Lorenz Marti

Eine Handvoll Sternenstaub

Was das Universum über das Glück des Daseins erzählt

 

Impressum

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

 

ISBN (E-Book): 978 - 3 - 451 - 33940 - 0

ISBN (Buch): 978 - 3 - 451 - 61109 - 4

Inhaltsübersicht

Willkommen!

Die erste Sekunde: Wie alles angefangen hat – und die Frage nach dem Warum

1. Ein wirklich kleines Wunder

2. Das größte Ereignis aller Zeiten

3. Zurück vor den Anfang

4. Die Frage nach Ursprung und Sinn

Eine unglaubliche Geschichte: Die Evolution des Kosmos – und wie sie uns begünstigt

5. Das kosmische Gedächtnis

6. Die Biografie des Universums

7. Bis an die Enden der Welt

8. Das Rad des Wandels

9. Mut zur Unvollkommenheit

Die drei großen Rätsel: Licht, Zeit, Materie – und was sich dahinter versteckt

10. Lieder des Lichts

11. Im Herzen der Materie

12. Die Vermessung der Zeit

13. Die Verknüpfung des Raums

14. Ein Hauch von Ewigkeit

15. Der Traum von der Weltformel

Verborgene Schlüssel: Die allerkleinsten Teilchen – und was sie uns verraten

16. Der Apfel der Erkenntnis

17. Spiele der Natur

18. Wenn Gott würfelt

19. Ein Reigen von Möglichkeiten

20. Lob der Unbestimmtheit

21. Bildhauer im Quantenkosmos

22. Der Widerspruch in allen Dingen

23. Jenseits der Gegensätze

24. Wissenschaft und Weisheit

25. Die verschleierte Wahrheit

Unsichtbare Wirklichkeiten: Die Fülle der Leere – und wie wir die Welt erschaffen

26. Ein Tanz ohne Grenzen

27. Warum wir die Leere brauchen

28. Die Erschaffung einer Blume

29. Das Ich unter dem Mikroskop

30. Wenn alles ganz einfach wird

Das große Himmelszelt: Sonne, Mond und Sterne – und was sie uns zeigen

31. Die Handschrift der Götter

32. Die Botschaft der Sterne

33. Das Universum in uns

34. Wenn die Lichter ausgehen

35. Stern unseres Lebens

36. Trost vom Mond

37. Der Klang der Welt

Unter einem guten Stern: Der blaue Planet – und warum er so besonders ist

38. Wo wir zu Hause sind

39. Die Geburt der Erde

40. Das Experiment Leben

41. Was den kleinen Menschen groß macht

42. Die Unendlichkeit in einem Sandkorn

43. Das Kreisen der Welt

44. Wie der Kosmos heilen kann

45. Ein heiliges Ja

Was wirklich zählt: Das Wunder des Lebens – und das Glück der Liebe

46. Der Strom des Lebens

47. Alle unsere Verwandten

48. Eine ständige Wiedergeburt

49. Nichts geht verloren

50. Atmen und Atman

51. Das unsichtbare Netz

52. Eine ewige Liebesgeschichte

Punctum

Danke

Nachwort

 

Die Wissenschaft braucht die Mystik nicht

und die Mystik nicht die Wissenschaft,

aber der Mensch braucht beides.

 

Fritjof Capra

Willkommen!

Herzlichen Glückwunsch: Sie sind einzigartig! Einen Menschen wie Sie gibt es kein zweites Mal. Unter den rund 107 Milliarden Menschen, die bisher diesen Planeten bewohnt haben, ist kein einziger identisch mit Ihnen. Und das wird auch in Zukunft so bleiben. Die Natur kennt keine Kopien. Sie sind ein Original.

Wie außergewöhnlich Ihr Dasein ist, zeigt auch ein Blick in die wechselhafte Geschichte des Universums: Die Wahrscheinlichkeit, dass es Sie gibt, liegt praktisch bei Null. Trotzdem sind Sie da. Und die Welt wäre bestimmt ärmer ohne Sie! Ihr Dasein verdanken Sie einer unwahrscheinlichen Verkettung von unzähligen Ereignissen, die schließlich zu Ihrer Existenz hier und heute geführt haben. Es ist eine atemberaubende Geschichte, die nur einen Schluss zulässt: Glück gehabt! Sie haben das große Los gezogen (vielleicht ohne es zu bemerken?).

Willkommen in dieser Welt, wo auch das Unwahrscheinliche Wirklichkeit werden kann: ein Mensch wie Sie!

Aus dem Nichts sind Sie gekommen. Eingetreten in die Jahrmilliarden alte Geschichte dieses Universums, um für ein paar Jahrzehnte mitzuspielen, bevor Sie wieder im Nichts verschwinden. Wobei der Begriff »Nichts« nur die Umschreibung ist für eine Wirklichkeit, die wir nicht kennen. Eine Wirklichkeit, die so ganz anders ist als alles, was wir begreifen und benennen können.

In Ihnen verkörpert sich die ganze kosmische Evolution. Sie sind wortwörtlich Sternenstaub: Die kleinsten Bausteine Ihres Körpers, die Atome und Moleküle, wurden einst von Sternen ins All geschleudert. Diese Bausteine bestehen im Innersten weitgehend aus leerem Raum. Physikalisch könnte man Sie auch als Leere mit etwas Verpackung beschreiben. Das klingt merkwürdig, weil Ihre fünf Sinne Ihnen den Eindruck von etwas durchaus Beständigem vermitteln. Aber der Mikrokosmos hat einige Merkwürdigkeiten zu bieten, die mit unserer Alltagserfahrung nicht übereinstimmen. Dass Sie aller Physik zum Trotz nicht bloß Leere, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut sind, ist doch wunderbar!

Wunderbares zeigt auch der Blick in die unermesslichen Weiten des Alls. Da wird die Welt offen und weit. Im Spiegel der Sterne und Galaxien erscheint vieles, was uns im Alltag beschäftigt, in einem neuen Licht. Gewichtungen werden verschoben, neue Perspektiven eröffnen sich. Das Ich mit seinen vielfältigen Verstrickungen wird auf eine wohltuende Weise relativiert. Etwas Größeres zeichnet sich ab.

Es sind vor allem zwei miteinander verwandte Wissenschaften, die uns heute einen faszinierenden Blick hinter den Vorhang des Alltäglichen erlauben: Quantenphysik und Kosmologie. Was die Forscher hier entdecken, ist zu wichtig, als dass wir es allein den Fachleuten überlassen dürften. Es geht um die Koordinaten unserer Existenz. Um Sie und um mich. Um unser Leben. Und um die Frage, was das alles soll.

Dieses Buch ist ein Versuch, das Leben zu vermessen bis an die Grenzen des Unermesslichen. Die Linien werden ausgezogen in die Dimensionen des unendlich Kleinen und des unendlich Großen. Eine beinahe berauschende Erfahrung. Zwischen dem funkelnden Sternenzauber und dem wirbelnden Tanz der Elementarteilchen erscheint die Welt immer wieder überraschend neu und anders. Raum und Zeit werden relativ. Die Materie verschwindet. An die Stelle fester Strukturen und Gesetze treten Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten. Schwingungen und Beziehungen formen die Wirklichkeit. Die Welt gleicht weniger einer Maschine als vielmehr einem großen Tanz. Und wir tanzen mit.

Wir sind Teil einer großen, vierzehn Milliarden Jahre alten Geschichte. Wer sie zu lesen versucht, ahnt etwas von den Tiefendimensionen der Welt und vom Geheimnis unserer Existenz. Etliche Fragen bleiben dabei offen. Aber sie verlieren ihre Dringlichkeit, weil wir spüren, dass wir uns dieser Geschichte auch anvertrauen dürfen, ohne sie ganz zu verstehen.

Wer meint, auf ihn oder sie komme es dabei nicht an, täuscht sich: In jedem Menschen drückt sich das Universum auf eine einmalige, unverwechselbare Weise aus. Über Jahrmillionen haben die kosmischen Kräfte eine Entwicklung vorangetrieben, die zu uns, zu Ihnen und zu mir geführt hat. Warum sie das getan haben, wissen wir nicht. Wir können nur staunen, dass es so gekommen ist. Das Staunen steht am Anfang der Philosophie – und fast aller schönen Dinge im Leben. Es öffnet Fenster zum Glück.

Die 52 Kapitel dieses Buches sind auch eine Anleitung zum Staunen. Um Ihnen beim Lesen die Orientierung zu erleichtern, stehen am Schluss jedes Kapitels drei Sätze, welche das Wesentliche auf den Punkt bringen.

Ach ja, auch mit dem Punkt ist es übrigens so eine Sache 

Die erste Sekunde:

Wie alles angefangen hat – und die Frage nach dem Warum

Der Mensch trägt in sich eine Spur,

die ihn nicht vergessen lässt,

dass er woandersher kommt.

Blaise Pascal

1

Ein wirklich kleines Wunder

Ich möchte Sie auf ein kleines Wunder aufmerksam machen. Sie finden es am Ende dieses Satzes.

Haben Sie es bemerkt?

Wahrscheinlich nicht. Ich jedenfalls hätte es mit Sicherheit nicht entdeckt. Es ist so entsetzlich banal, dass wohl alle es schlicht übersehen. Ich meine den Punkt am Ende des Satzes.

Ein Wunder? Auch wenn Sie den Punkt jetzt ganz genau betrachten, werden Sie wahrscheinlich nichts Wunderbares daran bemerken. Ein unbedeutender Punkt eben.

Aber jetzt stellen Sie sich einmal vor: In diesem einen Punkt sind Milliarden von Atomen versammelt! Sie bilden zusammen den kleinen schwarzen Fleck, der auf dem Papier klebt und signalisiert: So ist es. Von seinem äußerst bewegten Innenleben verrät er nichts. Sie müssen auch nicht befürchten, dass er plötzlich weghüpft: Der Punkt bleibt, wo er ist. Er scheint etwas sehr Beständiges zu sein. Doch je näher die Wissenschaftler ihn betrachten, umso unruhiger wird er. Im Innersten zeigt er sich als Gewebe von quirligen Elementarteilchen.

Wo ein Punkt gesetzt wird, scheint die Sache klar. Wo der Punkt selber aber zerlegt wird, ist vieles nicht mehr klar. Er besitzt kaum materielle Substanz. Jedes seiner Atome besteht aus einem winzigen Kern, um den sich in einer Art Wolke die noch einmal viel, viel kleineren Elektronen bewegen. Zwischen dem Kern und den Elektronen erstreckt sich ein riesiger leerer Raum. Vergrößern wir das Atom in der Vorstellung auf die Maße des Petersdoms in Rom, dann wäre sein Kern irgendwo in der Mitte, so groß wie ein Salzkörnchen, während die Elektronen als mikroskopisch kleine Staubteilchen an der Decke entlangwirbeln.

Doch das Salzkörnchen im Petersdom ist nicht zu unterschätzen: Es wäre tausende Male schwerer als die Basilika, die es umgibt. Denn im Atomkern konzentriert sich fast die gesamte Masse. Er kann noch weiter zerlegt werden: Seine Bestandteile heißen Protonen und Neutronen. Und diese bestehen aus sogenannten Quarks, verschwindend kleinen Energiepaketen.

Quarks und Elektronen werden Elementarteilchen genannt, weil sie – nach heutigem Stand des Wissens – nicht weiter geteilt werden können. Sie sind keine festen Objekte. Elementarteilchen sind flüchtige Erscheinungen in einem Gewebe, das durch die zwischen ihnen wirkenden Kräfte zusammengehalten wird. Sie bewegen sich hart an der Grenze zum Nichtsein. Die feste Materie ist verschwunden.

Ist uns jetzt der Punkt entwischt?

Nein, er steht noch da, gut sichtbar auf dem Papier. Aber wenn wir den Physikern folgen, dann ist er nicht so beständig, wie wir ihn wahrnehmen. Vielmehr erweist er sich als höchst instabiles Gebilde, dessen Innerstes nicht mehr zu fassen ist. Was aber bleibt denn am Schluss übrig? Die Wissenschaftler reden von Energiefeldern. Von Beziehungsmustern. Von Möglichkeiten, die sich zu einer Wirklichkeit verdichten können. Von einem kreativen Prinzip, das sich materialisieren kann. Was auch immer es ist – es bleibt ungreifbar und deshalb auch ziemlich rätselhaft.

Ein ganz gewöhnlicher kleiner Punkt – und schon berühren wir die großen Grundfragen dieser Welt. Ein Punkt ist eben mehr als ein Punkt. Er ist ein kleines Universum. Und er weiß einiges zu erzählen. Aber er gibt sein Geheimnis nicht sogleich preis. Man muss ihn befragen, lange und geduldig und immer wieder.

Ansonsten leistet er als Satzzeichen ganz gute Dienste. In einem geschriebenen Text schließt er einen Satz ab. Er markiert ein Ende. Aber das ist nur auf dem Papier so. Ein Punkt muss nicht immer das Ende bedeuten. Manchmal ist es gerade umgekehrt.

Mit einem Punkt hat einmal alles angefangen.

Auf den Punkt gebracht:

  • Ein einziger Punkt enthält ein ganzes Universum von Atomen.

  • Atome bestehen aus Elementarteilchen und Leere.

  • Elementarteilchen sind unfassbar, die Materie verschwindet.

2

Das größte Ereignis aller Zeiten

Alles beginnt mit einem verschwindend kleinen Punkt, viel kleiner noch als ein Atom. Einem Punkt aus Licht. Aus dem Nichts taucht er auf und zaubert blitzschnell ein ganzes Universum hervor. Der Urknall. In Sekundenbruchteilen bläht sich das Universum zu astronomischen Dimensionen auf. Ein Anfang, der an Dramatik nicht zu überbieten ist. Er liegt rund 14 Milliarden Jahre zurück.

Dieses punktförmige Etwas soll nach der Urknalltheorie nicht nur unendlich klein gewesen sein, sondern auch vollgepackt mit unendlich viel Energie und deshalb unendlich heiß.

Woher man das weiß? Beweise gibt es keine. Aber einen starken Hinweis: Die ununterbrochene Ausdehnung des Alls. Weil es immer schneller expandiert, muss es früher kleiner gewesen sein. Könnte die Zeit wie ein Film zurückgespult werden, dann würde sich alle Materie zusammenziehen, Temperatur und Dichte des Universums würden auf extreme Werte steigen, bis schließlich alle Materie und Energie wieder in diesem einen Punkt vereinigt wären.

Eine Vorgeschichte kennt dieser Punkt nicht. Er ist einfach da. Die Physik hat dafür keine Erklärung, weil nach all ihren Modellen nichts aus dem Nichts entstehen kann. Unerklärlich bleibt auch, wie dieser Winzling die Zutaten für ein ganzes Universum enthalten kann: Raum und Zeit, sowie die Energie von über hundert Milliarden Galaxien mit Milliarden von Sonnensystemen.

Die Urknalltheorie geht wesentlich auf den belgischen Priester und Physiker Abbé Georges Lemaître (1894  1966) zurück. Er sprach von »einem kosmischen Ei, das im Moment der Entstehung des Universums explodierte«. Seine Kritiker verliehen dieser Theorie dann den Spottnamen Big Bang (großer Knall). Doch Lemaître, ein ausgesprochener Einzelgänger in der Gemeinde der Wissenschaftler, hatte recht.

Der Urknall ist für die klassische Physik ein Ärgernis, weil hier unendliche Größen im Spiel sind, die sie nicht mehr erfassen kann. Hier versagen alle bekannten physikalischen Gesetze. Der Anfang aller Dinge liegt jenseits von Raum und Zeit und bleibt für die Wissenschaft unzugänglich. Doch der Urknall hat eine sichtbare Spur hinterlassen in Form der kosmischen Hintergrundstrahlung, einer Art Nachglühen. Sie kann überall im Universum gemessen werden und ist das älteste Licht, das durch das All zieht (mit bloßem Auge aber nicht zu sehen ist).

So laut, wie das Wort Urknall vermuten lässt, war die ganze Geschichte übrigens nicht, im Gegenteil: Noch fehlte die Luft, welche den Schall verbreitet – und das Ohr, welches die Schallwelle aufnimmt. So wurde das Universum in absoluter Stille geboren. »Die größten Ereignisse der Welt«, so Friedrich Nietzsche (1844  1900), »sind nicht die lautesten, sondern die stillsten.«

Auch das Bild einer Explosion trifft nicht ganz zu. Eine Explosion hat ein Zentrum. Der Urknall aber hat keines, weil er sich nicht in einem Raum ereignet, sondern den Raum erst erschafft. Er geschieht nicht an einem bestimmten Ort, er findet überall gleichzeitig statt.

Die Wissenschaft kann sich dem Urknall bis auf eine Billionstelsekunde annähern. Aber der erste klitzekleine Sekundenbruchteil fehlt. Der entscheidende Augenblick, als das Nichts ins Sein überging, entzieht sich dem Zugriff der Forschung. Hier versagen sämtliche Theorien und Modelle. Nur soviel lässt sich sagen: Der Punkt Null ist ein einzigartiger, unvergleichlicher Moment, der keine Zeit und keinen Ort kennt.

Der Physiker und Nobelpreisträger Wolfgang Pauli (1900  1958), so wird scherzhaft erzählt, ist nach seinem Tod direkt in den Himmel gekommen. Dort trifft er Gott und fragt ihn, wie das Universum entstanden sei. Gott tritt an eine Tafel, überlegt etwas und beginnt, eine Formel aufzuschreiben. Pauli schüttelt den Kopf, springt auf, packt einen Schwamm und löscht die Formel aus: »Nein, so geht es nicht! Das hab ich schon probiert.«

Und Gott soll sich gewundert haben.

Auf den Punkt gebracht:

  • Alles beginnt mit einem unendlich kleinen Punkt.

  • Ohne Knall entsteht aus dem Nichts das All.

  • Über dem Anfang liegt der Schleier des Mysteriums.

 

3

Zurück vor den Anfang

Die Urknall-Theorie ist noch keine hundert Jahre alt. Aber sie hat Vorläufer. Vor zweieinhalbtausend Jahren schon vermutete der griechische Philosoph Anaximander, dass die Welt durch eine Flamme aus einem ursprünglichen Keim hervorgerufen worden sei. Und nach dem mittelalterlichen Theologen Robert Grosseteste (1168  1253) entstand das Universum aus einem winzigen Lichtpunkt Gottes, der sich mit rasender Geschwindigkeit in alle Richtungen ausgebreitet habe.

Eine bemerkenswerte Vorwegnahme moderner Kosmologie findet sich auch beim Kirchenlehrer Augustinus (354  430). Er stellt fest, dass die Welt »ohne Zweifel nicht in der Zeit, sondern mit der Zeit erschaffen worden ist«.

Die entscheidende Frage aber bleibt bis heute offen: Was war vor dem Urknall? Es ist die paradoxe Frage nach einer Zeit vor der Zeit. Gewiss eine unmögliche Frage, auf die es aber trotzdem ein paar mögliche Antworten gibt.

Eine erste lautet: Es gibt kein Vorher. Eine Zeit vor der Zeit ist prinzipiell nicht möglich. So wie auch nichts nördlich des Nordpols liegen kann. Die Frage nach dem Vorher ist deshalb sinnlos. Das jedenfalls meinen heute viele Kosmologen. Und wir stehen da mit unserer sinnlosen Frage und sind etwas ratlos.

Eine zweite Antwort ergibt sich aus der ersten: Vor dem Urknall war nichts. Das reine Nichts. Kein Sein und keine Materie, keine Zeit und kein Raum. Einfach rein gar nichts. Diese Theorie überfordert aber unseren Verstand. Das Nichts können wir uns weder denken noch vorstellen. Jedes Bild, eine große Leere etwa, macht aus dem Nichts bereits wieder ein Etwas und muss deshalb verneint werden. Das Nichts entzieht sich der Anschauung komplett. Und die große Frage bleibt, wie aus diesem Nichts überhaupt etwas entstehen konnte. Wo war dieses Etwas vor seiner Entstehung?

Besser fassbar ist eine dritte mögliche Antwort: Unser Universum ist nicht das erste und nicht das einzige. Es hat Vorgänger und möglicherweise auch Geschwister. So postulieren einige Theorien, dass es aus dem Kollaps eines früheren Universums hervorgegangen ist. Oder dass es wie eine Seifenblase aus einem ganzen Schaumbad von Universen aufgestiegen ist. Diese Möglichkeiten lassen sich heute mathematisch berechnen – aber nicht experimentell überprüfen. Das Universum hat keinen Rand, über den wir hinausschauen könnten.

Die Idee eines aus Myriaden von Universen zusammengesetzten Multiversums, anfangs von vielen Physikern als abenteuerliche Spekulation abgetan, wird mittlerweile unter Wissenschaftlern ernsthaft diskutiert. Doch selbst wenn es andere Universen geben sollte, ist die Frage nach dem Anfang aller Anfänge nicht beantwortet, sondern bloß nach hinten verschoben.

Eine vierte Antwort kann allerdings dieses Dilemma umgehen: Es gibt gar keinen Anfang, weil alles immer schon da war. In einem ewigen Zyklus von Werden und Vergehen entsteht ein Universum nach dem anderen. Der Urknall ist kein Anfang, sondern ein Übergang. Das Universum atmet ein und entfaltet sich, dann atmet es wieder aus und fällt zusammen. Und das bis in alle Ewigkeit. Dieses Modell finden wir vor allem in den Kosmologien des alten Indien. Es ist wissenschaftlich nicht überprüfbar.

Alle vier Antworten sind entweder unbefriedigend oder hoch spekulativ. Vorläufig – und möglicherweise für immer – entzieht sich der allererste Moment dem Zugriff des Menschen. Zwar arbeiten die Kosmologen fieberhaft daran, ihn zu entschlüsseln. Sie entwerfen schwindelerregende Theoriegebäude, jonglieren mit Zahlen, Berechnungen und Formeln – und stochern doch im Ungewissen. Der Streit um den Anfang bleibt letztlich eine Glaubensfrage und wird auch mit entsprechendem Eifer ausgefochten.

Die Dimensionen, um die es dabei geht, sind überwältigend. Da taucht – scheinbar oder tatsächlich – aus dem Nichts ohne ersichtlichen Grund ein Punkt auf und eröffnet augenblicklich ein gigantisches Universum mit Milliarden von Galaxien und Abermilliarden von Sternen. Ein unglaublich großes Ereignis, das auch das Wunder des Kleinen ermöglicht: Auf einem vergleichsweise winzigen Planeten, der blau schimmernd still durch die kosmischen Räume zieht, gibt es Meere und Berge, Blumen und Bäume, Tiere und Menschen, Lieder, Lachen und Liebe.

Auf den Punkt gebracht:

  • Vielleicht gab es vor dem Urknall nur das Nichts.

  • Vielleicht gab und gibt es auch noch andere Universen.

  • Vielleicht war auch alles immer schon da, ohne Anfang.

4

Die Frage nach Ursprung und Sinn

Es mutet wie eine Ironie der kosmischen Geschichte an, dass die Astrophysik heute den langen Weg bis zum Anfang aller Dinge zurückverfolgen kann, aber bei der ersten Billionstelsekunde passen muss. Im entscheidenden Augenblick versagen sämtliche wissenschaftlichen Theorien. Wir wissen nicht, wie das Nichts ins Sein überging.

Aber auch wenn wir den Anfang kennen würden, wäre unsere wichtigste Frage noch nicht beantwortet: die Frage nach dem Warum. Warum gibt es überhaupt etwas – und nicht einfach nichts? Warum gibt es das Universum mit seinen Galaxien, Sternen und Planeten? Warum gibt es Sie und mich?

Naturgesetze und wissenschaftliche Modelle können diese Frage nicht beantworten. Sie können mehr oder weniger genau beschreiben, was war, was ist und was vielleicht sein wird. Warum die Dinge so sind, wie sie sind, bleibt offen. Das Warum führt hinter die beobachtbare Welt der Erscheinungen und fragt nach dem Urgrund der Welt. Es geht nicht mehr um den Anfang, sondern um den Ursprung aller Dinge.

Wo liegt der Unterschied? Der Anfang ist auf einer linearen zeitlichen Achse angesiedelt, der Ursprung aber liegt jenseits der Zeit, im ewigen Jetzt. Der Anfang hat einmal stattgefunden und ist dann Vergangenheit. Der Ursprung aber ist immer gegenwärtig, als ewiger Seinsgrund. Er ist die tiefste Quelle, aus der in jedem Moment alles hervorgeht.

Die Frage nach dem Ursprung gehört nicht mehr in den Bereich der Naturwissenschaften. Denn wir haben buchstäblich nichts in der Hand, können nichts berechnen oder beweisen. Was uns auf den Ursprung hinweist, ist das Staunen. Im Staunen erwachen der »Sinn und Geschmack für das Unendliche«. Diese Formulierung stammt von Friedrich Schleiermacher (1768  1834). Für ihn geht es darum, »mitten in der Endlichkeit eins zu werden mit dem Unendlichen und ewig zu sein in einem Augenblick«. Das ist die Ursprungserfahrung.

Der Ursprung lässt sich nicht mit Begriffen fixieren. Die Annäherung geschieht über Bilder und Geschichten. Die alten Schöpfungsmythen erzählen von der göttlichen Schöpferkraft, vom kosmischen Urei oder vom heiligen Urklang. So verschieden sie auch ausgestaltet sind, ihre Botschaft ist letztlich dieselbe: Im Ursprung ist der Sinn.

Fünf Worte nur, aber sie enthalten eine große Verheißung: Hinter den vielfältigen Erscheinungen dieser Welt verbirgt sich ein allumfassender Sinn. Er verwebt die einzelnen Dinge zu einem Ganzen. Damit bekommt alles, was ist, seine Bedeutung.

Nichts und niemand ist verloren; vielmehr sind alle Wesen, Dinge und Ereignisse eingebunden in einen großen Zusammenhang. Das deutet auch der Begriff an, den die Naturphilosophen des alten Griechenland für das Weltall eingeführt haben: Kosmos heißt übersetzt Ordnung und Schmuck. Als Gegenbegriff zum Chaos meint Kosmos, dass die Welt geordnet und deshalb schön ist. Das Ordnungsprinzip heißt Logos, was Wort, im philosophischen Sprachgebrauch aber auch Sinn bedeutet. Mit diesem griechischen Begriff beginnt das Johannesevangelium: »Im Anfang (Ursprung) war der Logos.«

Dem Logos können wir uns immer wieder annähern, besitzen werden wir ihn nie. Er bleibt unverfügbar und kann nur angedeutet werden, in der verschlüsselten Sprache der Mythen und Symbole. Gelegentlich berührt er uns auch leise: In Momenten, die so dicht und intensiv sind, dass sich die Frage nach dem Sinn gar nicht mehr stellt, weil er bereits spürbar da ist.

Die Frage nach dem Warum ist damit noch nicht beantwortet. Aber wenn der Sinn der Ursprung alles Seienden ist, dann muss es auch einen Grund für unser Dasein geben. Die Antwort könnte deshalb etwa so lauten: Wir wissen nicht, warum wir da sind, aber wir dürfen darauf vertrauen, dass es gut ist, dass wir da sind. Unsere Existenz ist mehr als bloß ein Zufall. Jeder und jede ist ein unverzichtbarer Teil in einem großen Mosaik.

Natürlich gibt es keinen Beweis, dass ein ursprünglicher Sinn die Welt trägt. Aus der Geschichte des Universums lässt er sich kaum ablesen. Aber man kann die Sache auch ganz pragmatisch sehen: Es ist schlicht hilfreich, einmal davon auszugehen, dass es so sein könnte. Das Vertrauen in eine verborgene Sinnhaftigkeit genügt. Es vermag durch das Auf und Ab der Zeiten zu tragen.

Ein solches Vertrauen ist nicht selbstverständlich. Einigen Menschen wird es sozusagen in die Wiege gelegt, andere müssen ein Leben lang darum ringen. Letztlich ist es auch eine Frage der Wahl. Es geht um eine Entscheidung: Gebe ich dieser oft so undurchschaubaren Welt einen Vertrauensvorschuss – oder fürchte ich sie und schütze mich vor ihr?

Der Philosoph Sören Kierkegaard (1813  1855) spricht von einem eigentlichen Sprung, der gewagt werden muss. Einem Sprung aus der Angst ins Vertrauen. Er nennt diesen Sprung »ein Wagestück des Herzens«.

Auf den Punkt gebracht:

  • Die Frage nach dem Warum verweist auf den Ursprung.

  • Der Ursprung bildet den ewigen Seinsgrund.

  • Im Ursprung ist der Sinn.

Eine unglaubliche Geschichte:

Die Evolution des Kosmos – und wie sie uns begünstigt

Das Gräslein ist ein Buch,

suchst du es aufzuschließen,

du kannst die Schöpfung draus

und alle Weisheit wissen.

Daniel Czepko von Reigersfeld