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Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank
Gerhard Längle
Steffi Koch-Stoecker

Kriterien stationärer psychiatrischer Behandlung

Leitfaden für die klinische Praxis

Unter Mitarbeit von
Beate Baumgarte
Anke Brockhaus-Dumke
Heribert Fleischmann
Urban Hansen

Mit einem Geleitwort von Thomas Pollmächer

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-028699-3

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-028700-6

epub:    ISBN 978-3-17-028701-3

mobi:    ISBN 978-3-17-028702-0

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Inhalt

 

 

 

 

  1. Geleitwort
  2. von Thomas Pollmächer
  3. 1 Einleitung: Warum und für wen entstand dieses Buch?
  4. 2 Wie entstand dieses Buch?
  5. 2.1 Mitglieder der Arbeitsgruppe
  6. 2.2 Vorgehen
  7. 2.2.1 Sichtung der Literatur
  8. 2.2.2 Entwicklung eines vorläufigen Kriterienkatalogs
  9. 2.2.3 Erstellung von Beispielvignetten und Fertigstellung des Kriterienkatalogs
  10. 2.3 Zusammenfassung des Erreichten und Perspektiven
  11. 3 Struktur des Kriterienkatalogs: Aufnahmeindikationen für eine stationäre psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung
  12. 3.1 Die zwei Indikationsachsen
  13. 3.1.1 Achse I: Aufnahmeindikation aufgrund der Symptomatik, die Schutz/Überwachung erforderlich macht
  14. I.A. Absolute Aufnahmeindikation
  15. I.S. Starke Aufnahmeindikation
  16. I.M. Mittelstarke Aufnahmeindikation
  17. I.B. Bedingte Aufnahmeindikation
  18. 3.1.2 Achse II: Aufnahmeindikation zur Diagnostik/Behandlung
  19. II.A. Absolute Aufnahmeindikation
  20. II.S. Starke Aufnahmeindikation
  21. II.M. Mittelstarke Aufnahmeindikation
  22. II.B. Bedingte Aufnahmeindikation
  23. 3.2 Die modulierenden psychosozialen Faktoren
  24. Mod.1 Unzureichende Unterstützung oder Belastung durch das Umfeld
  25. Mod.2 Belastung des Umfeldes
  26. Mod.3 Gefährdung der sozialen Existenz
  27. Mod.4 Räumliche Entfernung zwischen Wohnort und Behandlungsstätte
  28. 4 Fallvignetten
  29. 4.1 Hauptdiagnose aus dem Bereich ICD-10: F0
  30. Vignette 1: Verdacht auf beginnende Demenz
  31. Vignette 2: Verdacht auf beginnende Demenz
  32. Vignette 3: Verdacht auf beginnende Demenz
  33. Vignette 4: Verdacht auf Delir bei Demenz
  34. Vignette 5: Delir ohne Demenz
  35. 4.2 Hauptdiagnose aus dem Bereich ICD-10: F1
  36. Vignette 6: Amnestisches Syndrom durch Alkohol (Korsakow-Syndrom)
  37. Vignette 7: Alkoholintoxikation, Alkoholabhängigkeit
  38. Vignette 8: Alkoholabhängigkeit, Entzugssyndrom
  39. Vignette 9: Alkoholabhängigkeit
  40. Vignette 10: Alkoholabhängigkeit
  41. Vignette 11: Alkoholabhängigkeit
  42. Vignette 12: Entzugsdelir Alkohol
  43. Vignette 13: Verdacht auf Drogenabhängigkeit
  44. 4.3 Hauptdiagnose aus dem Bereich ICD-10: F2
  45. Vignette 14: Verdacht auf paranoide Schizophrenie
  46. Vignette 15: Paranoide Schizophrenie im Alter
  47. Vignette 16: Verdacht auf wahnhafte Störung
  48. Vignette 17: Verdacht auf wahnhafte Störung
  49. Vignette 18: Erstmanifestation einer akuten Psychose
  50. Vignette 19: Gemischte schizoaffektive Störung
  51. 4.4 Hauptdiagnose aus dem Bereich ICD-10: F3
  52. Vignette 20: Manische Episode
  53. Vignette 21: Bipolare affektive Störung
  54. Vignette 22: Bipolare affektive Störung
  55. Vignette 23: Rezidivierende depressive Störung
  56. Vignette 24: Rezidivierende depressive Störung
  57. Vignette 25: Rezidivierende depressive Störung
  58. 4.5 Hauptdiagnose aus dem Bereich ICD-10: F4
  59. Vignette 26: Panikstörung, Erstmanifestation
  60. Vignette 27: Panikstörung
  61. Vignette 28: Zwangsstörung
  62. Vignette 29: Akute Belastungsreaktion
  63. Vignette 30: Posttraumatische Belastungsstörung
  64. Vignette 31: Posttraumatische Belastungsstörung
  65. Vignette 32: Verdacht auf Anpassungsstörung
  66. Vignette 33: Verdacht auf Anpassungsstörung
  67. Vignette 34: Dissoziative Anfälle
  68. Vignette 35: Verdacht auf dissoziative Störung
  69. Vignette 36: Hypochondrische Störung
  70. 4.6 Hauptdiagnose aus dem Bereich ICD-10: F5
  71. Vignette 37: Anorexie
  72. Vignette 38: Anorexie
  73. Vignette 39: Verdacht auf Wochenbettpsychose
  74. 4.7 Hauptdiagnose aus dem Bereich ICD-10: F6
  75. Vignette 40: Verdacht auf narzisstische Persönlichkeitsstörung
  76. Vignette 41: Borderline-Persönlichkeitsstörung
  77. 4.8 Hauptdiagnose aus dem Bereich ICD-10: F7
  78. Vignette 42: Intelligenzminderung, Exhibitionismus
  79. Vignette 43: Intelligenzminderung
  80. Literatur
  81. Die Autorinnen und Autoren
  82. Anhang: Kriterienkatalog

Geleitwort

von Thomas Pollmächer

Die Herbsttagung 2011 der Bundesdirektorenkonferenz (BDK), des Verbandes leitender Ärztinnen und Ärzte der Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie e. V., im Asklepios Fachklinikum Brandenburg an der Havel stand unter dem etwas provokanten Motto: »Warum denn überhaupt noch stationäre Behandlung?« Ziel der Tagung war eine fachliche und trialogische Bestandsaufnahme der aktuellen Versorgungsituation aus dem Blickwinkel der Kliniken. Die Tagung hat deutlich gemacht, wie heterogen die Situation in Deutschland gerade bezüglich der Verfügbarkeit ambulanter, ambulant komplementärer und sog. stationsersetzender Behandlungsangebote ist.

Diese Heterogenität zusammen mit einer extrem dünnen Forschungslage zur Frage, wann eine stationär-psychiatrische Aufnahme indiziert ist, war einer der Gründe, warum es mir damals nur sehr eingeschränkt gelang, für meinen Beitrag zu dieser Tagung mit dem Titel »Die Notwendigkeit vollstationärer Behandlung – gibt es ideologiefreie Kriterien?« handfeste, objektive und reproduzierbare Entscheidungskriterien zu identifizieren. Dennoch wurde klar, dass bestimmte Dimensionen, nämlich die Krankheit des Patienten, spezielle Aspekte der notwendigen Behandlung und psychosoziale Randbedingungen wesentliche Determinanten sind.

Diese Dimensionen sind vielleicht nicht völlig objektiv und fehlerfrei messbar, sie sollten aber einen empirischer Überprüfung zugänglichen Rahmen darstellen, der es erlaubt, den Fragen nach der Notwendigkeit einer stationären Behandlung weitgehend ideologiefrei nachzugehen. Dies ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil es zwei Perspektiven des Problems gibt, die erheblich zu einseitiger oder gar sachfremder Argumentation verführen.

Die eine Perspektive ist die der Psychiatrie-Enquête, die in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts ausgehend von der desolaten, fast vollständig institutionalisierten Situation der deutschen Nachkriegspsychiatrie, damals eindeutig zu Recht, eine massive Deinstitutionalisierung und Ambulantisierung unter dem Slogan »ambulant vor stationär« forderte. Seitdem haben sich die stationären Behandlungsbetten bundesweit halbiert und die Fallzahlen haben sich verdoppelt. Dennoch hallt diese sozialpsychiatrische Forderung bis heute in einer Weise nach, die bisweilen den Eindruck vermittelt, als sei jede stationäre Behandlung von Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen grundsätzlich schlecht und deshalb zu vermeiden. Dies ist natürlich falsch, denn es gibt aus fachlicher Sicht zweifelsfrei eine Vielzahl von Situationen, in denen eine stationäre Aufnahme die beste, wenn nicht sogar die einzige Möglichkeit darstellt, eine adäquate Behandlung einzuleiten.

Darüber hinaus findet das Prinzip »ambulant vor stationär« bisweilen Unterstützung aus einer wirtschaftlichen Perspektive, wonach eine Einschränkung stationärer Behandlungsangebote als geeignete Möglichkeit der Ausgabenbegrenzung im Bereich der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung gesehen wird. Die heutigen finanziellen Probleme der psychiatrischen Versorgung sind jedoch keinesfalls durch eine weitere einseitige Reduktion stationärer Behandlungskapazitäten lösbar. So sind aufwändige ambulante Behandlungsstrategien, wie zum Beispiel das Hometreatment schwerst kranker Patienten, mindestens so teuer wie eine stationäre Behandlung, wenn nicht sogar teurer. In der Gesamtschau wird zunehmend klar, dass wesentlich mehr Mittel für die Versorgung im ambulanten Bereich und für sektorübergreifende Behandlungsansätze zur Verfügung gestellt werden müssen. Dennoch bleiben die Situationen, bei denen eine stationäre Aufnahme indiziert ist, um eine fach- und patientengerechte Behandlung einzuleiten, und es bleibt eben die Frage nach einer besseren Erfassung und Beschreibung dieser Situationen.

Im Rahmen der Herbsttagung 2011 der BDK und ausgehend von den intensiven Diskussionen um die Thematik haben einige Kolleginnen und Kollegen die Initiative ergriffen, einen Leitfaden für die Indikation zur stationär psychiatrischen Behandlung zu entwickeln, die zu dem nun vorliegenden Buch geführt hat. Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank und ihre Mitautoren haben in den letzten vier Jahren in sehr aufwändiger Weise zunächst die Literatur zum Thema gesichtet. Die Ergebnisse sind in Abschnitt 2.2.1 dargestellt. Die zum Thema vorhandene wissenschaftliche Literatur führt zu keinem klinisch umfassend verwertbaren Ergebnis. Natürlich finden sich Prädiktoren für die Notwendigkeit einer stationären Behandlung und in einem gewissen Bereich schwerer und schwerster Krankheitszustände gibt es auch keinerlei Zweifel an deren Notwendigkeit. Für die Mehrzahl der klinischen Situation helfen aber diese Prädiktoren nicht weiter. Die Autoren des vorliegenden Buches haben zurecht auch in der Literatur beschriebene Skalen zur Einschätzung der stationären Behandlungsbedürftigkeit, die in der Regel zu eindimensionalen Summenscores führen, als nicht brauchbar verworfen und sich letztlich für einen multidimensional-semiquantitativen Ansatz entschieden: Eine erste Achse dient der Bewertung der Symptomatik und der daraus resultierenden Schutz- und Überwachungsnotwendigkeit. Eine zweite Achse dient der Einschätzung von Aspekten der Diagnostik und Therapie, die eine stationäre Behandlung notwendig machen oder nahelegen. Zusätzlich zu diesen beiden Achsen werden modulierende psychosoziale Faktoren beurteilt, die zwar für sich alleine genommen keine stationäre Behandlung begründen, aber in ihrer individuellen Konstellation die Einschätzung auf den beiden Prüfachsen entscheidend modulieren können. In Kapitel 3 beschreiben die Autoren die Achsen und ihre psychosoziale Modulation. Bezüglich beider Achsen wird zwischen absoluten, starken, mittelstarken und bedingten Aufnahmeindikationen unterschieden, bezüglich der psychosozialen Belastung werden vier Problemfelder unterschieden: Unzureichende Unterstützung oder Belastung durch das Umfeld, die Belastung des Umfeldes selbst, die Gefährdung der sozialen Existenz und die räumliche Entfernung zwischen Wohnort und Behandlungsstätte. Den Kern des Buches bildet Kapitel 4 mit 43 Fallvignetten, auf die das System angewandt wurde. Jede Fallvignette wurde von mehreren Experten aus der Perspektive des entwickelten Systems beurteilt und in Konsensuskonferenzen wurde schließlich eine Festlegung bezüglich der Aufnahmeindikation getroffen.

Insgesamt legen Gouzoulis-Mayfrank und Kollegen ein sehr differenziertes System zur Beurteilung der stationären Behandlungsindikation vor, welches dem biopsychosozialen Gesamtkontext, in dem eine Aufnahmeentscheidung zu treffen ist, Rechnung trägt. Das Buch ist weder als »Kitteltaschenleitfaden« für den Aufnahmearzt geeignet, noch als Vademecum für Fehlbelegungsprüfungen des MDK. Simple Checklisten existieren in der Literatur, sie bilden die komplexe klinische Realität aber nicht hinreichend und valide ab. Der vorliegende Leitfaden eignet sich meines Erachtens vor allem für zwei Bereiche: Zum einen dazu, angehenden Psychiatern die verschiedenen Facetten des Problems nahezubringen und ihnen die unterschiedlichen Variablen zu vermitteln, die bei der Entscheidung über eine stationäre Aufnahme zu beachten sind. Zum anderen könnte der Leitfaden als Grundlage für empirische Studien dienen mit dem Ziel, prospektiv die Validität und Reliabilität des vorgeschlagenen Systems zu prüfen und es zu optimieren. Ich wünsche dem vorliegenden Buch Verbreitung und Beachtung, und dass es ein Ausgangspunkt für weitere fruchtbare Diskussionen und empirische Untersuchungen wird.

Ingolstadt, im August 2015

Prof. Dr. Thomas Pollmächer

Direktor und Chefarzt des Zentrums für psychische Gesundheit
im Klinikum Ingolstadt

Vorsitzender der Bundesdirektorenkonferenz

1          Einleitung: Warum und für wen entstand dieses Buch?

 

 

 

 

Die Humanmedizin ist eines der wissenschaftlichen/universitären Fachgebiete mit sehr langer Tradition. Zugleich ist die ärztliche Heilkunst einer der ältesten Lehrberufe der Welt. In dieser doppelten Tradition bewegen sich auch die heute ärztlich Tätigen in Krankenhaus, Ambulanz und Praxis jeden Tag. Die erste Phase der Ausbildung, das Medizinstudium, ist stark wissenschaftlich ausgerichtet. In manchen Untersuchungskursen und vor allem im Praktischen Jahr folgt dann eine langsame Einführung in die alltagspraktischen Themen und eine Heranführung an die dort notwendigen zusätzlichen Fähigkeiten und Kompetenzen. Im Idealfall lernt man dieses »praktische Rüstzeug« von erfahrenen Vorgesetzten, aber auch von den etwas älteren Kolleginnen und Kollegen, die gerade ein paar Schritte weiter sind und noch genau wissen, welche Fragen die Kolleginnen und Kollegen in Weiterbildung beschäftigen. Man kann die erforderlichen praktischen Kompetenzen auch aus Büchern lernen und die dort niedergelegten Erfahrungen anderer, kritisch reflektierend, aufnehmen und ggf. in die eigene Handlungsweise einbeziehen. Allerdings findet sich in den Erkenntnissen der Evidence based Medicine (EbM), die in der Welt des klinischen Alltags wissenschaftliche Orientierung gibt und an der sich unser fachliches Handeln ausrichtet, nur ein Teil des alltagsrelevanten klinischen Wissens. Viele wichtige Themen und medizinische Arbeitsbereiche erhalten dadurch keine ausreichende Fundierung.

Zu den Themen, mit der sich die international geprägte EbM bislang wenig beschäftigt hat, gehört die alltägliche Frage, wann denn eine Patientin oder ein Patient stationär aufgenommen werden sollte. Wohl gibt es Hinweise für eindeutige Zustandsbilder oder Extremfälle eines Krankheitsbildes. Diese sind auf den ersten Blick »evident« und in den entsprechenden Leitlinien erwähnt. Dennoch geben die Leitlinien häufig keine ausreichende Hilfe zur Entscheidung in den vielfältigen und vielgestaltigen Situationen des klinischen Alltags. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen.

Der wahrscheinlich wichtigste Grund ist, dass die wissenschaftlichen Ausführungen, Lehrbücher und Leitlinien nur vereinzelt konkrete Empfehlungen für die Einschätzung der Erkrankungsschwere enthalten, dieser aber eine zentrale Bedeutung für die Entscheidung für oder gegen eine Aufnahme zukommt. Für das psychiatrische Fachgebiet können wir als Beispiel die S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression heranziehen (DGPPN 2009, AWMF-Registernummer nvl-005). Danach besteht eine Notfallindikation zur stationären psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung bei Vorliegen einer akuten suizidalen Gefährdung oder Fremdgefährdung mit fehlender oder eingeschränkter Absprachefähigkeit sowie deutlichen psychotischen Symptomen. Dabei handelt es sich um den erstgenannten eindeutigen, auf den ersten Blick »evidenten« Fall. Darüber hinaus besteht laut Leitlinie meist eine Indikation zur psychiatrisch-psychotherapeutischen stationären Behandlung u. a. bei der Gefahr der depressionsbedingten Isolation und anderen schwerwiegenden psychosozialen Faktoren oder bei den Therapieerfolg massiv behindernden äußeren Lebensumständen oder bei so schweren Krankheitsbildern, dass die ambulanten Therapiemöglichkeiten nicht ausreichen (DGPPN 2009, H 3.2.3 Schnittstellen in der Behandlung, S. 87). Nun zeigt sich das zentrale Problem im klinischen Alltag: Welche psychosozialen Faktoren sind so schwerwiegend und welche äußeren Lebensumstände sind so problematisch, dass sie den Therapieerfolg massiv behindern würden? Und wie sieht konkret der Schweregrad des Krankheitsbildes aus, für den die ambulanten Therapiemöglichkeiten nicht ausreichen? Und wenn in diesen Fällen meist eine Indikation zur stationären Behandlung vorliegt, was entscheidet darüber, wann ausnahmsweise doch eine ambulante Behandlung versucht werden kann/sollte? Hier muss also der Kliniker bewerten, implizit quantifizieren und entscheiden, und dafür fehlt ihm ein präzises Messinstrument oder klinischer Algorithmus.

Darüber hinaus hängen Entscheidungen für eine stationäre Aufnahme von den Rahmenbedingungen des jeweiligen Gesundheitssystems ab, das international stark differiert. Auch die Rahmenbedingungen in der sozialen Versorgung von Menschen in der Gesellschaft spielen eine wichtige Rolle (z. B. der Ausbau des Sozialversicherungssystems), ferner die verfügbaren Ressourcen vor Ort (z. B. die regionalen Facetten der Eingliederungshilfe oder anderer Unterstützungsmöglichkeiten) und – ganz individuell – Aspekte, die das private Umfeld des Patienten, der Familie oder des Freundeskreises betreffen. Die Entscheidung hängt zudem von der Erfahrung, dem Sicherheitsbedürfnis und der persönlichen Einstellung des Arztes, der die Aufnahmeentscheidung trifft, ab. Nicht zuletzt gibt es relevante rechtliche Rahmenbedingungen (wie das Betreuungsrecht, das Patientenrechtegesetz oder die PsychKHGs mancher Bundesländer), die gerade in den letzten Jahren eine starke Modifikation erfahren haben.

Im Grundsatz betreffen die oben skizzierten Probleme des klinischen Alltags die gesamte Medizin. Im Fachgebiet der Psychiatrie und Psychotherapie scheint aber die Entscheidung zur stationären Aufnahme zumindest auf den ersten Blick oft noch weniger klar operationalisierbar zu sein als in anderen medizinischen Fachgebieten.

Nun gibt es in der Psychiatrie/Psychotherapie seit Verabschiedung der Psychiatrie-Enquête 1975 unbestritten den Grundsatz: »ambulant vor stationär«. Dies bedeutet, soviel psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung, auch Akutbehandlung, ambulant oder teilstationär durchzuführen wie möglich, eine stationäre Aufnahme wenn möglich zu vermeiden – wo sie nötig ist, aber in guter Qualität anzubieten. Wo aber ist es nötig? Wie diese Entscheidung im Alltag getroffen werden kann, dazu gibt es im Bericht der Psychiatrie-Enquête wenig konkrete Hinweise.

In Diskussionen zur Weiterentwicklung der psychiatrischen Versorgung bei Fachtagungen des Verbandes der leitenden Ärztinnen und Ärzte an psychiatrischen Fachkrankenhäusern, kurz »Bundesdirektorenkonferenz« (BDK), wurde diese Frage in den letzten Jahren wiederholt aufgeworfen und als wichtiges Thema erkannt. Bei einer ersten Recherche wurde rasch deutlich, dass es zur Frage, wie denn die Indikation für eine stationäre Behandlung in einer Klinik/Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie zu stellen sei, wenig schriftlich niedergelegte Empfehlungen oder Handreichungen gibt. Lehrbücher für Psychiatrie und Psychotherapie widmen sich diesem Thema am ehesten in Nebenbemerkungen oder kurzen Hinweisen. Auch in der nationalen und internationalen wissenschaftlichen Literatur findet sich zur Indikationsstellung einer stationären Aufnahme in der Psychiatrie wenig. Dies hängt vermutlich mit den o. g. Unterschieden der Versorgungssysteme und grundsätzlichen methodischen Problemen zusammen. In Behandlungsleitlinien – wie den S3-Leitlinien unserer Fachgesellschaft DGPPN – werden, wie oben exemplarisch anhand der VersorgungsLeitlinie Depression dargestellt, dazu großenteils allgemeine Aussagen getroffen, die grundsätzliche Orientierung geben, im Einzelfall jedoch nur eingeschränkt hilfreich sind. Ein weiterer Grund für die eingeschränkte Verwendbarkeit der verfügbaren Leitlinien ist, dass die Entscheidung über eine stationäre Aufnahme oft schon getroffen werden muss, bevor die Diagnostik abgeschlossen wurde und eine sichere klinische Diagnose feststeht. Zudem sind im klinischen Alltag Mehrfachdiagnosen häufig, was die direkte Übertragbarkeit von Leitlinien in die klinischen Entscheidungsprozesse zusätzlich erschwert. Für eine Entscheidung über die stationäre Aufnahmenotwendigkeit sind die verfügbaren Leitlinien zur Diagnostik und Behandlung einzelner Störungen letztlich weder erstellt worden noch geeignet.

Dieser Mangel an wissenschaftlicher Evidenz und umfassenden Empfehlungen kontrastiert mit der klinischen Relevanz der Fragestellung, die jährlich 100.000-fach beantwortet werden muss. Alle in Klinik, Ambulanz und Praxis tätigen Kolleginnen und Kollegen treffen diese Entscheidung täglich. Es ist anzunehmen, dass sie dies nicht willkürlich tun, sondern sich an bestimmten expliziten oder impliziten Grundsätzen, ergänzt bzw. geprägt durch die persönliche Erfahrung, orientieren. Es erscheint jedoch unbefriedigend, dass so wenig über die Art und Anwendung von Entscheidungsstrategien explizit verfügbar und bekannt ist. Sollte man nicht erwarten können, dass eine für den einzelnen Patienten oder die Patientin so wichtige Entscheidung wie eine stationäre Aufnahme, die zudem erhebliche relevante Kosten verursacht, nach rationalen Grundsätzen, replizierbar und in ganz Deutschland in ähnlicher Weise getroffen wird? Wäre es nicht gut, wenn die weniger erfahrenen Kolleginnen und Kollegen, die im Stationsalltag, vor allem auch im Nacht- und Wochenenddienst, in den Institutsambulanzen oder auch als Assistentinnen und Assistenten in der Praxis die Aufnahmeentscheidung treffen, konkretere und detailliertere Empfehlungen in den Händen hätten, an denen sie sich orientieren können? Wäre es ferner nicht hilfreich, wenn in der Weiterbildung, in Seminaren und Kursen, aber auch in Qualitätszirkeln anhand einer klaren Systematik die Wege zu einer solchen Entscheidung dargestellt und diskutiert werden könnten? Mitglieder der BDK haben diese Fragen bejaht und eine Arbeitsgruppe gebildet, um eine entsprechende Handreichung zu erarbeiten.

Ziel unserer Handreichung, die nun in diesem Buch vorliegt, ist es, die Vielfalt der zu berücksichtigenden Aspekte für die Entscheidung über eine stationäre Aufnahme aufzuzeigen, zu systematisieren und so eine Entscheidungshilfe bzw. einen Leitfaden für den Alltag zu geben. Wir wollen somit in erster Linie bei der alltäglichen Entscheidung helfen: Soll, kann, muss dieser Patient/diese Patientin stationär aufgenommen werden?

In der Entwicklung dieses Buches wurde sehr bald deutlich, dass sich die Arbeitsgruppe auf die Entscheidung beschränken muss, ob eine stationäre Aufnahme stattfinden soll oder nicht. Eine darüber hinausgehende, verfeinerte Fragestellung, wie denn die Versorgung im Detail sein sollte, wenn nicht stationär aufgenommen wird oder welchen Weg ein aufgenommener Patient innerhalb des stationären Settings nehmen soll, würde den Rahmen sprengen. Die Abgrenzung zwischen rein ambulanter Behandlung im KV-System, ambulanter Behandlung in der psychiatrischen Institutsambulanz (mit allen Unterschieden quer durch die Republik) oder intensivierter ambulanter Behandlung, halbtagesklinischer oder tagesklinischer Behandlung oder einer Nutzung eines hier und da vorhandenen Hometreatment-Angebots würde den Rahmen ebenfalls sprengen. Diese möglichen Formen der Behandlung werden zwar bedacht und diskutiert, aber nicht im Einzelnen detailliert ausgeführt und gegeneinander abgegrenzt. Die nach der Aufnahme erfolgende Behandlung wird ebenfalls nicht im Detail ausgeführt. Zur Frage der störungsspezifischen Behandlung kann auf die Vielzahl der klinischen Lehrbücher und natürlich auf die Leitlinien der Fachgesellschaften verwiesen werden. Schließlich wird in dem vorliegenden Buch die wichtige Frage der sinnvollen und erforderlichen Dauer des stationären Aufenthaltes nicht systematisch behandelt.

Hier geht es also um die Diskussion, ob eine Person, die in der Praxis sitzt, die sich in der Psychiatrischen Institutsambulanz vorstellt oder die nachts über die Notaufnahme den Arzt vom Dienst aufsucht, stationär aufgenommen werden soll oder nicht. In erster Linie geht es dabei um aktuelle, tagesgleiche Entscheidungen. Daneben findet auch die Frage nach den Bedingungen für eine elektive Aufnahme, ggf. auch nach längerer Wartezeit, Berücksichtigung. Schließlich wird die Frage einer Aufnahme zu einer spezialisierten, diagnosespezifischen Behandlung vs. einer weniger spezifischen stationären psychiatrischen Behandlung berührt. Der Fokus dieses Buches liegt aber auf der akuten, zeitnahen Entscheidungsnotwendigkeit. Das Buch soll helfen, diese Entscheidung nach definierten Kriterien zu treffen und zugleich der Individualität der einzelnen Patienten und den speziellen Rahmenbedingungen des Einzelfalles gerecht zu werden.

Dabei gehen wir von der aktuell in Deutschland bestehenden Versorgungsstruktur mit einer weitgehend strikten Trennung zwischen der ambulanten Behandlung (durch Niedergelassene oder in klinikeigenen Institutsambulanzen) und der stationären (und teilstationären) Behandlung in Kliniken aus. Versorgungsstrukturen, die diese tradierten Sektorgrenzen überwinden, werden derzeit modellhaft erprobt. Inwieweit sie sich in der Regelversorgung durchsetzen werden, ist schwer abschätzbar. An vielen Stellen haben wir darauf hingewiesen, was unter veränderten Versorgungsmöglichkeiten und anderen Finanzierungsmodellen ambulant machbar wäre. Die angeführten Möglichkeiten, z. B. intensiv ambulant oder im Rahmen von Hometreatment zu behandeln, sind jedoch in den meisten Regionen der Republik (noch) nicht realisiert. Andererseits wird die Frage, ob ein Patient stationär aufzunehmen ist, im Grundsatz bestehen bleiben, auch wenn die Zahl der möglichen Alternativen erhöht wird. Die Kriterien für die Einschätzung der stationären Behandlungsnotwendigkeit werden sich dadurch aller Voraussicht nach nicht wesentlich verändern.

Geplant hatten wir zunächst eine Handreichung in Form von Praxisleitlinien: Übersichtlich, konkret, einheitlich und leicht anwendbar. Sehr bald wurde deutlich, dass dies so nicht möglich ist. Bei der Entscheidung über eine stationäre Aufnahme handelt es sich um eine Frage der »ärztlichen Kunst«. Diese muss erlernt und entwickelt werden, im Idealfall unter Anleitung, in Diskussion mit Kolleginnen und Kollegen, orientiert am Einzelfall. Ziel wäre ein klinisches Vorgehen, das auf den ersten Blick »intuitiv« wirken mag, das aber bei genauerer Betrachtung umfassend reflektiert ist und identifizierbaren Kriterien folgt.

Entsprechend ist das Buch nun orientiert an Leitkriterien zur Einschätzung des Einzelfalles, es stützt sich im Wesentlichen aber auf die Darstellung und Diskussion von Fallbeispielen. An ihnen wird exemplarisch herausgearbeitet, welche Überlegungen für die zu treffende Entscheidung relevant sein können.

Für die Nutzer kann das Buch damit zur persönlichen Lektüre und Auseinandersetzung mit den Beispielfällen dienen. Es kann aber auch im Rahmen von Weiterbildungsmodulen, Kursen und Seminaren eingesetzt werden, um eine fachliche Diskussion im eigenen Haus, in der Ambulanz oder im Qualitätszirkel zu führen und so die eigene Auseinandersetzung mit der Frage: »Wann nehmen wir auf?« zu fördern. Letztlich soll dieses Buch eine Strukturierungshilfe und »Denkschule« für eine häufige und wichtige klinische Entscheidung sein.

Die Autoren tragen zu dieser Auseinandersetzung ihre eigenen Erfahrungen bei. Diese wurden in ausführlichen Diskussionen zu den einzelnen Fallvignetten aufeinander abgestimmt. Die niedergelegten Empfehlungen sind der jeweils daraus entstandene Konsens, den alle Autoren/Mitwirkenden gemeinsam für alle Fälle mit tragen. Die jeweilige Empfehlung ist dabei das Resultat der ausführlichen Beschäftigung mit den Fällen. Nicht immer bestand ein Konsens schon zu Beginn der Falldiskussionen. Die Empfehlungen entsprechen daher nicht einer gesetzten »Wahrheit«, sondern fußen auf einer begründeten, kriterienorientierten, systematisch herbeigeführten Entscheidung. Diese Strategie wünschen wir uns auch für die Nutzer unseres Buches.

Im nachfolgenden Kapitel 2 werden die Methodik unseres Vorgehens, die Entwicklung der Indikatoren sowie die Ausarbeitung der Fallvignetten im Einzelnen dargestellt.

2          Wie entstand dieses Buch?

 

 

 

2.1        Mitglieder der Arbeitsgruppe

Im November 2011 wurde erstmalig eine Arbeitsgruppe (AG) aus erfahrenen Klinikdirektoren und Chefärzten unter der Leitung von Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank gebildet. Es wurde darauf geachtet, dass die AG-Mitglieder unterschiedliche klinische Schwerpunkte hatten (Allgemeinpsychiatrie, Gerontopsychiatrie, Sucht, ambulante Versorgung). Ziel der AG war die Formulierung eines Kriterienkatalogs für die stationäre psychiatrische Behandlung. Ursprünglich gehörten zu der Arbeitsgruppe neben Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank (Köln), Gerhard Längle (Bad Schussenried), Steffi Koch-Stoecker (Bielefeld) und Heribert Fleischmann (Neustadt) auch Lothar Adler (Mühlhausen) und Manfred Wolfersdorf (Bayreuth). Die zwei Letzteren mussten jedoch nach etwa einem Jahr aus Zeitgründen ausscheiden. Neu hinzu kamen im Jahr 2013 Beate Baumgarte (Gummersbach), Anke Brockhaus-Dumke (Alzey) und Urban Hansen (Ravensburg), die seither kontinuierlich an der Arbeitsgruppe mitwirkten.

2.2        Vorgehen

Als Ausgangsbasis wurden Papiere zusammengetragen und bewertet, die sich mit der Thematik beschäftigen und die den AG-Mitgliedern bekannt waren. Es handelte sich z. T. um allgemein zugängliche Dokumente wie beispielsweise die amtlichen Richtlinien über die Verordnung von Krankenhausbehandlung und z. T. um interne Papiere, die einzelnen AG-Mitgliedern zur Verfügung standen.

2.2.1      Sichtung der Literatur

In den Richtlinien über die Verordnung von Krankenhausbehandlung steht allgemein, dass die ambulante Behandlung Vorrang vor einer stationären Behandlung hat; es werden keine Besonderheiten einzelner Fachgebiete aufgeführt, insbesondere findet sich hier kein Verweis auf spezielle Aspekte einer psychiatrischen Behandlung (Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen 2003, Gemeinsamer Bundesausschuss 2015). In anderen Arbeitspapieren werden sehr detaillierte, aber wenig systematisch geordnete und z. T. wenig klar operationalisierte Aufnahmekriterien bei einzelnen psychischen Störungen präsentiert (z. B. Kriterien der Spitzenverbände der Krankenkassen und Rentenversicherungsträger für die Entscheidung zwischen ambulanter und stationärer Rehabilitation (Entwöhnung) bei Abhängigkeitserkrankungen, AOK-Bundesverband, Bundesverbände anderer gesetzlicher Krankenkassen und Verband Deutscher Rentenversicherungsträger 2001; Indikationsliste einer Arbeitsgruppe eines Klinikverbundes geordnet nach ICD-10-Diagnosen).

Im nächsten Schritt wurde auf den Internetseiten bekannter internationaler wissenschaftlicher Fachgesellschaften und Institutionen nach Leitlinien zu der Thematik gesucht (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde DGPPN, National Institute for Health and Care Excellence NICE, American Psychiatric Association APA). Die Suche bestätigte, dass es keine Leitlinien speziell zu der Frage der stationären Behandlungsbedürftigkeit psychiatrischer Patienten gibt.

Nachfolgend wurden die verfügbaren deutschen Leitlinien zu den verschiedenen psychischen Störungen systematisch hinsichtlich Aussagen zum Behandlungssetting und Aufnahmeindikationen gesichtet. Dabei zeigte sich, dass die meisten Leitlinien Empfehlungen zu den Bedingungen für ein stationäres Behandlungssetting enthalten, die den Schweregrad der Störung und psychosoziale Faktoren berücksichtigen. Beispielweise werden in der S3-Leitlinie für Bipolare Störungen drei Faktoren genannt, die zur Setting-Entscheidung beitragen: das Vorliegen von akuter Eigen- oder Fremdgefährdung, die Schwere/das Ausmaß der Symptomatik und das soziale Umfeld des Patienten (DGBS und DGPPN 2012). Ähnlich wird in der S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression (DGPPN 2009) eine akute suizidale Gefährdung oder Fremdgefährdung mit fehlender oder eingeschränkter Absprachefähigkeit sowie deutlichen psychotischen Symptomen als Notfallindikation für eine stationäre Aufnahme genannt. Darüber hinaus wird eine Indikation für eine stationäre Behandlung bei Therapieresistenz und Chronifizierungsgefahr, bei »so schweren Krankheitsbildern, dass die ambulanten Therapiemöglichkeiten nicht ausreichen«, »bei der Gefahr der depressionsbedingten Isolation und anderen schwerwiegenden psychosozialen Faktoren« und »bei den Therapieerfolg massiv behindernden äußeren Lebensumständen« gesehen (DGPPN 2009, S. 87). Andererseits finden sich beispielsweise in der S3-Leitlinie Demenzen keine konkreten Empfehlungen zur stationären Behandlungsindikation (DGPPN und DGN 2010).

Schließlich wurde eine Literaturrecherche durchgeführt. Zunächst wurde nach Artikeln zu der Thematik in den Inhaltsverzeichnissen der Zeitschriften »Nervenarzt« und »Psychiatrische Praxis« ab dem Jahr 2006 sowie in den Schriften und Tagungsbänden der Aktion Psychisch Kranke (APK) gesucht. Diese Suche war ohne Ergebnis. Nachfolgend wurde eine Medline-Recherche mit der Kombination von drei Stichworten vorgenommen: admission und psychiatric und criteria. Es wurde jeweils in Titeln und Abstracts von Artikeln recherchiert. Die Recherche ergab 571 Treffer, allerdings hatten die wenigsten Artikel nach ihren Titeln überhaupt einen Bezug zu der Thematik. Bei näherer Sichtung der Abstracts der in Frage kommenden Artikel konnten 17 Arbeiten mit engerem Bezug zu der Thematik identifiziert werden. Unter den Artikeln, die in diesen 17 Arbeiten zitiert und diskutiert wurden, fanden sich weitere 15 relevante Arbeiten, so dass insgesamt 32 Artikel berücksichtigt wurden. Darunter fallen sechs ältere Arbeiten aus den USA, die sich normativ mit Kriterien für eine stationäre psychiatrische Aufnahme beschäftigen (APA 1974; Flynn und Henisz 1975; Weiner et al. 1978; Bengelsdorf et al. 1984; Prunier und Buongiorno 1989; Roy-Byrne et al. 1998). Die verbleibenden 26 Artikel beschäftigen sich empirisch mit den Faktoren, die in der Praxis mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für eine stationäre Aufnahme einhergehen. Unter den Letzteren befinden sich drei Artikel aus Deutschland (Roick et al. 2004; Ziegenbein et al. 2006; Warnke et al. 2010); die verbleibenden Artikel stammen aus verschiedenen Ländern und Kontinenten.

Unter den Arbeiten, die Kriterienkataloge bzw. Checklisten für eine stationäre psychiatrische Aufnahme präsentieren, ist die Arbeit von Weiner und Mitarbeitern (1978) besonders hervorzuheben. Die Autoren präsentierten und verglichen zwei vorbestehende amerikanische Checklisten: Die Whitington Kriterien (Flynn und Henisz 1975) umfassen 12 Items, die jeweils von 0 bis 3 bewertet und mit einem Gewichtungsfaktor von 4 bis 1 multipliziert werden. Ein Wert von = 12 spräche laut Autoren für eine stationäre Aufnahme. Zu den stark gewichteten Items gehören die manifeste Suizidalität oder Fremdaggressivität und die Notwendigkeit einer 24-Stunden-Beobachtung oder Alkohol- oder Drogenentzug. Weitere Items sind die Beeinträchtigung der Denkprozesse, Desorganisation, verbale Aggressivität, rasche Verschlechterung oder Stagnation des klinischen Zustands trotz Behandlung und ungünstige Einflüsse aus dem sozial-familiären Umfeld oder Belastung des sozialen Umfeldes. Die Model Criteria Sets (Ad hoc Committee on PSRO 1974) kombinieren klinische Diagnosen mit Items zu funktionellen und psychosozialen Aspekten und unterscheiden zwischen obligat geforderten Kriterien (z. B. bei der Schizophrenie: Beeinträchtigung der Realitätstestung) und weiteren Kriterien (z. B. bei der Schizophrenie: mindestens ein weiteres Kriterium unter: Wahn, bizarres Verhalten, potentielle Selbst- oder Fremdgefährdung, Beeinträchtigung der sozialen, familiären oder beruflichen Funktionsfähigkeit, Indikation für EKT oder Hochdosismedikation oder therapeutisches Milieu oder kontinuierliche professionelle Beobachtung, unzureichende soziale Unterstützung, Nichterreichbarkeit außerklinischer psychiatrischer Angebote und gerichtliche Unterbringung). Weiner und Mitarbeiter (1978) setzten beide Checklisten bei 273 Aufnahmen ein und konnten zeigen, dass die Interrater-Reliabilität hoch war und die Checklisten auch für das Screening durch nichtärztliches Personal geeignet waren.

In ähnlicher Weise legten Roy-Byrne und Mitarbeiter (1998) eine Checkliste mit 13 Items zu Krankheitssymptomen, Funktionsstörungen und dem Aspekt der sozialen Unterstützung vor, die jeweils von 0 bis 6 (nicht vorhanden bis sehr schwer) bewertet werden (mögliche Spanne des Gesamtscores: 0 bis 78). Die Checkliste wurde bei 205 Patienten eingesetzt, die sich bei Ambulanzen und Kriseninterventionsdiensten vorstellten, wobei eine stationäre Aufnahme in 55 Fällen erfolgte. Es zeigte sich, dass etwa drei Viertel der Fälle anhand der Scores hinsichtlich der erfolgten Aufnahme oder Nichtaufnahme korrekt zugeordnet werden konnten. Dieses Ergebnis wurde von den Autoren als mittelmäßige Validität der Checkliste gewertet. Unter den Items waren: Wahn, Halluzinationen oder Desorganisation, Depression oder Angst, Suizidalität/Fremdgefährdung, Feindseligkeit/Aggression, mangelnde Compliance, Alkohol/Drogenprobleme, Beeinträchtigung bei Alltagsaktivitäten (z. B. Hygiene) oder bei der Rollenerfüllung (Schule, Beruf, Hausarbeit) und unzureichende soziale Unterstützung.

Prunier und Buongiorno (1989) definierten nur vier krankheitsbezogene Kriterien für eine stationäre Aufnahme: unmittelbare Eigen- und Fremdgefährdung, deutliche Beeinträchtigung in der Durchführung von Alltagsaktivitäten, impulsives oder tätlich-aggressives Verhalten und Behandlung schwerer Entzugssyndrome. Allerdings führen die Autoren unter dem Kriterium »Beeinträchtigung der Alltagsaktivitäten« verschiedene Beispiele auf, die eher akute psychopathologische Symptome widerspiegeln (z. B. starke Geldausgaben mit drohendem finanziellem Ruin der Familie bei Manie oder Verweigerung von Essen und Trinken aufgrund wahnhaft-hypochondrischer Befürchtungen bei einer älteren Patientin u. Ä.) und weniger eine längerfristige Beeinträchtigung von Alltagsaktivitäten im engeren Sinne beschreiben.

Schließlich präsentierten Bengelsdorf und Mitarbeiter (1984) eine noch kürzere Checkliste mit nur drei Items: akute Gefährlichkeit für sich und/oder andere, Motivation und Fähigkeit des Patienten, bei dem ambulanten Behandlungsplan zu kooperieren und Bereitschaft oder Fähigkeit der Familie bzw. des sozialen Umfeldes, den Behandlungsplan zu unterstützen. Sie argumentierten, dass alle weiteren Items, die in anderen publizierten, längeren Checklisten enthalten sind, direkt oder indirekt mit einem der drei Items ihrer kurzen Checkliste zusammenhängen. Bengelsdorf und Mitarbeiter (1984) führten eine retrospektive Untersuchung mit 300 Fällen und anschließend eine prospektive Untersuchung mit 122 Fällen durch und berichteten, dass ihre 3-Item-Liste gut zwischen Patienten unterschied, die stationär aufgenommen werden mussten, und solchen, die intensiv-ambulant durch Kriseninterventionsteams behandelt werden konnten.

Unter den empirischen Arbeiten aus Deutschland findet sich eine Studie aus Hannover, in der alle notfallmäßigen psychiatrischen Vorstellungen in der Zentralen Aufnahme des Universitätsklinikums im Jahr 2002 eingeschlossen wurden (Ziegenbein et al. 2006). Etwas mehr als die Hälfte der insgesamt 2.632 Patienten (51,4%) wurden stationär aufgenommen. Als Risikofaktoren für eine Aufnahme wurden zum einen krankheitsbezogene Faktoren identifiziert: Vor allem Suizidalität als »Marker« für den Schweregrad der psychischen Störung war mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für eine Aufnahme assoziiert. Darüber hinaus war die Diagnose Demenz mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für eine Aufnahme assoziiert; dabei vermuteten die Autoren, dass dies mit dem gemeinsamen Auftreten von kognitiven Einschränkungen und behandlungsbedürftigen somatischen Erkrankungen bei älteren dementen Menschen zusammenhängen dürfte. Patienten, die mit einer Einweisung nach den Unterbringungsgesetzen der Länder (PsychKG) in die Klinik gebracht wurden, noch in der Aufnahme eine Medikation erhielten oder fixiert werden mussten – und damit wahrscheinlich schwerer krank als andere Patienten waren –, wurden ebenfalls mit einer deutlich höheren Wahrscheinlichkeit aufgenommen. Zum anderen wurden relevante psychosoziale bzw. Umgebungsfaktoren identifiziert. Die Autoren fanden, dass Frauen sowie Patienten, die von Angehörigen oder ambulanten Diensten in die Aufnahme begleitet wurden, seltener aufgenommen wurden als Männer und Patienten, die sich ohne Begleitung vorstellten. Erstaunlicherweise wurden auch Patienten, die von der Polizei in die Aufnahme begleitet wurden, seltener aufgenommen als Patienten, die sich ohne Begleitung vorstellten. Andererseits wurden Patienten, die unter einer gesetzlichen Betreuung standen, häufiger aufgenommen (Ziegenbein et al. 2006).

Eine neuere Arbeit aus Mannheim (Warnke et al. 2010) untersuchte die Risikofaktoren für stationäre Wiederaufnahmen bei 103 Patienten mit Schizophrenie und ungünstigen prognostischen Faktoren. Etwa die Hälfte der Patienten wurden innerhalb der Follow-up-Periode von zwölf Monaten nach der Index-Entlassung erneut aufgenommen. Sowohl klinische Aspekte (Versorgungsbedarf durch Krankheitssymptome, insbes. Suizidgedanken und Negativsymptomatik, sowie eingeschränkte soziale und Alltagsfertigkeiten) als auch eine geringe Unterstützung im sozialen Umfeld waren mit einem erhöhten Risiko für eine Aufnahme assoziiert; hingegen war eine Compliance mit der neuroleptischen Medikation mit einem geringeren Risiko für eine Aufnahme assoziiert. In der Studie wird eine Untersuchung aus Leipzig zitiert, die wenige Jahre zuvor ähnliche Prädiktoren für häufige stationäre Aufnahmen bei Patienten mit Schizophrenie gezeigt hatte (Roick et al. 2004). Die Autoren fanden es erstaunlich, dass komorbider Substanzmissbrauch und die Anzahl und Dauer vorangegangener stationärer Behandlungen nicht prädiktiv hinsichtlich Wiederaufnahmen waren. Schließlich berichteten die Autoren, dass der klinische Versorgungsbedarf, d. h. die Krankheitssymptome und Funktionseinschränkungen entscheidend für das Wiederaufnahmerisiko waren, und zwar unabhängig von der ambulanten Bedarfsdeckung, d. h. unabhängig von der Verfügbarkeit und Inanspruchnahme ambulanter Behandlungsangebote. Dieser Befund wurde so interpretiert, dass die ambulanten Angebote möglicherweise qualitativ unzureichend oder nicht passend für die Patienten sein könnten.

Unter den ausländischen Arbeiten ist eine Studie aus Südafrika interessant, die 460 konsekutiv aufgenommene Patienten eines psychiatrischen Krankenhauses untersuchte (Gillis et al. 1986). Die Autoren berichteten, dass die aufgenommenen Patienten hinsichtlich sozioökonomischer Faktoren benachteiligt waren im Vergleich zu der Gesamtpopulation, aus der sie stammten, und dass die sozioökonomischen Faktoren eine große Rolle bei der Aufnahme spielten.

In eine andere Richtung gingen die Ergebnisse einer israelischen Arbeit, die alle notfallmäßigen psychiatrischen Vorstellungen in der Notaufnahme eines Allgemeinkrankenhauses untersuchte (Rabinowitz et al. 1995): Etwa ein Drittel der insgesamt 2.073 Patienten wurden stationär aufgenommen und es zeigte sich, dass krankheitsbezogene Faktoren (insbesondere die Kombination von Psychose mit gewalttätigem Verhalten) die stärksten Prädiktoren für eine Aufnahme waren.

Eine Arbeit aus den USA untersuchte 465 notfallmäßige psychiatrische Vorstellungen in vier städtischen psychiatrischen Aufnahmediensten ausschließlich nach klinischen Prädiktoren für eine Aufnahme (Way und Banks 2001). Die Autoren konnten fünf bedeutsame krankheitsbezogene Faktoren identifizieren, mit deren Hilfe 84% der Fälle hinsichtlich Aufnahme oder Nichtaufnahme zutreffend klassifiziert werden konnten: Ausmaß der Selbstgefährdung, Schwere der Psychose, Fähigkeit der Selbstfürsorge, Impulskontrolle und Schwere der Depression.

Ein weiterer interessanter kontextueller Aspekt wurde in einer kanadischen Arbeit untersucht (George et al. 2002): Hier wurden 205 notfallmäßige Vorstellungen in zwei psychiatrischen Aufnahmezentren untersucht und es wurden sowohl krankheitsbezogene als auch institutionsbezogene Aspekte der Aufnahmeentscheidung berücksichtigt (Verfügbarkeit von Betten, Zentrumseffekte und berufliche Erfahrung der aufnehmenden Ärzte). Etwa 40% der Patienten wurden stationär aufgenommen. Interessanterweise waren nur krankheitsbezogene Aspekte bedeutsam (Symptomschwere bei Achse-I-Störungen und Defizite bei der Selbstfürsorge), während institutionsbezogene Aspekte keine Rolle bei der Entscheidung für eine Aufnahme spielten. In diesem Artikel werden mehrere weitere empirische Arbeiten zitiert, die ebenfalls für die Bedeutung krankheitsbezogener Faktoren bei der Aufnahmeentscheidung sprechen (Lyons et al. 1997; Way et al. 1992; Slagg 1993; Segal et al. 1995). Andererseits wird auch auf Arbeiten verwiesen, die durchaus einen Einfluss der institutionsbezogenen Aspekte auf das Aufnahmeverhalten der Ärzte zeigten (Baxter et al. 1968; Streiner et al. 1975; Meyerson et al. 1979; Way et al. 1992; Fichtner und Flaherty 1993; Rabinowitz et al. 1995; Mattioni et al. 1999).