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»Steh auf! Es gibt Frühstück!«

Das Wildschwein hat den Tisch gedeckt. Zwei Teller auf einem abgesägten Baum, gleich am Ufer des Sees. Der See heißt bei Fuchs und Wildschwein auch gerne das Meer.

»Hier ist unser Meer!«

Das sagen sie nicht nur, weil es von allem genug hat: Fische, sauberes Wasser und ein Spiegelbild, sondern auch, weil es viel mehr ist, als sie brauchen. Das Leben am Meer ist ein Leben wie im Paradies. So war es schon immer und so soll es auch bleiben.

Die beiden haben sich auf ihre Klappstühle gesetzt, essen frische Trüffelpuffer, trinken Tee und starren ins Wasser. Es ist fast wie Angeln, nur angeln sie nicht. Der Fuchs und das Wildschwein warten. Sie warten schon sehr lange und gerade als wir beginnen, diese Geschichte zu erzählen, sagt das Wildschwein:

»Da! Gleich schlüpft sie.«

Und der Fuchs antwortet:

»Ja, und dann ist sie lebendig.«

»Und morgen ist sie tot.«

»Es ist ja so traurig.«

Das Wildschwein nimmt sich keinen zweiten Puffer. Es wendet sich ab und will gar nicht mehr hinsehen.

»Komm, wir gehen.«

Der Fuchs hat seinen Teller leergegessen und schielt auf die Reste vom Wildschwein.

»Warum sollen wir gehen?«

»Ich will sie nicht kennen lernen. Wenn ich sie kennen lerne und lieb gewinne …«

»… musst du weinen, wenn sie stirbt?«

Der Fuchs lächelt über seinen Freund und kratzt die Reste vom Teller. Er kennt das Gespräch. Sie führen es öfter. Ungefähr alle drei Jahre. Und wie immer an dieser Stelle, legt der Fuchs dem Wildschwein die Pfote auf die Schulter und sagt:

»Wer weint denn schon um eine Eintagsfliege?«

Und weil das Wildschwein schweigt, spricht der Fuchs aus, was schon immer wahr und richtig ist:

»Der Tod ist wie das Leben – unvermeidbar. Niemand weint über das Leben und deshalb sollte auch keiner über den Tod weinen.«

Damit ist alles gesagt.

Die Sonne hat die Wipfel der Bäume erreicht und beginnt den Morgennebel zu trinken. Der neue Tag sieht zwei Freunde auf Klappstühlen, die auf ihr Meer blicken, als würde sich dort ein großes Geheimnis verstecken. Und das tut es ja auch.

Das Geheimnis kommt an Land. Eine Larve, erschöpft und unbesiegt, sucht einen starken Halm und klettert hinauf. Oben an der Spitze klammert sie sich fest, trocknet an der Luft und wird in den nächsten Minuten ihren Mantel ausziehen. Fuchs und Wildschwein sind gefesselt von den großen Augen des kleinen Wunders. Lautlos kauen sie auf Pufferresten und staunen über die Geduld des winzigen Tieres und dann dauert es nicht lange und sie erkennen, was es ist: Eine Eintagsfliege schält sich da aus dem Larvenkostüm und breitet Stück für Stück die Flügel aus. Ihr rundes Gesicht dreht sich nach rechts und links, die Fliege strubbelt ihre grünen Haare durch und wirft einen kurzen Blick ins Wasser, nur um zu sehen, wie hübsch sie geworden ist. Sehr hübsch ist sie geworden! Fuchs und Wildschein können das bezeugen:

»Lass uns abhauen, es ist ein Mädchen.«

»Fängst du schon an zu heulen?«

»Nein, aber es ist ein Mädchen.«

»Na und?«

»Man darf sich nicht verlieben.«

»Was ist schlimm daran?«

»Ich meine ja nur, weil eine unerfüllte Liebe …«

Die Fliege niest. Hoffentlich hat sie sich nicht erkältet. Der Übergang von der Wasser- in die Luftwelt ist gefährlich und kostet oft mehr, als einen Schnupfen. Vögel, Frösche, Fische, alle sind scharf auf ein frisch geschlüpftes Frühstück, und sei es noch so klein und niedlich.

Die Fliege schaut auf. Da sind zwei. Zwei Große. Zwei Kerle auf Klappstühlen. Der Dicke von ihnen weint fast.

»Wer seid ihr denn?«

Fuchs und Wildschwein knien sich hin, um die Neue besser ansehen zu können.

»Ich bin der schlaue Fuchs und er ist ein fettes Schwein«, sagt der schlaue Fuchs und zeigt auf das fette Schwein. Die Fliege zieht eine Sonnenbrille aus ihrer rosa Handtasche, setzt sie auf und legt den Kopf schief. Solche Tiere hat sie noch nie gesehen. Außer den Tieren, die im See leben, hat sie sowieso nur sehr wenige Tiere gesehen. Aber weil sie jung ist und klug und auch sehr neugierig, fragt sie:

»Warum guckt ihr so traurig?«

»Gucken wir traurig?«, fragt das Schwein.

»Na klar. Und wenn ihr weiter so traurig guckt, wird es regnen. Regen ist nicht gut für meine neugeborenen Flügel.«

Sie breitet ihre Flügel aus und Fuchs und Wildschwein flüstern sich so leise wie möglich zu.

»Sie ist niedlich.«

»Sie ist winzig.«

»Und sie hat Humor …«

Die Fliege streicht ihr Kleidchen glatt, pustet sich eine Strähne aus der Stirn und fliegt auf die Spitze des Halmes. Erster Flug. Perfekte Landung. Gute Stimmung.

»Also, warum seid ihr traurig?«

Von hier oben kann sie die Augen des Wildschweins gut sehen. Die verschwommenen Farben deuten auf ein weiches Herz. Und genau das will das Wildschwein nicht zeigen.

»Aber wir sind doch gar nicht traurig, wir sind fröhlich! Sieh her, der Fuchs muss immer lachen, wenn er eine Kopfnuss kriegt.«

Das Schwein verpasst dem Fuchs eine Kopfnuss!

»Aua!«, ruft der Fuchs und lacht nicht.

»Aber er lacht doch gar nicht«, merkt auch die Fliege.

»Doch!«, grunzt das Wildschwein und verpasst dem roten Freund noch eine zweite.

»Auahahaha!«

»Siehst du, er lacht. Das Leben ist lustig!«

»Vor allem, wenn man Prügel kriegt!«, lacht der Fuchs gestellt und kassiert die dritte Nuss.

»Jetzt kriege ich gleich einen Lachkrampf!«

Die kleine Fliege spürt ein Unrecht und geht dazwischen.

»Hör auf ihn zu hauen!«

»Warum? Ist doch komisch.« Das Schwein holt wieder aus.

»Ist es nicht! Das Leben ist zu kurz zum Streiten«, antwortet die Fliege und stemmt die Hände in die Seiten.

»Das ist wohl wahr«, denken Fuchs und Wildschwein gleichzeitig, stecken die Köpfe zusammen und flüstern:

»Sie ist ja so süß.«

»Wie viereckiger Zucker.«

Da schwirrt die Fliege an.

»Was sagt ihr?«

»Oh nichts!«, behauptet der Fuchs, »Wir rekurierten über die Süße des Lebens. Es ist oft kurz, wie du sagst, kann aber sehr sweet sein.«

»Sweet?«, fragt die Fliege und der Fuchs antwortet:

»Yes, das ist Englisch und heißt besser als Honig

»Ach, die fremden Länder …«

»… sind voll fremder Sprachen.«

Fuchs und Fliege gefallen sich auf Anhieb und die Fliege spricht mit weichen Lippen, während sich ihre feine Nase kräuselt.

»Leider kennt man zu Beginn nur die eigene. Dabei wäre es doch wichtig, gleich zu Anfang etwas davon zu verstehen. Kleine Missverständnisse wachsen sich oft aus, wie, wie …«

»Bäume?!«

Der Fuchs spielt Baum und dreht sich wie ein Freifahrt-Karussell.

Die kleine Fliege lacht so hell und lustig, dass es dem Schwein zu bunt wird.

»Lügenbäume!«, ruft er aus. »Lügenbäume wachsen in erfundener Erde mit Blättern, die nicht wahr sind und Früchten, die schwer im Magen liegen.«

Die Fliege hört auf zu kichern.

»Ja, davon habe ich gehört.«

»Aber aus Fehlern lernt man auch«, hält der Fuchs dagegen und streckt der Fliege eine Pfote hin.

»Du hast lange nicht gelacht, mein Freund!«

Das Schwein schickt Kopfnuss Nummer vier ins Rennen und der Fuchs lacht weiter, um den wahren Grund ihrer Traurigkeit zu verbergen: »Ha ha ha!«

»Warum soll er denn andauernd lachen?«

Die Fliege sttemmt die Hände schon wieder in die Hüften.

»Weil das Leben so kurz ist!«, sagt der Fuchs und das Wildschwein holt aus.

»Halt, sonst lache ich mich noch tot!«

Der Fuchs duckt sich und das Wildschwein steckt die Kopfnuss wieder ein. Die Fliege kneift die Augen zusammen.

»Ihr seid ein komisches Paar. Man kommt nicht alle Tage auf die Welt und trifft so muntere Gesellen.«

Eintagsfliege