Cover

Stürme im Gehirn

Der Amerikaner Jon Palfreman ist emeritierter Professor für Journalismus an der University of Oregon. Er hat sich auf Wissenschaftsjournalismus, vor allem Medizingeschichte, spezialisiert und viele Auszeichnungen für seine Texte bekommen (u. a. Victor Cohn Prize for Excellence in Medical Science Reporting). 2011 erkrankte er an Parkinson. Er lebt in Lexington, Massachusetts.

Impressum

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Brain Storms: The Race to Unlock the Mysteries of Parkinson’s Disease« by Jon Palfreman

© 2015 by Jon Palfreman

Published by arrangement with Scientific American, an imprint of Farrar, Straus and Giroux, LLC, New York.

Dieses Buch ist auch als Printausgabe erhältlich:

ISBN 978-3-407-86402-4

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52 a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen.

www.beltz.de

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe:

© 2016 Verlagsgruppe Beltz, Werderstr. 10, 69469 Weinheim

Umschlaggestaltung: www.anjagrimmgestaltung.de,

Stephan Engelke (Beratung)

Umschlagabbildung: © Shutterstock/Lightspring

Lektorat: Tina Spiegel, Frankfurt a. M.

Herstellung: Lelia Rehm

E-Book

ISBN 978-3-407-22246-6

Inhalt

Prolog

1
Die »Entdeckung« von Parkinson

2
Dopamin und die Parkinson-Symptome

3
Die »eingefrorenen Junkies« von San José

4
Sieg des Geistes über die Materie

5
Die Kraft des Patienten

6
Ein glücklicher Zufall im OP-Saal

7
Fitness auf Rezept

8
Neuronentausch: neu für alt

9
Schutz der Neuronen

10
Neudefinition von Parkinson

11
Vererbung von Parkinson

12
Wenn gute Proteine aus der Art schlagen

13
Autopsien am Fließband

14
Von Alzheimer lernen

15
Ein Lebenselixier für Parkinson-Kranke

16
Stürme im Gehirn

Danksagung

Anmerkungen

Prolog

Im Juni 2012 besuchte ich den angesehenen Neurowissenschaftler Bill Langston in seinem Haus in Los Altos Hills in Kalifornien. Wir hatten uns schon ein Vierteljahrhundert zuvor getroffen, als ich für die Serie Nova von PBS einen Dokumentarfilm mit dem Titel The Case of the Frozen Addicts drehte. Der Film erzählt die Geschichte von sechs jungen Junkies in San José, die auf mysteriöse Weise die Symptome von Parkinson zeigten, einer neorodegenerativen Krankheit, die normalerweise nur bei älteren Menschen auftritt. Bill Langston, der damals noch ein unbekannter Mediziner war, hatte die unglücklichen Personen ausfindig gemacht, die in der Psychiatrie und in Gefängniszellen schmachteten, und ihre Symptome vorübergehend mit dem Medikament L-Dopa abgestellt, dem wichtigsten Medikament, das bei Parkinson verschrieben wird.

In den nächsten paar Monaten lösten Langston und seine Kollegen das Rätsel. Es stellte sich heraus, dass sich die jungen Leute eine schlechte Dosis synthetischen »Designer«-Heroins gespritzt hatten. Zu ihrem Unglück war dem Chemiker, der die Droge in seinem Hinterzimmerlabor zusammengebraut hatte, bei der Synthese ein schrecklicher Fehler unterlaufen, wodurch versehentlich eine neurotoxische Verunreinigung namens MPTP erzeugt wurde.

Während das für die Opfer tragisch war, erlangte das tödliche Molekül jedoch große Bedeutung für die Wissenschaft. Wissenschaftler waren bei ihren Anstrengungen, Parkinson zu untersuchen, bis dato stark eingeschränkt, weil der Mensch das einzige Lebewesen ist, das Parkinson auf natürliche Weise bekommt. Um wahre Fortschritte bei der Untersuchung von Krankheiten zu machen, benötigen sie aber Versuchstiere, sie brauchen ein »Tiermodell«. MPTP änderte für die Wissenschaftler, die an Parkinson interessiert waren, daher alles. Wie sich herausstellte, konnte das Neurotoxin bei Affen so schnell wie bei den sechs Junkies Parkinsonismus auslösen. Bill Langston stellte fest: MPTP war »ein aufregendes Elixier … Plötzlich hatten wir Möglichkeiten zu untersuchen, warum Zellen bei Parkinson absterben. Mit dem Tiermodell konnten wir neue Medikamente genauso schnell testen, wie wir sie herstellten.«

Langston wurde bald zu einem international anerkannten Neurowissenschaftler und gründete sein eigenes Forschungsinstitut in Sunnyvale, Kalifornien: das Parkinson’s Institute and Clinical Center. Und ich wurde mit meinem Film als Dokumentarfilmer und Wissenschaftsjournalist bekannt.

An diesem Nachmittag in Los Altos Hills sprach ich mit Bill drei Stunden lang über die bemerkenswertesten Fortschritte in der Parkinson-Forschung, die in den letzten zwei Jahrzehnten erzielt worden waren. Unser Gespräch ging vom »neural grafting«, also der Transplantation von Nervenzellen, und der Gentherapie über neue Medikamente und therapeutische Impfstoffe bis zur Genetik und Neurochirurgie. Es war faszinierend. Aber ironischerweise war ich diesmal nicht als Journalist bei Bill. Es gab vielmehr einen triftigen persönlichen Grund für mein neu erwachtes Interesse an Parkinson: Ich hatte die Krankheit mit 60 Jahren selbst bekommen.

Ich erfuhr von meinem Schicksal an einem regnerischen Januarmorgen im Jahre 2011. Mein Arzt, der sich Sorgen wegen eines leichten Zitterns meiner linken Hand machte, hatte mich an das Zentrum für Bewegungsstörungen der Oregon Health and Science University in Portland überwiesen. Ich war nicht besonders beunruhigt. Meine Mutter hatte die meiste Zeit ihres Lebens ein ganz ähnliches Symptom, das von einer relativ harmlosen Krankheit verursacht wurde, einem essentiellen Tremor. Ich war überzeugt, dass mein Tremor die gleiche Diagnose bekommen würde. Ein junger Neurologe, Seth Kareus, untersuchte mich. Nachdem er sich meine Krankengeschichte angesehen hatte, machte er eine Reihe klinischer Tests mit mir. Er bat mich, verschiedene motorische Aufgaben zu absolvieren: Ich sollte meine Hände hin und her drehen, mit dem Zeigefinger den Daumen berühren oder so schnell wie möglich meinen Fuß aufsetzen. Er tastete die Muskeln beider Arme und Beine ab, um die Stärke und den Tonus zu bestimmen. Dann testete er meine Reflexe mit einem Reflexhammer. Er beobachtete, wie ich einem sich bewegenden Objekt mit den Augen folgte, und ließ mich den Flur auf und ab gehen.

Nachdem er mich 20 Minuten getestet hatte, sagte er mir, ich habe Parkinson. Die Symptome seien noch sehr schwach und auf meine linke Seite beschränkt, aber die Krankheit würde unweigerlich fortschreiten, und nach einer gewissen Zeit würde ich Medikamente nehmen müssen.

Als ich die Klinik verließ, stand ich unter Schock. Ich brauchte mehr als ein Jahr, um diese Neuigkeit zu verarbeiten, ein Jahr, in dem ich mehrere Verdrängungsstrategien anwandte. Die erste war, die Diagnose geheim zu halten. Der einzige Mensch, den ich in den ersten drei Monaten einweihte, war meine Frau. Dann kam die Verleugnung. Ich stellte die Diagnose infrage und konsultierte andere Neurologen: Alle bestätigten die Parkinson-Diagnose. Ich entwickelte Selbstmitleid. Und ich war völlig isoliert mit der Diagnose, bemühte mich aber auch nicht, mit anderen Parkinson-Kranken in Kontakt zu treten. Ganz im Gegenteil: Ich wollte nichts mit ihnen zu tun haben. Diese zerbrechlichen, gebückten und zitternden Gestalten, die in den Wartezimmern der Neurologen saßen, machten mich traurig und wütend. Würde es mir auch einmal so gehen?

Erst allmählich fing ich an, meine Gedanken zu ordnen und einen klareren Blick zu bekommen. Da an meiner Krankheit kein Zweifel mehr bestand, machte es Sinn, mich damit auseinanderzusetzen. Ich stürzte mich auf alles, was es über Parkinson zu lesen gab, und sprach mit Neurowissenschaftlern und Ärzten, um meine missliche Lage verstehen zu können. Das hatte mich auch dazu bewegt, im Juni 2012 nach Los Altos Hills zu fahren, um von Bill Langstons geradezu enzyklopädischen Kenntnissen über Parkinson zu profitieren. Immerhin war ich Wissenschaftsjournalist und hatte über diese Krankheit berichtet. Ich war besser über den Stand der Parkinson-Forschung unterrichtet als die meisten anderen und konnte mir gut vorstellen, was mir die Zukunft bringen würde. Parkinson zu verstehen und Heilungsmöglichkeiten zu finden war nun in einem ganz tief greifenden Sinn zu meinem journalistischen Schwerpunkt geworden.

Parkinson ist keine neue Krankheit. Ihre merkwürdigen Symptome wurden zu allen Zeiten beschrieben. Ein ägyptischer Papyrus aus dem 12. Jahrhundert v. Chr. schildert beispielsweise einen alten König, der sabberte − ein Symptom von fortgeschrittenem Parkinson. Alte indische Ayurveda-Texte erwähnen eine progressive Krankheit, die durch Tremor und Bewegungsunfähigkeit charakterisiert wird. Der griechische Arzt Galen unterschied sogar schon zwei Varianten von Parkinson-Tremor: den Ruhetremor und den Aktionstremor. Auch Leonardo da Vinci beschrieb Menschen mit Parkinson-Symptomen: »Das dürfte wohl klar sein, denn du siehst doch, wie Gelähmte oder Menschen, die vor Kälte schlottern oder steif vor Frost sind, ihre zitternden Glieder, z. B. den Kopf oder die Hände, ohne die Erlaubnis der Seele bewegen. Mit allen ihren Kräften kann die Seele also diese Glieder nicht am Zittern hindern.«1

Auch in Shakespeares Heinrich VI. ist im 2. Akt ein klarer Bezug zu Parkinson zu finden, wenn der Metzger Dick (in der deutschen Übersetzung heißt er Märten) fragt: »Was zitterst du, Mann?« Worauf Lord Say antwortet: »Der Schlagfluss nötigt mich und nicht die Furcht.«2 Die Forschung ist zudem übereinstimmend der Ansicht, dass der Philosoph Thomas Hobbes, der im 17. Jahrhundert lebte, mit großer Wahrscheinlichkeit an dieser Krankheit litt.

Es war dann aber James Parkinson (1755–1824), der 1817 in seinem Essay on the Shaking Palsy die erste medizinische Beschreibung der Krankheit lieferte, die seinen Namen trägt. Parkinson stützte seinen bemerkenswerten Text über die »Schüttellähmung« auf sechs Fälle, die er entweder als Patienten untersucht oder in seinem Londoner Viertel gesehen hatte. Seine Schilderungen überzeugen in ihrer Klarheit auch heute noch nach über zwei Jahrhunderten. Er schrieb: »Die ersten wahrgenommenen Symptome sind ein leichtes Schwächegefühl sowie die Neigung, an einem bestimmten Körperteil zu zittern − manchmal am Kopf, für gewöhnlich jedoch an einer Hand oder einem Bein.«3 Hier geht es um den Ruhetremor, den ich und viele andere von Parkinson Betroffene jeden Tag bewältigen müssen.

Was wissen wir 2016 über diese ungewöhnliche Krankheit? Weltweit gibt es etwa sieben Millionen Parkinson-Kranke, davon eine Million in den USA. Jedes Jahr kommen in den USA 60 000 neue Fälle hinzu, in Deutschland kommen zu ungefähr 350 000 Parkinson-Kranken jährlich 12 500 dazu.4 Parkinson ist bei Männern häufiger als bei Frauen (ausgenommen in Japan),5 und die Häufigkeit nimmt mit dem Alter zu.6 Von den über 80-Jährigen bekommen zwei Prozent die Krankheit. Bemerkenswerterweise ist sie unter Rauchern und Kaffeetrinkern weniger häufig. Jeder kennt jemand mit Parkinson, und auch viele Prominente litten oder leiden unter der Krankheit: Janet Reno (frühere Justizministerin der USA), der Intel-Mitbegründer Andy Grove, der Prediger Billy Graham, der Sänger Johnny Cash, der britische Fußballspieler Ray Kennedy, der Olympialäufer John Walker, der Schauspieler Michael J. Fox, der Komiker Robin Williams, der Schriftsteller Martin Cruz Smith, die Country-Rock-Sängerin Linda Ronstadt und der Boxer Muhammad Ali. Alle wissen, dass die Krankheit unaufhaltsam fortschreitet oder progrediert, wie die Ärzte sagen. Wie Parkinson anmerkte, fängt sie oft mit einem Tremor an einem Arm oder Bein auf einer Körperseite an, um sich dann auf alle vier Gliedmaßen auszuweiten. Der Körper des Patienten wird immer steifer, was häufig zu einer gebückten Haltung führt. Die Bewegungen werden langsamer, kleinräumiger und weniger flüssig. Mit der in der Regel langsamen Progression der Krankheit nimmt die Behinderung des Patienten mehr und mehr zu.

Als ich anfing, mein Schicksal anzunehmen und mehr über meine Krankheit zu lesen, stellte ich gezieltere Fragen und war von einem Gefühl von Eile angetrieben. Kann der Verlauf von Parkinson verlangsamt oder gestoppt werden? Oder kann man die Krankheit sogar heilen? Kann man der Krankheit wie bei Kinderlähmung und Pocken vorbeugen? Vielleicht. Aber 200 Jahre nach Parkinsons Essay leben und sterben die Kranken immer noch mit der Krankheit. Andererseits zeichnet sich heute mehr als jemals in der Geschichte die Möglichkeit eines Erfolgs ab − weil wir im Zeitalter der Neurowissenschaft leben. Nachdem sie das menschliche Genom sequenziert haben, rücken die Forscher in der Biomedizin nun auf die letzte Hürde vor: das menschliche Gehirn. Bei dieser Aufgabe, mit der sich neue Projekte wie die BRAIN-Initiative (Brain Research through Advancing Innovative Neurotechnologies) befassen, die über zehn Jahre läuft, 300 Millionen Dollar kostet und die Aktivität von jedem Neuron des menschlichen Gehirns kartieren soll, sehen viele Forscher Parkinson als eine Krankheit, die den vielleicht hoffnungsvollsten Zugang zu einem Organ von unglaublicher Komplexität darstellt. Bei Parkinson beginnen die automatischen Handlungen zu versagen, auf die wir uns immer verlassen konnten − wie beispielsweise das Mitschwingen der Arme beim Gehen. Dieses Versagen öffnet aber der Forschung ein Fenster zum Gehirn. Die wissenschaftliche Herausforderung besteht nun darin, einen furchteinflößenden Unterschied der Größenordnung zu überbrücken, der zwischen den abnormalen Bewegungen von Parkinson-Patienten und den exotischen Prozessen besteht, die im Gehirn stattfinden und winzige Moleküle betreffen, die kaum mehr als ein Billionstel eines Billionstel Gramm wiegen.7

Mein Buch erzählt die Geschichte einer Krankheit, die Ärzte und Wissenschaftler seit zwei Jahrhunderten in ihren Bann gezogen hat: von den ersten Berichten über die Symptome bis zur vordersten Front der biomedizinischen Forschung, wo wir möglicherweise vor einem großen Durchbruch stehen. Das Buch ist auch ein Bericht über meine eigene Reise als Journalist und als Patient zu den neuesten Entdeckungen im Bereich dieses faszinierenden und heimtückischen neurodegenerativen Unheils und eine Bewertung der Möglichkeiten für eine Heilung. Es ist eine Geschichte mit vielen Rückschlägen und nicht zuletzt mit der Entdeckung, dass die klassischen motorischen Symptome von Parkinson (Tremor, Starrheit, langsame Bewegungen, Gleichgewichtsstörungen) nur die Spitze eines klinischen Eisbergs sind. Es scheint nämlich so, dass Parkinson den späteren Patienten schon Jahrzehnte vor dem Auftreten irgendeines Tremors erfasst und überall im Gehirn bis zum Lebensende verheerende Schäden anrichtet. Das heißt, dass sich Parkinson-Patienten über die Bewegungsprobleme hinaus noch mit einer Vielzahl schlimmer Symptome auseinandersetzen müssen, die von Darmverstopfung bis zur Demenz reichen.

Aus diesem Rückschlag ist aber auch eine neue Theorie der Krankheit entstanden. Der Bösewicht ist nach der Ansicht vieler Forscher ein gewöhnliches Protein namens Alpha-Synuclein, das bösartig wird und klebrige toxische Aggregate bildet, die im Gehirn von Zelle zu Zelle springen und auf ihrem Weg Neuronen töten. Da ähnlich bösartige Proteine auch bei Alzheimer gefunden wurden, der häufigsten Form von Demenz, und bei anderen derzeit unheilbaren neurodegenerativen Krankheiten wie Huntington und Creutzfeld-Jakob, halten es einige Forscher für möglich, uns eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft gegen neurodegenerative Krankheiten schützen zu können und diese Übel damit für immer auszumerzen.

Mir ist klar geworden, dass Parkinson-Kranke mehr und mehr wesentliche Teile ihres Selbst verlieren. Wir vergessen, wie man geht. Unsere Armmuskeln verkümmern. Unsere Bewegungen werden langsamer. Unsere Hände fummeln bei einfachen feinmotorischen Aufgaben herum, etwa beim Auf- und Zuknöpfen eines Hemdes und dem Balancieren von Spaghetti auf der Gabel. Unser Gesicht drückt keine Gefühle mehr aus. Unsere Stimme verliert an Stärke und Klarheit. Und auch unser Geist verliert mit der Zeit an Schärfe … und einiges mehr.

Niemand will an Parkinson erkranken. Aber es gibt viel schrecklichere Schicksale. Im Gegensatz zu vielen Krebspatienten tendieren Parkinson-Kranke dazu, die Diagnose relativ lange zu überleben. Anders als unsere kognitiv weit mehr gestörten »Kollegen« mit Alzheimer oder Huntington können wir meist bis zum Ende des Lebens klar und deutlich über uns berichten. Unsere Erkenntnisse können helfen, die Krankheit zu erhellen und die wissenschaftliche Suche nach besseren Therapien und einer endgültigen Heilung zu unterstützen. Wie ich von anderen Parkinson-Kranken weiß, gibt es viele Wege, um gegen die Krankheit anzugehen. Angefangen vom Bostoner Kardiologen Thomas Graboys bis zum NBA-Basketballspieler Brian Grant, von der Tänzerin Pamela Quinn bis zur Ingenieurin Sara Riggare, haben mich viele »Gefährten« mit ihrem Mut, ihrer Kraft, ihrem Einfallsreichtum und ihrer Klugheit inspiriert. Ich werde einige dieser Geschichten in meinem Buch erzählen.

Das Gehirn ist ein ziemlich unverwüstliches Organ. Wie die Neurologen herausgefunden haben, gibt es selbst im Gehirn der am schwersten geschädigten Personen funktionierende Inseln. Ein Beispiel ist das bizarre Phänomen der »paradoxen Kinesie«. Parkinson-Kranke im fortgeschrittenen Zustand »frieren« oft beim Gehen ein, ihre Füße kleben praktisch am Boden fest. Bemerkenswerterweise kann aber schon das bloße Zeichnen einer Linie auf den Boden (oder das Platzieren eines Fußes) vor ihnen dieses »Freezing« oder Einfrieren des Gangs unterbrechen. Der Patient steigt über die Linie (oder den Fuß) und geht einfach weiter. Ähnlich paradox und ähnlich faszinierend ist die Entdeckung, dass Parkinson-Kranke, die nicht mehr gehen können, in der Lage sind, Schlittschuh zu laufen oder Fahrrad zu fahren − oder zu rennen. Dann gibt es noch ein paar wirklich erstaunliche Untersuchungen, bei denen bei Parkinson-Kranken, denen Placebos gegeben wurden, die Symptome über lange Zeit merklich zurückgingen. Solche Entdeckungen zeigen, dass das Gehirn über viele Tricks verfügt, die neue therapeutische Möglichkeiten eröffnen, Therapien, die die Neurowissenschaftler bisher vermisst haben.

Die Überwindung neurodegenerativer Krankheiten ist eine Angelegenheit, die aus einem einzigen simplen Grund uns alle angeht: Die Welt wird älter. Bis 2050 wird sich die Zahl der Menschen über 65 verdreifachen. Diese 1,5 Milliarden älteren Menschen, 16 Prozent der Weltbevölkerung, tragen ein hohes Risiko, Hirnerkrankungen wie Parkinson und Alzheimer zu bekommen. Wir dürfen also keine Zeit verlieren!

1

Die »Entdeckung« von Parkinson

»Die Erkrankung, welche Gegenstand der Untersuchung ist, ist äußerst leidvoll.…Der unglücklicherweise an ihr Leidende hat sie als ein ihn beherrschendes Übel betrachtet, dem zu entkommen keine Aussicht bestand.«

 James Parkinson, 18171

Alle drei Jahre treffen sich Menschen mit Parkinson zu einer Art Gipfeltreffen, dem World Parkinson Congress. Vier Tage lang drängeln sich dort Patienten, die verzweifelt nach einer Heilmethode suchen, mit Biomedizinern, die ihr Leben dem Kampf gegen die Krankheit geweiht haben. 2013 in Montreal, beim dritten dieser Weltkongresse, waren auch die großen Förderer der Parkinson-Forschung wie die Michael J. Fox Foundation, die American Parkinson’s Disease Association, die National Parkinson Foundation, der Cure Parkinson’s Trust und die Parkinson’s Disease Foundation in voller Stärke vertreten, und alle führenden Parkinson-Forscher warteten begierig darauf, von ihren neuesten Anstrengungen berichten zu können, die schreckliche Krankheit zu verstehen und zu besiegen. Und dann waren da noch viele Patienten: einige wie ich, die bisher nur schwache Symptome zeigten, während andere mit Krücken, Rollatoren und Rollstühlen unterwegs waren.

Die Eröffnungsveranstaltung war äußerst bewegend. Geeint durch einen gemeinsamen Feind waren über 3000 Parkinson-Patienten, -Betreuer, -Forscher und -Ärzte aus 65 Ländern im gigantischen Palais des Congrès von Montreal zusammengekommen. Die Zuhörer waren lebhaft, oft gab es Standing Ovations für die inspirierenden Redner, deren Bilder auf großen Bildschirmen gezeigt wurden. Die Stimmung war trotzig: Ein Redner nach dem anderen forderte die Versammlung auf, die Hoffnung nicht aufzugeben.

Es gibt mir neue Kraft, wenn ich so viele Parkinson-Kranke auf einem Haufen sehe. Wir sind in der Tat eine ziemlich eindrucksvolle Gruppe, zu der ausgebildete Tänzer ebenso gehören wie Musiker, Filmemacher, Unternehmer, Wissenschaftler und sogar Helden aus dem wahren Leben wie der frühere NASA-Astronaut Rich Clifford und der Ausdauersportler Alex Flynn.2 Die Tatsache, dass viele der Anwesenden in ihrem Berufsleben so große Erfolge hatten, unterstreicht meine Annahme, dass wir die Krankheit besiegen können, wenn wir alle mit den Wissenschaftlern zusammenarbeiten.

Der Star dieses ersten Abends war die kanadische Berühmtheit Tim Hague senior. Er ist seit 2011 Parkinson-Patient. Hague hatte zusammen mit seinem Sohn Tim Hague junior trotz aller Widrigkeiten gerade die Reality-Show The Amazing Race Canada gewonnen, bei der sich Teilnehmerpaare kreuz und quer durch Kanada schlagen müssen. Am 16. September 2013 sahen die kanadischen Zuschauer Tim und seinen Sohn, wie sie die erste Staffel der Show gewannen. Die Geschichte von seinem außergewöhnlichen körperlichen Triumph dient als mächtiger Hinweis auf die Kraft des menschlichen Geistes.

Hague ging zum Mikrofon und richtete sich an alle Beteiligten: »Ob Sie Forscher sind oder zum Pflegepersonal gehören, ob Sie Familienmitglied sind, Freunde, die Person mit Parkinson … Halten Sie durch, denn unsere Reise könnte sehr lange dauern … Geben Sie nicht auf. Sie wissen nicht, auf was Sie hinter der nächsten Ecke stoßen … Verlieren Sie nie die Hoffnung. Geben Sie nicht auf, Sie können dieses Rennen gewinnen.« Die Zuhörer zeigten in diesen vier Tagen keine Anzeichen aufzugeben. Die Forscher versuchten, die schlechten Nachrichten nicht herauszuheben, und spielten manchmal die beträchtlichen Schwierigkeiten (und Verzögerungen) herunter, ihre wissenschaftlichen Fortschritte zur Anwendung in die Kliniken zu bringen.

Wie die Patienten gehen auch die Forscher mit dem Wort »Heilung« sehr großzügig um. Ich weiß zwar, dass viel davon ein reines Bekenntnis zur Lebensfreude ist, mache aber doch für vier Tage bei dieser Verschwörung mit, wonach es Hoffnung gibt. Auch ich spüre, dass die Zeit drängt. Schließlich ist Parkinson nun meine Welt. Eine Welt, in der es entscheidend ist, daran zu glauben, dass es morgen besser sein kann als heute.

Wie Dutzende wissenschaftliche Tagungen zeigen, ist die Aufgabe, Parkinson zu schlagen, ein langer, komplizierter Krieg, der an vielen Fronten geführt wird. Einige Forscher konzentrieren sich darauf, die Krankheit in allen Einzelheiten zu verstehen. Diese Grundlagenforschung, die oft im Reagenzglas oder an Versuchstieren durchgeführt wird, führt zu einer Menge Ideen von möglichen Schwachstellen, sogenannten »Zielen«, an denen ein Medikament oder ein anderer Eingriff das Fortschreiten der Krankheit verlangsamen, anhalten oder auch umkehren könnte. Aber nur ein paar wenige dieser Ideen gelangen aus den Labors in die Kliniken, wo andere Forscher die neuen Wirkstoffe darauf testen, ob sie sicher und wirkungsvoll sind. Dann gibt es noch Genetiker, die nach dem Schlüssel im Genom des Patienten suchen. Epidemiologen dagegen suchen nach Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit, die Krankheit zu bekommen, verstärken oder abschwächen. Das reicht von Pestiziden, die das Parkinson-Risiko zu erhöhen scheinen, bis zu Kaffeetrinken und Rauchen, was einen Schutz gegen Parkinson darzustellen scheint. Es gibt Ärzte, die sich darauf konzentrieren, die verschiedenen Symptome der Patienten zu verstehen, und es gibt Neuropathologen, die die Zerstörung der Zellen im Körper und im Gehirn des Patienten nach dessen Tod untersuchen. Und noch vieles mehr.

Wenn ein Sozialwissenschaftler all diese Delegierten mit ihren farbenprächtigen Abzeichen beobachten würde, hätte er vielleicht die Vermutung, dass alle die gleiche Marke vertreten. In unserem Fall ist es aber keine Marke wie Coca-Cola oder Nike, sondern die Verpflichtung, eine Krankheit zu besiegen, die nach einem Mann benannt ist, der vor 200 Jahren gelebt hat. Wie ich würde sich der Beobachter fragen, was das für ein Mann war. Wer war James Parkinson und wie kam es, dass eine Krankheit nach ihm benannt wurde? Und was fasziniert die Welt der Wissenschaft und Medizin an dieser Krankheit? An dieser Stelle beginnt unsere Geschichte von Parkinson nun wirklich.

Es gibt von James Parkinson keine Gemälde oder Stiche;3 nur eine steinerne Gedenktafel in der St.-Leonards-Kirche in Shoreditch, der Gemeinde in Ost-London, in der er geboren wurde, lebte und starb, erinnert an ihn. Sein Wohnhaus steht schon lange nicht mehr, aber wenn man nach Shoreditch kommt, trifft man auf eine weitere einfache Gedenktafel an dem Haus, das nun am Hoxton Square Nr. 1 steht, der Adresse, wo er seine Arztpraxis hatte. Er war der Sohn eines Arztes, studierte Latein, Griechisch, Naturphilosophie, Medizin, Chirurgie sowie Zeichnen und Stenografie, zwei Fähigkeiten, die er hauptsächlich verwendete, um Krankengeschichten zu dokumentieren. Seine veröffentlichten Schriften geben Zeugnis von den vielseitigen Interessen eines Intellektuellen in Zeiten der Aufklärung. Außer zu den medizinischen Debatten über Geisteskrankheiten, Gicht, Brüche und Blinddarmentzündung äußerte er sich auch über Chemie und Paläontologie4 und war politisch aktiv, indem er Pamphlete unter dem Pseudonym »Old Hubert« schrieb.

Parkinson scheint ein neugieriger und leidenschaftlicher Mann gewesen zu sein.5 Er wäre jedoch heute sicher völlig unbekannt, wenn er nicht 1817 eine kleine Schrift veröffentlicht hätte: seine Monografie An Essay on the Shaking Palsy über eine neue Krankheit, die er »Shaking Palsy« oder Schüttellähmung nannte. Als sorgfältiger Beobachter fiel ihm das Syndrom bei seinen regelmäßigen Streifzügen durch die Straßen von Ost-London auf. Immer wieder sah er Leute, die sich anders als die große Menge bewegten, und wenn er sie entdeckt hatte, ging er zu ihnen und befragte sie, um mehr darüber herauszufinden. So traf er zum Beispiel einmal auf einen 62-jährigen Mann, der beim Magistrat als Bediensteter gearbeitet hatte: »Sein Körper war gebeugt und geschüttelt. Er ging fast nur auf seinen Zehenspitzen und wäre mit jedem Schritt gestürzt, wenn ihn sein Stock nicht gestützt hätte.«6 Der Bedienstete sagte Parkinson, er sei »von der unheilbaren Natur seiner Beschwerden völlig überzeugt«, sei schicksalsergeben und lehne »jeden Versuch einer Linderung« ab.7 Auf der Grundlage von nur sechs Fällen, von denen er auch nur zwei eingehend untersuchte, entwarf Parkinson die Beschreibung von etwas, von dem er meinte, es könne eine neue Krankheit sein.

Der Essay on the Shaking Palsy ist ein wunderschönes Beispiel für einen gelungenen medizinischen Text, von dem alle Parkinson-Kranken sagen, er führe vieles von dem auf, was sie durchmachen − den Tremor, die reduzierten Bewegungen und die instabile Haltung eingeschlossen. Parkinson schrieb: »Die Hand wird sich dem Diktat des Willens nicht mehr exakt fügen. Das Gehen ist so erschwert, dass es ohne beträchtliche Aufmerksamkeit nicht mehr gelingt. Die Beine können nicht mehr so weit oder so schnell gehoben werden, wie es der Wille verlangt, sodass zur Vermeidung von wiederholten Stürzen äußerste Vorsicht geboten ist.«8

Trotz dieser glänzenden Darstellung nahmen nur wenige Ärzte Parkinsons Essay zur Kenntnis, was zur Folge hatte, dass im 19. Jahrhundert alle, die von der Krankheit betroffen waren, selbst herausfinden mussten, was mit ihnen los war. Eine der bewegendsten Geschichten, auf die ich gestoßen bin, ist die des preußischen Linguisten, Diplomaten und Bildungsreformers Wilhelm von Humboldt (1767–1835). Humboldt kannte Parkinsons Essay nicht und dokumentierte seinen eigenen Verfall durch Parkinson in einer Reihe herzzerreißender Briefe an seine Freundin Charlotte Diede.9 Er hielt seine gebückte Haltung fest und klagte über ein Zittern »oder einen Zustand, den ich mehr Unbehilflichkeit als Schwäche nennen möchte … Wie beim Schreiben ist es bei allen ähnlichen Verrichtungen, dem Zuknöpfen beim Anziehen usf.«10 Zudem werde seine Handschrift kleiner (was wir heute Mikrographie nennen). Humboldt schrieb: »Das Schreiben erfordert, wenn die Hand fest und deutlich sein soll, eine Menge zum Teil sehr kleiner und kaum merklicher Bewegungen der Finger, die schnell nacheinander und doch bestimmt voneinander geschieden gemacht werden müssen.«11 In einer ergreifenden Passage eines späteren Briefes klagte er, wie komisch es einem vorkommen müsse, jede Zeile »in großen Buchstaben anfangen und mit missratenem Erfolg mit kaum leserlich kleinen endigen zu sehen … Wenn ich mich nicht mein Leben sehr an Geduld und Selbstüberwindung gewöhnt hätte, so würde mir das längst unerträglich vorgekommen sein.«12 Da Humboldt nicht wusste, dass er an einer neurodegenerativen Krankheit litt, interpretierte er die Symptome als Zeichen des beschleunigten Alterungsprozesses nach dem Tod seiner Frau. Nach sieben Jahren mit Parkinson-Symptomen starb Humboldt an einer Lungenentzündung.

Humboldt gehört zu einer langen Liste von Intellektuellen, die im Verlauf der Geschichte Parkinson-Symptome zeigten, bevor man die Krankheit erkannt und ihr einen Namen gegeben hatte. Ein weiterer berühmter Parkinson-Kranker war der englische Philosoph Thomas Hobbes aus dem 17. Jahrhundert. John Aubrey schrieb in seinen Brief Lives: Hobbes »hatte die Schüttellähmung in seinen Händen; das begann in Frankreich vor 1650 und nahm seitdem schrittweise zu, sodass er seit 1665 oder 1666 nicht mehr sehr lesbar schreiben konnte, wie ich an einigen Briefen sehe, mit denen er mich beehrt hat«.13

Die Krankheit, auf die Parkinson aufmerksam geworden war, wurde erst durch die Bemühungen des französischen Arztes Jean-Martin Charcot (1825–1893) weltweit wahrgenommen, der zweiten großen Figur in ihrer Geschichte. Charcot war von kleiner, stämmiger Gestalt und ähnelte bemerkenswert Napoleon. Er war eine medizinische Berühmtheit. Laut dem Neurowissenschaftler und Historiker Christopher Goetz kamen Leute aus aller Herren Länder zu Charcots klinischen Vorlesungen im Hôpital de la Salpêtrière in Paris.14 In dieser Klinik, die ein Paradies für Neurologen war, lagen 5000 Patienten, von denen 3000 neurologische Krankheiten hatten. Während James Parkinson ganz zufällig sechs Patienten beobachtet hatte, die ein gemeinsames Syndrom aufwiesen, untersuchte Charcot methodisch Hunderte von Patienten mit einem weiten Spektrum merkwürdiger Krankheiten. Er entdeckte schnell einige besondere neurologische Erkrankungen wie Multiple Sklerose (MS), Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), die Charcot-Marie-Tooth-Krankheit (CMT, eine Störung des peripheren Nervensystems, die mit dem Verlust des Tastempfindens einhergeht)15 sowie die Schüttellähmung.

James Parkinsons Essay von 1817 war in Frankreich kaum bekannt, aber Charcot erhielt in den 1860er-Jahren ein Exemplar von Dr. Windsor, dem Bibliothekar der University of Manchester, und erkannte sofort seine Bedeutung. Nachdem er seine eigenen Patienten in der Salpêtrière sorgfältig beobachtet hatte, benannte er − präziser noch als Parkinson − vier gewöhnlich auftretende Symptome: Tremor, Steifheit, Langsamkeit oder Verkümmerung der Bewegungen (auch Bradykinesie genannt) und Haltungsinstabilität. Charcot fügte noch zwei Symptome hinzu, die Parkinson nicht bemerkt hatte: die winzige Handschrift (die Mikrographie, die Humboldt festgestellt hatte) und den Gesichtsausdruck (Hypomimie), der dank des veränderten Muskeltonus leer oder reduziert wirkt.16

Der scharfsinnige Charcot, zu dessen Studenten Sigmund Freud und William James gehörten, stellte fest, dass nicht alle Patienten einen Tremor aufwiesen: Einer von fünf Patienten war ohne dieses Symptom. Charcot argumentierte, dass angesichts dieser Tatsache die Bezeichnung »Schüttellähmung« missverständlich für die Krankheit sei. Er schlug stattdessen »Maladie de Parkinson« vor, was sich dann einbürgerte.

In den 1880er-Jahren hatte Charcot dank der umfangreichen medizinischen Forschung in der Salpêtrière das klinische Bild von Parkinson wesentlich vervollständigt − zumindest was die motorischen Symptome betraf. Er hätte kaum Probleme gehabt, im Palais des Congrès von Montreal die Tagungsteilnehmer mit Parkinson von denen ohne zu unterscheiden. Er war nicht nur zum Experten bei der Diagnose der Krankheit geworden, sondern fing auch an, die Symptome wie den Tremor mit pflanzlichen Medikamenten zu behandeln, deren Zusammensetzung er im Trial-and-Error-Verfahren herausfand.17 Er verschrieb beispielsweise Hyoscyamin, einen Extrakt des Stechapfels, in Form einer Pille, die in Weißbrotstückchen eingerollt war. Eine andere Medizin gewann er aus der Tollkirsche, jenem tödlichen Nachtschattengewächs.18

Charcot entwickelte auch noch andere interessante Therapien. Nachdem er beobachtet hatte, dass sich die Symptome nach langen Kutsch- oder Bahnfahrten und selbst nach dem Reiten verbesserten, spekulierte er, dass die Vibrationen einen therapeutischen Effekt haben könnten. Er konstruierte deshalb den elektrisch angetriebenen fauteuil trépidant, einen »Schüttelstuhl« (Abbildung 1). Einer seiner Studenten, Gilles de la Tourette, verfeinerte diesen Ansatz noch, indem er einen transportablen Schüttelhelm baute, der das Gehirn in Vibrationen versetzte (Abbildung 2).19

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Abbildung 1: Jean-Martin Charcots fauteuil trépidant, ein Schüttelstuhl, der zur Milderung der Parkinson-Symptome beitragen sollte. Cold Spring Harbor Perspectives in Medicine 1/1, 2011, S. 9, © Cold Spring Harbor Press, 2011.

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Abbildung 2: Ein Schüttelhelm, den Charcots Student Gilles de la Tourette entworfen hatte. Mit ihm konnte das Schütteln direkt auf das Gehirn des Patienten übertragen werden. Cold Spring Harbor Perspectives in Medicine 1/1, 2011, S. 9, © Cold Spring Harbor Press, 2011.

Charcots therapeutisches Schüttelkonzept wurde kürzlich in einem kontrollierten Experiment mit im Handel erhältlichen Massagestühlen nachgeprüft. Die Probanden wurden in zwei Kohorten aufgeteilt: Die eine bekam einen Monat lang täglich eine Therapiesitzung mit dem Massagestuhl, die andere wurde genauso oft in den Stuhl gesetzt, allerdings bei ausgeschalteter Vibration. Beide Gruppen wurden dabei mit entspannenden Naturgeräuschen wie zum Beispiel Ozeanwellen beschallt. Die Forscher kamen zu dem Ergebnis, dass Charcots Beobachtungen weitgehend einem Placeboeffekt zu verdanken waren, der mehr mit den Wunschvorstellungen der Patienten und Ärzte zu tun hatte, die sich durch die Schütteltherapie eine Verbesserung versprachen, und weniger mit dem Schütteln selbst. (Es stellte sich später heraus, dass der Placeboeffekt bei Parkinson ohnehin eine große Rolle spielt, worüber ich in den Kapiteln 8 und 16 noch berichten werde.)

Wir verdanken Charcot die klinische Definition dieser Krankheit, die mich 2013 nach Montreal gebracht hat, ihren Namen und sogar Versuche, sie zu behandeln. Zu Charcots Zeiten war aber Parkinson keine Krankheit im eigentlichen Wortsinn, sondern nur ein Bündel von Symptomen oder, in der medizinischen Fachsprache, ein »Syndrom«. Bevor ein Syndrom als echte Krankheit klassifiziert werden kann, müssen die Ärzte über mindestens eine von zwei zusätzlichen Erkenntnissen verfügen: wie die Krankheit beginnt oder wie sie endet. Kennt man die Ursache eines Syndroms, ist das der deutlichste Hinweis, dass es sich um eine echte Krankheit handelt. So erging es den Wissenschaftlern auch, als sie entdeckten, dass das Human Immunodefiency Virus (HIV) das Acquired Immune Deficiency Syndrome (AIDS) verursacht. Kennt man die Ursache nicht, suchen die Ärzte und Wissenschaftler nach spezifischen pathologischen Veränderungen im Gewebe des Patienten, die im Falle des Gehirns gewöhnlich erst entdeckt werden, wenn der Patient tot ist und obduziert wird.

In den 1880er-Jahren hatten die Ärzte keine Vorstellung davon, was Parkinson verursachen könnte. Die Pathologen obduzierten aber regelmäßig die Gehirne der Kranken, um in verschiedenen Bereichen nach Veränderungen und Zerstörungen zu suchen. Charcot war ursprünglich Pathologe und unterrichtete die »anatomo-klinische« Methode, nach der die klinischen Faktoren einer Krankheit wie Parkinson mit anatomischen Änderungen oder »Läsuren« im Gehirn in Verbindung gebracht wurden.

Bei einer typischen Obduktion in der Salpêtrière zog der Pathologe die Gesichtshaut zurück, öffnete den Schädel an der Oberseite und nahm das Gehirn heraus. Nicht viel anders wird eine Obduktion auch heute durchgeführt. Danach konnte er sich nur noch von den großen Bereichen »weißer« und »grauer« Hirnsubstanz leiten lassen.20 Die zerebralen Hemisphären, die den oberen Teil des Gehirns darstellen, sehen ein wenig aus wie der Hut eines Pilzes, während der Rest des Gehirns dem Stiel des Pilzes ähnelt. Dieser Hut wird durch eine tiefe Furche geteilt, die die linke von der rechten Hemisphäre trennt. Er ist von einer runzeligen Außenschicht aus grauer Hirnsubstanz bedeckt, dem Cortex (lateinisch für »Rinde«). Direkt unter dem Cortex liegt eine tiefe Schicht weißer Hirnsubstanz mit grauen Inseln. Als die Pathologen Charcots das Gehirn horizontal (von oben nach unten) und vertikal (von hinten nach vorn) in Scheiben zerschnitten, entdeckten sie verschiedene Hirnstrukturen, denen frühe Anatomen lateinische Namen zugeordnet hatten: die Ventrikel (»Höhlung«), den Corpus callosum (»zäher« Körper, auch Gehirnbalken), das Striatum (»gestreifter« Körper), den Globus pallidus (»bleiche« Kugel, auch Pallidum), den Thalamus (»Kammer«, »Schlafgemach«) und die Substantia nigra (»schwarze Substanz«). Letztere bekam ihren Namen, weil ihre Zellen den Farbstoff Melanin enthalten, der sie dunkel erscheinen lässt.

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Abbildung 3: Bild der Basalganglien. Axone von der Substantia nigra, der Hauptquelle von Dopamin, erstrecken sich bis ins Striatum, das aus dem Putamen und dem Caudate nucleus besteht.

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Abbildung 4: Bild der Region der Basalganglien mit dem Putamen und dem Caudate nucleus. © Marie Rossettie, CMI

Die anatomo-klinische Methode beruhte darauf, Unterschiede zwischen den Gehirnen von Gesunden und Kranken zu finden. Da die meisten armen Patienten der Salpêtrière vom Staat betreut wurden, gab es keine Probleme, wenn es um deren Autopsien ging. Charcot und seine Kollegen hatten daher viele Gelegenheiten, seltsame Läsuren in den Gehirnen der Verstorbenen zu finden, die vielleicht die neurologischen Symptome erklären konnten, unter denen sie zu Lebzeiten gelitten hatten. An einem Tag im Jahre 1893, in dem Jahr, in dem Charcot starb, hatten zwei seiner Studenten, Paul Blocq und Georges Marinesco, großes Glück. Sie nahmen einen 38-jährigen Patienten in die Salpêtrière auf, der an einem parkinsonschen Tremor und der Steifheit seiner linken Körperhälfte litt. Der Patient starb später an Lungenproblemen und wurde obduziert. Man entdeckte einen haselnussgroßen Klumpen auf der rechten Seite des Mittelhirns, der sehr nahe an der Substantia nigra lag.21 Die Entdeckung von Blocq und Marinesco regte Édouard Brissaud, den Nachfolger Charcots an der Salpêtrière, zu der Hypothese an, dass die Substantia nigra, der Ort der schwärzlichen Masse, der wichtigste pathologische Schlüssel zur Parkinson-Krankheit war.

War das eine bedeutsame Entdeckung oder nur purer Zufall? In den nächsten 25 Jahren ging niemand systematisch dieser Spur nach. Erst 1919 lieferte Konstantin Tretiakoff, ein russischer Doktorand, der in Paris arbeitete, einen überzeugenden Beweis, dass die schwärzliche Masse wirklich in Verbindung mit Parkinson stand. Er untersuchte in seiner Dissertation 54 obduzierte Gehirne, von deren ehemaligen Besitzern neun Parkinson hatten.22 Tretiakoff fand heraus, dass alle Parkinson-Gehirne eine extensive Zerstörung der Substantia nigra aufwiesen, gesunde Gehirne dagegen nicht. Wie Abbildung 5 zeigt, konnte der Unterschied zwischen normalen und Parkinson-Gehirnen kaum klarer sein: In den kranken Gehirnen fehlte diese schwärzliche Masse.

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Abbildung 5: Schnitt durch eine gesunde Substantia nigra mit Pigment, darunter Schnitt durch eine Substantia nigra bei Parkinson. © Ronald C. Kim, MD

Tretiakoff stellte noch etwas anderes fest. Einige Gehirne von verstorbenen Parkinson-Patienten wiesen kleine runde Strukturen auf. Sie hatten ungefähr die Größe von roten Blutkörperchen und waren von einem hellen Halo umgeben (Abbildung 6). Tretiakoff nannte sie »corps de Lewy«, also Lewy-Körperchen,23 zu Ehren ihres Entdeckers Friedrich Lewy (1885–1950),24 einem deutschen Pathologen, der in Alois Alzheimers Münchner Labor arbeitete.25

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Abbildung 6: Lewy-Körperchen, die pathologischen Nachweise der echten Parkinson-Erkrankung. Mit freundlicher Erlaubnis von Mark L. Cohen, MD, und FrontalCortex.com

Pathologen und Neurologen kamen im Lauf der Zeit zu der Überzeugung, dass die Lewy-Körperchen den verlässlichen Nachweis der echten Parkinson-Krankheit darstellen.26 Die Neurologen mochten bei Lebenden Parkinsonismus diagnostizieren, aber erst die Pathologen konnten bei der Obduktion der toten Patienten anhand der zerstörten Substantia nigra sicher feststellen, dass sie wirklich Parkinson hatten.27

Während die Wissenschaftler noch immer keine Vorstellung davon hatten, wodurch Parkinson verursacht wurde, konnte man Parkinson nun wirklich als Krankheit einordnen und nicht nur als Syndrom. In den 1950er-Jahren hatten − 130 Jahre nach James Parkinsons Essay − Forscher wie Charcot, Tretiakoff und Lewy die allgemeinen Merkmale von Parkinson herausgearbeitet und die Krankheit als »Bewegungsstörung« definiert, die meist bei älteren Menschen auftritt und durch die Zerstörung eines sehr kleinen Bereichs des Gehirns entsteht, der Substantia nigra.

Bis dahin hatte man allerdings nur wenig herausgefunden, um die Krankheit effektiv zu behandeln. Das sollte sich allerdings durch die Anstrengungen einer Gruppe brillanter schwedischer und österreichischer Forscher ändern. Sie konnten beweisen, dass nicht nur die schwärzliche Substanz verschwindet, wenn die Neuronen von Parkinson-Patienten sterben. Es gibt noch etwas anderes, was verschwindet: ein chemischer Stoff, der im Gehirn vorkommt und Dopamin genannt wird.

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Dopamin und die Parkinson-Symptome

»Patienten, die sich aus dem Liegen nicht aufsetzen, aus dem Sitzen nicht aufstehen, vom Stehen nicht zum Gehen starten konnten, brachten diese Leistungen nach L-DOPA-Gaben leicht zustande. Sie gingen mit normalen Mitbewegungen, konnten sogar laufen und springen.…Dieser DOPA-Effekt erreichte innerhalb von zwei bis drei Stunden seinen Höhepunkt und hielt in verringertem Ausmaße 24 Stunden an.«

 Walther Birkmayer und Oleh Hornykiewicz, 19611

Roger Duvoisin, einer der führenden Köpfe in der Parkinson-Forschung und Autor des populärwissenschaftlichen Buches Parkinson’s Disease von 1984,2 ist eines der wenigen noch lebenden Mitglieder einer Elitegruppe von Neurowissenschaftlern, die vor 50 Jahren eine therapeutische Revolution einleiteten. Er hat mir kürzlich ein fesselndes Video geschickt, das dokumentiert, wie das Leben von Parkinson-Kranken vor und nach dieser Revolution aussah. Er erinnert sich an die Zeit in den späten 1960er-Jahren, als das Video entstand, als an einen der aufregendsten Abschnitte seines Berufslebens.