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Buchinfo

Hi, ich bin’s wieder, Valentine. Als Tochter eines Bestatters sind Tote ja nichts Ungewöhnliches für mich. Seit aber der brillante Geist von Kriminaloberkommissar Kilian Kasimir in die, seiner Meinung nach, unwürdige Hülle meines Meerschweinchens gefahren ist, weiß ich: Längst nicht alle unsere toten Kunden sind auf natürliche Weise gestorben! Trotzdem hatten weder Herr Kasimir noch ich, seine Kriminalassistentin, damit gerechnet, dass wir schon so bald nach unserem ersten Fall das nächste Mordopfer im Keller liegen haben würden …

Autorenvita

Endres_Brigitte

© privat

Brigitte Endres, in Würzburg geboren, studierte Geschichte und Germanistik. Ihr Talent zum Fabulieren entdeckte die ausgebildete Lehrerin, als sie begann, für ihre Schüler zu schreiben. Bald darauf wurde ihr erstes Kinderbuch publiziert. Es folgten zahlreiche Veröffentlichungen bei verschiedenen Verlagen sowie im Bayerischen Rundfunk. Heute ist Brigitte Endres hauptberuflich als Autorin tätig.

www.brigitte-endres.de

Brigitte Endres – Kriminaloberkommissar Kasimir – Ein brillanter Geist in der unwürdigen Hülle eines Nagetiers – thienemann

1. KAPITEL1. KAPITEL

  Seit dem Tag, an dem Kriminaloberkommissar Kilian Kasimir in mein Leben getreten ist, frage ich mich bei jedem Toten, der in unserem Keller liegt, ob er auf natürliche Weise gestorben ist.

Ich muss vorausschicken, dass Herr Kasimir ermordet worden ist. Allerdings überlebte er den Mordanschlag auf wirklich absurde Weise. Sein Geist wurde nämlich durch einen Stromschlag in den Körper meines Meerschweinchens Bully gebeamt. Das heißt, hier neben mir sitzt ein Kriminaloberkommissar in einem Meeri-Body. Total abgefahren! Deshalb erzähle ich das auch nicht überall rum, zumal Herr Kasimir zwar hervorragend mit mir kommuniziert – aber leider halt auch ausschließlich mit mir. Nicht mal meine Eltern wissen davon. Das Meerschweinchen, das ich überall mit mir herumschleppe, ist für sie nach wie vor mein kleiner Bully. Ich hab einmal versucht, die Sache meinem eigentlich cleveren Bruder zu verklickern. Seither hält mich Felix wahrscheinlich für völlig durchgeknallt.

Meine Zweifel an den Todesumständen unserer Kundschaft haben sich leider erschreckend schnell bestätigt. Die Ereignisse der letzten zwei Wochen waren so haarsträubend, dass ich sie gleich wieder mit meinem Smartphone aufzeichne, ehe ich die unheilvollen Einzelheiten vergesse.

Da es schon den ganzen Tag in Strömen regnet, sitze ich diesmal nicht auf Herrn Kasimirs schwarzer Grabplatte. Heute hab ich mich ins Sarglager verzogen. Ich hab definitiv keine Lust, Mum zu erklären, warum ich stundenlang Selbstgespräche führe.

Als Tochter eines Bestatters fand ich nie was Besonderes daran, unter einem Dach mit Verstorbenen zu leben. Leichen sag ich nicht gern, das hört sich irgendwie abwertend an, find ich. Aber seit das mit Herrn Kasimir passiert ist, weiß ich, dass Jahr für Jahr unzählige Leute begraben werden, die umgebracht worden sind. Leute, bei denen ein dussliger, schlampiger oder gestresster Arzt einfach auf dem Todesschein Natürlicher Tod angekreuzt hat. Es ist kein gutes Gefühl, ein Mordopfer unter die Erde zu bringen, dem niemals Gerechtigkeit widerfährt, weil es nicht mehr reden kann. Ich hab Dad mal gefragt, ob er jemals wissentlich einen Ermordeten beerdigt hat. Angeblich ist das in all den Jahrzehnten nicht ein einziges Mal vorgekommen. Dad meinte, das liege vor allem daran, dass wir in unserer Kleinstadt kein rechtsmedizinisches Institut hätten. Das ist nämlich so: Bei Mordverdacht wird immer obduziert. Der Tote wird also weggebracht und später von einer Firma bestattet, die das Institut beauftragt. – Obwohl Dad sich da sicher ist, sprechen die Zahlen dafür, dass es hundertpro irgendwann auch bei uns passiert sein muss.

Da mein Bruder Engel und Sohn ohnehin nicht übernehmen will, steht inzwischen mein Entschluss fest, das Geschäft später selbst weiterzuführen. Engel ist unser Nachname. – Felix studiert übrigens Medizin. Er will seinen Facharzt ausgerechnet in Pathologie und Rechtsmedizin machen. Das Gewerbe seiner Eltern hat ihn offenbar doch mehr geprägt, als er zugeben will. – Ich hab es mir jedenfalls zum Ziel gesetzt, später ein Bestattungsinstitut zu führen, in dem jedem unklaren Todesfall nachgegangen wird. – Der Sohn im Namen muss dann natürlich gestrichen werden.

Ich hoffe, bis dahin noch viel von Kriminaloberkommissar Kasimir zu lernen. Er hat bis zu seiner Pensionierung vom Polizeidienst immerhin fünfundneunzig Mordfälle aufgeklärt, logisch, dass er unheimlich viel kriminalistische Erfahrung hat. Nach den letzten Geschehnissen hab ich das ungute Gefühl, dass wir gemeinsam noch die Hundert vollmachen werden.

»Was sagen Sie, Herr Kasimir?«

»Okay, ich will’s versuchen!«

Herr Kasimir sagte eben, ich soll endlich zur Sache kommen, weil wir sonst morgen noch hier sitzen.

Also, es war Freitagabend. Herr Kasimir und ich saßen auf meinem Bett, aßen Nüsschen und guckten fern. Marlowe lag auf dem Bettvorleger und schnarchte leise. – Marlowe ist eigentlich Herrn Kasimirs Hund, ein ehemaliger Polizeihund. Er ist zwar nicht schön – Bluthunde sind nun mal nicht schön. Aber er ist treu, gut erzogen und er hat eine untrügliche Nase. Nach vielem Hin und Her konnte ich meine Eltern zum Glück doch noch überreden, den verwaisten Hund zu adoptieren.

Freitag ist unser Krimi-Abend, auf den ist Herr Kasimir immer ganz scharf. Er nörgelt zwar die ganze Zeit rum, dass die Filmleute keine Ahnung von echter Polizeiarbeit hätten, und dass der Kommissar genauso ein Stümper sei wie Flatter.

Hauptkommissar Siegmund Flatter, muss man dazu wissen, war zuletzt Herrn Kasimirs Chef, und er ist tatsächlich ein ziemlicher Idiot, ich hab ihn kennengelernt.

Jedenfalls hatten sie den Toten im Film gerade aus dem Fluss gefischt, als Dad an meine Tür klopfte und auch schon im Zimmer stand. »Oh, du schaust fern!«

Ich drehte den Ton leiser.

Dad hüstelte. »Äh, ich wollte fragen, ob du heute mal mitkommen willst. Wir haben einen späten Kunden, und Olaf und Herr Hahn sind schon im Wochenende. Felix hab ich angerufen, er springt ein. Das ist eine gute Gelegenheit für dich, mal bei einer Hausabholung dabei zu sein. Du zeigst ja in letzter Zeit immer mehr Interesse fürs Geschäft. – Oder?« Er lächelte unsicher. Ich weiß, es freut ihn riesig, dass ich den Laden später übernehmen will. Andererseits will er mich auch zu nichts drängen, darum schob er auch gleich nach: »Aber wenn du lieber den Krimi guckst …«

Ich überlegte kurz. Mit ›guter Gelegenheit‹ meinte Dad, dass wir unter uns waren, also Familie. Dad holt selten Kundschaft ab, das machen meistens unsere beiden Angestellten, Olaf und Herr Hahn. Deshalb nickte ich. »In fünf Minuten bin ich unten.«

»Zieh den Schwarzen an«, sagte Dad. »Du weißt ja …«

Ich nickte und sprang aus dem Bett.

Herr Kasimir sah mir unwillig zu, als ich den schwarzen Hosenanzug aus dem Schrank holte. »Ausgerechnet an unserem Krimi-Abend«, hörte ich ihn vor sich hin brummen.

»Sie bleiben sowieso hier«, sagte ich. »Ich lass den Fernseher laufen, dann können Sie sich den Film zu Ende ansehen. – Und jetzt drehen Sie sich gefälligst um!«

Herrn Kasimirs Meeri-Schnauze wandte sich mit einem beleidigten Schnauben Richtung Fernseher. Ein Gentleman ist er, das muss man ihm lassen. Ich zwängte mich also in die Pietätsklamotten und steckte mit einer Klammer meine Putzwolle-Haare hoch. In unserer Branche gibt es einen strengen Dresscode. Bei einem Trauerfall kann man definitiv nicht im Girlie-Outfit oder Freizeitdress aufkreuzen. Ich warf einen letzten Blick in den Spiegel und ging zur Tür.

Marlowe hob den schweren Kopf und sah mich erwartungsvoll an. »Ne, Marlowe. Du bleibst auch hier.«

Schon auf der Treppe verfluchte ich den Hosenanzug. Das Ding klemmte wirklich überall. Verdammt, Mama hatte recht, ich hatte zugelegt.

Dad wartete schon auf mich. Er sah mich überrascht an.

Ich bannte eine trotzige Locke nach hinten. »Stimmt was nicht?«

»Ganz im Gegenteil, mein Schatz«, sagte er. »Du siehst nur so erwachsen aus. Dass du gerade vierzehn geworden bist, glaubt man fast nicht.«

Ehrlich, sein Lob machte mich richtig stolz. Ich ließ mich in den breiten Beifahrersitz fallen. »Wen holen wir eigentlich ab?«

»Einen Herrn Knappmann, muss ein überraschender Tod gewesen sein«, sagte Dad. »Die Witwe hat ihn tot auf dem Sofa gefunden.«

»Schrecklich«, sagte ich.

Dad ließ den Wagen an. »Solche Todesfälle sind immer ein Schock für die Familie. Wenn einer lange krank ist, kann man sich wenigstens auf den Abschied einstellen, aber so was …«

Ich nickte. »Was macht man eigentlich, wenn ein Angehöriger total verzweifelt ist?«

Dad zuckte mit den Schultern. »Da gibt es kein Rezept. Man muss erspüren, ob Trost erwünscht ist. Ein guter Bestatter sollte auch ein guter Psychologe sein.«

Unvermittelt brach ein Platzregen los, die Scheibenwischer flogen fast weg. Seit Tagen hatten wir typisches Aprilwetter. Wasserfluten rauschten über den Asphalt. Ich starrte aus dem Fenster. Mir war plötzlich unbehaglich. Erwartete mich jetzt gleich ein Platzregen von Tränen? Mit Trauer und Verzweiflung hatte ich bisher nicht viel zu tun gehabt. Wenn die Leute zu uns ins Geschäft kommen, sind sie meistens schon sehr gefasst.

Aber ich hatte nicht viel Zeit, darüber nachzugrübeln, denn da hielt Dad an, und Felix rannte, die Jacke über den Kopf gezogen, auf den Wagen zu. Er riss die Tür auf und quetschte sich hastig neben mich – eigentlich saß er fast auf mir. Leider ist der Firmenwagen ein Zweisitzer, früher hatten wir mal einen mit durchgehender Bank, aber so was gibt es heute nicht mehr. Okay, es ist nicht ganz nach Vorschrift, aber zur Not passt man auch mal zu zweit auf einen Sitz.

»Autsch!« Mit einem vorwurfsvollen Blick machte ich mich so schmal ich konnte.

Felix streifte sich die Nässe von den Ärmeln und grinste unverschämt. »Sorry, Schwesterchen, aber du hast ja genug Knautschzone.«

»Idiot!«, zischte ich.

Ich weiß selbst, dass ich ein bisschen zu viel auf den Rippen hab. Aber irgendwie ist es mir auch wieder egal. Nur mag ich es nicht, wenn andere darauf herumhacken.

Dad warf uns einen Blick zu, der das Geplänkel unterbrach.

Zum Glück hörte der Regen ebenso plötzlich auf, wie er begonnen hatte. Als wir vor einem Mehrfamilienhaus aus dem Wagen stiegen, tröpfelte es nur noch.

Dad klingelte. »Dritter Stock. Hoffentlich ist das Treppenhaus nicht so eng.«

Während ich Dad und Felix beklommen nach oben folgte, verspürte ich ein dringendes Bedürfnis. Wahrscheinlich Nervosität. Mist! Warum war ich auch daheim nicht noch mal aufs Klo gegangen?

Obwohl die Wohnungstür offen stand, klopften wir. Ein junger Mann, älter als ich, aber jünger als Felix, erschien im Flur. »Kommen Sie, meine Mutter ist in der Küche!«

Eine abgearbeitete Frau mit ungepflegten grauen Haaren, so um die fünfzig, saß am Tisch. Sie begrüßte uns mit versteinerter Miene. »Er liegt im Wohnzimmer«, sagte sie tonlos.

»War der Arzt schon da?«, erkundigte sich Dad.

Sie nickte und schob Dad den Totenschein hin.

Dad sah ihn durch und steckte ihn ein. »Gut«, sagte er dann, »kann ich ihn sehen?«

»Patrick …« Auf die Aufforderung seiner Mutter hin setzte sich der junge Mann wortlos in Bewegung.

Ich war heilfroh, dass mir Gefühlsausbrüche offenbar erspart blieben.

Unter einer Wolldecke lag ein lebloser Körper auf dem Sofa. Ein Kissen war zu Boden gefallen. Auf dem Couchtisch standen eine Wodkaflasche, ein Glas, ein Päckchen Tabak und ein übervoller Aschenbecher mit den winzigen Stummeln selbst gedrehter Zigaretten. Der widerliche Geruch von Alkohol und Tabakrauch hing schwer im Raum.

Patrick, der meinem Blick auf die Flasche gefolgt war, verzog den Mund. »Er hat wie ein Loch gesoffen, und geraucht hat er wie ein Schlot. Es musste irgendwann so kommen!«

Ich hob die Augenbrauen. Was war das denn für einer? Ich meine, sein Vater lag tot auf dem Sofa! Da erwartet man zumindest nicht so was! Ich glaubte, aus seiner Stimme fast etwas wie Erleichterung, wenn nicht sogar Hohn zu hören, keinesfalls aber Trauer.

Dad hob die Decke an, um sich einen Eindruck von der Größe des Mannes zu machen. Dann nickte er Felix zu. »Das sollte kein Problem geben. Komm, holen wir die Trage!«

Patrick ging zurück in die Küche, um sich um seine Mutter zu kümmern. Ich blieb etwas ratlos mit dem Toten zurück. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht rot. Wenn sie ihn aufbahren wollten, würde Olaf einen Haufen Arbeit mit ihm haben. Eine innere Stimme – Herr Kasimir würde es vermutlich Instinkt nennen – brachte mich plötzlich auf den Gedanken, den Toten auf dem Sofa zu fotografieren. Ich denke, es war im Grunde schon das aufkeimende Misstrauen diesem herzlosen Sohn gegenüber. Ich horchte – draußen war alles ruhig. Obwohl ich mir irgendwie schräg vorkam, machte ich die Deckenlampe an und knipste mit dem Handy ein paar letzte Erinnerungen an den armen Herrn Knappmann. Dann ging ich in den Flur, um nach dem Badezimmer Ausschau zu halten.

Patrick erschien in der Küchentür. Es war mir zwar peinlich, aber was sein muss, muss sein. »Kann ich mal die Toilette benutzen?«

Patrick nickte und zeigte nach rechts. »Kommst du dann in die Küche? Meine Mutter hat ein paar Fragen.«

»Okay«, sagte ich. »Ich hoffe, ich kann sie beantworten.«

Das Bad war sauber, aber total unmodern, aus den Siebzigern, schätze ich. Oma Engels Bad hat fast die gleichen rosa-melierten Fliesen. Auf der Spiegelablage stand außer Rasierzeug und Zahnputzutensilien nur eine Dose Nivea. Frau Knappmann schien sich aus Kosmetik nicht viel zu machen.

Der Klodeckel war geschlossen. Ich hob ihn an und spülte, das mach ich immer bei fremden Toiletten. Irgendetwas wirbelte mit dem Wasserstrudel hoch. Bei näherem Hinsehen erkannte ich einen weißen Zigarettenstummel, der sich aber nicht wegspülen ließ. Was die Leute am Rauchen finden, versteh ich wohl nie. Ich dachte an Herrn Kasimirs rauchgeschwängerte Wohnung. Sicher hatte er früher auch auf dem Klo geraucht.

Als ich in die Küche kam, starrte Frau Knappmann auf das Muster einer billigen Wachstischdecke wie auf ein Mandala.

Ich räusperte mich. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

Frau Knappmann hob den Kopf und straffte sich. »Was kostet eine Urnenbestattung?«

Ihre brüske Frage überforderte mich für einen Augenblick.

Patrick legte die Hand auf ihre Schulter. »Meine Mutter will eigentlich nur wissen, was billiger ist, Urne oder Grab?«

Ich schluckte. Okay, die Kostenfrage taucht immer auf, aber doch nicht gleich als Erstes.

»Das kommt drauf an«, sagte ich zögernd – es war das erste Mal, dass ich ein Kundengespräch führte. »Welcher Sarg, Aufbahrung oder nicht, Grabstelle oder anonyme Bestattung. Bei der Urnenbestattung kommt die Überführung ins Krematorium dazu – einen Sarg brauchen Sie aber trotzdem. Und dann noch die Kosten für die Leichenschau, die Urne und die eigentliche Kremierung.« Kremierung ist eigentlich nur ein anderes Wort für Einäscherung, aber ich finde, es hört sich definitiv professioneller an.

Frau Knappmann erwachte schlagartig aus ihrer Apathie. »Moment«, sagte sie. »Unser Hausarzt hat die Leichenschau doch schon erledigt.«

Ich nickte. »Das stimmt, aber vor jeder Kremierung muss eine zweite Leichenschau durch einen Arzt gemacht werden. Das schreibt das Gesetz so vor.«

»Das wusste ich nicht«, erwiderte Frau Knappmann heiser. »Dann Erdbestattung. Ich werde das alles mit Frau Kuckelkorn besprechen. Die arbeitet doch bei euch.«

Ich sah sie überrascht an. »Sie kennen Frau Kuckelkorn?«

»Schon viele Jahre«, sagte Frau Knappmann. »Wir singen zusammen im Kirchenchor von Sankt Andreas. Freitag ist immer Probentag.«

»Heute ist Freitag«, bemerkte ich.

Sie nickte abwesend. »Als ich um halb neun heimkam – ich war mit den anderen noch in Marios Pizzeria –, lag mein Mann leblos auf dem Sofa.«

»Es war ein schrecklicher Schock für meine Mutter«, mischte sich Patrick ins Gespräch. »Sie hat mich im Studio angerufen. Ich hab alles stehen und liegen lassen und bin hergerast.«

Frau Knappmann griff nach seiner Hand. »Wenn ich dich nicht hätte.«

»Du hättest vor zwei Jahren mit mir ausziehen sollen«, erwiderte Patrick.

Ohne seine Hand loszulassen, starrte sie vor sich hin. »Du weißt, dass das nicht ging. – Und jetzt …« Sie schwieg.

Patrick löste seine Hand aus ihren Fingern und klopfte ihr auf die Schultern. »Jetzt wird alles gut.«

Ups, dachte ich. Dieser Todesfall löst also ein Familienproblem. Meine Skepsis wuchs. Patrick machte keinen Hehl daraus, was er von seinem Vater hielt. Und auch Frau Knappmann verhielt sich nicht so, wie man es von einer urplötzlich verwitweten Gattin erwartete.

Draußen hörte ich Dad und Felix hantieren. Ich ging ins Wohnzimmer zurück. Dad zog gerade den Reißverschluss des Leichensacks auf, während sich Felix über den Kopf des Toten beugte.

»Fass mal mit an, Herr Doktor! Wir sind hier nicht in der Pathologie«, sagte Dad. »Die Leichenbeschau hat der Hausarzt schon erledigt. Jetzt kommt der anstrengende Teil.«

Gemeinsam hoben sie den untersetzten Mann auf die Trage. Nun sah man, dass er einen total ausgebeulten Freizeitanzug aus Polyester trug.

Dad richtete sich auf und drückte mir ein Formular und einen Kuli in die Hand. »Frag Frau Knappmann bitte, ob sie eine Aufbahrung wünscht, und ob wir gleich einen Anzug mitnehmen sollen. Und gib ihr das hier, sie soll die Abholung quittieren. Den Auftrag zur Bestattung kann sie dann am Montag bei Frau Kuckelkorn ausfüllen!«

Während Dad und Felix die Trage schon ins Treppenhaus schleppten, ging ich noch mal in die Küche und reichte Frau Knappmann Zettel und Stift.

»Es geht nur um die Abholung«, versicherte ich ihr, als sie das Formular sichtlich widerwillig unterschrieb. Auf meine Frage nach Aufbahrung, reagierte sie, wie ich es erwartet hatte.

»Nein, danke«, zischte sie in einem Ton, als hätte ich ihr einen gepökelten Frosch serviert. »Er soll beerdigt werden, wie er ist.«

Patrick grinste bitter. »Aus dem Trainingsanzug ist er seit Jahren nicht rausgekommen, wahrscheinlich ist das Ding sowieso an ihm festgewachsen.«

Die Anzugfrage war damit also geklärt, obwohl ich mir nicht sicher war, ob das mit einem Trainingsanzug aus Kunstfaser klarging. Seit einigen Jahren muss die Kleidung der Toten aus Umweltschutzgründen verrottbar sein. – Dad würde das später schon klären.

»Ooookay«, erwiderte ich gedehnt und nahm den unterschriebenen Zettel an mich. »Mein Vater sagt, Sie sollen am Montag früh in die Firma kommen, um alles Weitere zu besprechen.«

»Am Montagmorgen – da müsste ich mir freinehmen«, wandte Patrick ein. »Geht nicht auch Spätnachmittag?«

Ich zögerte. »Na ja, das verschiebt den ganzen Behördenkram …«

»Keine Sorge, Patrick. Ich schaff das schon allein!«, sagte Frau Knappmann. Mit unverkennbarem Stolz in den Augen sah sie mich an. »Patrick ist nämlich Executive Assistant im MOVE-FOR-FUN-Club.«

»Das ist toll«, sagte ich höflich, und dachte, dass diese aufgeblähten amerikanischen Bezeichnungen echt was hermachten, was immer sich auch dahinter verbarg. Jedenfalls erklärte Patricks Arbeit in einem Fitnessstudio seine muskulösen Schultern.

»Gut, damit wäre so weit alles klar.« Ich hob die Hand. »Dann einen schönen Abend noch.« Erst beim Rausgehen fiel mir ein, wie bescheuert mein Abschiedsgruß sich angehört haben musste. Andererseits wurde ich das beklemmende Gefühl nicht los, dass den beiden in der Küche dieser überraschende Tod nicht nur gleichgültig war, sondern vielleicht sogar gelegen kam. Ich nahm mir vor, mit Herrn Kasimir darüber zu sprechen.

2. KAPITEL2. KAPITEL

Als ich mein Zimmer betrat, saß Herr Kasimir übellaunig in seinem Käfig. Mum hatte den Fernseher ausgeschaltet, und den vermeintlichen Bully hinter Gitter gebracht. Dass ich mein Meerschweinchen mit ins Bett nehme, ist ihr ohnehin ein Dorn im Auge.

»Den Abend hatte ich mir anders vorgestellt«, maulte Herr Kasimir mich an. »Jetzt habe ich die Auflösung verpasst, dabei wusste ich schon nach zehn Minuten, wer der Mörder war.«

Er sprach von dem Krimi. »Dann ist es ja nicht so schlimm, wenn Sie es eh wussten«, gab ich zurück und öffnete die Schranktür, damit er mich beim Umziehen nicht sehen konnte.

Marlowe kam erwartungsvoll auf mich zu. Seiner Körpersprache entnahm ich, dass er noch mal rausmusste. »Ach Marlowe! – Wirklich?«

Seufzend schälte ich mich aus der engen schwarzen Hose und schlüpfte in eine Leggins. – Ich weiß, ich sollte besser keine tragen. Aber erstens sind die saubequem, und zweitens: Im Dunkeln sieht mich ja keiner.

»Kommen Sie mit?«, sagte ich zu Herrn Kasimir, zog ein Sweatshirt über und steckte die angebrochene Tüte mit den Knabbernüssen ein.

»Hast du inzwischen Zigaretten besorgt?«, fragte Herr Kasimir in dem fordernden Ton, den ich an ihm so liebe.

»Verdammt! Nein!«, raunzte ich ihn an. »Wie denn? Ich bin unter achtzehn! Jugendschutz! Schon mal gehört? – Außerdem haben wir grade vorhin wieder so einen Kettenraucher abgeholt. Noch gar nicht sehr alt und tot wie ein Stein.«

»Ich möchte anmerken, dass ich durchaus nicht durchs Rauchen gestorben bin«, erwiderte Herr Kasimir unterkühlt.

Wo er recht hatte, hatte er recht, er war definitiv ermordet worden. – Unverzüglich erschien vor mir das rote Gesicht des Toten auf dem Sofa. Gab es hier eine Parallele oder sah ich Gespenster?

Ich bin zwar dagegen, dass Herr Kasimir raucht, da er aber einen frustrierenden Abend hinter sich hatte, wollte ich im Aufenthaltsraum nachsehen, ob Herr Hahn zufällig seine Zigaretten liegen gelassen hatte, was gelegentlich vorkommt. Ich setzte Herrn Kasimir auf die Schulter und ging nach unten. Marlowe trabte geräuschvoll hinter uns her. Was die Zigaretten anging – Fehlanzeige.

»Sie werden es sich abgewöhnen müssen«, sagte ich und kramte die Nüsse heraus. »Wie wär’s hiermit?«

Aus den Augenwinkeln sah ich seinen verachtenden Blick. »Durch Fettleibigkeit sterben mehr Leute als durchs Rauchen.«

Ich ignorierte seine Bemerkung und rief Dad, der eben aus dem Büro kam, zu: »Ich geh noch mal kurz mit Marlowe raus.«

Dad nickte. »Gut. Ich bin übrigens sehr stolz auf dich, Valentine. Ich finde, du hast deine Sache heute super gemacht!«

»Danke«, sagte ich und legte Marlowe die Leine an. »Eine komische Familie war das.«

Er lächelte. »Das ist das Interessante an unserem Beruf, man lernt die unterschiedlichsten Leute kennen.«

Nicht weit von uns ist das ideale Hundeklo. Die Kastanienallee. Ein Baumstamm nach dem anderen reiht sich auf einem breiten Grünstreifen, der den Gehweg von der Straße trennt, dazwischen hie und da Parkbänke. Ein wahres Paradies für Hundehalter und Beinchenheber.

Marlowe steuerte auch gleich auf seinen Stammbaum zu. Leider hob er nicht nur das Bein, sondern nahm eine eindeutige Stellung ein.

»Verdammt, ich hab keine Tüte dabei!«, sagte ich. »Scheiße!«

»Du triffst es auf den Punkt«, erwiderte Herr Kasimir trocken, während wir zusahen, wie Marlowe einen respektablen Haufen ins Gras setzte.

Ich kramte in meiner Jacke. Nichts, außer den Nüssen. Jeder andere hätte jetzt wahrscheinlich schleunigst die Kurve gekratzt, zumal ohnehin gerade niemand zu sehen war. Aber Hundekacke einfach liegen zu lassen, geht mir komplett gegen den Strich. Ich hab mich über diese stinkenden Tretminen schon tierisch aufgeregt, ehe ich selbst einen Hund hatte. Erst letzten Sommer bin ich volle Pulle in eine reingelatscht. Mit Flip-Flops! – Echt, ich hab mir neue gekauft.

Ich zog also die Nüsse heraus und betrachtete die, zugegeben, etwas kleine Verpackung, aber sie war besser als gar nichts.

»Okay«, sagte ich und setzte mich auf eine Bank. »Dann machen wir die mal leer. Ich muss Ihnen sowieso noch was erzählen. – Wollen Sie jetzt welche?«

»Ein paar nehme ich, auch wenn mir eine Zigarette lieber wäre«, antwortete Herr Kasimir. »Um was geht’s?«

In den nächsten zwanzig Minuten knabberten wir Nüsse, während ich ihm meine Beobachtungen bei der Abholung schilderte.

Herrn Kasimirs Aufmerksamkeit steigerte sich zusehends, seine Barthaare zitterten erregt, als er schließlich fragte: »Welche Todesursache stand auf dem Totenschein?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

»Dann verschaff sie dir!« Herr Kasimir schnaubte. »Ich wette, plötzlicher Herztod oder etwas in der Art. Genau wie in meinem Fall. – Natürlicher Tod …«

Ich bekam Gänsehaut, er schien meinen vagen Verdacht tatsächlich zu teilen. »Glauben Sie wirklich, er wurde umgebracht?«

»Glauben ist nicht wissen«, sagte Herr Kasimir. »Für eine polizeiliche Ermittlung gäbe es nicht annähernd einen Anfangsverdacht. Aber für einen alten Hasen mit Spürnase wie mich reicht er.«

Ganz in Gedanken zerknüllte ich die Tüte. »Heißt das, wir gehen der Sache nach?«

»Warum nicht?«, sagte Herr Kasimir. »Ein bisschen Detektivarbeit tut meinen grauen Zellen gut. Das stupide Leben eines Kleinnagers füllt mich nicht annähernd aus. – Übrigens, was machst du da eigentlich …?«

Ich stöhnte auf. »Mist!« Damit glättete ich den zerknitterten Beutel wieder und stand auf.

Marlowe, der inzwischen zu meinen Füßen lag, erhob sich ebenfalls. Als ich mich über seine Hinterlassenschaft beugte, sah er interessiert zu.

Was dann geschah, will ich kurzhalten, weil ich jetzt noch würgen muss. Nur so viel: die blöde Tüte war definitiv zu klein, und das Plastik viel zu steif für den geschickten Entsorgungsgriff.

Mein Schrei muss durch die Stadt gehallt sein. Glück war noch, dass ich in einem Abfallkorb eine alte Zeitung fand, sodass ich das Ärgste abstreifen konnte. Jedenfalls rannte ich, die Rechte weit von mir gestreckt, heimwärts. Mit der Linken fummelte ich die Tür auf und raste ins Besucher-WC, um mir eine gefühlte halbe Stunde die Hände zu waschen. Erst als Herr Kasimir sagte, ich sollte die Haut vielleicht doch dranlassen, drehte ich den Wasserhahn zu.

Meine Eltern waren oben in der Wohnung und sahen fern. Ich nutzte die Gelegenheit, um in Dads Büro einen Blick auf den Totenschein zu werfen. Wie ich es mir gedacht hatte, lag das Formular ganz oben im Ablagekorb. – Anders, als der Name vermuten lässt, besteht ein Totenschein aus mehreren Blättern. Ich setzte Herrn Kasimir also auf den Tisch und wühlte mich durch die Angaben. »Natürlicher Tod«, murmelte ich und blätterte weiter. »Vermutlicher Sterbezeitpunkt zwischen 17 und 19 Uhr … Warten Sie, hier steht’s! – Myokardinfarkt oder Apoplex«, buchstabierte ich. »Hä?«

»Herzinfarkt oder Schlaganfall«, klärte Herr Kasimir mich auf. »Darauf hätte ich gewettet.«

»Hm«, sagte ich. »Ich hatte irgendwie gleich so ein ungutes Bauchgefühl. Deshalb hab ich auch Fotos von dem Toten gemacht.«

Herr Kasimir sah zu mir hoch. »Ja, du entwickelst dich tatsächlich zu einer brauchbaren Kriminalassistentin.«