Clemens Bittlinger

Da, wo ich bin,
da will ich sein!

Von der Freiheit, authentisch zu leben

 

Impressum

© KREUZ VERLAG
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012
Alle Rechte vorbehalten
www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung: agentur Idee
Umschlagmotiv: © Corbis

ISBN (E-Book): 978 - 3 - 451 - 33944 - 8
ISBN (Buch): 978 - 3 - 451 - 61135 - 3

Inhaltsübersicht

Vorwort

Die Schwimmerin

Da, wo ich bin, da will ich sein!

Im Gefängnis

Die Grundmauern wanken

Türen öffnen sich

Fesseln fallen ab

Wo befinde ich mich? Eine Standortbestimmung

Der neue Rahmen

Meine Partnerschaft, meine Familie

Immer am Limit

Auf der Grenze

Nikolaikirche, Leipzig

Erst der kleine Finger ...

Schlecht für das Geschäft

Da, wo ich bin, da will ich sein!

Gelassenheit

Da, wo ich bin, da will ich sein!

Da, wo ich bin, da will ich sein!

Hier und jetzt

Langsam durch die schnelle Zeit

Achtsamkeit

Kinder des Weltalls

Aus Sternenstaub sind wir gemacht

Da, wo ich bin, da muss ich sein!

Von der Geburt

Jesus als Zwölfjähriger im Tempel

Vom »Müssen« zum »Wollen«

Acht Mal: »zutiefst glücklich!«

Die »Ich-bin«-Worte

Der gute Hirte

Der Weinstock

Ein Leib und viele Glieder

… bis hin zum Kreuz von Golgatha

Da will ich sein – ich werde »da« sein!

Da, wo ich bin, da will ich nicht sein!

Fehl am Platz

Neulich im Gottesdienst

Wenn Habgier uns treibt

Mut zum Aufbruch

Die Freiheit ist schmutzig

Die Flucht

Das Fasten

Loslassen

Bitte frei machen!

Mach den Kopf frei

Aus der Nähe

Bitte frei machen – von den Eltern

Bitte frei machen – das Gebet

Bitte freischwimmen!

Nachwort

 

Ich widme dieses Buch meinen lieben Eltern

Vorwort

»Ich bin reif für die Insel!«, stöhnen wir manchmal und wollen da, wo wir sind, nicht sein – auf den ersten Blick. Beim genaueren Hinsehen wollen die meisten von uns jedoch genau da sein, wo sie sind. Sie wissen es nur nicht. Überlegen Sie einmal, was sich ändern müsste, damit Sie woanders sein könnten? Welche Anstrengungen müssten Sie unternehmen, um Grundlegendes in Ihrem Leben zu verändern? Welche Beziehungen müssten Sie aufgeben und welche Menschen müssten Sie enttäuschen, um ganz anders zu leben? Welche Sicherheiten müssten Sie aufgeben? Wollen Sie das tatsächlich? Die ehrliche Antwort lautet in der Regel: »Nein, das wäre ein viel zu hoher Einsatz!« Also »wollen« Sie letztendlich da sein, wo Sie sind, denn Sie »wollen« es ja auch nicht ändern. Und selbst, wenn Sie sagen: »Ich ›will‹ da nicht sein, wo ich bin, aber ich ›muss‹ es aufgrund der Umstände«, wäre es dann nicht besser, dass Sie Ihre Einstellung zu der momentanen Situation so ändern, dass Sie Ihre Lage bejahen und positiv verstärken, indem Sie sich sagen: »Da, wo ich bin, da will ich sein!«?

Die meisten von uns haben die Freiheit zu wählen, wie sie ihr eigenes Leben gestalten. Ich kann zwischen einer positiven und einer negativen Lebenseinstellung wählen. Dieses Buch möchte Sie dazu ermutigen, Ihr Leben, so wie Sie es leben, zu bejahen. Viele Texte und Erzählungen aus der Bibel können Ihnen dabei helfen: Ich werde im Verlauf des Buches immer wieder auf die Geschichte von Paulus und Silas im Gefängnis zu sprechen kommen, die in der Apostelgeschichte des Neuen Testaments, Kapitel 16, Vers 23 bis 40 steht. Doch so viel schon jetzt: Wenn Paulus und Silas als Häftlinge ihre Gefangenschaft derart gutheißen können, dass die inneren und äußeren Mauern gesprengt werden und sich ihr gesamtes Umfeld positiv verändert – um wie viel mehr kann sich der Horizont unseres mehr oder weniger normalen Alltags durch den Esprit dieser Freiheit erweitern und beleben?

Schon bei dem Philosophen Epikur (341  270 v. Chr.) finden wir den Satz: »Alles, was gut, und alles, was schlecht ist, ist eine Sache der Wahrnehmung.« Das bedeutet: Es liegt an mir, wie ich einen Sachverhalt oder eine Situation beurteile. Wenn ich also feststelle, dass ich dort, wo ich lebe oder arbeite, im Wesentlichen sein will, dann wäre es doch klug, auch meine Wahrnehmung dahingehend zu trainieren, dass sie sich auf das Positive konzentriert und nicht auf das Negative.

Dieses Buch möchte Sie jedoch auch ermutigen, Ihr Leben grundlegend zu ändern, wenn Sie nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss kommen: »Da, wo ich bin, da will ich nicht sein!« Und auch da greifen uns die alten Erzählungen, Lieder und Gebete unter die Arme: »Bitte frei machen!« Diese Bitte und Aufforderung, die wir so vielleicht zunächst nur vom Arzt kennen, wird uns dabei begleiten. Unsere innere Freiheit ist die Vorraussetzung dafür, dass wir wählen und sagen können: »Ich will!« Und wenn wir Grundlegendes ändern wollen, müssen wir uns »frei machen« oder »freischwimmen«. Dann können wir zurückfinden zu jener Freiheit, die unser Menschsein ausmacht.

 

Clemens Bittlinger

Die Schwimmerin

Draußen herrscht schlechtes Wetter. Das Hallen-Wellenbad der Nordseeinsel ist zum Bersten gefüllt. Selbst in der sonst für das Schwimmen guten Zeit zwischen 12.45 und 13.30 Uhr gibt es keine Verschnaufpause – auf den beiden innersten Bahnen tummeln sich unbeirrt sechs bis acht engagierte Schwimmer. Einer davon bin ich. Immerhin achten wir alle aufeinander, niemand schwimmt rückwärts und auch die »Kampfbrillen-Schwimmer« halten sich fern. In diesem Getümmel, bei dem jeder und jede mehr schlecht als recht seine Bahnen absolvieren kann, fällt mir eine betagte Dame auf, die sehr gut schwimmen kann und sich in diesem Wirrwarr ganz unbeirrt und stoisch in ihrem eigenen Rhythmus bewegt. Etwa 20 Minuten zieht sie mit uns gemeinsam ihre Bahnen. Ab und zu macht sie Pausen und hat ihr eigenes Tempo. Irgendwie bringt sie ein wenig Ruhe in das hektische Treiben der anderen »Bahnen-Schwimmer«. Irgendwann fasse ich mir ein Herz, steuere auf sie zu und spreche sie an: »Entschuldigen Sie, darf ich Sie fragen, wie alt Sie sind?« Sie mustert mich verdutzt, aber nicht unfreundlich, überlegt kurz, als müsste sie meine Frage erst einordnen und ihre Gedanken sortieren, antwortet aber dann mit einem Funkeln in den Augen und einem schelmischen Lächeln auf den Lippen: »Ich bin 87 Jahre alt!« Sichtlich überrascht entfährt es mir: »Das finde ich aber großartig, dass Sie sich hier in dieses Gewimmel begeben! Sie schwimmen sehr schön!« Darauf antwortet sie: »Ja, ich habe gerade erst wieder mit dem Schwimmen angefangen. Wissen Sie, ich war lange krank. Hier im Wasser brauche ich eine Brille, denn ich sehe so schlecht!« – sprach’s und schwamm weiter, in ihrem eigenen Tempo, ihre ganz eigenen Bahnen.

Ich habe viel über diese Frau nachgedacht. 87 Jahre alt, sagte sie und ich rechne zurück: 1924 geboren, also hat sie ihre Jugend im Hitler-Deutschland erlebt. Ich stelle mir vor, wie sie vielleicht in Hamburg aufgewachsen sein mag: Sie mag in einem wohlhabenden und gebildeten Elternhaus aufgewachsen sein, das Gymnasium besucht haben und als 14-jähriges Mädchen 1938 ganz selbstverständlich in den Bund deutscher Mädel, den BdM, aufgenommen worden sein. Und ich stelle mir vor, wie sie dort bei den vielen Aktivitäten des BdM ihre Leidenschaft für das Schwimmen entdeckte. Sie merkte, wie gut ihr das Schwimmen tat, und sie war geschickt. Ihr Körper schien wie geschaffen für das Wasser zu sein. Mühelos konnte sie sich darin bewegen und war schneller als alle anderen. Bald gewann sie sämtliche internen Schwimmmeisterschaften, sowohl in der Schule als auch beim BdM. Wenn sie Probleme hatte, wenn Sorgen sie quälten, war das Schwimmen ihre Zuflucht: Hier konnte sie sich ganz auf sich konzentrieren und gewissermaßen »abtauchen« vor allem, was über sie hereinzubrechen drohte. Bald nahm sie an größeren, überregionalen Schwimmmeisterschaften teil und errang auch hier Trophäe um Trophäe. Die Sportwelt war fasziniert von der flinken und eleganten Art ihrer Schwimmtechnik. Doch die Umstände und Wirren des Zweiten Weltkrieges verhinderten eine weitere Karriere: Im Jahr 1943 brach sie sich bei einer »Verschickung« nach Ostpreußen ihr Fußgelenk und war wochenlang außer Gefecht gesetzt. Doch auch in Ostpreußen erwies sich das Wasser und das Schwimmen als ihr engster Freund und Begleiter: Hier fand sie wieder zurück zu ihrem geliebten Sport.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gehörte sie mit 21 Jahren zu den ersten, die studierten, und wurde Gymnasiallehrerin für Geschichte, Sport und Latein an einem altehrwürdigen Mädchengymnasium in ihrer Heimatstadt. Während des Studiums hatte sie ihren Mann kennengelernt, der leider sehr früh verstarb. Aus dieser Ehe war eine Tochter hervorgegangen. In all den Jahrzehnten hatte sie das Schwimmen wie ein stiller, wunderbar tragender und erfrischender Freund begleitet. Hier konnte sie sich fallen lassen wie früher – im Salzwasser allemal –, einfach abtauchen und ihren Träumen und Gedanken freien Lauf lassen. Das Wasser war immer zweite Heimat und Zufluchtsort für sie. Und nun war sie nach langer Krankheit endlich wieder an dem Ort ihrer Jugend. Begleitet von ihrer Tochter genoss sie hier das Wellenbad an der Nordsee.

Diese ältere Dame ist für mich zu einem Inbegriff des Menschen geworden, der zumindest in einem bestimmten Moment sagen konnte: »Da, wo ich bin, da will ich sein!« Als Schwimmerin aus Leidenschaft war es ihr nach langer Krankheit ein absolut dringliches Anliegen, wieder zu schwimmen – so sehr, dass sie dieses für eine alte Frau nicht ungefährliche Geschiebe und Geschubse in einem überfüllten Schwimmbecken in Kauf nahm. Beim Schwimmen war sie ganz sie selbst und lebte auf, das war ganz offensichtlich (= ich). Sie brauchte zwar Hilfe, um aus dem Becken herauszukommen, doch im Wasser war sie mindestens 30 Jahre jünger. Hier war sie so, wie sie sich fühlen wollte und sich selbst verstand (= bin). Deshalb war es kein Zufall, kein Entschluss aus Langeweile, sondern ihr fester Wille, genau da zu sein, wo sie war (= will). Alles andere hätte einen Rückschritt bedeutet. Während ihrer ganzen Krankheit, als sie ans Bett gefesselt war, hat sie sich diesen Moment, wieder schwimmen zu können, herbeigesehnt und nun genoss sie es in vollen Zügen. Sie blendete das Chaos um sie herum aus und war ganz sie selbst. Sie konnte und durfte »sein«. Sie war so offensichtlich und so sehr in ihrem Element, dass sie die anderen Schwimmer (oder zumindest mich) damit ansteckte und ich noch mehr begann, den kleinen Freiraum, den mir die anderen Schwimmer ließen, zu genießen.

Da, wo ich bin, da will ich sein!

Im Gefängnis

Waren Sie schon einmal in einem Gefängnis? In der Vergangenheit wurde ich immer wieder einmal eingeladen, bei Gefängnisgottesdiensten mitzuwirken. Die Begegnungen mit Gefangenen sind oft beklemmend, denn ein Gefängnis gehört mit Sicherheit zu den Orten, an denen man am wenigsten sein möchte. Um als Außenstehender ein Gefängnis betreten zu können, bedarf es einer längeren Vorbereitung: Man muss angemeldet sein und seinen Personalausweis an der Pforte abgeben. Dann schließt sich hinter einem das Eingangstor und das nächste wird geöffnet und gleich hinter einem wieder verschlossen. Überall sind Kameras und Wachleute, aus den Gängen schallt der Lärm von Männerstimmen und der Essensausgabe. In den meisten Gefängnissen gelangt man über einen Innenhof hinüber in den Trakt, in dem die Kirche des Gefängnisses untergebracht ist. Auf meinem Weg dorthin mustern mich die Insassen, die zum Teil schon vor der Kirche oder im Gottesdienstraum stehen, neugierig. Der Sakralraum wirkt meistens wie eine kleine Oase in der Tristesse des Gefängnisalltags, und das ist auch gut so. Obwohl sich die Gefangenen vorher anmelden müssen, wenn sie an den Gottesdiensten teilnehmen möchten, sind diese meist recht gut besucht. Das hat in der Regel weniger damit zu tun, dass diese Menschen besonders fromm oder hungrig nach »geistlicher Nahrung« sind, sondern vor allem auch damit, dass sie sich hier relativ frei bewegen und begegnen können. Man trifft die anderen außerhalb des vorgesehenen Rahmens, kann Tauschgeschäfte anbahnen und hat, wenn Gäste da sind, zumindest einen minimalen Außenkontakt. Viele der Insassen singen gerne, zum Beispiel Gospels oder Shantys, und in manchen Gefängnissen gibt es eine Art Kirchenchor. Vielleicht ist es auch die Musik und der Klang der eigenen Stimme, verbunden mit einem trostvollen Lied, die einen über die momentane, eigene Befindlichkeit hinausträgt, die das Singen in den Gefängnisgottesdiensten so beliebt macht.

 

Von einem Gesang »hinter Gittern« berichtet uns auch die Apostelgeschichte in Kapitel 16. Dort wird berichtet, dass man den Apostel Paulus und seinen Begleiter Silas in den Sicherheitstrakt eines Gefängnisses geworfen hatte. Da saßen sie nun, in Ketten gelegt, im Dunkeln, hungrig und durstig. Kein angenehmer Ort und eigentlich eine Situation, in der man laut aufschreien und sich beim Leben oder beim lieben Gott bitter beschweren möchte. Doch etwas anderes geschieht: Um die Mitternachtszeit begannen die beiden zu beten und Gott zu loben. Das taten sie laut und sicher auch mit Gesang, denn die anderen Gefangenen hörten sie.

 

Wenn wir Lieder singen, strecken wir uns nach der Freiheit aus, und wenn wir Gott loben, dann strecken wir uns nach einer Freiheit aus, die über unsere Tränen und unseren Schmerz hinausgeht. Wir spüren dann vielleicht, dass wir nicht allein sind. Im Hebräischen, der Ursprache der Bibel, bedeutet das Wort »näfäsch« sowohl »Kehle« als auch »Seele«. Wenn wir also mit unserer Kehle ein Lied anstimmen, dann schwingt unsere Seele mit. Das gilt ganz besonders dann, wenn wir ein Dank- oder Loblied singen, denn wir wenden uns dann ganz bewusst an den Ursprung unserer Seele, an den Schöpfer. Somit war das Singen von Paulus und Silas viel mehr als das berühmte »Pfeifen im Wald«, wenn man Angst hat. Es war Ausdruck ihrer Freiheit – mitten im Gefängnis.

Man muss sich den Glauben und das Vertrauen der beiden einmal vor Augen führen: Welchen Grund hatten sie, Gott zu loben? Ich glaube, ich wäre ziemlich sauer gewesen und hätte mich bei Gott heftig beklagt. Aber das Vertrauen darauf, »dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten sind« (Römer 8,28), war so stark, dass sie sich bei Gott bedankt haben für die Situation, in der sie waren. Während sie also kein Klagelied, das sie bestimmt auch auf den Lippen gehabt hätten, angestimmt haben, sondern es bewusst durch ein frohes und dankbares Lied ersetzt haben, wurden sie selbst von dieser Freude und Hoffnung erfasst.

Paulus und Silas haben sich ganz bewusst für das sprichwörtlich halb volle Glas entschieden und nicht für das halb leere. Darin besteht das Phänomen des Glaubens, dass die äußeren Umstände die innere Freiheit im Grunde nicht antasten können. »Ist Gott für uns, wer will dann gegen uns sein?« (Römer 8,31). Aus dieser inneren Freiheit sind die Gospels und Spirituals der versklavten Schwarzen entstanden, man hat sich und die anderen an die eigentliche Heimat erinnert und daran, dass es eine Freiheit gibt, die nicht in Ketten gelegt werden kann.

Paulus und Silas machen also das Beste aus ihrer Situation, indem sie sich positiv stimmen und sich darüber klar werden, dass ihre Situation das Ergebnis dessen ist, was sie von Herzen bejahen und wollen: Sie haben sich dafür in aller Freiheit entschieden, Jesus Christus nachzufolgen und seine befreiende Botschaft zu verkünden. Deshalb wurden sie eingesperrt. Die Gefangenschaft ist also das Ergebnis ihrer Freiheit. Mit ihrem Gesang bringen die beiden jedoch zum Ausdruck: »Da, wo ich bin, da will ich sein!« Wenn sich also Paulus und Silas in einem düsteren Gefängnisloch zu solch einer scheinbar paradoxen Haltung durchringen können, um wie viel mehr müssten wir auch zu einer solchen Haltung finden können, wie auch immer unsere Lebensumstände im Augenblick sein mögen: »Da, wo ich bin, da will ich sein!«

 

Im Sommer 2011 veröffentlichte die Deutsche Bahn das Ergebnis einer Untersuchung unter ihren Mitarbeitern. Daraus ging hervor, dass 70 Prozent aller Arbeitnehmer dieses Unternehmens lustlos und unmotiviert ihrer Arbeit nachgehen. Anscheinend wollen also 70 Prozent der Arbeitnehmer nicht da sein, wo sie sind.

 

Vielleicht denken auch Sie: Die haben recht! So, wie es in meiner Familie aussieht, und bei dem Klima an meinem Arbeitsplatz, will ich wirklich nicht mehr so weitermachen wie bisher. Sie sind dann in bester Gesellschaft mit vielen Menschen, die da, wo sie sind, nicht sein wollen – zumindest auf den ersten Blick. Mit dieser Einstellung bringen sie sich selbst und andere in eine schlechte Stimmung. Offensichtlich wäre die einfachste Lösung, gar nicht mehr zur Arbeit zu erscheinen und sich einen anderen Arbeitsplatz zu suchen. Aber auf diese Alternative angesprochen, kommen zumeist die Gegenargumente: »Wenn ich meinen jetzigen Job kündige, dann muss ich mir ja einen neuen suchen. Von Harz IV will und kann ich ja nicht leben, schließlich muss ja auch noch unser Haus abbezahlt werden. Das gäbe dann ein finanzielles Fiasko. Wer sagt mir außerdem, dass der neue Job besser ist, denn sooo schlecht ist mein jetziger Arbeitsplatz nun auch wieder nicht, und die Kollegen sind ja eigentlich ganz nett. Außerdem würde mir meine Frau die Hölle heiß machen, wenn ich einfach so von der Arbeit wegbliebe« und so weiter.

Auf einmal merken wir, wie »teuer« es uns zu stehen käme, wenn wir tatsächlich etwas an unserer jetzigen Situation ändern wollten. Deshalb wäre es folgerichtig und klug zu sagen: »Da, wo ich bin, da will ich sein! Alles andere wäre mir zu teuer und aufwendig und würde nicht dem entsprechen, was ich eigentlich will.« Wenn ich also nach ausführlichem Nachdenken feststelle, dass ich an meiner momentanen Situation nichts ändern möchte, wäre es doch klug, meine Lebenssituation positiv einzuschätzen und zu bejahen. Fahren Sie also nach Hause und sagen Sie es, schreiben Sie es sich an den Spiegel, an den Kühlschrank, an die Kaffeemaschine, ans Lenkrad und an Ihren Monitor: »Da, wo ich bin, da will ich sein!« Sie werden erstaunt sein, wie sich nicht nur Sie selbst, sondern auch Ihr ganzes Umfeld dadurch verändert.

 

Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben, sodass die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Und sogleich öffneten sich alle Türen und von allen fielen die Fesseln ab. (Apostelgeschichte 16,24)

 

»Da, wo ich bin, da will ich sein!« – Was geschieht, wenn wir die Situation, in der wir uns momentan befinden und aus der wir im Moment – aus welchen Gründen auch immer – nicht entfliehen können, bejahen und nicht beklagen, willkommen heißen und nicht verfluchen? Nach meiner Erfahrung geschehen drei Dinge, eventuell sogar gleichzeitig:

Die Grundmauern wanken

Wenn ich beschließe: »Ich will da, wo ich bin, arbeiten!«, gerät etwas, das seit Jahrhunderten fest gemauert erschien, auf einmal ins Wanken, nämlich, dass man zur Arbeit gehen muss und dass allein schon deshalb Arbeit in den meisten Fällen gar keinen Spaß machen kann. Wenn wir aber diesen Teufelskreis durchbrechen, wanken die Grundmauern unseres selbst erbauten Gefängnisses und stürzen von selbst ein. Dem Stoiker Marc Aurel (ca. 300 v. Chr.)wird der Satz zugeschrieben: »Arbeite! Aber nicht wie ein Unglücklicher oder wie einer, der bemitleidet werden will!«

Diese Grundmauern bestehen aus Stimmen, Stimmungen und Beurteilungen, die sich mitunter über Jahrzehnte in meinem Kopf gebildet und verfestigt haben. Sie bestehen aber auch aus Lebensskripten, die zum Teil seit unserer Kindheit in uns verankert sind.

 

Mir wurde zum Beispiel als kleiner Junge immer suggeriert: »Wir Bittlingers haben zwei linke Hände und können noch nicht einmal ordentlich einen Nagel in die Wand schlagen!« Aufgrund dieser negativen Einstellung zum Heimwerken wurde auch niemals anständiges Werkzeug angeschafft, sodass es tatsächlich unmöglich war, minderwertige Nägel mit einem schlechten Hammer gerade in die Wand zu schlagen. Noch heute macht sich ein großer Widerwillen bei mir bemerkbar, wenn es darum geht, ein Loch in die Wand zu bohren und ein Regal zu befestigen, aber unser Haushalt hat nun einen relativ gut sortierten Werkzeugkasten, und wenn ich das Ganze positiv und nicht wie ein Unglücklicher angehe, dann gelingt auch mir das eine oder andere im Haushalt – und schon wieder ist eine Grundmauer meines Gefängnisses eingestürzt.

 

Diese Episode können Sie auf viele andere Lebensbereiche übertragen, zum Beipiel die Ehe: In jeder Ehe gibt es diese Grundmauern, die uns gefangen halten und den anderen auf den bisher gemachten Erfahrungen festnagelt: »Du bist nie pünktlich!«; »Du machst ja nichts im Haushalt!«; »Sexuell geht immer alles nur von mir aus!« Als wir als relativ spät gebärende Eltern unsere beiden Kinder bekamen, gab es eine Zeit in unserer Ehe, in der sich unsere Liebesbeziehung wie ein großer, müder Riese schlafen gelegt hatte und ich irgendwann den Eindruck hatte: Wir begegnen einander nur noch wie Brüderchen und Schwesterchen. Das war mir zu wenig, und gerade in der Ehe kann der Satz »Da, wo ich bin, da will ich sein!« nur Bestand haben, wenn beide Partner bereit sind, etwas für die Beziehung zu tun. Gerade für die Ehe gilt der Satz: »Wenn jemand möchte, dass alles so bleibt, wie es ist, dann möchte er nicht, dass alles so bleibt, wie es ist!« Das bedeutet: Wenn man möchte, dass eine Liebesbeziehung eine Liebesbeziehung bleibt, muss man bereit sein, daran zu arbeiten, und bei der Begegnung mit dem anderen präsent und fantasievoll sein.

 

Ich habe damals, am Anfang eines Jahres, zu meiner Frau gesagt: »Ich wünsche mir, dass wir am Ende des Jahres wieder ein Liebespaar sind!« Und so gingen wir diesen Prozess nicht »wie zwei Unglückliche« an, sondern eher wie ein Abenteuer und eine Entdeckungsreise. Zu unserem Glück konnten wir damals für vier Monate nach Kalifornien »auswandern«. Dort haben wir begonnen, uns neu zu entdecken. Positiv gestimmt und aus den alten Bezügen und Festlegungen ausgebrochen, zerbrach so manche Grundmauer unseres Gefängnisses.

 

Dass Mauern in der Kombination von Glauben und Musik ins Wanken geraten, kennen wir aus der Erzählung von der Einnahme der Stadt Jericho (vgl. Josua 6,1  27), deren Zustand im Alten Testament wie ein Gefängnis beschrieben wird:

 

Jericho war den Israeliten gänzlich verschlossen und niemand konnte hinein- oder herauskommen.

(Josua 6,1)

 

Wie eine Blockade war diese Stadt bei der Landnahme Kanaans. Und nun erhält Josua einen doch sehr seltsamen Befehl: Er solle an sechs Tagen hintereinander mit seinem ganzen Heer jeweils einmal um die Stadt ziehen und sieben Priester sollten die »Lärmhörner« vor der Bundeslade tragen. Am siebten Tag sollten sie dann sieben Mal um die Stadt ziehen, und abschließend die Priester in die Lärmhörner blasen und das Heer in ein lautes Geschrei ausbrechen. Die uneinnehmbaren Mauern von Jericho würden dann von selbst in sich zusammenstürzen.

Auch in dieser Erzählung geht es um den Glauben, und es geht um meine Haltung: Wie gehe ich eine Sache, ein Problem an? Das Volk Israel erhält den Rat, gleich von Anfang an mit einem Triumphmarsch »wie ein Sieger« um die scheinbar uneinnehmbare Festung zu schreiten und nicht »wie ein Unglücklicher«. Auf diese Weise nehmen sie den Sieg gewissermaßen innerlich und äußerlich vorweg. Und siehe da: Die Mauern geraten ins Wanken und stürzen ein!

Bei der Erzählung von Paulus und Silas werden nicht nur die äußeren Grundmauern des Gefängnisses erschüttert, sondern auch die Grundmauern und -überzeugungen des Gefängnisaufsehers: Anders als erwartet sind die ihm anbefohlenen Gefangenen nicht ihrem ganz normalen Reflex gefolgt und aus dem Gefängnis geflohen, sondern einfach da geblieben. Dass da Gefangene im geöffneten Knast sitzen und sich die Freiheit nehmen, da zu bleiben und sich um das Wohl des Gefängniswärters zu kümmern, bringt dessen Grundüberzeugungen ins Wanken.

Türen öffnen sich

Wenn ich mich selbst öffne, kann sich mein Gegenüber auch öffnen. Wenn ich Vertrauen wage, dann finden auch andere den Mut, Vertrauen zu wagen. Jemand, der selbst motiviert und positiv gestimmt ist, kann auch andere motivieren und positiv stimmen. Auf einmal ist dann vieles, was vorher nicht möglich schien, möglich und es öffnen sich Türen und neue Möglichkeiten, die vorher gar nicht absehbar waren.

 

Die Geschichte der Gewerkschaftsbewegungen ist voll von solchen überraschenden Erkenntnissen, denn wo man begonnen hatte, die Arbeitsbedingungen und das Mitspracherecht der Arbeiter zu verbessern, Angestellte besser zu behandeln und positiv zu stimmen, wurden Erfolgsgeschichten geschrieben und Türen geöffnet, weil die Qualität der Ergebnisse und die Produktivität der Mitarbeiter gesteigert werden konnten. Wenn ich in meiner Grundeinstellung positiv gestimmt bin, öffnen sich aber nicht nur Türen an meinem Arbeitsplatz, sondern auch in allen anderen Bereichen: in meiner Ehe, in meiner Familie, in meinem sozialen Umfeld. Meine Mitmenschen bekommen wieder Lust, mir zu begegnen und sich mir zu öffnen.

 

In der Erzählung von Paulus und Silas ist auch spannend, dass die beiden im Gefängnis verharren, obwohl sich scheinbar alle Türen geöffnet haben. Vielleicht haben sie gespürt, dass da eine noch viel wichtigere Tür aufgehen und ihrer Situation einen noch tieferen Sinn geben wird. Ich habe es immer wieder erlebt, dass es schwer ist zu akzeptieren, wenn Türen, die einmal weit offen standen, plötzlich verschlossen sind. Man steht vor dieser einen Tür, rüttelt heftig daran und steht dabei in der Gefahr, die vielen Türen, die sich woanders auftun, zu übersehen. Ich müsste nur bereit sein, meine Situation zu bejahen. Man ist versucht, dann ein Brecheisen herauszuholen und zu versuchen, die geschlossene Tür mit aller Gewalt zu öffnen. Aber das bringt erst recht nichts. Wenn wir versuchen, uns durch eine gewaltsam geöffnete Tür zu zwängen, sind wir erschöpft und uninspiriert. Wir sind misstrauisch, weil man ja weiß, dass man eigentlich nicht willkommen ist, und ahnt, dass man einen sehr schweren Weg vor sich hat, bei dem die Ablehnung und das Scheitern schon vorprogrammiert sind.

Obwohl Paulus und Silas nur verschlossene Türen vor sich hatten, bejahten sie ihre Situation und stimmten ein Loblied an. Von der kompletten Überraschung, dass auf einmal alle Türen, die vorher verschlossen waren, aufspringen, ließen sie sich erstaunlich wenig beeindrucken, denn es gab noch eine viel wichtigere Tür, berichtet die Geschichte: die Tür zum Herzen des Gefängnisaufsehers. Dieser wollte seinem Leben ein Ende bereiten, als er merkte, dass sein Zuständigkeitsbereich in Schutt und Asche gelegt war. Doch Paulus und Silas riefen ihm zu: »Tu dir nichts an, wir sind alle noch da!«

Dieses Ereignis erschüttert nicht nur die Grundmauern des Gefängnisses und der Insassen, wie oben beschrieben, es erschüttert auch die Grundüberzeugungen des Aufsehers so sehr, dass das Tor seines Herzens und seiner Seele mit einem Mal weit aufgestoßen wurde und die Frage aus ihm herausbrach: »Was muss ich tun, um gerettet zu werden?« Die Türen zu den Herzen der Menschen, mit denen wir zu tun haben, sind die wichtigsten Türen, die dann aufspringen, wenn sie mich als freien und offenen Menschen erleben.

Fesseln fallen ab

Erleichterung macht sich breit, wenn ich wirklich sagen kann: »Da, wo ich bin, da will ich sein!« Wenn ich dagegen gefangen bin in meiner Welt und nicht mehr fröhlich aus dem Fenster schauen kann, lege ich alle Mitmenschen, die mit mir zu tun haben, ebenfalls »in Ketten«. Wenn ich nur noch gehetzt und gestresst von einem Termin zum nächsten jage, ohne innezuhalten und wirklich da zu sein, wo ich bin, stresse ich auch alle anderen. Meine Ehe, meine Kinder und auch mein weiteres soziales Umfeld leidet mit.

 

Wenn ich Menschen beobachte, die auch im Urlaub am Frühstückstisch mit Laptop, Blackberry und Handy beschäftigt sind, während der Rest der Familie kuschen muss und gelangweilt und gefangen mit am Frühstückstisch sitzt, ist mir ganz unheimlich. Wohl dem, der es zumindest im Urlaub schafft zu sagen: »Da, wo ich bin, da will ich sein! Da will ich leben und aufatmen und nicht der Knecht moderner kommunikativer Fußfesseln sein.« – Womit wir wieder beim Thema »Gefängnis« wären.

 

Auch von dem Gefängnisaufseher in unserer Geschichte von Silas und Paulus fallen die Fesseln ab: Zunächst ist er unglaublich erleichtert, weil alle Gefangenen noch da sind. Er weiß jetzt, dass er seinem Leben kein Ende setzen muss. Er denkt sich: Wenn ich es aus welchen Gründen auch immer geschafft habe, dass trotz der Zerstörung des Gefängnisses alle Gefangenen dageblieben sind, dann eröffnen sich vielleicht neue berufliche Möglichkeiten für mich. Es öffnet sich für ihn eine erste Tür, durch die er aber gar nicht gehen möchte, weil er merkt, dass hier etwas viel Wichtigeres passiert. Er spürt, dass auf einmal die Tür seines Herzens aufspringt und er eine tiefe Sehnsucht nach erfülltem Leben empfindet. Deshalb stellt er die Frage: »Was muss ich tun, um gerettet zu werden? Was muss ich tun, um wirklich befreit zu werden? Ich möchte so frei sein, dass ich keine Angst mehr haben muss, selbst vor dem Tod nicht. Bitte macht mich frei!« Er begegnet der befreienden Botschaft Jesu und lässt sich taufen. In der Taufe fallen die Fesseln der Angst, der Schuld und des Todes ab.

Schließlich verstößt er gegen eine eherne Regel für Gefängnisaufseher: Keine privaten Kontakte zu Häftlingen! Es scheint, als wolle er das Geschehene noch einmal manifestieren, und geht gemeinsam mit den Gefangenen durch die geöffneten Türen des Gefängnisses. Die Grundmauern stürzen ein. Er öffnet die schützende Tür seines Privathauses, lädt Paulus und Silas zu sich ein und versorgt ihre Wunden. Die Fesseln seiner Angst sind wie weggepustet er ist ein neuer, ein freier, ein anderer Mensch geworden!