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Meike Schwermann

Schmerzmanagement bei akuten Schmerzen

Leitfaden für die Pflegepraxis

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-029104-1

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-029105-8

epub:    ISBN 978-3-17-029106-5

mobi:    ISBN 978-3-17-029107-2

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Inhalt

  1. Einleitung
  2. 1 Ethische Grundlagen und pflegerisches Selbstverständnis
  3. 2 Schmerzphysiologie
  4. 2.1 Nozizeptorschmerzen
  5. 2.2 Neuropathische Schmerzen
  6. 3 Schmerzerfassung und Evaluation der therapeutischen Maßnahmen
  7. 3.1 Individualität des Schmerzerlebens
  8. 3.2 Schmerzerleben bei ausgewählten Zielgruppen
  9. Schmerzen bei Kindern
  10. Schmerzen bei einer progedienten Tumorerkrankung
  11. Schmerzen und Alter
  12. Schmerzen und Demenz
  13. 3.3 Instrumente zur Schmerzerfassung
  14. 4 Prävention und medikamentöse Therapie
  15. 4.1 Medikamente der WHO-Stufe I
  16. 4.2 Medikamente der WHO-Stufe II
  17. 4.3 Medikamente der WHO-Stufe III
  18. 4.4 Umrechnungstabelle für den Wechsel zwischen WHO-Stufe 2 und 3
  19. 4.5 Grundsätze in der postoperativen Schmerztherapie bei Kindern
  20. 4.6 Koanalgetika
  21. 5 Prophylaxe und Therapie der Nebenwirkungen
  22. Symptommanagement bei Obstipation
  23. Symptommanagement bei Übelkeit und Erbrechen
  24. Sedierung
  25. Atemdepression
  26. Mundtrockenheit
  27. Harnverhalt
  28. Verbesserung der Analgetikaverordnung
  29. 6 Nichtmedikamentöse Maßnahmen zur Schmerzlinderung
  30. 6.1 Wärme, Kälte und andere physikalische Methoden
  31. 6.2 Massage
  32. 6.3 Bewegung und Mobilisation
  33. 6.4 TENS (Transkutane Elektrische Nervenstimulation)
  34. 6.5 Akupunktur
  35. 6.6 Maßnahmen zur Ablenkung und geleitete Imaginationen
  36. 6.7 Progressive Muskel-Relaxation (PMR) nach Jacobson
  37. 7 Information, Anleitung und Schulung
  38. Mikroschulungen als besonderes Beratungsangebot
  39. 8 Multiprofessionelle Zusammenarbeit
  40. Schlusswort
  41. Literatur
  42. Anhang
  43. Der Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege bei akuten Schmerzen, 1. Aktualisierung 2011

Einleitung

 

 

 

 

Dieses kleine Handbuch wurde mit dem Ziel entwickelt, Pflegekräften im ambulanten und stationären Bereich ein knappes Nachschlagewerk zur Verfügung zu stellen, in dem sie die wesentlichen Grundlagen aus dem Expertenstandard des Deutschen Netzwerks für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP 2011) nachlesen können.

Das Buch soll hiermit im Arbeitsalltag als eine Stütze dienen, um auftretende Fragen in Bezug auf das Schmerzmanagement nachschlagen zu können.

Im Folgenden werden die Grundlagen für ein vertiefendes Verständnis des Phänomens des akuten Schmerzes dargestellt, um, darauf aufbauend, in Anlehnung an die Prozessstruktur des Expertenstandards »Schmerzmanagement in der Pflege bei akuten Schmerzen« (DNQP 2011) das Schmerzassessment, medikamentöse und nichtmedikamentöse Grundlagen sowie das Symptommanagement von therapiebedingten Nebenwirkungen zu geben. Gleichzeitig wird Wert auf ein grundlegendes Verständnis zur Patientenedukation gelegt, die sich im Rahmen von »Information, Anleitung, Schulung« für den Betroffenen und seine An- und Zugehörigen als elementaren pflegerischen Auftrag aus dem nationalen Expertenstandard ergeben. Abschließend werden die notwendigen Voraussetzungen für eine multiprofessionelle/interdisziplinäre und partizipativ orientierte Zusammenarbeit zusammengefasst.

Dieses sind die Eckpfeiler, nach denen der Expertenstandard in seinen fünf Struktur-, Prozess- und Ergebniskriterien aufgebaut ist. Die Schmerzfreiheit bei akuten Schmerzen ist das erklärte Ziel des Expertenstandards, ebenso die Vorbeugung des Schmerzes, aber auch die Reduzierung desselbigen auf ein erträgliches Maß bis hin zur absoluten Beseitigung.

Schmerzen beeinflussen den Menschen in seiner Physis, seiner Psyche, seinem sozialen Leben und seinem Geist, seiner Spiritualität. Sie lassen Menschen hochgradig verletzbar werden. Bei einer unzureichenden Behandlung kann das gravierende psychische und physische Auswirkungen haben, den Genesungsprozess verzögern oder/und eine Chronifizierung des Schmerzes fördern (DNQP 2011, S. 25).

Der sensible Umgang mit dem Schmerzerleben eines Menschen, gleich welcher Ursache diese sind, sollte zu den originären Aufgaben gehören, für die sich Pflegekräfte einsetzen.

Pflegekräfte übernehmen im Schmerzmanagement eine wichtige Aufgabe und haben sich in den letzten Jahren durch Weiterqualifizierungsmaßnahmen (z. B. Pain Nurse, Palliative Care Weiterbildung) und die zunehmende Akademisierung (B. sc. Pflege) eine enorme Expertise angeeignet.

Auch im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung des Pflegeberufes – mit den Strukturänderungen im ärztlichen Tätigkeitsfeld haben die Pflegekräfte eine wesentliche Rolle dabei, wenn sie sich dafür einsetzen, dass unter anderem das Schmerzmanagement eine Aufgabe ist, die nur multiprofessionell und interdisziplinär zu lösen ist und dass sie dabei in Zukunft auch mehr Verantwortlichkeit zugesprochen bekommen.

Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist auch, dass eine Veränderung des pflegerischen Selbstverständnisses erforderlich ist. Das Bild der ärztlichen Assistenz ist in der Theorie lange abgelöst, in der Praxis sind die Pflegenden aufgrund des ökonomischen Druckes zunehmend mit Rahmenbedingungen konfrontiert, in denen ausschließlich eine Funktionspflege umgesetzt werden kann, die zu einer hohen Unzufriedenheit führt.

Hier braucht es auch Leitungskräfte und ein Management, die sich dafür einsetzen, dass die Umsetzung einer evidenzbasierten Pflege, wie sie durch die nationalen Expertenstandards u. a. gefördert wird, nur möglich ist, wenn die Pflegekräfte in ihrer Autonomie gestärkt werden und eine ganzheitliche und personenzentrierte Versorgung einfordern können.

In diesem Nachschlagewerk wird in Ansätzen auf die besondere Situation von Kindern und Jugendlichen sowie älteren und/oder kognitiv eingeschränkten Menschen sowie auf das Schmerzmanagement im Rahmen einer Tumorerkrankung eingegangen.

1         Ethische Grundlagen und pflegerisches Selbstverständnis

 

 

 

 

»Schmerz ist das, was der Betroffene über die Schmerzen mitteilt, sie sind vorhanden, wenn der Patient mit Schmerzen sagt, dass er Schmerzen hat.« (McCaffery 1997)

Eine eindeutige Definition zum Schmerz zu stellen ist sehr schwierig, da dieser ein komplexes Phänomen ist und viele Faktoren Einfluss auf das subjektive Schmerzerleben nehmen. »Ursachen, Auslöser, Wahrnehmung und der jeweils individuelle Umgang mit Schmerz sind so vielfältig, weil er bei jedem Einzelnen immer wieder neu, einmalig und einzigartig vorkommt« (Knipping 2007, S. 167). In der Versorgung von Schmerzbetroffenen steht die Respektierung der Glaubwürdigkeit der Patientenaussage, und nicht die subjektive Einschätzung der Fachkräfte, absolut im Mittelpunkt und stützt sich dabei auf die oben zitierte Definition von Schmerz nach McCaffery. Das stellt eine große Herausforderung an alle Fachkräfte dar. Nicht immer teilen die Betroffenen ihre Schmerzen mit und bei einer kognitiven Einschränkung sind sie zum Teil auch nicht mehr in der Lage, sich zu ihren Schmerzen zu äußern.

Ein effektives Schmerzmanagement ist wegen der verheerenden und entmenschlichenden Auswirkung, die Schmerzen bei einem Menschen haben können, ein elementares und ethisch zu berücksichtigendes Thema.

Das Erleben von Schmerzen hat Auswirkungen auf das physische, psychische und soziale Befinden der Betroffenen. Die negativen Auswirkungen von nicht gelindertem oder nicht ausreichend gelindertem Schmerz gehen von einer momentanen Belastung und Beeinträchtigung der Lebensqualität bis hin zu langandauernden Einschränkungen der gesamten Lebenssituation eines Menschen. Das pflegerische Schmerzmanagement hat eine wichtige Schlüsselfunktion in Form von Koordination und Organisation der schmerztherapiebezogenen Prozesse, durch die kontinuierliche Kommunikation mit dem Betroffenen und durch die Potentiale zur Lenkung stationsübergreifender Prozesse im multiprofessionellen Team (DNQP 2011, S. 3). Pflegende sind Sprachrohr und Vermittler in der Behandlungskette.

Ein adäquates Schmerzmanagement verbessert die Lebensqualität der Betroffenen und ist ein elementarer Bestandteil des Pflegeprozesses. Dabei ist zu beachten, dass jeder Mensch seine eigene Sichtweise von der eigenen Lebenssituation hat und dass sich die Bedeutung von Lebensqualität für das Individuum im Laufe des Lebens in Abhängigkeit von seinen Erfahrungen und Erwartungen verändern kann. Lebensqualität kann nicht von außen beurteilt werden. Die Lebensqualität wird beeinflusst durch physische, psychische, geistig-spirituelle und soziale Dimensionen. »Die Fähigkeit eines Menschen zur Anpassung bildet … eine wichtige Voraussetzung für die Erhaltung der Lebensqualität des Erkrankten …. Individuell ausgerichtete Pflege kann hier wertvolle Unterstützung leisten« (Bernatzky & Likar 2009, S. 14).

In der Ethikcharta der damaligen Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes e. V. (DGSS, heute Deutsche Schmerzgesellschaft e. V.) werden folgende ethische Grundsätze der Schmerzbehandlung konstatiert:

»Jeder Mensch mit Schmerzen hat einen Anspruch auf eine angemessene Schmerzbehandlung.

Jeder Patient hat einen Anspruch auf sorgfältige und umfassende Untersuchung der Schmerzursachen sowie auf umfassende Diagnostik und Therapie unter Einschluss psychologischer, psychiatrischer und sozialer Aspekte.

Jeder Patient hat einen Anspruch darauf, dass der Arzt ihn vor der Schmerzbehandlung ausreichend aufklärt, und zwar auch über unerwünschte Nebenwirkungen der Therapie und mögliche Alternativen.

Die Umsetzung der Schmerztherapie setzt das ausdrückliche oder mutmaßliche Einverständnis des Patienten voraus.

Es gibt keinen Anspruch auf Schmerzfreiheit, sondern nur den auf eine Schmerzbehandlung, die den aktuellen Standards und Leitlinien der Schmerztherapie entspricht.

Zu einer dem medizinischen Standard entsprechenden Schmerzbehandlung gehört in der Regel ein abgestuftes Vorgehen. … Eine dem medizinischen Standard entsprechende Schmerzbehandlung wird nicht dadurch unzulässig, dass sie bei Todkranken als unbeabsichtigte Nebenfolge den Todeseintritt beschleunigen kann.« (DGSS 2007, S. 6)

In der Ethikcharta wird das Recht eines jeden Schmerzbetroffenen auf eine an dem aktuellen Wissensstand angepasste Schmerztherapie verdeutlicht. Auch wenn in den Erläuterungen zur Charta die Rolle des Mediziners in den Vordergrund gestellt wird, haben Pflegekräfte eine elementare Rolle im Rahmen des Schmerzmanagements. Hier verdeutlichen die Autoren des Expertenstandards »Schmerzmanagement in der Pflege bei akuten Schmerzen« (DNQP 2011, S. 3), dass bei der Arbeitsverdichtung, dem bestehenden Fachkräftemangel, durch kürzere Verweildauern, höheren Fallzahlen und gesteigerter Krankenlast der Patienten sowie den Strukturänderungen im ärztlichen Tätigkeitsfeld die Herausforderungen des Schmerzmanagements in Zukunft nur multiprofessionell zu lösen sind.

Um das Schmerzmanagement qualifiziert umsetzen zu können, benötigen die Pflegenden institutionelle Rahmenbedingungen, die ihnen Fortbildungen (zusammen mit anderen Berufsgruppen) zum Thema ermöglichen und Qualitätszirkel zur Verfügung stellen, in denen das Schmerzmanagement für eine Institution hierarchieübergreifend angepasst werden kann. Des Weiteren sind Instrumente, Dokumentationsvorlagen und Informationsmaterialien für die Betroffenen und ihre Angehörigen erforderlich, die durch Qualitätszirkel entwickelt, idealerweise von allen am Schmerzmanagement Beteiligten evaluiert und von Seiten der Institution zielgruppenorientiert zur Verfügung gestellt werden.

Die Pflegenden betreuen den Pflegebedürftigen rund um die Uhr, unterstützen ihn bei der Erfüllung seiner Grundbedürfnisse und stehen in emotionalen Krisensituationen stärkend zur Seite. Sie verbringen im Vergleich zu den anderen Berufsgruppen die meiste Zeit mit dem Betroffenen, kennen diesen daher am besten und haben als Kooperationspartner im multiprofessionellen Team folgende Aufgaben zu erfüllen – Aufgaben der Pflegefachkräfte im Schmerzmanagement:

•  regelmäßige Überwachung des Schmerzverlaufs mithilfe von zielgruppenorientierten Schmerzassessments

•  zusätzlich gute Beobachtung des Patienten bezüglich

–  der Körpersprache und Mimik

–  der Beeinträchtigung der Lebensaktivitäten

–  des Einflusses auf die Lebensqualität

•  zielorientierte und systematische Dokumentation des Schmerzintensitätsverlaufs und potentiell auftretender Nebenwirkungen

•  Verabreichung der verordneten Schmerzmedikamente und Co-Medikamente

•  vorausschauendes und zeitnahes Reagieren auf veränderte Schmerzsituation (Verabreichung der Bedarfsmedikation)

•  Kommunikation und Vermittlung zwischen allen Beteiligten (Patient, Angehörige, Arzt, andere)