Gerhard Hirschfeld | Gerd Krumeich
Deutschland im Ersten Weltkrieg
FISCHER E-Books
Unter Mitarbeit von Irina Renz
Gerhard Hirschfeld, geboren 1946, ist Professor am Institut für Geschichte der Universität Stuttgart. Bis 2011 war er Direktor der Bibliothek für Zeitgeschichte in Stuttgart. Gerd Krumeich, geboren 1945, lehrte bis 2010 Neuere Geschichte an der Heinrich Heine Universität in Düsseldorf. Er ist Vizepräsident des internationalen Forschungszentrums des Historial de la Grande Guerre (Péronnec/Somme).
Beide sind international renommierte Experten für die Geschichte des Ersten Weltkriegs. Zusammen mit Irina Renz haben sie die große ›Enzyklopädie Erster Weltkrieg‹ herausgegeben (erschienen 2003, Neuauflage 2014).
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Covergestaltung: hißmnn, heilmann, hamburg / Sybille Dörfler
Coverabbildung: Deutsche Soldaten im Schützengraben in Frankreich. Aus der Lebensdokumentensammlung der Bibliothek für Zeitgeschichte, Württembergische Landesbibliothek, Stuttgart
Erschienen bei S. FISCHER Taschenbuch
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
Karten: Peter Palm, Berlin
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402489-9
Die 100. Wiederkehr des Kriegsausbruchs von 1914 beschert der europäischen Öffentlichkeit eine historische Großoffensive: Fernsehdokumentationen und Zeitschriftenserien, Ausstellungen, Vorträge und Konferenzen, Bücher und Internetinformationen – dies alles unterstreicht, dass für Historiker, Publizisten, Ausstellungs- und Medienmacher der Erste Weltkrieg ein Ereignis von elementarer Bedeutung ist. Aber auch das Interesse des historisch interessierten Publikums an diesem Krieg scheint groß. Das belegen die Besucherzahlen der einschlägigen Museen, etwa des 1992 in der nordfranzösischen Stadt Péronne an der Somme eröffneten, vorbildlich international ausgerichteten Historial de la Grande Guerre oder des mit modernster Technik ausgestatteten Museums In Flanders Fields im belgischen Ypern. Auch die zu früheren Gedenkjahren des Weltkriegs organisierten kulturhistorischen Ausstellungen (beispielsweise im Deutschen Historischen Museum in Berlin 1994 und 2004) erfreuten sich regen Zuspruchs – Ähnliches steht für 2014 zu erwarten. Selbstverständlich gibt es weiterhin nationale Unterschiede: Für Briten, Franzosen und Belgier etwa bleibt der Erste Weltkrieg im kollektiven Gedächtnis dieser Länder – allein schon aufgrund der überaus hohen Zahlen ihrer gefallenen, vermissten und verwundeten Soldaten – stets der »Große Krieg« (The Great War, La Grande Guerre, De Groote Oorlog).
In der Erinnerung der meisten Deutschen hingegen schien dieser Krieg lange Zeit ausgeblendet zu sein – ähnlich wie dies in Russland und anderen Ländern Ost- und Ostmitteleuropas teilweise bis heute noch der Fall ist, wo der Zweite Weltkrieg ebenfalls die Erinnerung an den Ersten weithin überlagert hat. Verantwortlich hierfür war die kaum zu ermessende Zahl der soldatischen wie der zivilen Opfer im Zweiten Weltkrieg, zumal der sechs Millionen ermordeten Juden. Aber auch seine politischen und sozialen Folgen und Nachwirkungen haben das historische Gedächtnis der Zeitgenossen tief und nachhaltig beeinflusst. Vielfach vergessen wurde dabei, dass die beiden Weltkriege in einem ursächlichen Zusammenhang stehen: Der Erste half den Zweiten Weltkrieg vorzubereiten, der Zweite ergab sich erst aus den ungelösten Fragen der Hinterlassenschaft des Ersten Weltkriegs.
Denn daran, dass der Ausgang des Krieges von 1914 bis 1918 die Geschichte Europas sowie der übrigen Welt in entscheidendem Maße geprägt hat, besteht kein Zweifel. Der Erste Weltkrieg führte zum Untergang von vier Großreichen – des Deutschen Kaiserreichs, des Russischen Reichs, Österreich-Ungarns sowie des Osmanischen Reichs –, und er bahnte den USA den Weg zur Weltmacht. Er löste die Russische Revolution von 1917 aus und wurde so zum Geburtshelfer der Sowjetunion. Weder der Aufstieg des italienischen Faschismus noch der des deutschen Nationalsozialismus wären ohne den Ersten Weltkrieg denkbar. Auch vermochte der Krieg nicht die bereits lange vor 1914 anstehenden Konflikte auf dem Balkan zu beseitigen – im Gegenteil: Er verschärfte sie noch. Zudem brachte sein Ausgang der Welt im Nahen Osten neue, teilweise bis heute ungelöste Probleme.
Die historischen Kontinuitäten und internationalen Verknüpfungen sind den Verfassern dieser Geschichte Deutschlands im Ersten Weltkrieg sehr bewusst. Wenn wir uns dennoch entschieden haben, keine globale, sondern eine deutsche Geschichte des »Großen Krieges« zu schreiben, so geschah dies aus zwei Überlegungen heraus. Zum einen mussten wir feststellen, dass im Allgemeinen die Kenntnis über den deutschen Anteil an diesem Krieg nur sehr oberflächlich ist. Zum anderen fanden wir uns nicht selten aufgefordert, in Diskussionen mit unseren internationalen Kollegen und Freunden den »deutschen Standpunkt« zu erläutern, mitunter sogar einen solchen »verteidigen« zu müssen. Zahlreiche Fragen galten dabei den deutschen Verstößen gegen das allgemeine Völkerrecht wie gegen das seinerzeit herrschende Kriegsrecht: Warum haben deutsche Truppen die belgische Bevölkerung bei ihrem Durchmarsch im August 1914 derart grausam behandelt? Wie kam es zur Beschießung und Brandschatzung der berühmten Bibliothek von Löwen (Louvain) und der altehrwürdigen Kathedrale von Reims? Warum hat die deutsche Besatzung in Nordfrankreich bei ihrem Rückzug hinter die Siegfriedlinie 1917 ausnahmslos »verbrannte Erde« hinterlassen?
Kaum etwas ist für einen Historiker schwieriger, als den Menschen von heute begreiflich zu machen, dass auch die Deutschen von damals überzeugt waren, dass der Krieg von 1914 ein gerechtfertigter Krieg war. Wir haben versucht, uns diesen Fragen sine ira et studio zu nähern. Wir wollten verstehen und wir wollen erzählen, wie Deutschland in diesen Krieg geraten konnte, warum vor allem die deutschen Politiker und Militärs das Vabanquespiel im Juli 1914 in Gang setzten, warum tatsächlich die Mehrheit der Deutschen überzeugt war – einschließlich der internationalistisch eingestellten Sozialdemokraten –, dass das Deutsche Reich einen legitimen Verteidigungskrieg führte, obwohl seine Truppen doch inzwischen tief in Feindesland standen und die Kämpfe überwiegend außerhalb der deutschen Grenzen stattfanden.
Unsere Darstellung verdankt wesentliche Anregungen und Ideen den neuen Forschungsinteressen und Fragestellungen, wie sie von den Historikerinnen und Historikern in den letzten Jahrzehnten zum Thema des Ersten Weltkriegs entwickelt wurden. Hervorzuheben ist vor allem der Blick auf das Erlebnis und die Erfahrung des Kriegs – einer Erfahrung, welche die Soldaten ebenso stark prägte wie die Zivilisten in der Heimat, die Frauen und die Kinder. Was hatte es mit der »Augustbegeisterung« auf sich, wie stark war die Gewöhnung an den Krieg tatsächlich, wie erlebten die Menschen den Kriegsalltag mit seinen Nöten und Entbehrungen, und auf welche Weise wirkte die staatliche Propaganda? Was hat die Deutschen dazu gebracht, trotz der von ihnen ertragenen Mühsal und des ungeheuren »Blutzolls« – wie es im Jargon der Zeit hieß – mehr als vier Jahre lang diesen Krieg auszuhalten, sich immer wieder der Hoffnung hinzugeben, dass die nächste Offensive möglicherweise doch »entscheidend« sein werde? Wer waren die Initiatoren und Nutznießer der fatalen »Dolchstoßlegende« am Ende des Kriegs, und warum entwickelte sich die Niederlage von 1918 zu einem wahrhaften Trauma der Weimarer Republik?
Wichtig war uns auch eine genaue Wiedergabe und Erläuterung der militärischen Operationen und Ereignisse. Was vor hundert Jahren noch als »Schlachtengeschichte« mehr verherrlicht denn kritisch beleuchtet wurde und was eine eher zivilistisch orientierte Historiographie lange Zeit über vernachlässigt hat, ist tatsächlich eine Geschichte des »Kriegsschauplatzes«, wie sie hier erzählt wird – übrigens nicht allein an der Westfront. Erst in den letzten Jahren hat die internationale Erforschung des Weltkriegs sich verstärkt um einen ebenso realistischen wie nicht-militaristischen Zugang zur Geschichte der kriegerischen Ereignisse und Abläufe bemüht. Unser Buch ist in gewisser Weise auch eine Frucht dieser »neuen Militärgeschichte« zivilen Zuschnitts.
Diese Geschichte Deutschlands im Ersten Weltkrieg ist reich illustriert und mit exemplarisch ausgewählten Dokumenten angereichert. Damit unterstreichen die Autoren die Bedeutung, die sie dem Umgang mit zeitgenössischen Quellen, insbesondere auch den sogenannten Ego-Dokumenten, beimessen. Wo die historische Darstellung und Interpretation angesichts eines nur schwer beschreibbaren Kriegsgeschehens oftmals kaum die angemessenen Worte finden, dienen Selbstzeugnisse der Veranschaulichung, sprechen die Menschen aus ihren Briefen, Tagebüchern und Bildern zu uns. Die Dokumente stammen überwiegend aus der Sammlung »Zeit der Weltkriege« der Bibliothek für Zeitgeschichte in der Württembergischen Landesbibliothek; für die Überlassung des Materials danken wir ihrem Leiter, Herrn Dr. Christian Westerhoff.
Die Verfasser verstehen die Geschichtswissenschaft als ein Medium der Verständigung – nicht allein unter Wissenschaftlern, sondern mehr noch mit dem »interessierten Publikum«. Wir haben uns daher bemüht, auch den Nicht-Fachleuten gerecht zu werden, genauso wie den Schülern und Studierenden samt deren Lehrern, indem wir hier eine wissenschaftlich fundierte und zugleich allgemein verständliche Geschichte Deutschlands im Ersten Weltkrieg vorlegen. Geholfen hat uns dabei auch der kritische Dialog mit unserer Lektorin, Frau Dr. Tanja Hommen. Dafür sind wir ihr dankbar.
Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich
Gerlingen/Freiburg im Mai 2013
Wir freuen uns, dass dieses stark nachgefragte Buch nun auch in einer großformatigen, preiswerten Taschenbuchausgabe vorliegt. Der Text wurde erneut kritisch durchgesehen und die Literaturangaben um wichtige Neuerscheinungen ergänzt.
Die Autoren Gerlingen/Freiburg im Februar 2017
Alle Kriege haben eine Vor- und eine Nachgeschichte. Die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs begann um die Jahrhundertwende, und sie währte bis zum Sommer 1914. Es war eine Zeit, in der es immer häufiger zu militärischen Konflikten kam, zu wirklichen Kriegen, wie 1904 zwischen Russland und Japan oder nach 1912 auf dem Balkan, aber ebenso häufig auch zu sogenannten Beinahe-Kriegen. Das waren vor allem Auseinandersetzungen zwischen den großen europäischen Staaten über Kolonien, Rohstoffe und Transportwege, kurzum: über die imperiale Aufteilung der Welt. Aber diese Zeit war auch charakterisiert durch militärische Vereinbarungen und politische Allianzen zwischen den Staaten. Diese wurden nun jedoch nicht mehr, wie noch im 19. Jahrhundert, für konkrete Ziele und häufig kurzfristig abgeschlossen. Stattdessen waren es Bündnisse, die dauerhaft, gleichsam »auf Leben und Tod«, angelegt schienen. Hinzu kam, dass sich der Rüstungswettlauf der großen Mächte beschleunigte, wobei vor allem der gegen Großbritannien gerichtete deutsche Schlachtflottenbau sowie die mit französischer Hilfe expandierende russische Rüstungsindustrie große Bedeutung erlangten.
Vor dem Hintergrund dieser zunehmend angespannten Situation entwickelte sich in Europa eine populäre Stimmung hin zum Krieg, eine Art »Vorkriegsmentalität«: Zahlreiche Politiker und Militärs, aber auch Wissenschaftler, Journalisten, Schriftsteller und Künstler waren der Überzeugung, dass ein Großer Krieg zwischen den europäischen Nationen nur noch eine Frage der Zeit sei. Einige Zeitgenossen warnten vor einem kommenden »Menschenschlachthaus« (Wilhelm Lamszus) und beschworen Pazifismus und Abrüstung. Andere entwarfen Szenarien, nach denen ein solcher Krieg ein »reinigendes Stahlbad« sein werde, ein »Jungbrunnen« für das an Alterserscheinungen leidende Europa. Krieg sei demnach nicht allein eine Notwendigkeit für die Menschheit – Krieg sei auch eine Art und Weise, das »Recht des Stärkeren« zu sichern. Tatsächlich hatte Charles Darwins Lehre von der natürlichen Auslese und dem »survival of the fittest« in banalisierter Form ihren Siegeszug bereits lange vor 1900 angetreten. Alle Welt berief sich auf ihn und deutete seine naturwissenschaftlichen Erkenntnisse auf die Gesellschaft um (»Sozialdarwinismus«). Die angebliche »Überlegenheit der weißen Rasse« wurde zu einem zentralen Argument bei der Eroberung von Kolonien in Afrika und Asien sowie der Unterdrückung der »Schwarzen« wie auch der Chinesen und anderer nichteuropäischer Völker.
Besonders enthusiastisch wurden diese Ansichten im wilhelminischen Deutschland vertreten. Das Reich befand sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sowohl wirtschaftlich als auch demographisch in einer außerordentlich starken Wachstumsphase. Der »deutsche Michel« war seit den 1880er Jahren aus seinem Schlafe aufgewacht – ein beliebtes Eigenbild der Deutschen – und machte sich nun daran, vor allem im Bereich der neuen Industrien, vornehmlich von Elektro und Chemie, eine den Weltmarkt beherrschende Stellung einzunehmen. Zudem erlebte das Deutsche Reich eine bis dahin nicht gekannte Bevölkerungsexplosion: Zwischen 1880 und 1910 wuchs die deutsche Bevölkerung, vor allem dank sozialer und medizinischer Verbesserungen, von etwa 50 auf 70 Millionen Menschen – und diese Tendenz war steigend!
Gleichwohl besaß Deutschland, das erst 1871 nach dem Sieg über Frankreich zu einem einheitlichen Staatswesen geworden war, noch lange nicht jene »Weltgeltung«, auf die es wegen seiner wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dynamik Anspruch zu haben glaubte. Andere europäische Staaten, allen voran Großbritannien und die Niederlande, hatten bereits im 17. Jahrhundert damit begonnen, Kolonien in Übersee zu erwerben. Demgegenüber vermochte das Deutsche Reich erst seit den 1880er Jahren, und zunächst eher zögerlich, in die Welt auszugreifen. Im kolonialen Wettlauf mit Frankreich und Großbritannien forderte Deutschland nun mit großer Emphase seinen verdienten »Platz an der Sonne«. Unter Wilhelm II., etwa seit 1896, wurde diese Politik sogar planmäßig verfolgt. Aber das Problem war, dass die Kolonialgebiete zu diesem Zeitpunkt weithin bereits als »verteilt« galten und Deutschlands Anspruch, nunmehr in den Kreis der »Weltmächte« einzutreten, sich nur durch Verhandeln, Tauschen und Kaufen – oder aber durch Erpressung und Krieg realisieren ließ. Der Kaiser sah in der tatkräftigen Erweiterung des Deutschen Reichs seine ureigene Mission. »Ich führe Euch herrlichen Zeiten entgegen« und »Im Deutschen Reich soll die Sonne nicht untergehen«, so klangen die Kernsprüche Seiner Majestät. Begleitet wurden die kaiserlichen Ambitionen von einer militaristischen, teilweise auch rassistischen Rhetorik, wie sie sich etwa in Wilhelms berüchtigter »Hunnenrede« zeigte. Bei der Verabschiedung einer internationalen Strafexpedition zur Niederschlagung des sogenannten Boxeraufstands in China im Sommer 1900 hatte der Kaiser die deutschen Soldaten ermahnt: »Pardon wird nicht gegeben, Gefangene nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei in eurer Hand. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bekannt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen!« Trotz aller Versuche der Regierung, die blutrünstigsten Passagen der Rede aus den Zeitungen herauszuhalten, fanden sie doch (in unterschiedlichen Varianten) Eingang in die heimische wie die internationale Presse. Ihre eigentliche Wirkung sollte Wilhelms »Hunnen-Metapher« jedoch erst im Weltkrieg entfalten.
Aus dem Deutschen Reiche ist ein Weltreich geworden. Überall in fernen Teilen der Erde wohnen Tausende unserer Landsleute. Deutsche Güter, deutsches Wissen, deutsche Betriebsamkeit gehen über den Ozean. Nach Tausenden von Millionen beziffern sich die Werte, die Deutschland auf der See fahren hat. An Sie, Meine Herren, tritt die ernste Pflicht heran, Mir zu helfen, dieses größere Deutsche Reich auch fest an unser heimisches zu gliedern. Das Gelöbnis, was Ich heute vor Ihnen ablegte, es kann nur Wahrheit werden, wenn Ihre, von einheitlichem patriotischem Geiste beseelte, vollste Unterstützung Mir zuteil wird. Mit diesem Wunsche, dass Sie in vollster Einigkeit Mir helfen werden, Meine Pflicht nicht nur Meinen engeren Landsleuten, sondern auch den vielen Tausenden von Landsleuten im Auslande gegenüber zu erfüllen, das heißt, daß Ich sie schützen kann, wenn Ich es muß, und mit der Mahnung, die an uns alle geht: »Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen« erhebe Ich Mein Glas auf Unser geliebtes deutsches Vaterland und rufe: Das Deutsche Reich hoch! – und nochmals hoch! – und zum drittenmal hoch!
aus: Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung, Bd. 8: Kaiserreich und Erster Weltkrieg, 1871–1918, hg.v. Rüdiger vom Bruch u. Björn Hofmeister, Stuttgart 2000, S. 267
Das Deutsche Reich betrieb jetzt eine aggressive Weltpolitik, der es durch den Bau einer starken Schlachtflotte Nachdruck zu verleihen suchte: »Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser« – so lautete die entsprechende Devise des Kaisers. Um diesen Anspruch zu untermauern, ließ Wilhelm II. seit Mitte der 1890er Jahre eine neue Flottenpolitik ausrufen. Tatsächlich war die Flottenbegeisterung in Deutschland überwältigend groß. Der Deutsche Flottenverein wurde zur ersten echten Massenorganisation des konservativen Bürgertums und zu einem Trommler für die staatliche Flottenpolitik – eine für den Steuerzahler überaus kostspielige Angelegenheit.
Werbeplakat des Deutschen Flottenvereins von 1901 nach einem Entwurf von Anton Glück
Die deutsche Flottenpolitik – für die ab 1897 der Admiral und Staatssekretär im Reichsmarineamt Alfred von Tirpitz zuständig war – richtete sich vor allem gegen England. Das britische Empire, das bislang unbestritten mit seiner enormen Kriegsflotte die Weltmeere beherrscht und zahlreiche Handels- und Flottenstützpunkte in aller Welt errichtet hatte, fühlte sich vor allem durch das deutsche Flottenbauprogramm (ab 1898) herausgefordert. Nachdem schließlich in den folgenden Jahren die deutsche Kriegsmarine einige größere Schiffe zu Wasser gelassen hatte, hörten die Engländer auf, den deutschen Anspruch auf die leichte Schulter zu nehmen. Tirpitz hatte eine »Risiko-Theorie« entwickelt, die besagte, dass Deutschlands Kriegsflotte – die auf keinen Fall jemals mit der Englands würde gleichziehen können – derart stark sein sollte, dass England bei einem Angriff ein veritables Risiko eingehen würde. Allerdings erlitt der »Tirpitz-Plan« (Volker R. Berghahn) trotz massiver öffentlicher Kampagnen bereits 1905/06 Schiffbruch. Bei Ausbruch des Weltkriegs befand er sich mit 14 Großlinienschiffen und 22 Linienschiffen sowie 11 Schlacht- und Panzerkreuzern weit hinter der vom Reichstag – ungeachtet der Vorbehalte vieler Abgeordneter – gebilligten Aufrüstung. Zudem erwies sich die deutsche Flotte insgesamt als überaus schwerfällig; auch waren die deutschen Schiffsgeschütze mit durchschnittlich 30,5 Zentimetern kleiner ausgelegt als die britischen Geschütze mit einem Kaliber von 38 Zentimetern. Weder war es gelungen, die ursprünglich geforderte Stärke gegenüber der britischen Flotte zu erreichen, noch Großbritannien durch forciertes Wettrüsten zum Einlenken zu bewegen. Schlimmer noch: Der deutsch-britische Flotten-Antagonismus hatte die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern nachhaltig vergiftet.
Zar Nikolaus II. von Russland und Wilhelm II. bei einem Flottenbesuch 1907 auf der SMS Deutschland
Von dem neuen deutschen Expansions- und Konfrontationskurs wurden die diplomatischen Beziehungen zwischen den europäischen Mächten direkt berührt – und damit entscheidend verändert. Großbritannien, das sich wegen einiger kolonialer Scharmützel noch kurz vor der Jahrhundertwende mit Frankreich beinahe auf Kriegsfuß befunden hatte, begann, infolge des deutschen Drucks, nunmehr aus der traditionellen splendid isolation als Schiedsrichter Kontinentaleuropas herauszutreten. Die Briten entschieden sich, ihre afrikanischen Interessensgebiete mit Frankreich neu zu arrondieren. Damit hatten die Deutschen nicht gerechnet, die felsenfest der Überzeugung waren, dass der gallische Hahn und der britische Löwe niemals zusammenfinden könnten. 1904 war es so weit: Zum Entsetzen der wilhelminischen Führung schlossen England und Frankreich eine »Entente cordiale« ab. Dies war zwar kein formelles Bündnis mit strikten politischen oder militärischen Vereinbarungen, sondern nur ein »herzliches Einvernehmen« über die Abgrenzung der jeweiligen Interessensgebiete in Nordafrika. England erhielt von Frankreich freie Hand in Ägypten zugesichert und überließ Frankreich dafür Marokko zur kolonialen Ausbeutung.
Angesichts dieser Entwicklung suchten der Kaiser und seine Berater, vor allem der ebenso ideen- wie fintenreiche Reichskanzler und »Außenminister« Bernhard von Bülow – das Deutsche Reich hatte wegen seiner föderalen Struktur keinen eigentlichen Außenminister – nach einer »passenden« Antwort. Ihnen fiel nun etwas ein, was keine europäische Macht zuvor ernst genommen hatte – nämlich die Tatsache, dass Marokko gemäß den internationalen Vereinbarungen des Berliner Kongresses von 1878 ein autonomes Königreich war. Bülow brachte den wie üblich zaudernden Kaiser Wilhelm II. dazu, hierfür eine »großartige« Demonstration zu veranstalten. Ende März 1905 weilte der Kaiser, der ohnehin viel und gerne in den Nahen Osten und ins »Morgenland« reiste, im marokkanischen Tanger, wo er in einer von Bülow konzipierten Rede erklärte, dass das »Scherifenreich« frei sei und zudem einen guten Freund habe, nämlich das Deutsche Reich.
Das Kopfschütteln in den europäischen Hauptstädten war allgemein, man fragte sich, was Deutschland denn eigentlich beabsichtige, erhielt aber darauf keine Antwort. Bülow selber übte sich, nicht zuletzt aus innenpolitischen Erwägungen, in einer Politik der Überraschungen und damit letztlich der Unwägbarkeiten. Tatsächlich kam es im Januar 1906 zu der von der Reichsregierung geforderten Internationalen Konferenz im spanischen Algeciras. Aber ganz im Gegensatz zu dem, was sich Bülow erhofft hatte, war Deutschland dort isoliert, die anderen Großmächte einigten sich darauf, die staatliche Souveränität des Scherifenreichs nicht anzutasten. Allerdings – und das war entscheidend – wurde festgelegt, dass Frankreich und Spanien in Marokko besondere Interessen hätten und zu deren Schutz die dortigen Banken und die öffentliche Ordnung kontrollieren durften. Das war ein klassischer Fall des von den beiden europäischen Großmächten erfolgreich praktizierten »informellen Imperialismus«. Deutschland, das kaum über eigene Interessen in Marokko verfügte, machte notgedrungen gute Miene zu diesem imperialen Spiel.
Doch die Verstimmung in den imperialistischen Kreisen des Deutschen Reichs war groß. Zum ersten Mal kam das Wort von der »Einkreisung« Deutschlands durch die Großmächte auf. Der populistische Bülow griff diesen Begriff sofort auf und formulierte in einer Reichstagsrede im November 1906 die deutsche Doktrin von einer außenpolitischen Umklammerung des Reichs. Entscheidend war, dass er hiermit eine geheime Angst – später geradezu eine Psychose – mobilisierte, unter der anscheinend viele Deutsche litten: Deutschland als eine »Mittelmacht« auf dem europäischen Kontinent sah sich immer stärker von feindlichen Mächten umzingelt. Und selbstverständlich vergaß man dabei auf Dauer, dass Deutschland selber daran eine nicht geringe Schuld trug, sich in Wirklichkeit zeitweilig von den anderen Großmächten entfremdet, sich also selber »ausgekreist« hatte.
Bülows diplomatische Strategie traf erkennbar den Kern des deutschen Selbstempfindens. Kaum ein politisches Schlagwort war bei Kriegsbeginn 1914 in Deutschland geläufiger als das der »Einkreisung«. Die Deutschen fühlten sich derart von feindlichen Mächten umzingelt und bedroht, dass ihnen der Weltkrieg als ein notwendiger Verteidigungskrieg erschien. Und diese Überzeugung war so stark, dass während des gesamten Krieges und weit darüber hinaus die Grundhaltung blieb, Deutschland führe in Wahrheit nur einen Verteidigungskrieg, obwohl deutsche Truppen tief in feindlichen Territorien standen und der Krieg kaum einmal auf deutsches Reichsgebiet übergriff.
Der schlafende Deutsche Michel umringt vom englischen Löwen, russischen Bären, gallischen Hahn, dem chinesischen Drachen, dem japanischen Affen und Afrika (Krokodil). Karikatur von Thomas Theodor Heine. Titelbild des Simplicissimus vom 27. Mai 1907
Zu dieser Einkreisungsphobie trug sicherlich der Umstand bei, dass man in Deutschland sehr wohl von dem 1894 zwischen Russland und Frankreich geschlossenen geheimen militärischen Bündnis wusste, aufgrund dessen Deutschland im Kriegsfall mit einem Zwei-Fronten-Krieg zu rechnen hatte. Von dieser Eventualität wurden hinfort sämtliche Überlegungen und konkreten Planungen des deutschen Generalstabs bestimmt. Der hieraus resultierende Aufmarschplan des deutschen Heeres war im Dezember 1905 von Alfred Graf von Schlieffen, dem damaligen Generalstabschef des deutschen Heeres, vorgelegt worden. Obwohl er im Laufe der Jahre, vor allem von Schlieffens Nachfolger Helmuth von Moltke (dem Jüngeren), teilweise verändert wurde, werden der Schlieffenplan und seine Konsequenzen von den Historikern immer noch diskutiert. Das Axiom des Plans war Schlieffens Grundannahme, es müsse möglich sein, das Gros der deutschen Armee in einem weiten Bogen über Belgien hinaus auf Paris zu führen, so dass die französische Hauptstadt quasi vom Westen her umfasst werden konnte: »Das Wesentliche (für den Verlauf der Operationen) ist, einen starken rechten Flügel zu bilden, mit dessen Hilfe die Schlachten zu gewinnen und in unausgesetzter Verfolgung den Feind mit eben diesem starken Flügel immer wieder zum Weichen zu bringen.« Schlieffen kalkulierte, dass diese Bewegung von mehr als 500000 Mann innerhalb weniger Wochen abgeschlossen und die Franzosen damit zur Aufgabe gezwungen sein würden. Anschließend sollte sich die Hauptmacht des deutschen Heeres geballt gegen Russland wenden, für dessen Mobilmachung Schlieffen etwa drei Wochen veranschlagte, zumal es äußerst schwierig schien, die Masse des russischen Heeres aus den Tiefen des Riesenreichs mit den wenigen vorhandenen, strategisch nutzbaren Eisenbahnsträngen an die deutsche Grenze zu führen. Dies war natürlich ein ungemein risikobehafteter Plan, denn er setzte voraus, dass das deutsche Heer Frankreich tatsächlich innerhalb von vier Wochen schlagen musste, wofür die Soldaten Tagesmärsche von bis zu 40 Kilometern zu absolvieren hatten. Das war zwar durchaus möglich, aber nur, wenn der Gegner sich dem Einmarsch nicht entschlossen entgegenstellte und man insgesamt reibungslos vorankommen konnte. Tatsächlich sah der Schlieffenplan keinerlei »Friktionen« (Carl von Clausewitz) durch einen Widerstand französischer oder auch belgischer Truppen vor. Nichts vermag deutlicher zu zeigen, wie sehr sich die deutsche Armeeführung ihrer Sache sicher war, wie sehr man darüber hinaus Frankreich als Kriegsgegner missachtete und, gravierender noch, systematisch unterschätzte. Dies sollte sich 1914 bitter rächen.
Der Schwerpunkt der deutschen Rüstung lag seit 1906 eindeutig auf dem gegen England gerichteten Schlachtflottenbau. Das Landheer wurde kaum verstärkt, da man Frankreichs militärische Möglichkeiten für gering erachtete. Russland hingegen schien für geraume Zeit als ein ernstzunehmender Gegner auszufallen, hatte das Zarenreich doch im russisch-japanischen Krieg 1904/05 eine schwere Niederlage erlitten; zudem war das Land durch die Revolution von 1905 politisch erheblich geschwächt. Deutschland glaubte daher, sich zunächst auf seinen Zweikampf mit England konzentrieren zu können, um endlich den Durchbruch zur »Weltmacht« zu schaffen und ein mehr oder minder zusammenhängendes Kolonialimperium zu erobern.
Wilhelm II., Bülow und Tirpitz waren der Auffassung, Deutschland könnte zwar England zur See nicht übertreffen, aber mit seiner Seemacht doch so stark beunruhigen und bedrängen, dass England schließlich gezwungen sein würde, sich mit Deutschland kolonial zu arrangieren. Im Grunde war die deutsche Flottenpolitik, insbesondere der Ausbau seiner Kriegsmarine, ein gigantisches Erpressungsmanöver. Die britische Regierung wiederum reagierte auf diese sich seit der Jahrhundertwende abzeichnende Bedrohung auf bezeichnende Weise. Sie nahm selber mit überlegener finanzieller Kraft den Rüstungswettlauf auf. Bereits um die Jahreswende 1905/06 begann die britische Admiralität mit dem Bau sogenannter »Dreadnoughts« (Fürchtenichts), bis zu 18000 Tonnen schwere Riesenschlachtschiffe, denen die Deutschen nichts Gleichwertiges entgegensetzen konnten. Großbritannien führte fort, was es bereits 1904 mit der »Entente cordiale« mit Frankreich begonnen hatte, nämlich eine Ausweitung seiner Bündnisse. Im Jahre 1907 kam es zu einem Abkommen mit Russland, wobei wiederum – wie dies bereits mit Frankreich in Nordafrika praktiziert worden war – die gegenseitigen Interessensphären, diesmal in Asien sowie im Nahen Osten, gegeneinander abgegrenzt und somit arrondiert wurden. Selbstverständlich wurde auch dieses Abkommen in Deutschland alsbald bekannt, was aber nicht zu einer Überprüfung der eigenen Außenpolitik führte, sondern nur die verbreitete »Einkreisungsphobie« verstärkte.
Auch wenn sich zwischenzeitlich Phasen einer Entspannung einstellten, wie etwa nach dem deutsch-französischen Vertrag von 1909 über Marokko, zeigte sich die Atmosphäre der internationalen Politik insgesamt doch zunehmend vergiftet. Dies um so mehr, als sich auch im östlichen Europa und auf dem Balkan neue Konfliktzonen eröffneten, vor allem durch die 1908 erfolgte Annexion von Bosnien und der Herzegowina durch Österreich-Ungarn. Das seit langem unter k.u.k. Verwaltung stehende und zwischen Serben und der Habsburger Monarchie umstrittene Gebiet wurde nun endgültig Österreich-Ungarn zugeschlagen. Das Zarenreich, obwohl selbsternannter Schutzpatron der kleinen slawischen Völker, vermochte aufgrund seiner innen- und außenpolitischen Schwächung nicht einzugreifen.
Zum entscheidenden Konflikt über die imperialen Ansprüche aber kam es 1911 zwischen Deutschland und Frankreich. Die »Agadir-Krise« führte fast zu einem Krieg zwischen den beiden Nationen. Tatsächlich erschien im Spätsommer und Herbst 1911 ein europäischer Krieg sehr viel wahrscheinlicher als später dann im Juli 1914. Was war geschehen? Bereits im Frühjahr 1911 teilte Frankreich den europäischen Mächten mit, dass es »Berber-Aufstände« in Marokko gebe, wodurch dortige französische Bürger bedroht seien. Man sei deshalb gezwungen, weitere Truppenkontingente dorthin zu entsenden. Der deutsche Staatssekretär des Äußeren (und in diesem Amt Nachfolger Bülows), Alfred von Kiderlen-Wächter, suchte die Situation zu nutzen, um der dümpelnden deutschen Kolonialpolitik neuen Aufschwung zu geben. Um vorgeblich gefährdete Interessen deutscher Kaufleute in Marokko zu »belegen«, ging das Auswärtige Amt sogar so weit, Depeschen an die wenigen in Marokko ansässigen deutschen Staatsbürger zu senden, man möge doch bitte Hilferufe an die deutsche Regierung verfassen. Auf der Grundlage derartiger »Bittschriften« wurde daraufhin im Juni 1911 das Kanonenboot »Panther« nach Marokko geschickt, das am 1. Juli vor dem Hafen von Agadir auftauchte und dort Anker setzte. So kam es zum deutschen Panthersprung nach Agadir, und es entwickelte sich jener internationale Konflikt, der als »Agadir-Krise« zur größten Kriegsdrohung in der Zeit vor dem Weltkrieg wurde.
In Frankreich war die Empörung über das Säbelrasseln des ohnehin als feindselig betrachteten Nachbarn außerordentlich. Ministerpräsident Joseph Caillaux ließ bei Generalstabschef Joseph Joffre anfragen, ob Frankreich im Kriegsfall eine mindestens 70-prozentige Siegeschance hätte. Als Joffre dies verneinte, entschied Caillaux, in Verhandlungen mit Berlin einzutreten. Die folgenden monatelangen Verhandlungen zwischen »Außenminister« Kiderlen und dem französischen Botschafter in Berlin, Jules Cambon, offenbarten einen bizarren Sachverhalt. Die Reichsregierung zeigte sich unfähig, realistische Kompensationsforderungen für den Fall eines deutschen Rückzugs aus Marokko zu unterbreiten: Das von Kiderlen konsultierte Kolonialministerium verfügte nicht einmal über eine aktuelle Karte von Afrika. Gleichwohl, wegen dieser bilateralen Verhandlungen erschien Kiderlen dem deutschen Publikum als ein »neuer Bismarck«, der in der Lage war, das schwächliche Frankreich unter Druck zu setzen. Allerdings musste die Reichsregierung, nicht zuletzt auf massiven englischen Druck hin, schließlich doch klein beigeben. Die in der Öffentlichkeit überaus hochgehängten Verhandlungen mit Frankreich führten letztendlich nur zu einem geringfügigen Gebietstausch und damit Zugewinn für das deutsche Kolonialreich in Afrika.
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Die Ergebnisse dieser Verhandlungen konnten niemanden befriedigen. Das eigentliche Desaster war, dass die meinungsführenden Schichten in beiden Ländern sich zutiefst gedemütigt sahen. Infolge der deutschen Erpressungspolitik wuchs in Frankreich ein neuer Nationalismus, dessen Leitspruch ein »plus jamais cela« war: Nie wieder würde man sich von den Deutschen drohen lassen, ohne Konsequenzen zu ziehen. Der Führer der »radikalen« Opposition im französischen Senat und spätere Ministerpräsident, Georges Clemenceau, formulierte diese Haltung in seiner berühmten Brandrede vom Januar 1912folgendermaßen: »Die Schwierigkeiten zwischen Deutschland und uns beruhen darauf, dass Deutschland glaubt, uns wegen des Sieges (von 1871) logischerweise zu dominieren. Wir hingegen glauben nicht, dass wir wegen dieser Niederlage logischerweise zu Vasallen Deutschlands geworden sind. (…) Wir Franzosen haben eine große Geschichte und wir beharren darauf, diese fortzusetzen.« Und mit großer theatralischer Emphase fügte er hinzu: »Die Toten haben die Lebenden geschaffen. Die Lebenden werden den Toten treu bleiben.«
Im Januar 1912 wurde Raymond Poincaré zum französischen Regierungschef und ein Jahr später zum Staatspräsidenten gewählt. Auch Poincaré betonte schon bei der Amtseinführung unter dem Jubel seiner bürgerlichen Anhänger, dass Frankreich von nun an darauf achten werde, aufgrund seiner militärischen Stärke und seiner abgeschlossenen Bündnisse allen Eventualitäten trotzen zu können. Tatsächlich kam es früher als erwartet zu gravierenden Veränderungen in der internationalen Politik. Die – ebenso wie das Deutsche Reich – »verspätete Großmacht« Italien nutzte die Streitigkeiten zwischen Frankreich und Deutschland über Marokko, um ihrerseits in Nordafrika Fuß zu fassen. Italien eignete sich die osmanischen Provinzen Tripoli und Cyrenaika (umbenannt in Libyen) an, ohne dass die Türkei hiergegen militärischen Widerstand aufbieten konnte. Dieser aggressive Akt und die offenkundige Schwäche des »kranken Manns am Bosporus« ermutigten wiederum die ethnisch überaus heterogenen Balkanstaaten, ihrerseits Ansprüche auf nationale Souveränitäten und Gebietsumverteilungen auf dem Balkan zu erheben.
Im Frühjahr 1912 schlossen Serbien und Bulgarien einen sogenannten Balkanbund, der sich offen gegen die Türkei richtete; ihm schlossen sich später auch Griechenland und Montenegro an. Eine Schwächung des Osmanischen Reichs und ein damit zwangsläufiges Erstarken des slawischen Nationalismus auf dem Balkan waren für das Vielvölkerreich Österreich-Ungarn überaus gefährlich. Das Deutsche Reich hingegen war an einer starken türkischen Macht am Schwarzen Meer interessiert, um Russlands Ambitionen in dieser Region einzudämmen. Ein Sieg der Balkanstaaten über das schwächelnde Osmanische Reich drohte daher das europäische Gleichgewicht zu zerstören. Dies galt insbesondere für den Fall, dass das zaristische Russland den Balkanvölkern zu Hilfe eilen würde, womit es zwangsläufig in einen militärischen Konflikt mit Österreich-Ungarn und seinem Verbündeten Deutschland geraten wäre. Entscheidend aber war die Frage, wie sich Frankreich als Allianzpartner Russlands verhalten würde. Der französische Ministerpräsident Poincaré erhielt bei einem Besuch in Petersburg im August 1912 Kenntnis von den geheim getroffenen Vereinbarungen. Er war fassungslos, glaubte aber dennoch, Russland die Unterstützung Frankreichs zusagen zu müssen. Denn sonst bestand wiederum die Gefahr, dass Frankreich im Falle eines Krieges mit Deutschland ohne seinen russischen Verbündeten dastehen könnte.
Die Balkankriege, die vom Herbst 1912 bis zum Sommer 1913 dauerten, wurden mit extremer Härte und Grausamkeit, auch gegenüber den Zivilbevölkerungen, ausgetragen. Sie lieferten bereits eine Vorstellung von dem ungeheuerlichen Kreislauf an Gewalt, Rache und Vergeltung, der diese europäische Region im Verlauf des 20. Jahrhunderts prägen sollte. Zuerst kämpften die Balkanstaaten mehr oder minder einvernehmlich und erfolgreich gegen das Osmanische Reich, doch seit dem Frühjahr 1913fochten sie auch gegeneinander, weil man sich über die Verteilung der territorialen Kriegsbeute nicht einig wurde. Die zentrale Botschaft der beiden Balkankriege hinsichtlich des internationalen Systems war, dass diese an sich »peripheren« Kriege Europa hart an den Abgrund eines internationalen militärischen Konflikts brachten. Nur unter großer Anstrengung aller Partner der beiden Bündnissysteme konnte ein Übergreifen des Krieges auf die Großmächte verhindert werden. So hatte Berlin es nur mit Mühe vermocht, Österreich-Ungarn von einer Invasion Serbiens, seines erklärten »Hauptfeindes« auf dem Balkan, abzuhalten. Mit der Schaffung eines unabhängigen Staates Albanien im Mai 1913 gelang es den in London versammelten Großmächten zwar, die Ambitionen Serbiens auf einen direkten Zugang zur Adria zu vereiteln, zugleich aber konnte sich der mit Russland verbündete Staat fortan als stärkste Regionalmacht auf dem Balkan etablieren.
Dass die Kriegsgefahr in Europa mit dem Ende der Balkankriege keineswegs gebannt war, zeigte sich auch bei den im Frühjahr 1913 gleichzeitig in Deutschland und Frankreich vorgenommenen massiven Heeresvergrößerungen. Diese wurden in beiden Ländern den Parlamenten wie der Öffentlichkeit mit der Begründung vorgelegt, dass die international hoch angespannte Situation solche umfassenden Sofortmaßnahmen unerlässlich mache. In Frankreich brach daraufhin eine regelrechte Kriegspsychose aus, die sich in einer Reihe von Zwischenfällen, vor allem in den grenznahen Gebieten zu Deutschland, Luft machte.
Auch in Deutschland waren die in der großen Heeresvorlage vom April 1913 gipfelnden Rüstungsanstrengungen mit einer erheblichen nationalen Aufgeregtheit verbunden. Für die ohnehin existierende Kriegsbereitschaft stellten sie zweifellos eine neue und gefährliche Dimension dar. Bereits ein Jahr zuvor, im Januar 1912, hatte sich in Berlin der »Deutsche Wehrverein« etabliert, ein Sammelbecken konservativ-reaktionärer Gruppen und Organisationen, das sich rasch zu einem regelrechten Massenverband mit entsprechend ultra-nationalistischer Propaganda entwickelte. Das Vorstandsmitglied Generalleutnant Alfred Wrochem begründete den nach dem Vorbild des Flottenvereins geschaffenen Verband ohne Umschweife: »Ein vorwärtsstrebendes Volk wie wir, das sich so entwickelt, braucht Neuland für seine Kräfte, und wenn der Friede das nicht bringt, so bleibt schließlich nur der Krieg. Dieses Erkennen zu wecken, sei der Wehrverein berufen.«
Im gleichen Jahr veröffentlichte der bekannte preußische General und Militärschriftsteller Friedrich von Bernhardi ein provozierendes Buch »Deutschland und der nächste Krieg«. Dieses Werk schien derart »typisch« für die radikal-militaristische Einstellung vieler Deutscher zu sein, dass es im Weltkrieg von den Kriegsgegnern als zentrales Beweisstück für den deutschen »Willen zum Krieg« vorgestellt wurde. Obwohl das Buch bei seiner Veröffentlichung kein großer verlegerischer Erfolg war, steht außer Frage, dass Bernhardis Thesen damals bereits weithin und vehement erörtert wurden. Einige Zeitungen brachten Vorabdrucke, im Reichstag und bei den linken Parteien regte sich zugleich massiver Widerspruch.
Gegen den sozialdarwinistisch aufgeladenen Hypermilitarismus des Wehrvereins und den neuen nationalistischen Ungeist eines Bernhardi artikulierte sich aber auch massiver Protest. August Bebel, der unumstrittene Führer der deutschen Sozialdemokratie, hielt bereits im November 1911 im Reichstag, anlässlich der Aussprache über die »Folgen von Agadir«, eine prophetische Rede. Darin warnte er vor einem kommenden Krieg, dem unweigerlich eine ökonomische und gesellschaftliche Katastrophe ungeheuren Ausmaßes, eben der Bebelsche »Kladderadatsch«, folgen werde: »Dann kommt die Katastrophe. Alsdann wird in Europa der große Generalmarsch geschlagen, auf den hin 16 bis 18 Millionen Männer, die Männerblüte der verschiedenen Nationen, ausgerüstet mit den besten Mordwerkzeugen gegeneinander als Feinde ins Feld rücken. Aber nach meiner Überzeugung steht hinter dem großen Generalmarsch der große Kladderadatsch. Hinter diesem Kriege steht der Massenbankrott, steht das Massenelend, steht die Massenarbeitslosigkeit, die große Hungersnot. (…) Ihr seid gewarnt.«
August Bebel als »Der rabiate August«. Karikatur aus der Serie »Unsere Zeitgenossen« von Gustav Brandt, in: Kladderadatsch, Beilage 1903
Nur wenige Politiker und Militärs haben vor 1914 auch nur einigermaßen realistische Vorstellungen von dem gehabt, was der kommende »Große Krieg« sein würde. Überwiegend glaubte man, dass der Krieg einen harten, aber kurzen Schlagabtausch bringen werde. Kein vernünftiger Mensch könne schließlich daran interessiert sein, dass Europa sich selber zerstöre. Noch einen Schritt weiter gingen einige Intellektuelle, wie der englische Publizist Norman Angell (eigentlich Angell Lane) oder der kluge polnisch-jüdische Bankier und Eisenbahnpionier Johann von Bloch, die eine kriegerische Auseinandersetzung in Europa für schlicht unzeitgemäß erklärten, da keine zivilisierte Nation es darauf ankommen lassen werde, ihre gesamten Produktivkräfte zerstören zu lassen. »Bellizistische Nationen«, erklärte der unermüdliche Friedensaktivist Norman Angell, »verkörpern eine absterbende Stufe der Menschheitsgeschichte.« Beide Autoren waren überzeugt, dass bereits das tradierte Wissen über Krieg und Frieden nicht mehr aktuell sei. »Die Diplomatie«, so resümierte Angell in seiner bekannten, binnen eines Jahres in 15 Sprachen übersetzten Aufklärungsschrift »The Great Illusion« (1910), »ist noch immer von einer Ausdrucksweise beherrscht, die für eine Zeit passte, über die das moderne Leben gründlich hinweggegangen ist.« Angesichts der ökonomischen Arbeitsteiligkeit wie der Abhängigkeiten der modernen Gesellschaften voneinander seien Kriege in hohem Maße ungeeignet, »die materiellen Ziele eines Volkes zu verwirklichen«. Ähnlich hatte sich Johann von Bloch in seinem 1898 zuerst auf Russisch veröffentlichten, ein Jahr später bereits ins Deutsche, Englische und Französische übersetzten Werk »Der Krieg« geäußert. Ein moderner Krieg werde ein »lang dauernder Krieg« sein; er werde die Volkswirtschaften ruinieren und den Zusammenbruch aller kriegführenden Nationen und Gesellschaften herbeiführen. Aus dieser insgesamt zutreffenden Annahme zog Bloch den irrigen Schluss, ein Weltkrieg sei nicht »machbar«; jeder Versuch, ihn dennoch zu führen, sei nur möglich »um den Preis des Selbstmords«.
Auch in Deutschland hatte es bereits lange vor der Jahrhundertwende Stimmen gegeben, die vor einem langen, selbstzerstörerischen Krieg warnten. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gehörte der Topos von einem neuen »Dreißigjährigen Krieg« zur Schreckensvision künftiger Kriege in Europa: Er findet sich bei dem deutschen Philosophen Karl Marx (in einem Artikel von 1858für die New York Daily Tribune) ebenso wie bei seinem revolutionären Unternehmerfreund Friedrich Engels, der ungewöhnlich hellsichtig bereits 1887 von einem kommenden »Weltkrieg« schrieb, mit »Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet«. Einige Jahre später warnte auch der preußisch-deutsche Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke (der Ältere) vor einem europäischen »Volkskrieg«: »Es kann ein siebenjähriger, es kann ein dreißigjähriger Krieg werden, – wehe dem, der Europa in Brand steckt, der zuerst die Lunte in das Pulverfaß schleudert!«
Bertha von Suttner, »Die Waffen nieder«, Dresden 1896. Einband des in hoher Auflage erschienenen Romans der österreichischen Pazifistin
Doch diese warnenden Stimmen fanden kein Gehör, jedenfalls nicht unter den verantwortlichen Politikern und Generälen. Stattdessen waren die Militärs der Ansicht, dass Organisation und Strategie derart fortgeschritten seien, dass ein Krieg durch rasche Aufmärsche von riesigen Armeen sowie einige erfolgreich absolvierte Schlachten entschieden werden könne. Dementsprechend orientierten sich sämtliche Generalstäbe an einer reinen Offensivstrategie. Diese wurde vor allem in Frankreich, stärker noch als in Deutschland oder Russland, nunmehr zur verbindlichen Militärdoktrin. Der deutsche Generalstabschef Graf Schlieffen war der Überzeugung gewesen, dass in einem kommenden Krieg etwa eine Million deutsche Soldaten, im Höchstfall aber zwei Millionen einrücken würden. Deren Organisation stelle angesichts der vorbildlichen Beförderungsmöglichkeiten durch die Eisenbahn und da das Telefon für die Kommunikation zwischen den Stäben genutzt werden könne, kein großes Problem dar. Alle diese Berechnungen und Erwartungen waren eine Mischung aus zutreffender Analyse und unrealistischer Prognose. Tatsächlich rückten in Deutschland im August 1914 insgesamt 2,3 Millionen Soldaten aus. Dass aber ein Jahr später sechs Millionen im Feld stehen würden und gegen Ende des Krieges sogar etwa acht Millionen Soldaten – eine derartige Dimension des totalen Krieges war weder für Schlieffen noch für andere Militärplaner in der Vorkriegszeit vorstellbar. Bebels Annahmen über die möglichen Kriegstoten waren daher durchaus realistisch. Aber vor 1914 schienen solche Meinungen und Warnungen politische Hysterie und weithergeholte Spekulation zu sein.
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