smartphone mit lässiger Sicherheit und können nach kurzer Zeit mehr damit anfangen als ihre Väter und Mütter zusammen. Wenn der Computer Probleme macht, dann fingern sie mit der Miene von Fachleuten an Kabeln und Steckern herum und finden mitunter auch heraus, was zu tun ist. Und fährt man mit ihnen virtuelle Autorennen, dann kann es geschehen, dass sie darin die Besten sind. Und wir höchstens die Zweitbesten.

Ja, heutige Kinder finden sich leicht in der Welt der digitalen Technik zurecht. Sie sind begeistert von ihren Möglichkeiten und sie möchten alle gern nutzen. Wo ein Bildschirm ist, dahin wandert ihre Aufmerksamkeit. Und es gibt viele Bildschirme in unserer Welt. Ja, unsere Kinder sind begeistert von der neuen Technologie, die sie umgibt. Und sie lösen Kopfschütteln aus, wenn sie ihren Eltern oder Lehrern im Umgang damit etwas vormachen.

Es besteht kein Zweifel daran, dass Kinder in der digitalen Welt tatsächlich etwas lernen. Nur was? Und braucht man das wirklich? Und schadet es nicht mehr, als es nützt? Dies sind die Fragen, die gegenwärtig Eltern, Lehrer, Erzieherinnen, Kinderpsychologen und Kinderärztinnen beschäftigen. Eine vernünftige Antwort darauf wurde noch nicht gefunden, und das hat zur Folge, dass abermals Verwirrung das öffentliche Bild beherrscht.

Mit den Jugendlichen ist es nicht anders. Sie surfen im Internet und bekommen die Informationen, die sie benötigen, mit derselben Leichtigkeit, mit der sie einen Hamburger verzehren. Zu Facebook und zu Google haben sie ihre Meinung, oftmals eine sehr kritische, aber beide werden dennoch von ihnen benutzt, und das völlig selbstverständlich. Sie können Tage und Nächte mit Online-Spielen verbringen und entwickeln dabei ein strategisches Denken, das sich für Kriege oder Katastrophenszenarien bestens eignen würde.

Aber will man so etwas können? Und wollen wir, dass unsere Kinder das erlernen? Müsste bei Kindern nicht doch eher an der Entwicklung vertrauter und bewährter Fähigkeiten gearbeitet werden? Sollten Kinder also nicht vielmehr Sport treiben, ein Instrument spielen lernen und vor allem sicherstellen, dass sie die eigene Sprache beherrschen? Lernen die Heranwachsenden in unserer Lebenswelt also womöglich einfach das Falsche? Und verlieren damit ihr Gefühl für sich selbst?

Ja, es gibt solche Entfremdungsprozesse. Denn Kinder und Jugendliche werden anders in unserer Welt. Sie entwickeln andere Kompetenzen, aber sie bekommen auch neuartige Störungsbilder. Das leuchtet ein, denn sie stellen sich ja auf die Welt ein, die sie umgibt. Und wenn wir auch weiterhin ins Kino gehen und Bücher lesen, so lässt sich doch kaum leugnen, dass der Computer unsere Welt völlig verändert hat. In seiner Vielgestalt – ob als Laptop oder Industrieroboter, als Smartphone oder Autopilot – ist er, anders als das Kino oder das Buch, gleichsam überall, und es ist nicht übertrieben, in der Digitalisierung den wesentlichen Faktor für die Veränderung unserer modernen Welt zu sehen.

III

Doch auch wir Erwachsenen haben uns verändert. Zwar geht der besorgte Blick in der Regel zu den Kindern hin. Doch könnte er mit derselben Berechtigung auch auf uns selbst ruhen. Möglicherweise sogar mit mehr Berechtigung. Denn wenn man bei Kindern und Jugendlichen davon ausgehen muss, dass sie in die digitalisierte Welt hineinwachsen und daher gar keine andere Wahl haben, als sich computerkundig zu machen, so sind viele Erwachsene in einer anderen Lage. Sie sehen zwar die zunehmende Digitalisierung und sind in der Regel mit ihren Anforderungen vertraut, ja, viele von ihnen sind in die digitale Welt bereits hineingewachsen. Doch sie bejahen diese Welt meiner Erfahrung nach oftmals nicht vorbehaltlos. Eltern nutzen die modernen Medien, weil es bequem ist und mehr Möglichkeiten bietet. Aber sie möchten von ihnen nicht selbst verändert werden.

Doch genau dies geschieht. Geschieht nicht in ferner Zukunft, sondern heute und hier. Wer zum Beispiel ein Smartphone benutzt, verändert seine Kommunikation. Eine eingehende Message ist nun womöglich wichtiger als das soeben mit einem Kind gespielte Spiel. Nicht, weil sie tatsächlich wichtiger wäre. Aber es entsteht der Eindruck, dass die Nachricht an Dringlichkeit das reale Kinderspiel übertrifft. Technik erzeugt den Eindruck von Hierarchie. Und in dieser Hierarchie rutscht die reale Welt gegenwärtig Sprosse für Sprosse nach unten.

Schon als Student habe ich an Untersuchungen mitgearbeitet, die die Veränderung von Kommunikation und Bewusstsein durch Computer erforschten. Das Thema beschäftigt mich bis heute. Allerdings hat sich die Art, wie es mich beschäftigt, ziemlich verändert. Als Psychotherapeut bin ich heute zum Beispiel mit Jugendlichen konfrontiert, die von sich selbst sagen, sie seien süchtig nach Computerspielen. Ich höre Männer sagen, sie wüssten nicht, ob sie sexsüchtig seien, pornosüchtig oder doch eher internetsüchtig: Aber auf jeden Fall würden sie abnorm viel Zeit mit dem Konsum pornografischer Websites verbringen.

Dann wieder gibt es Mädchen, die von dem Bild beherrscht sind, das sie auf ihrer Facebook-Seite abgeben. Und die Schreckensvisionen heimsuchen, in denen sie sozial vernichtet werden. Paranoiker, die erklären, der Bildschirm lese ihre Gedanken. Junge Kiffer, die den Abend und die Nacht mit YouTube verbringen und die irgendwann, wenn sie realisieren, dass ihre wachsende Angst vor der echten Welt da draußen überhandgenommen hat, merken, dass tatsächlich etwas mit ihnen nicht mehr stimmt. Dass sie nämlich an sozialer Kompetenz eingebüßt haben und sich nun schon ganz einfachen Herausforderungen nicht gewachsen sehen. Sich einen Kaffee zu bestellen zum Beispiel oder an der Käsetheke im Supermarkt zu sagen, dass sie wirklich nur sechs Scheiben Gouda haben wollten und keine acht.

Es fällt mir auf, dass alle diese Leiden und Störungsbilder vollkommen andere sind als die, die zu Beginn der allgemeinen Computerisierung untersucht und registriert wurden.

Damals, etwa ab Mitte der 1980er-Jahre, stellten wir Kopfschmerzsyndrome fest als Folge der gewaltigen Flimmerfrequenz, die den Bildschirmen zu dieser Zeit eigen war. Sekretärinnen, die Texte abtippen und in den Computer eingeben mussten, klagten über Sehstörungen und schmerzhafte Spannungen der Augenmuskulatur. Die Bildschirme hatten zu dieser Zeit gewöhnlich einen schwarzen Hintergrund, über den eine weiße oder grüne Schrift lief, und der Umstand, dass der Helligkeitskontrast auf dem Papier, von dem die Bürokräfte den Text übernahmen, genau andersherum war (das gewohnte Schwarz auf Weiß) bewirkte, dass die Augen ständig und in großer Frequenz umakkommodieren mussten.

Hätte man zu dieser Zeit voraussehen können, was alles noch kommt? Vermutlich ja, zumindest zum Teil. Allerdings waren es nicht die Psychologen und Ärzte, die hier Voraussicht bewiesen, sondern Science-Fiction-Autoren und Filmemacher. Doch auch sie wurden erst aktiv, nachdem die Computer sich auszubreiten begannen, nahmen dann aber schnell die destruktiven Möglichkeiten der »Cyberkultur« ins Visier.

Ich denke, dass auch die augenblicklichen Diskussionen um die Computerisierung unserer Lebenswelt nicht ganz so geführt werden, wie sie geführt werden müssten. Aus diesem Grund habe ich dieses Buch geschrieben. Meine Grundannahme ist die, dass die Kinder und Jugendlichen, die heute so begeistert Bildschirmspiele spielen, bei Facebook unterwegs sind und ihre medialen Möglichkeiten nutzen, zum Großteil keineswegs degenerieren, sondern sich vielmehr für eine Zukunft rüsten, die weit über den heutigen Stand hinaus von der digitalen Technologie geprägt sein wird.

Das muss keine Zukunft sein, die wir Erwachsenen toll finden. Um für diese Zukunft gerüstet zu sein, ist keineswegs mehr der alte und ehrwürdige Bildungskanon nötig. Was von diesem gültig und nützlich ist, wird früher oder später auch in der Computerwelt erscheinen. Aber erst einmal sind die Interessen anders gelagert. Denn ob es uns gefällt oder nicht – und die meisten von uns sind hier wohl ambivalent –, die zu erwartende Zukunft wird in immer stärkerem Maß von den digitalen Medien bestimmt sein. Das bedeutet, wer sich heute mit diesen Medien vertraut macht, rüstet sich nicht nur für das, was ist, sondern vor allem für das, was kommt.

Und Kinder müssen nicht nur jetzt zurechtkommen. Sie müssen vor allem später zurechtkommen. Das bedeutet, es lässt sich aus dem, was sie heute können oder nicht können, nur begrenzt ableiten, wie sie später einmal dastehen werden. Was heute noch wie ein Störungsbild wirkt, kann morgen eine Kernkompetenz sein. Und ich bin sicher, dass es sich mit einigen der Probleme, die uns gegenwärtig beschäftigen, genau so verhält. Zum Beispiel hängt die wachsende Unfähigkeit, anspruchsvolle, längere Texte lesen zu können, damit zusammen, dass digitale Medien auf Verkürzung von Information hin trainieren. Diese Verkürzungen zwingen zur Prägnanz. Die in Chatrooms gebräuchliche Formel »tldr« (= too long, didn’t read) verleiht diesem Zwang, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, Ausdruck. Wer sich dieser Anforderung nun fügt, der wird in einer technisierten Welt gut zurechtkommen. Denn in technischen Zusammenhängen wird die knappe, gedrängte Information sehr geschätzt – ganz im Gegensatz zu Spekulationen und ausführlichen Ideenbildungen. Wer also gegenwärtig Mühe hat, mit einem längeren Text fertig zu werden, der ist, wie ich annehme, nicht nur eingeschränkt oder gestört. Sondern passt sich den neuen kommunikativen Anforderungen der technisierten Zukunft an. Wenn meine Vermutung stimmt, müssen wir daher sehr viel genauer als bisher untersuchen, wohin sich unsere Lebensform entwickelt. Und sehr viel offener darüber nachdenken, ob dies denn von uns gewollt wird. Absurditäten wie die, dass einerseits Schulen vermehrt das Internet benutzen und Kinder gleichzeitig Medienabstinenz lernen sollen, sind Anzeichen eines gespaltenen kulturellen Bewusstseins.

IV

Ist es nicht Wahnsinn, wie die Kindheit sich entwickelt? Ja, ohne Frage. Aber wenn wir »Wahnsinn« sagen, können wir zweierlei meinen, einmal etwas, was wir toll finden, und dann etwas, was uns krankhaft erscheint. Und tatsächlich ist das, was Kinder im Zeitalter der Digitalität erleben, auch beides, toll und möglicherweise gefährlich.

Wer aber gibt den Ton an? Und wo liegt der Schwerpunkt der gegenwärtigen Entwicklung? Als Psychologe, der parallel zu seiner klinischen Arbeit auf dem Feld der Bewusstseinsforschung engagiert ist, entsteht für mich ein eigentümlich zwiespältiger Eindruck. Einerseits begrüßen Eltern für gewöhnlich die vielfältigen Möglichkeiten, die die elektronische Welt nun einmal bietet. Dass sich mit digitalen Medien anders lernen lässt als mit Büchern, Bleistift und Zeichenblock, erkennen sie an. Anderseits macht sich in ihnen Sorge breit, und viele von ihnen (vermutlich die meisten) erlegen ihren Kindern Zeitbeschränkungen für den Umgang mit Computern auf. So ganz scheint man dem allgegenwärtigen Medium doch nicht zu trauen. Und in der Tat gibt es, blickt man ein bisschen tiefer, eine Fülle von Sorgen, die sich mit der Computerisierung der Kindheit verbinden. Störungsbilder wie der »Zappelphilipp« werden auf sie zurückgeführt. Und wenn ich einen Vortrag zum Thema Amoklauf halte, dann werde ich hundertprozentig gefragt, ob dafür nicht doch die gewalttätigen Computerspiele verantwortlich seien.

Mit dem vorliegenden Buch will ich Antworten auf brennende Fragen zur Computerisierung der Kindheit und Jugend geben. Ich möchte aber noch mehr. Blicke ich mich nämlich um, so finde ich, dass es schon eine ganze Reihe von Publikationen gibt, die vor den Folgen der Computernutzung in schriller Tonlage warnen und Suchtgefahren, wachsende Gewaltneigung sowie kommende Intelligenzdefizite beschwören.

Ich will mich nicht in die Reihe dieser Autoren stellen; meine Absicht ist eine andere. Zunächst einmal möchte ich der hysterischen Weise, in der hier gewarnt wird, eine ernsthafte und konstruktiv beratende Haltung entgegenstellen. Hysterie steht für Übersteigerung ohne Tiefe, für grellen Effekt bei geringer Substanz. Für genau das also, was wir gegenwärtig wenig brauchen können.

Denn Kinder und Jugendliche lernen gegenwärtig vor allem, sich auf eine neue Lebensform einzustellen. Eine Lebensform, die – ob sie uns nun gefällt oder nicht – nun einmal vor der Tür steht. Eine Lebensform, die in einem so hohen Maß durchtechnisiert sein wird, dass es nur sinnvoll ist, wenn man früh damit zu üben beginnt. Das mag für uns Erwachsene beunruhigend sein. Aber beunruhigen uns wirklich unsere Kinder? Oder beunruhigt uns nicht vielmehr das, was insgesamt an Veränderungen vor der Tür steht?

V

Es sind bei genauerem Hinsehen ziemlich konkrete Fragen, die vor allem Kinder und Jugendliche betreffen. Kann man zum Beispiel computersüchtig oder internetsüchtig werden? Und wenn ja, ab wann spricht man hier von Sucht? Machen Computer uns schleichend immer dümmer? Verlernen wir die einfachsten Dinge, weil wir sie von digitalen Geräten ausführen lassen?

Andere Fragen schließen sich an. Stimmt die Vermutung, dass es zwischen Computerspielen und Gewaltdelikten einen Zusammenhang gibt? Wie verändern sich unsere Beziehungen? Und stimmt es, dass die ständige Computernutzung uns unkreativ macht? Schließlich sind da noch die Fragen, die unsere zukünftige Lebenswelt betreffen. Wie wird die Lebenswelt unserer Kinder aussehen, wenn die Digitalisierung weiter um sich greift? Und wie bereiten wir sie am besten darauf vor? Werden unsere Kinder eine Arbeit finden? Und was benötigen sie für Kompetenzen, um in der kommenden Welt zurechtzukommen?

Wenn Sie sich eine oder mehrere dieser Fragen gelegentlich stellen, dann sind Sie in diesem Buch richtig. Wenn Sie nach Antworten suchen und dabei auch sich selbst unter die Lupe nehmen möchten, dann sind Sie hier sogar sehr richtig. Immer mehr Eltern und Erziehende haben die vordergründigen Lösungen (eine halbe Stunde Bildschirm ist erlaubt, und danach gibt’s Familienkrach) über und möchten ihren Kindern nicht im Weg stehen. Wie aber kommt man heraus aus dem Labyrinth aus Sorge und schlechtem Gewissen, aus unnötiger Strenge und schleichender Angst hinsichtlich dessen, was die neuen Medien mit unseren Kindern anstellen?

VI

Die Antwort hierauf hat zwei Teile: Information und Beziehung. Klare und geordnete Information ist die sicherste Methode, um aus dem Katastrophendenken und den Sorgenschleifen herauszukommen. Daher biete ich Ihnen in diesem Buch aufbereitete Informationen, die Ihnen Ihre wesentlichen Fragen beantworten werden. Mithilfe dieser Informationen werden Sie klarer und sicherer einschätzen können, wie Sie mit Ihren Kindern hinsichtlich des Computers hilfreich umgehen können und was für Sie und Ihre Kinder im digitalen Zeitalter wirklich gut ist.

So gerüstet wird es dann viel leichter sein, auf das zweite Thema zu kommen: Beziehung. Gegenwärtig stecken viele Eltern in einer chronischen Alarmbereitschaft, wenn es um das Thema Computer geht. Sie befürchten, dass irgendetwas mit ihren Kindern schiefläuft, aber sie wissen nicht, was. Dieser alarmierte Zustand teilt sich natürlich den Kindern mit. Sie spüren, wie ein sorgenvoller Blick auf ihnen ruht, sobald sie einen Bildschirm aktivieren. Und sie ahnen, dass bald ein ganz bestimmter Satz kommen wird: »Mach das Ding endlich aus!« Sie alle, ob Kinder oder Jugendliche, kennen diesen Satz und hassen ihn. Obschon er gut gemeint ist, kommt er doch nie gut an. Warum eigentlich? Und warum teilen Kinder die Alarmbereitschaft ihrer Eltern nicht und sind vielmehr begierig auf das, was ihnen die digitale Welt an Möglichkeiten anbietet?

Vielleicht, weil beide zunehmend in unterschiedlichen Welten zu leben beginnen. Tatsächlich ist aus meiner Sicht ein großer Teil des Computerproblems eher ein Beziehungsproblem. In vielen Familien tut sich eine regelrechte Schere auf zwischen Eltern und Kindern. Verbote erzeugen verständnislosen Zorn. Einen Zorn übrigens, der nichts damit zu tun hat, dass Kinder Grenzen nicht respektieren würden. Das Verbot, Alkohol zu trinken, akzeptieren nahezu alle Kinder, die ich kenne. Und die wenigen, die es nicht tun, leiden bereits an schwereren Störungsbildern. Aber was den Computer angeht, gibt es regelmäßig Krach, sobald von zeitlichen Grenzen oder Verboten die Rede ist.

Ich vermute, es liegt daran, dass Heranwachsende die Alarmbereitschaft ihrer Eltern und Erzieher für grundsätzlich überzogen halten. Oft merken sie ja, dass ihre Eltern von dem, wovor sie da warnen, gar nicht wirklich viel verstehen. Deswegen zeigt dieses Buch auch Wege auf, um Eltern und Erzieher aus ihrer Alarmbereitschaft herauszuführen. Diese Alarmbereitschaft ruft nämlich deutlich mehr Probleme hervor, als tatsächlich im Raum stehen. Im Laufe der Kapitel möchte ich zeigen, inwiefern ein Großteil aktueller Sorgen und Befürchtungen entweder unbegründet ist oder einfach an der Sache vorbeigeht. Und warum das einfache Bildschirmverbot nicht nur als willkürlich und sinnlos erlebt wird, sondern sogar negative Folgen haben kann.

Denn Computerkinder sind gesünder – viel gesünder, als der Alarmmodus ihnen zugestehen will. Mein Ziel ist, dass es zwischen Eltern und Erziehern, Kindern und Jugendlichen hinsichtlich der digitalen Welt zu neuen, besseren Auseinandersetzungen und zu tieferer Anteilnahme kommt. Echte Auseinandersetzung und interessierte Anteilnahme nämlich führen dazu, dass der wichtigste Bestandteil des Aufwachsens – wohlwollende Aufmerksamkeit für das, was ich bin und tue – wieder zunehmen kann. Überall da aber, wo die Meinungen zum Computer zwischen Eltern und Heranwachsenden auseinanderklaffen, bekommt paradoxerweise vor allem einer die Aufmerksamkeit: der Computer.

1

Ein kleiner Krieger hat Albträume

Beginnen wir einfach mit Franz. Franz ist neun Jahre alt. Gemeinsam mit seinem elf Jahre alten Bruder Milan spielt er gelegentlich »Call of Duty«, einen Ego-Shooter. Ego-Shooter, die eigentlich First-Person-Shooter heißen, sind Spiele, bei denen die Perspektive des Spielers mit der der Spielperson eins ist. Der Spieler bewegt sich in einem dreidimensionalen Spielgelände und führt entweder eine militärische Aufgabe aus, oder er ist Teil eines Kampfgeschehens. So bestehen seine Aktionen zum größten Teil darin, mittels verschiedener Waffen einen Auftrag zu erfüllen bzw. selbst davonzukommen und möglichst viele Gegner zu eliminieren.

Nicht eben jugendfrei, würde man sagen. Das sind diese Spiele tatsächlich nicht. Und wenn man fragt, wo denn Franz und sein Bruder das Spiel herhaben, würde man auf Kopfschütteln stoßen. Sie können es nicht gekauft haben – eigentlich. Zumindest nicht in einem offiziellen Geschäft. Aber sie können es natürlich auf eine Weise erworben haben, die vom Jugendschutz nicht eingeplant war. Auf dem Schulhof zum Beispiel. Oder über einen anderen Umweg.

Wenn Kinder Ego-Shooter spielen, dann ist der Fall meist simpel. Entweder gibt es das Spiel schon in der Familie (der Vater spielt es gern), und das Kind kommt leicht daran. Oder es geht, wie hier, um drei Ecken. Der Bruder von Franz nämlich, Milan, hat ja Freunde. Und weil er selbst elf und eher frühreif ist, sind die ebenfalls elf und mitunter darüber. Und auch die Freunde haben manchmal Brüder … Und so kommt Franz an Spielmöglichkeiten, die nicht für ihn bestimmt sind.

Was passiert mit einem Jungen, der so früh »Ballerspiele« kennenlernt? Fällt er auf dem Schulhof auf? Will er sich ständig prügeln? Stört er den Unterricht, indem er eine Pistole imitiert und »Bam-bam-bam« macht? Nichts von alledem. Von außen würde eigentlich niemand etwas merken. Wenn ich einer Lehrerin mitteilen würde, dass ihr Schüler Ego-Shooter spielt, würde sie vermutlich einen Riesenschrecken bekommen. Und sagen, er sei doch gar nicht so.

Wie denn? Eben so, wie man sich einen regelmäßigen »Ballerspieler« denkt: gesteigert aggressiv und ohne Gefühl für die anderen, dick und sprachlich verkümmert. Das alles ist Franz nicht. Er ist ein drahtiger, hübscher Junge, der sich eher zu schnell bewegt als zu langsam. Sogar seine Noten sind völlig in Ordnung. Franz zeichnet gut, und gern überdies. Mancher wundert sich über die realistischen Figuren, die er hinbekommt. Und in Mathe bekommt er gute Noten, ohne sich sonderlich anzustrengen. Alles gut, oder? Ein normaler Junge, der vermutlich seine Empfehlung fürs Gymnasium bekommt oder auf die Gesamtschule gehen wird.

Nur ein Problem gibt es da. Und das sind seine Albträume. Die Träume, die Franz mir schildert, haben alle denselben Verlauf: Eine männliche Gestalt beugt sich über ihn, und Franz liegt wie angenagelt am Boden, ohne sich regen zu können. Schreiend wacht er auf. Was sind das für Träume? Die Träume eines missbrauchten Kindes? Das war der erste Gedanke der Mutter, als sie mitbekam, dass den Jungen etwas quält. Ihr Weg führte sie dann zur Erziehungsberatung und von dort in eine Praxis für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Franz wurde viel befragt und die Leute waren nett zu ihm. Auf traumatische Kontakte mit Erwachsenen ergab sich aber kein Hinweis. Was keiner wusste: Es gibt in »Call of Duty« eine charakteristische Szene, und wenn man die kennt, dann bekommt man eine Idee. Als Franz also in meiner Praxis erscheint – die dritte therapeutische Anlaufstelle inzwischen, da man glaubt, als Hypnotherapeut könne ich vielleicht auf die Träume des Kindes einwirken –, kommen wir nach kurzer Zeit auf das Spiel zu sprechen, das er spielt.

Es ist eine ganz einfache Situation. Ich habe nach Computerspielen gefragt und, einer vagen Vermutung folgend, hinzugefügt, dass mir die Szene wie aus einem Spiel vorkomme. Franz wollte wissen, wie ich darauf käme, und ich antwortete, so sähen Szenen aus Spielen nun einmal aus. Szenen aus Filmen natürlich auch, es könnte auch die Szene aus einem Film sein.

Nein, nein, nein, erwiderte Franz, das mit dem Spiel stimme schon. Nur, seine Eltern dürften das nicht wissen. Denn dann wäre das Spiel weg, und der Bruder und seine Freunde bekämen Ärger. Ich fragte ihn, ob er das Spiel denn weiterspielen wolle. Sei das nicht ungefähr so, als würde man das Essen weiteressen, von dem man schreckliche Magenkrämpfe bekomme? Er wolle es nicht mehr spielen, sagte Franz. Das nicht. Aber der Ärger … Wir einigten uns darauf, die Eltern ein Stück weit einzuweihen. Dass die Schreckensträume mit einem Bildschirmspiel zu tun haben, sollten sie wissen. Denn es bedeutete Entwarnung in anderer Richtung. Genaueres über das Spiel müssen sie allerdings nicht wissen – es genügt, wenn Franz sich davon fernhält. Für diese Ablösung und auch zur Bearbeitung der Träume würde er noch für einige Sitzungen – drei oder vier – zu mir kommen. In diesen Sitzungen würde ich Franz in kleinen Imaginationen und Trancen mit der Botschaft versehen, dass er weiß, dass es sich bei den Traumbildern um ein Spiel handelt. Und dass er im Traum dasselbe tun kann wie auch im realen Leben: Er kann den Aus-Knopf drücken.

Computerkinder in meiner Praxis

Ein Teil meines Berufes hat mit dem, was während eines Computerspiels geschieht, einige Ähnlichkeit. Denn ich bin Hypnotherapeut und Hypnoanalytiker, womit gemeint ist, dass ich unter anderem mit den Mitteln der Hypnose auf das Unbewusste meiner Patienten therapeutisch Einfluss nehme.1 Trancen und hypnoide Zustände aber sind Bewusstseinsebenen, die auch im Computerspiel eine Rolle spielen, wie ich unten noch zeigen werde.

Die Art des Einflusses, den ich in meiner therapeutischen Tätigkeit auf meine Patienten nehme, kann ganz unterschiedlich sein: Oftmals geht es darum, mithilfe der Hypnose herauszufinden, was unbewusst mit einer bestimmten Symptomatik erreicht werden soll oder wie der Patient unbewusst schon versucht hat, einen bestehenden Konflikt zu lösen. Öfter noch versuche ich herauszufinden, was der Patient oder die Patientin in sich für verborgene Lösungsmöglichkeiten hat. Und diese dann an die Oberfläche des Bewusstseins zu bringen.

In einem Menschen geht während einer Hypnotherapie mitunter eine ganze Menge vor. In jenem Zustand, den man »Trance« nennt, erlebt er stärker fokussiert und kann sinnlicher wahrnehmen. Die Zonen unseres Gehirns, die für Wahrnehmung und Repräsentation verantwortlich sind – zum Beispiel der visuelle Cortex, der sowohl beim äußeren Sehen als auch beim Tagträumen und bei Halluzinationen arbeitet –, sind in diesem Zustand hochaktiv. Das bedeutet, ein Mensch in hypnoider Trance sieht vermehrt innere Bilder oder hört innere Stimmen, spürt Körpergefühle tiefer oder kann sich über die Brücke eines bestimmten Geruchs an eine Situation erinnern, die mit genau diesem Geruch verknüpft war.

Vor allem aber erlebt mein Patient die Zeit ganz anders, und er reagiert weniger auf äußere Reize. Wenn ich während einer Hypnose einen Stein aufs Parkett fallen lasse, dann wendet er nicht wie sonst den Kopf und erschrickt, sondern er bleibt still und regungslos liegen, obgleich er den Aufschlag gehört hat. Wenn ich ihn aus der Trance zur äußeren Wirklichkeit zurückbegleite, dann weiß er oft nur noch wenig von dem, was ich in der Zwischenzeit gesprochen habe. Die Zeit, die er mit geschlossenen Augen in sich ruhte, erscheint ihm viel kürzer als die, die real vergangen ist. Zwanzig Minuten fühlen sich an wie fünf oder höchstens zehn. Das Zeitgefühl ist gestört, oder besser: Das Gefühl für unsere künstlich gemessene Zeit verschwindet. Stattdessen wird die Zeit in psychischen Einheiten gemessen. Die aber haben etwas mit der Dichte und der Konzentration der Aufmerksamkeit zu tun.

Wenn ich Kinder oder Jugendliche am Bildschirm spielen sehe, dann scheinen sie mir oft in einem vergleichbaren Zustand zu sein. Das Gefühl für die äußere Zeit ist weg, und das ist der Grund, warum ein Kind mit der Maßeinheit »noch zehn Minuten« beim Computerspielen nichts anfangen kann. Die Aufmerksamkeit ist gebannt, und das Kind nimmt weder links noch rechts viel wahr. Was auf dem Bildschirm geschieht und was dazu an Geräuschen erklingt, suggeriert eine eigene Wirklichkeit. Und weil das Gehirn zwischen »real« und »nicht real« nicht immer verlässlich trennt, geht der Jugendliche oder das Kind noch einmal tiefer und dichter in die Spielwirklichkeit hinein.

Schlimm? Eigentlich nicht. Zumindest nicht nur. Auch beim Lesen kann sich der Bewusstseinszustand so verändern, dass wir erstaunt sind, dass es draußen warm ist und unsere Freundin sich sonnt, während wir gerade einen Thriller lesen, der in der Antarktis spielt. In solchen Augenblicken nimmt das Bewusstsein die tatsächliche Wärme in gewisser Weise nicht an. Und lässt sich ein auf die Erfahrung einer Welt, in der den Agenten der Speichel auf den Lippen gefriert. Was hier passiert, nennt man Suggestion. Suggestion bedeutet, mit den Mitteln der Sprache oder eines Mediums den Eindruck einer anderen Wirklichkeit hervorzurufen. Ein Thriller-Autor muss das können. Auch ein Hypnotherapeut arbeitet mit Suggestion. Und ein Game-Designer? Die Antwort liegt auf der Hand. Da es sein Ziel ist, den Spieler möglichst zu bannen und mit dem Spiel zu faszinieren, wird er so suggestiv wie möglich arbeiten.

Suggestion ist eine bedeutende Macht. Aber wie viele große Kräfte hat sie zwei Seiten. Sie kann einerseits Menschen zu sich selbst führen und ihre Freiheit vergrößern. Doch sie kann Menschen auch in einen Bann schlagen, der schlecht für sie ist und sie davon abhält, ihr wirkliches Leben zu leben.

Ich denke, dass vieles, was Menschen heute von der Bildschirmwelt befürchten, hiermit zusammenhängt. Dass nämlich der Bildschirm einen Menschen dazu bringen kann, an seinem Leben vorbeizuleben. Und das kann er in der Tat. Später in diesem Buch werden Sie jemanden kennenlernen, bei dem genau das passiert ist – oder zu passieren drohte. Das Eigentümliche dabei ist: Es wird niemand sein, der in die gängigen Sorgenschemata gehört. Kein Schulverweigerer und kein trauriger Nerd. Und dennoch einer, der an seinem Leben vorbeizugehen drohte. Es hat jedoch gute Gründe, dass ich Ihnen zuvor noch jemand anderen vorstellen möchte. Eine ganz normale Mutter mit ihren ganz normalen Fragen.

Torben – Bildschirm ist nicht gleich Bildschirm

Eine besorgte Frau, Ende 30, nennen wir sie Nora W., macht sich Sorgen um ihren Sohn Torben, der immer ein aufgeweckter Junge war. Aber seit einem halben Jahr hat er »Mario Kart« entdeckt, und seitdem liebt er es, Rennen zu fahren. Wenn möglich, stundenlang. Das hat Nora W. nun unterbunden, denn die Zeit, die der Junge vorm Bildschirm verbringt, wird ihr einfach zu lang. Er darf so schon eine Dreiviertelstunde fernsehen, und wenn nun noch eine weitere halbe Stunde »Mario Kart« dazukommt, dann sind das eine und eine Viertelstunde, also für einen Zehnjährigen ganz klar zu viel. Oder?

Würden Sie einen Jungen von zehn Jahren so lange am Bildschirm spielen lassen? Ich ja, und auch noch länger. Allerdings hätte ich ein paar Voraussetzungen zu benennen. Zunächst einmal, dass die Hausaufgaben gut erledigt sind. Sodann, dass er auch etwas Zeit an der frischen Luft verbringt. Und dann, dass auch Freunde mitmachen können.

Nora W. ist erstaunt. Sie hatte einen besorgteren Therapeuten erwartet. Erst als ich sie frage, wie Torben denn beim Spielen von »Mario Kart« aussieht und ob sich das ihrer Meinung nach von seinem Bild beim Fernsehen unterscheidet, wird sie nachdenklich. Ja, bei »Mario Kart« ist er wilder. Ist das schlimm?, fragt sie.

Ich weiß es noch nicht, antworte ich. Möglicherweise nicht. Aber doch interessant. Denn wie die meisten Mütter und Väter schert Nora W. alles, was mit dem Bildschirm zu tun hat, über einen Kamm. Dies ist ein Trend, dem auch Fachleute folgen.2 Aber ist das richtig? Wahrscheinlich nicht. Denn Fernsehen ist eine ganz andere Tätigkeit, als zum Beispiel ein Turnier am Computer auszufechten. Ersteres ist rezeptiv, also aufnehmend, während Letzteres zwar nicht produktiv, aber doch erheblich aktiver ist. Wenn man das erste Mal ein bewegungsintensives Bildschirmspiel spielt, dann kann es geschehen, dass man am nächsten Tag Muskelkater hat.

Wie kommt es nun, dass man zwei anscheinend gar nicht so vergleichbare Zeitvertreibe – Fernsehen und Spielen – einfach über einen Leisten schlägt? Vordergründig geht es natürlich um den Bildschirm. Er ist ganz einfach das verbindende Element zwischen dem Fernseher und dem Computer. Allerdings: »Bildschirm« meint natürlich nicht ganz dasselbe wie »Computer«. Aber wo Ängste im Raum sind, da wird meist wenig trennscharf gedacht. Und so kann eine in der Zeitschrift Science veröffentlichte Studie klar belegen, dass ein Sechstel des Übergewichts von Erwachsenen und Kindern auf den Konsum von TV und Computer zurückzuführen sei.

Konsum von TV und Computer? Hier hält man, wenn man Sprachgefühl besitzt, schon inne. Eine Frühabendserie kann ich konsumieren, eine am Computer zu erledigende Aufgabe eher nicht. Gemeint ist in der Studie wohl etwas anderes, nämlich die sitzende Lebensweise vorm Bildschirmgerät. Und was diese angeht, so gibt es in der Tat seit Jahrzehnten alarmierende Berichte zuhauf. Der Haken ist nur: Die Berichte sprechen von nichts, was spezifisch den Computer beträfe.

Warum diese falschen Verknüpfungen? Vielleicht liegt es daran, dass wir da, wo wir einer Sache nicht sicher sind, gern zu Verallgemeinerungen greifen. Schokolade ist süß, Bonbons sind süß, Fanta ist auch süß. Was süß ist, ist ungesund und muss also begrenzt werden. Wer schon eine halbe Tafel Schokolade verputzt hat, bekommt nun kein Bonbon mehr. Aber so eine Gleichung geht hinsichtlich des Bildschirms ganz einfach nicht auf. Weil nämlich Zucker sich einfach nur anreichern würde, während es am Bildschirm zu keiner Anreicherung kommen kann, weil es da um eine Vielzahl von Aktivitäten geht (spielen, Probleme lösen, sich körperlich ausagieren) und keineswegs um reinen Konsum. Der findet nur da statt, wo zum Beispiel Filme geschaut werden, also das Kind nicht selbst etwas macht.

Nora W. ist nachdenklich geworden. Ob ich befürworten würde, dass Torben mit seinem Vater auch ein bisschen länger »Mario Kart« fährt? Grundsätzlich ja, natürlich. Wenn beide eine Freude dabei teilen können, ist das ja auch ein wirkliches Miteinander. Vielleicht mit Flippern oder Kicken vergleichbar, ganz sicher aber nicht mit Fernsehen.

Zwei Wochen später höre ich interessante Dinge. Torben spielt mehr und sieht weniger fern. Nach wie vor liebt er seine zwei, drei Sendungen. Aber vor allem liebt er es, Rennen zu fahren, und er wird immer besser darin. Sein Vater übrigens auch, wenngleich der Junge schnellere Fortschritte macht. Nora W. fühlt sich ein bisschen an Carrera-Bahnen erinnert. Sie lacht, als sie das sagt.

Von Ängsten gebannt