image1
Logo

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Band 660

Wilfried Loth

Charles de Gaulle

Verlag W. Kohlhammer

 

 

 

 

 

1. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN: 978-3-17-021362-3

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-023616-5

epub:    ISBN 978-3-17-023617-2

mobi:    ISBN 978-3-17-026211-9

 

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhaltsverzeichnis

 

 

  1. Inhaltsverzeichnis
  2. Vorwort
  3. 1 Der Connétable
  4. 2 Mit und gegen Pétain
  5. 3 Der Mann des 18. Juni
  6. 4 Der Kampf um die Macht
  7. 5 Die Befreiung
  8. 6 Der Traum von der Größe
  9. 7 Im Unruhestand
  10. 8 Die Rückkehr
  11. 9 Abschied von Algerien
  12. 10 Europa
  13. 11 Erschütterungen
  14. 12 Abschiede
  15. Schluss
  16. Anmerkungen
  17. Quellen- und Literaturverzeichnis

Vorwort

 

 

 

 

Der »berühmteste aller Franzosen«, wie René Coty, der zweite und letzte Staatspräsident der französischen IV. Republik Charles de Gaulle auf dem Höhepunkt der Mai-Krise 1958 titulierte, ist zugleich die unbekannteste unter den großen Gestalten des 20. Jahrhunderts. In Frankreich verbergen sich Leben und Werk des Führers des »Freien Frankreich« und ersten Staatspräsidenten der V. Republik hinter dem Mythos de Gaulle: dem Mythos vom Ausnahmepolitiker, der wie kein anderer in der langen Tradition der französischen Geschichte wurzelte und die Nation zugleich mit einer Abfolge von richtigen Entscheidungen in das 21. Jahrhundert führte, vom Widerstand gegen Hitlers Herrschaft bis zum Austritt aus der Militärorganisation der NATO. Dieser Mythos, an dem de Gaulle seit dem Beginn seines öffentlichen Auftretens selbst gestrickt hat, ist für die Franzosen in dem Maße wichtiger geworden, wie andere Ideologien und »große Erzählungen« verblasst sind. Er kann eine genauere Kenntnis der Geschichte des General de Gaulle freilich nicht ersetzen. Oft steht er ihr sogar im Weg.

Anderswo ist man einfach nur irritiert über die schillernde Vielfalt und Widersprüchlichkeit im Erscheinungsbild dieses bedeutenden Franzosen: War er Konservativer oder Revolutionär? Herrischer Autokrat oder Verfechter einer fundamentalen Demokratisierung? Verbündeter oder Gegner der »Angelsachsen«? Verteidiger des Kolonialreichs oder Anwalt der »Dritten Welt«? Glühender Nationalist oder überzeugter Europäer? Kalter Krieger oder Wegbereiter des neuen Europas? Charles de Gaulle ist offensichtlich nicht leicht zu begreifen, und er lässt sich auch nicht auf eine einfache Formel bringen. Die vielfältigen Möglichkeiten, sich ihm zu nähern und ihn zu instrumentalisieren, nähren den Mythos und erschweren zugleich den Zugang zu der realen Person in ihrer Komplexität.

Nun hat die biographische Forschung unser Wissen über das Leben de Gaulles kontinuierlich erweitert. Schon die große Biografie von Jean Lacouture, von 1984 bis 1986 in drei umfangreichen Bänden mit zusammen fast 2500 Seiten erschienen, bot eine außerordentliche Fülle von Informationen, die über die Kenntnisse der Zeitgenossen hinausgingen. De Gaulles Sohn Philippe hat eine Edition von »Briefen, Notizen und Heften« in 13 Bänden veranlasst, die von 1980 bis 1997 erschienen ist und alles bietet, was in den Sekretariaten de Gaulles an persönlichen Aufzeichnungen zu finden bzw. durch Nachfragen bei den Briefadressaten zu ermitteln war. Ein Kolloquium aus Anlass des 100. Geburtstags von de Gaulle, das im November 1990 über 700 Zeitzeugen und Forscher aus aller Welt im UNESCO-Gebäude in Paris zusammenbrachte, führte zur Publikation von sieben Tagungsbänden in den Jahren 1991 und 1992. Danach ist eine Reihe weiterer Aufzeichnungen von Gesprächen publiziert worden, die unterschiedliche Vertraute zu unterschiedlichen Zeiten mit de Gaulle geführt haben – so Michel Debré (1993), Alain Peyrefitte (drei Bände 1994 bis 2000), Claude Guy (1996), Jacques Foccart (fünf Bände von 1997 bis 2001) und François Flohic (2010). Philippe de Gaulle hat eigene Memoiren publiziert (1997 und 2000) und die bisherigen Veröffentlichungen über seinen Vater in umfangreichen Stellungnahmen kommentiert (2003 und 2004). Éric Roussel hat für eine neue De-Gaulle-Biographie zusätzliches Material aus internationalen Archiven und privaten Nachlässen erschlossen (2002), und Michel Tauriac hat die Zeugnisse von zahlreichen Weggefährten gesammelt, die sich bislang noch nicht geäußert hatten (2008). Neuere Forschungen zur französischen und internationalen Zeitgeschichte bieten immer wieder auch neue Erkenntnisse über de Gaulle.

17 Jahre nach der De-Gaulle-Biographie von Peter Schunck, der letzten Biographie in deutscher Sprache (1998), liegt damit genügend neues Material vor, um eine neue Darstellung des Lebens und Werks von Charles de Gaulle zu rechtfertigen. Sie ist notwendig, weil man angesichts der Fülle der Informationen, die unterdessen zugänglich geworden sind, Gefahr läuft, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen und sich dann doch wieder im Mythos zu verstricken. Um diese Gefahr zu bannen, ist die folgende Darstellung darauf angelegt, die großen Linien im Leben von Charles de Gaulle nachzuzeichnen, aber auch die Brüche und Wendungen zu markieren, die es in diesem Leben gegeben hat. Sie will erklären, wie sich de Gaulle entwickelt hat und was ihn zu unterschiedlichen Zeiten bewegte. Und sie will zeigen, wie er lebte und in unterschiedlichen Kontexten agierte. Nur so lässt sich dieses in der Tat außerordentliche Leben verständlich machen und die historische Bedeutung de Gaulles ermessen.

1         Der Connétable

 

 

 

 

 

»Sehen Sie«, vertraute Charles de Gaulle nach seinem Rücktritt als Regierungschef im Januar 1946 seinem Adjutanten Claude Guy an,

»ich habe immer gedacht, dass ich eines Tages an der Spitze des Staates stehen würde. Ja, es ist mir immer so vorgekommen, dass das ganz selbstverständlich sein würde.«

Nach einem Zug an seiner Zigarre fügte er hinzu:

»Ich glaube, dass ich mich einer Art Einbildung anvertraut habe, einer Art warnenden Einbildung […] Und diese Einbildung, wenn ich daran denke, bedeutete nichts, sie hatte nichts Prophetisches: Tatsächlich sah ich mich zunächst als Kriegsminister.«1

Soll man das glauben?

Es gibt in der Tat einige Berichte aus dem Leben des jungen Charles de Gaulle, die den Anschein erwecken, als ob da jemand zielbewusst auf die historische Rolle hin gelebt habe, die dem Führer des »Freien Frankreich« und ersten Präsidenten der V. Republik schließlich zufallen sollte. Als Kind spielte er mit seinen Brüdern gerne mit Zinnsoldaten und nahm dabei immer die Rolle des Königs von Frankreich für sich in Anspruch, der seine Truppen befehligte; die Brüder und Cousins durften englischer König oder russischer Zar sein. Mit 15 Jahren lieferte er seinen Lehrern im Pariser Jesuitenkolleg der Unbefleckten Empfängnis eine Arbeit über den Feldzug nach Deutschland ab, die zu Beginn des Jahres 1931 spielte, 25 Jahre in der Zukunft. Auf 20 Seiten verhinderte hier ein »General de Gaulle« souverän die Umklammerung seiner Armee durch deutsche Truppen und rettete so das Vaterland. In der Offiziersschule Saint-Cyr, in die er mit 19 Jahren eintrat, verpassten ihm seine Mitschüler alsbald den Spitznamen »der Connétable«. Im alten Frankreich war das der höchste Offizier des Königs gewesen, im Rang noch über dem Marschall.

Aber natürlich ist auch de Gaulle im Rückblick der biographischen Illusion erlegen, die die Vielfalt und partielle Widersprüchlichkeit der Anlagen eines jeden Menschen ebenso leugnet wie die Zufälle , die nun einmal auf sein Leben einwirken. Lange Zeit sah es überhaupt nicht danach aus, als ob dieser zweite Sohn eines Lehrers und späteren Studienpräfekten an eben diesem Jesuitenkolleg in Paris auch nur eine Fußnote in der französischen Geschichte hinterlassen würde. Im Gegenteil: Seine starke Einbildungskraft, verbunden mit einem ausgeprägten Hang zur Rechthaberei, prädestinierten ihn eigentlich für die Rolle eines Sonderlings, und er ist im Laufe seines Lebens auch oft genug als Don Quichotte verspottet worden. Als er sich im Juni 1940 entschloss, den Widerstand gegen die deutsche Besatzung Frankreichs zu organisieren, war alles andere als sicher, dass er damit Erfolg haben würde. Ebenso wenig war nach seinem Rücktritt vom Amt des Präsidenten des französischen Ministerrats im Januar 1946 zu erkennen, dass er noch ein zweites Mal an die Spitze des französischen Staates treten würde.

Was allerdings schon sehr früh zu sehen war, waren Begabungen, die den jungen Charles de Gaulle für eine solche Führungsposition prädestinierten: sein außerordentliches Selbstbewusstsein, gepaart mit hoher Intelligenz und einem Ehrgeiz, der sich darauf fokussierte, sich im Dienst an jener fiktiven Gemeinschaft hervorzutun, an die er glaubte: das »ewige« Frankreich, das von einem Königtum von Gottes Gnaden geformt worden war und nun unter den Folgen der gottlosen Französischen Revolution litt. Geschichte, wie sie ihm sein Vater vermittelte und auch im Jesuitenkolleg gelehrt wurde, die Geschichte der Könige und Feldherren, der Feldzüge und Schlachten, wurde bald sein Lieblingsfach. Noch vor seinem 15. Geburtstag verschlang er so umfangreiche und trockene Werke wie die Geschichte des Konsulats und des Empires von Adolphe Thiers in 20 Bänden und Das zweite Empire von Pierre de La Gorce in sieben Bänden.

Die Identifizierung mit dem »ewigen« Frankreich verdankte Charles-André-Joseph-Marie de Gaulle der Familie, in die er am 22. November 1890 hineingeboren wurde. Die de Gaulles entstammten einem Adelsgeschlecht, das schon in Urkunden des 13. Jahrhunderts auftaucht. Im 18. Jahrhundert waren direkte Vorfahren des künftigen Generals als Anwälte der Krone und Rechtsanwälte am Pariser Parlament tätig. Sein Urgroßvater, Parlamentsrat Jean-Baptiste-Philippe de Gaulle wurde auf Veranlassung des Konvents 1794 ins Gefängnis geworfen und brachte es schließlich zum Direktor der Militärpost in Napoleons Armee. Sein Großvater Julien-Philippe de Gaulle ruinierte sich als Inhaber eines Pensionats in Valenciennes und führte dann ein unstetes und höchst prekäres Leben als »freier« Schriftsteller. Vor dem gänzlichen Untergang rettete ihn die Ehe mit Joséphine Maillot, Tochter eines Tabakkontrolleurs aus Lille, dessen Familie auf Vorfahren im irischen Adel zurückblickte. Sie zeichnete sich durch ein umfangreiches Oeuvre von historischen Romanen, Erbauungsschriften und Biographien aus, in denen die heile Welt des vorrevolutionären und vorindustriellen Frankreich beschworen wurde, während ihr Mann eine monumentale Geschichte von Paris und andere historische Darstellungen hinterließ.

Ihr zweiter Sohn Henri, der Vater von Charles, träumte von einer Karriere im Militär, kämpfte als Freiwilliger im Krieg von 1870/71 und begann nach der Niederlage eine Laufbahn im Innenministerium. 1884 ließ er sich beurlauben, weil er den antiklerikalen Kurs seines Ministers Pierre Waldeck-Rousseau nicht länger mittragen wollte. Stattdessen ließ er sich von den Jesuiten als Lehrer für Französisch, Latein, Griechisch, Geschichte, Philosophie und Mathematik einstellen. Zu den Schülern, die durch seinen ebenso fordernden wie fördernden Unterricht geprägt wurden, zählten Georges Bernanos, Marcel Prévost, der spätere Kardinal Fernand Gerlier und die Generäle Jean-Marie de Lattre de Tassigny und Philippe Leclerc. Die antirepublikanische und streng katholische Gesinnung, die für diesen Berufsweg bestimmend war, wurde noch verstärkt durch seine Heirat mit Jeanne Maillot, einer Nichte seiner Mutter, deren Katholizismus sich durch eine besondere Intransigenz auszeichnete. Die de Gaulles lebten in einem Milieu stolzen Widerstands gegen die herrschenden Tendenzen ihrer Zeit – den militanten und bisweilen frivolen Antiklerikalismus der III. Republik.

Wie die Frau von Charles de Gaulle später berichtete, war Jeanne de Gaulle der politisch fordernde Teil dieses Paares:

»Ohne jeden Zweifel hat der General den aggressiven Teil seines Charakters von ihr geerbt. […] Meine Schwiegermutter war ohne jeden Zweifel das, was man eine Frau mit starkem Willen nennt. Von ihr hat der General das meiste. Sie interessierte sich für die Probleme der Politik und äußerte sehr eigene Meinungen und Urteile. Zurückhaltend formuliert muss man dazu sagen, dass sie kategorisch und leidenschaftlich waren. Mein Schwiegervater war ein abgehobener Mann von großer Belesenheit. Er zog das Nachdenken und die Bücher jeder anderen Sache vor. Vor der Politik grauste es ihm.«2

Charles war das zweite von fünf Kindern. Offensichtlich hochbegabt war er als Schüler zunächst mittelmäßig, sehr am Lesen und Schreiben interessiert, aber ansonsten undiszipliniert. Das änderte sich, als er mit knapp 15 Jahren die Idee entwickelte, Offizier zu werden. Für die Aufnahme in die Offiziersschule Saint-Cyr musste man hart arbeiten, und das tat Charles nun auch. Um sein Deutsch zu verbessern, verbrachte er die Sommerferien 1908 im Schwarzwald, als Gast eines katholischen Pfarrers, der ihm auch Freiburg und Luzern zeigte. Im September 1909, noch nicht 19 Jahre alt, bestand er die Aufnahmeprüfung in Saint-Cyr als 119. von 221 angenommenen Bewerbern. Das war kein glänzender Erfolg, aber es war ein Erfolg: schließlich waren fast 800 Kandidaten zu dem Auswahlverfahren angetreten. Der Weg zu einer Karriere in der von ihm bewunderten Armee stand ihm nun offen. Es war zugleich ein Weg, dem Vaterland zu dienen, ohne sich mit dem Regime der III. Republik gemein machen zu müssen.

Images

Der Offiziersanwärter an der Militärakademie Saint-Cyr, etwa 1910 (Bridgeman Images Berlin).

Notgedrungen akzeptierte Charles de Gaulle auch das eine Jahr Rekrutenausbildung, auf das die republikanische Regierung alle künftigen Offiziersanwärter im Jahr 1905 verpflichtet hatte. Mit seiner Größe von 1,93 Metern – einem Erbe der mütterlichen Seite – fiel ihm das nicht leicht, doch ertrug er die strapaziösen Märsche, das stundenlange Exerzieren und den stumpfen Drill im 33. Infanterieregiment in Arras ohne viel zu klagen. Er bemühte sich, ein guter Kamerad zu sein, beteiligte sich auch bereitwillig an allerlei Aufführungen von zweifelhaftem Geschmack, hielt aber ansonsten die meisten Mitrekruten auf Distanz und konnte manchmal nicht verbergen, dass er die Methoden seiner Vorgesetzten für entsetzlich verfehlt hielt. In der Offiziersschule selbst zeichnete er sich durch außerordentliche Lernbereitschaft aus, ebenso durch Bemühen um korrektes Auftreten und Bündigkeit im Ausdruck. »Prägnanz im Stil, Genauigkeit im Denken, Entschiedenheit im Leben«, schrieb er in Anlehnung an Victor Hugo als Motto in sein Studienheft.3 Das brachte ihm gute Noten ein, auch dort, wo er seine Schwächen hatte – beim Sport und beim Schießen. Beim Abschluss der Schule zum 1. September 1912 brachte er es auf den 13. Rang von 211 Absolventen.

Auch als Offiziersschüler war Charles de Gaulle ein eifriger Leser. Zu den historischen Darstellungen kamen jetzt Autoren der Antike, Kirchenväter, mittelalterliche Chronisten, französische Klassiker wie Racine und Corneille, aber auch Chateaubriand, Vigny und Flaubert sowie zeitgenössische philosophische und politische Autoren. Besonders die Lektüren von Charles Péguy und Maurice Barrès halfen ihm, die emotionale Bindung an die Monarchie zu überwinden, deren Restauration offensichtlich unmöglich geworden war. Die Nation gewann für ihn jetzt eine mystische Dimension auch diesseits des Königtums, ihre Geschichte ging über die Revolution hinaus, und ihre Zukunft hing von einer moralischen Erneuerung ab. Um daran mitzuwirken, wollte er ein Tatmensch werden, wie er ihn in der Kombination von Intellekt und Impulsivität bei Henri Bergson beschrieben fand. Von Charles Maurras, dem Begründer der royalistischen Action française, übernahm er die pessimistische Sicht der außenpolitischen Verhältnisse, die scharfe Kritik am parlamentarischen Betrieb und das Misstrauen gegenüber dem deutschen Erzfeind.

Als einem der besten Absolventen seines Jahrgangs stand de Gaulle der Dienst in einer der Prestige-Einheiten der Armee offen, etwa bei den Jägern oder im Kolonialdienst in Marokko. Der frischgebackene Leutnant entschied sich freilich, zu dem wenig attraktiven 33. Infanterieregiment in Arras zurückzukehren. Wahrscheinlich wollte er zur Stelle sein, wenn der nächste Krieg mit Deutschland ausbrach. Jedenfalls glaubte er immer deutlicher, Anzeichen für einen solchen Krieg zu erkennen. Zu den Zufällen, die für den späteren Weg de Gaulles bedeutsam wurden, zählt der Umstand, dass das 33. Infanterieregiment unterdessen von einem Oberst kommandiert wurde, der sich durch besondere Führungsqualitäten auszeichnete: dem 56jährigen Philippe Pétain, bekannt für seine Unabhängigkeit, seine Hartnäckigkeit gegenüber dem militärischen Establishment und auch für sein elegantes Auftreten, das ihn zum Frauenhelden werden ließ. Pétain lernte rasch die Intelligenz und die Hingebungsbereitschaft seines neuen Leutnants schätzen, und de Gaulle bewunderte die Art, wie sein Oberst das Regiment führte. Bei gemeinsamen Wochenend-Heimfahrten im Zug nach Paris ging das Gespräch zwischen den beiden bald über das Dienstliche hinaus.

Als der Große Krieg im August 1914 mit einem deutschen Vormarsch durch Belgien begann, sah sich de Gaulle in seinen Befürchtungen bestätigt. Fest entschlossen, die Bewährungsprobe zu bestehen und dabei militärische Karriere zu machen, wurde er gleich bei der ersten Feindberührung in den Ardennen vor der Brücke von Dinant am 19. August mit der mörderischen Realität des Krieges konfrontiert. »Ich bin gerade die 20 Meter bis zur Brücke gerannt«, schrieb er zwei Wochen später auf,

»als es mich am Knie wie ein Peitschenschlag trifft, der mir den Fuß wegreißt. […] Ich falle, und der Sergeant Debout fällt auf mich, zu Tode getroffen. Eine halbe Minute lang ist um mich herum ein entsetzlicher Hagelschlag von Kugeln. Ich höre sie hinter, vor und neben mir auf das Pflaster und das Geländer platzen. Ich höre sie auch mit dumpfem Geräusch in die Leichen und die Verwundeten eindringen, die auf dem Boden herumliegen. […] Ich mache mich von meinen Nachbarn los, den Toten und den kaum noch Lebenden, und dann krieche ich unter dem gleichen Hagelschlag, der nicht aufhört, zur Straße. […] Wie ich auf dem Weg nicht wie ein Schaumlöffel durchlöchert worden bin, das wird für immer mein Leben schwer belasten.«4

Tatsächlich hatte eine Kugel sein rechtes Wadenbein getroffen und den Ischias-Nerv gelähmt, sodass er operiert werden musste. Im Hospital notierte er sich, was geschehen war. Erst Anfang Oktober, nachdem der deutsche Vormarsch an der Marne gestoppt worden war, konnte er zu seinem Regiment zurückkehren. Den Stellungskrieg, zu dem die französische Armee mit Ablauf des Jahres 1914 gezwungen war, ertrug er nur schwer. Mehr als einmal ließ er sich zu eigenmächtigen Attacken hinreißen, ohne das Risiko von Vergeltungsschlägen zu bedenken. Am 10. März 1915 wurde er bei einem Gefecht bei Mesnil-les-Hurlus ein zweites Mal verletzt, diesmal an der linken Hand. Eine Infektion des Unterarms zwang ihn, weitere zwei Monate im Krankenhaus zu verbringen. An seiner Entschlossenheit und gelegentlichen Tollkühnheit änderte sich dadurch nichts. »Der Friede wird nur von uns diktiert werden«, schrieb er, unterdessen zum Hauptmann befördert, am 23. November 1915 an seine Mutter,

»und wir müssen unsere Herzen hart werden lassen und allen unseren Schneid zusammennehmen, um die vielen Versuchungen zurückzuwiesen, die uns ein geschickter Feind jetzt offeriert.«5

Nachdem die Deutschen am 21. Februar 1916 ihren Sturmangriff im Norden von Verdun begonnen hatten, wurde der Hauptmann de Gaulle mit dem 33. Infanterieregiment an einen Frontabschnitt vor dem Fort von Douaumont geschickt, um dort ein erschöpftes Regiment abzulösen. Noch während er die Lage erkundete und die Soldaten der von ihm geführten 10. Kompanie ihre Schützengräben aushoben, gerieten sie am Morgen des 2. März in einen mörderischen Granatenhagel. Ganze 37 von den 180 Mann der Kompanie überlebten. De Gaulle sammelte die Reste seiner Mannschaft und wagte dann, von den Deutschen mehr und mehr umzingelt, einen Ausbruch. Im Nahkampf wurde sein linker Oberschenkel von einem Bajonett durchstochen, dann explodierte eine Granate, und er sackte zusammen. Der Regimentskommandeur meldete seinen Tod.

Tatsächlich war ein Feldwebel, der direkt hinter ihm stand, tödlich getroffen worden. De Gaulle selbst war von dem wahnsinnigen Schmerz des Bajonettstichs lediglich in Ohnmacht gefallen. Als er wieder zu sich kam, standen junge preußische Soldaten um ihn herum, und ein Regimentsarzt verpflegte ihn. Zusammen waren sie in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten. Das war nun eine Situation, die so gar nicht zu den Ambitionen des Connétable passte: Frankreich in der äußersten Kriegsanstrengung, und er zur Untätigkeit verurteilt, auf halben Sold gesetzt, ohne Aussicht auf weitere Beförderung, den Schikanen der verachteten Deutschen ausgeliefert, hilflos angesichts all der Schwächen der militärischen und politischen Führung und der Unzuverlässigkeit der Verbündeten, die er zu beobachten glaubte. Nachdem er zunächst einige Wochen in einem Hospital in Mainz verbracht hatte, unternahm er in den 32 Monaten seiner Kriegsgefangenschaft nicht weniger als fünf Fluchtversuche. Entsprechend häufig wurde er verlegt, und er verbrachte auch nicht wenige Tage in verschärfter Kerkerhaft.

Die Mitgefangenen erlebten de Gaulle ähnlich wie seine Mitschüler in Saint-Cyr sechs Jahre zuvor: freundlich und korrekt, aber auch unnahbar, beeindruckend durch die Breite seiner Kenntnisse und die Schärfe seiner Analysen, aber auch hochfahrend. Ohne zu wissen, dass sie nicht die ersten waren, nannten auch sie ihn den »Connétable«. Niemand wagte es, ihn anders als mit dem formellen »Sie« anzureden, und niemand scheint ihn je unbekleidet gesehen zu haben.

Erneut verbrachte er viel Zeit mit Lektüre. Er nutzte die Möglichkeiten, sich so viel von der deutschen Kultur anzueignen, wie nur eben möglich war. Mehr denn je fand er Gelegenheit zur Entwicklung eigener Gedanken, die er in einem Notizheft festhielt. Darin beschwor er einmal mehr Selbstbeherrschung als Voraussetzung für Erfolg und Verschlossenheit als Bedingung für Autorität: »Der Chef ist derjenige, der nicht redet.«6 Er sympathisierte mit der Idee einer »organischen Regierung«, die die Nation in ihrer Gesamtheit »am besten« repräsentiert. Und er ließ viel Verständnis für den Spruch des alten Heraklit erkennen, wonach der Krieg der Vater aller Dinge sei.

Besondere Originalität entwickelte der unruhige Gefangene bei den Analysen des Kriegsgeschehens, die er auf der Grundlage von Zeitungsausschnitten, offiziellen Kommuniqués, Berichten der Mitgefangenen und eigener Erinnerung erstellte und von Dezember 1916 bis Juni 1917 vor Offizieren und selbst Generälen präsentierte. Darin sparte er nicht mit Kritik an unzureichender Vorbereitung und wenig durchdachten Entscheidungen einzelner Kommandeure und prägnanten Urteilen zu der französischen Kriegführung im Ganzen. Vor allem aber beschäftigte er sich mit den Schlussfolgerungen, die sich aus den Neuerungen der modernen Kriegstechnik für die Entwicklung einer optimalen Strategie ergaben. Die Aufgabe der Luftwaffe sah er vor allem in der Aufklärung: Sie sollte für eine optimale Verbindung zwischen Infanterie und Artillerie sorgen und für eine optimale Information der Kommandozentrale.

Die letzten Kriegswochen im Herbst 1918 verbrachte der Connétable in der Festung Wülzburg (zwischen Nürnberg und Ingolstadt gelegen). Nach der Unterzeichnung des Waffenstillstands am 11. November kehrte er über die Schweiz nach Paris zurück und blieb dann einige Wochen mit seinen Geschwistern auf dem Landsitz La Ligérie in der Dordogne, den sein Vater für die Familie gemietet hatte. Auch seine drei Brüder hatten den Krieg überlebt, Xavier der älteste wie er als Hauptmann, Jacques als Oberleutnant und Pierre als Kadett. In die Erleichterung über den glücklichen Ausgang des Krieges mischte sich freilich das Bedauern, dass ausgerechnet er, der einzige Berufssoldat unter den Brüdern, nicht mehr zum Sieg beigetragen hatte. Nach einigen Momenten des Zweifels blieb er aber der Offizierslaufbahn treu: Schließlich hatte er nichts anderes gelernt, und außerdem war er davon überzeugt, dass eine starke französische Armee weiterhin gebraucht werden würde. »Ich beende diesen Krieg«, gestand er seiner Mutter,

»mit überbordenden Gefühlen allgemeiner Fremdenfeindlichkeit und von der Überzeugung durchdrungen, dass wir auf den klug durchdachten Einsatz unserer militärischen Macht zurückgreifen müssen, um uns Respekt zu verschaffen.«7

Anfang 1919 bewarb er sich daher um eine Abordnung nach Polen, wo französische Instrukteure General Józef Pilsudski helfen sollten, nach der Restituierung des polnischen Staates eine schlagkräftige Armee aufzubauen. De Gaulle wurde dabei weder von einer besonderen Schwärmerei für die befreiten Polen getrieben noch brannte er für den antibolschewistischen Feldzug, den der von ihm ansonsten sehr verehrte Ministerpräsident Georges Clemenceau im Sinn hatte. Es ging ihm in der Hauptsache darum, sich nützlich zu machen und damit auch seine Karriere wieder zu befördern. Wenn er damit gleichzeitig dazu beitrug, »die Völker des Balkans und diejenigen, die aus der Aufteilung Österreichs und Russlands hervorgegangen sind, in Schach zu halten«, so war das umso besser!8 Nach einem Crashkurs für Kompanieführer, die die jüngsten Entwicklungen beim Waffeneinsatz und der Taktik nicht mehr mitbekommen hatten, erhielt er die Mitteilung, dass seine Bewerbung erfolgreich war. Am 17. April 1919 trat er seinen Dienst bei der französischen Militärmission in Polen an.

Im Ausbildungszentrum der neuen polnischen Armee in Rambertow bei Warschau machte der Hauptmann Charles de Gaulle rasch Karriere. Zunächst einfacher Ausbilder avancierte er bald zum Studienleiter und dann zum Direktor der Kurse für die höheren Offiziere. Von seinen Schülern hatte er zunächst einen denkbar schlechten Eindruck:

»Diese Leute sind, auf sich selbst gestellt, für nichts zu gebrauchen, und das Schrecklichste ist, dass sie sich in jeder Hinsicht für ausgezeichnet halten. Wir werden uns sehr anstrengen müssen, um aus diesen Leuten wieder ein Land aufzubauen.«9

Umso eifriger widmete er sich dieser Aufgabe. Sein Talent für den Lehrerberuf, ein Erbe seines Vaters, das schon in den Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen während der Gefangenschaft deutlich geworden war, konnte sich nun voll entfalten und es half ihm auch, die Depression zu überwinden, die das unfreiwillige Abseitsstehen während der zweiten Kriegshälfte bei ihm ausgelöst hatte. Nachdem der Chef der Militärmission, ein General Henrys einem seiner Vorträge zugehört hatte, bat er ihn, über das vorgesehene eine Jahr hinaus bei der Mission zu bleiben. De Gaulle wollte sich zunächst nach einer attraktiveren Position in Frankreich umsehen. Aber nachdem man ihm nicht mehr angeboten hatte als das Amt für Auszeichnungen im Kabinett des Kriegsministers, sagte er die Verlängerung zu.

Nach seiner Rückkehr nach Polen Anfang Juni 1920 musste er seine Lehrtätigkeit allerdings bald für einen Einsatz als Militärberater unterbrechen. Polen befand sich nach einem leichtfertigen Angriff auf die Ukraine im Mai mit der Sowjetunion im Krieg, und nachdem die Rote Armee bis 60 Kilometer vor Warschau vorgerückt war, entschloss sich die Regierung in Paris Mitte Juli, die polnische Armee militärisch zu unterstützen. De Gaulle wurde an der Seite von General Bernard im Rang eines Majors der polnischen Armee zunächst bei den Operationen im Süden des Landes eingesetzt, dann bei den Operationen im Norden. Als Pilsudski die russischen Truppen Mitte August vollständig nach Ostpreußen zurückschlagen konnte, war er dabei.

Sein Verhalten und sein Einsatz im Feldzug brachten ihm viel Anerkennung von polnischer Seite ein. General Niessel, der Nachfolger von General Henrys als Chef der französischen Mission, machte ihn zu seinem Kabinettschef. Das war eine Position, von der aus er sich mit Aussicht auf Erfolg auf eine Lehrerstelle an der Offiziersschule Saint-Cyr bewerben konnte. Nachdem General Niessel ihn mit großem Bedauern zum 10. Januar 1921 freigestellt hatte, trat er sein neues Amt als beigeordneter Lehrer für Militärgeschichte in Saint-Cyr am 1. Februar 1921 an. Auch hier überzeugte er wieder durch umfassendes Wissen, originelle Gedankengänge, große Gesten und emotionale Rhetorik, mit denen er die äußerlichen Ungeschicklichkeiten des langen Kerls überspielte. Bald kamen auch Vorgesetzte, höhere Offiziere und Generäle zu den Vorträgen des 30-jährigen Hauptmanns, die immer großen Eindruck hinterließen.

Gleichzeitig bereitete sich de Gaulle, von General Niessel ausdrücklich dazu ermuntert, auf die Aufnahmeprüfung in die Kriegsakademie vor, der Kaderschmiede für künftige Kommandanten und Generäle. Und er arbeitete auch noch an der Vorbereitung von Büchern zum Verhalten des deutschen Gegners im Weltkrieg und zur französischen Militärgeschichte. Am 2. Mai 1922 wurde seine Zulassung zur École supérieure de guerre im Journal officiel bekanntgegeben; er hatte die Aufnahmeprüfung mit dem 33. Platz auf der Rangliste bestanden. Danach hatte er bis zum Juli drei Praktika bei unterschiedlichen Waffengattungen zu absolvieren. Für ihn waren das das 6. Dragonerregiment in Paris, eine Luftwaffeneinheit in Le Bourget und das 503. Panzerregiment in Satory. Im September begann die knapp 2-jährige Ausbildung in dem riesigen Akademiegebäude am Marsfeld, in dem einst Napoleon gearbeitet hatte.

Die Rückkehr von Warschau nach Paris war mit dem Wunsch des, wie er hoffte, künftigen Generals verbunden, nunmehr in den Ehestand zu treten. Von der Liebe hatte Charles de Gaulle immer sehr romantische Vorstellungen gehabt. Davon zeugt schon eine Liebesgeschichte, die er als 18-jähriger Saint-Cyr-Aspirant unter dem durchsichtigen Pseudonym Charles de Lugale geschrieben hatte und die von der aufrichtigen und reinen Liebe eines jungen Mädchens in Neu-Kaledonien – er nannte sie Zalaina und gab der Geschichte auch diesen Titel – zu einem französischen Offizier handelt. Zwei Jahre später hatte Charles de Lugale eine Novelle publiziert, in der sich ein Leutnant in die Tochter eines feindlichen Araberchefs im Süden Algeriens verliebt. Eine dritte Novelle, die er während des Krankenhausaufenthalts nach der Verletzung vom August 1914 verfasst hatte, porträtiert einen Leutnant Langel (diesmal ein Anagramm von de Gaulle), der kriegsverletzt im Krankenhaus liegt, nachdem er zuvor über mehrere Monate eine stürmische Beziehung zu der hübschen Frau des Hauptmanns der benachbarten Kompanie unterhalten hatte. Die Frau sucht ihn auf, nachdem ihr Mann in den weiteren Kämpfen gefallen ist, aber letztlich gibt er sie frei, weil er spürt, dass »das Herz seiner Maitresse ihm nicht allein gehört.«10

War auch das nur Ausdruck einer offensichtlich starken Sehnsucht? Oder gab es im realen Leben Entsprechungen zu dieser arg konstruiert anmutenden Geschichte? Sicher ist nur, dass der Connétable zeitweilig versucht hatte, die Liebe als eine bloße »Würze des Lebens« zu betrachten, die zu keiner dauerhaften Bindung verpflichtete. Nach eigenem Bekunden hatte er auf seinen Fahrten von Arras nach Paris mit Pétain häufig über »die Frauen« geredet, und »manchmal kreuzten sich dort unsere Wege.«11 Nach einem Zeugnis von François Mauriac, der de Gaulle zweifellos gut kannte, hätten beide, der Oberst und sein junger Leutnant, zeitweilig sogar die Gunst der gleichen Eroberung geteilt. Im Juli 1945 entfuhr de Gaulle bei der Unterzeichnung eines Briefes an eine gewisse Halna du Fretay die Bemerkung, »bei ihr, 191x in Arras, habe ich Pétain kennengelernt.«12

Besser belegt ist, dass sich Charles de Gaulle 1913 oder 1914 ernsthaft in ein junges Mädchen aus Lille verliebt hatte. Sie sei »fast seine Verlobte gewesen«, gestand er einmal in einem Brief. Die Verbindung nahm ein tragisches Ende: Zu Beginn des Krieges fiel die Angebetete einer britischen Granate zum Opfer.13 Es spricht viel dafür, dass die Langel-Erzählung einen Versuch darstellte, diesen Verlust zu verarbeiten. Für die Zeit der Siegesfeiern nach der Vertreibung der Roten Armee aus Polen wird sodann von einer »romantischen Verbindung« des Kabinettschefs von General Niessel mit der jungen Prinzessin Czetwertinska berichtet, die ihn in die Salons der Warschauer Damenwelt einführte.14

Unterdessen hatte de Gaulle aber schon seine Mutter in die Brautschau eingeschaltet. Eine erste Begegnung mit der Tochter eines reichen Aristokraten aus dem Norden Frankreichs, die daraus resultierte, führte nicht sehr weit: Es stellte sich heraus, dass die junge Dame hinkte, und auch sonst wollte sich der nötige Funke nicht so recht einstellen. Bei einem Heimaturlaub im Oktober 1920 arrangierten die Eltern eine Begegnung mit den Vendroux, einer wohlhabenden Familie aus Calais, die in Paris eine Stadtwohnung unterhielt (neben einem Landsitz in Coulogne und dem Schloss Sept-Fontaines in der Nähe von Charleville). De Gaulle will bei dieser Gelegenheit gleich seinen Tee auf dem Kleid der Vendroux-Tochter Yvonne verschüttet haben. Deren Bruder Jacques bestreitet das.

Nicht zu bestreiten ist hingegen, dass die Begegnung auf beiden Seiten den gewünschten Eindruck hinterließ. Wenige Tage später erhielten Yvonne und Jacques eine Einladung de Gaulles zum Ball von Saint-Cyr. Die 20-jährige Yvonne sträubte sich noch etwas: Er sei an ihm, sich erklären, sagte sie zu ihrem Bruder, und er sei ja über 40 Zentimeter größer als sie. Nach dem Ball, bei dem sich die beiden Heiratskandidaten ausgiebig über alpine Flora und den Charme der normannischen Küste unterhielten, erfuhr Jacques von seinen Eltern, dass »die andere Seite ein günstiges Gefühl zu erkennen gegeben hat.« Drei Tage später entschied sich Yvonne: »Der oder keiner.« Da Charles am 20. November wieder zurück in Warschau sein musste, wurde nun in aller Eile die Verlobung vorbereitet. Sie fand am 11. November statt, dem zweiten Jahrestag des Waffenstillstands. »Erster Kuss in der Öffentlichkeit«, hielt Jacques in seinen Erinnerungen fest.15

Die Vendroux waren eine alte Reederfamilie, ursprünglich aus den Niederlanden stammend (»Van Droog«) und seit dem frühen 18. Jahrhundert in Calais ansässig. Der Vater von Yvonne hatte darüber hinaus in eine Biskuitfabrik investiert, die ihm mehr einbrachte als der Schiffsbau. Vorfahren der Mutter ließen sich bis auf den Renaissance-Papst Julius III. zurückverfolgen, dessen illegitime Tochter Großmutter des Bildhauers Raphaelle Caffieri war, der von Kardinal Mazzarin nach Frankreich geholt wurde. Die Familie war ungleich wohlhabender und deutlich bürgerlicher als die de Gaulles, freilich ebenso der katholischen Tradition verpflichtet. Yvonne hatte die Kriegsjahre im Konvent der Salesianer-Nonnen von Perigueux verbracht und bereitete sich nun, eine hübsche junge Frau mit blassem Teint und mächtigen schwarzen Haaren, auf die vorgegebene Rolle als Ehefrau und Mutter vor. Sie war ohne Zweifel fromm, aber auch sehr geradeaus, sportlich und humorvoll. Ihrem Charles war sie, nachdem sie sich einmal für ihn entschieden hatte, in großer Zärtlichkeit zugetan und ein Leben lang treu ergeben. Am 7. April 1921 wurde in Calais geheiratet, dann ging es per Zug ab in die Flitterwochen am Lago Maggiore.

Für Charles de Gaulle waren die frühen 1920er Jahre vielleicht die glücklichsten seines Lebens. Er hatte endlich begründete Aussicht auf eine militärische Karriere, und er tat als Lehrer und Autor militärgeschichtlicher Studien genau das, was er am besten konnte. Wenn er nicht Offizier geworden wäre, sollte er später einmal sagen, hätte er gerne als Schriftsteller oder Historiker wie Augustin Thierry gearbeitet.16 Zudem hatte er eine Frau gefunden, die seinen emotionalen Bedürfnissen in jeder Hinsicht entsprach und ihm die Aussicht auf eine eigene Familie eröffnete. Bereits am 28. Dezember 1921, keine zehn Monate nach der Hochzeit, wurde der Sohn Philippe geboren; am 15. Mai 1924 folgte die Tochter Elisabeth. Das junge Paar wohnte zunächst in einem Appartement am Boulevard Grenelle, wo es allerdings wegen der Hochbahn-Métro der neuen Linie 6 (Nation–Étoile) sehr laut war. Kurz vor der Geburt des Sohnes bezog es ein ruhigeres Fünf-Zimmer-Appartement am benachbarten Square Desaix. Bis zur Kriegsakademie benötigte man von da eine gute Viertelstunde.

Die Ausbildung an der École supérieure de guerre führten allerdings nicht zu dem glänzenden Ergebnis, das der glückliche Familienvater erhofft hatte. Mit seinem unterdessen beeindruckend gründlichen Wissen und seinem großen Interesse an den neuen Kriegstechniken konnte er sich partout nicht mit der Konzentration auf die Verteidigung des nationalen Territoriums abfinden, die sich nach der Rückgewinnung von Elsass-Lothringen im Generalstab durchgesetzt hatte und auch an der Akademie gelehrt wurde. Die Taktiken der präzisen Aufteilung des Kampfgeländes und der Zusammenziehung der Einheiten zu starken Schwerpunkten mit massiver Feuerkraft, die daraus resultierten, hielt er für höchst illusorisch und entschieden zu unflexibel. Das führte ihn zu zahlreichen Zusammenstößen mit den Generälen und Obersten, die an der Akademie unterrichteten.

Erschwert wurde der Fall des Connétable noch dadurch, dass er im März 1924 sein erstes Buch veröffentlichte: die Geschichte von Unbotmäßigkeiten im deutschen Generalstab und Konflikten zwischen militärischer und politischer Führung, die, wie er meinte, zur Niederlage der Mittelmächte 1918 beigetragen hatten. Unter dem Titel La discorde chez l’ennemi (»Die Zwietracht beim Feind«) bot es eine eher unzusammenhängende Darstellung verschiedener Konflikte voller technischer Details, verbunden nur durch ein Fazit, das er gleich zu Beginn präsentierte: »Im Krieg gibt es, von einigen Grundprinzipien abgesehen, kein universales System, es gibt nur Umstände und Persönlichkeiten.«17 Das stellte nicht nur in der Sache einen Affront gegen den Mainstream des Generalstabs und der Akademieführung dar. De Gaulle verstieß mit der Publikation dieses Buches auch gegen den Kastengeist eines Offizierskorps, das nichts davon hielt, militärische Probleme vor einem zivilen Publikum auszubreiten. Dass er es auch noch vor dem Abschluss seiner Ausbildung tat, erschien als der Gipfel der Unbotmäßigkeit.

Die Dozenten der Kriegsakademie kamen nicht umhin, ihrem brillanten Schüler nach zwei Jahren gewisse Defizite zu attestieren. »Ein intelligenter Offizier, kultiviert und ernsthaft«, schrieb Oberst Moyrand, der Lehrbeauftragte für allgemeine Taktik, in seine Beurteilung.

»Verfügt über Brillanz und Leichtigkeit, sehr begabt, großes Potential. Beschädigt unbestreitbare Qualitäten leider durch seine übermäßige Selbstsicherheit, seine Unerbittlichkeit gegenüber den Meinungen der anderen und sein Verhalten wie ein König im Exil. Scheint im Übrigen über mehr Fähigkeit zum zusammenfassenden und allgemeinen Studium eines Problems zu verfügen als zur vertieften und praktischen Prüfung seiner Ausführung.«18

Von den früheren Charakterisierungen als »Connétable« war das nicht allzu weit entfernt. Nahm man alle Beurteilungen zusammen, so ergab sich daraus eine Gesamtnote »Befriedigend«. Für de Gaulle brach eine Welt zusammen, als er das Urteil bei der Diplomvergabe im Juli 1924 hörte: Mit einem derartig mittelmäßigen Prädikat hatte er keine Aussichten, jemals an die Spitze des Generalstabs zu gelangen.

Das Urteil war allerdings noch nicht endgültig. Pétain empfand es, wie er später sagte, als einen »Skandal«; er nannte es »so ungeheuerlich wie einen Justizirrtum«.19 Das blieb nicht ohne Folgen. Der Oberst, der den Leutnant de Gaulle einst schätzen gelernt hatte, hatte unterdessen als Verteidiger von Verdun militärischen Ruhm errungen, war zum Marschall aufgestiegen und nahm als Vizepräsident des Obersten Kriegsrats und Generalinspekteur der Armee faktisch die oberste militärische Stellung ein. (Präsident des Obersten Kriegsrats war der Präsident der Republik). Da er nicht zulassen wollte, dass das große Talent, über das sein ehemaliger Leutnant seiner Überzeugung nach verfügte, derart verschleudert wurde, bestellte er den Direktor der Kriegsakademie zu sich und ließ ihn in nicht unklaren Worten wissen, dass das Urteil revidiert werden müsse. Das Kollegium fand eine solche Einmischung in seine Angelegenheiten ganz unglaublich, ließ sich dann aber doch herbei, die eine oder andere Note etwas zu korrigieren, sodass schließlich eine Gesamtnote »Gut« herauskam.

»Gut« war aber immer noch nicht gut genug, um eine Aufgabe im Generalstab zu erhalten. Der Akademieabsolvent de Gaulle wurde dem Stab der Besatzungsarmee im Rheinland zugeteilt, der in Mainz residierte. Genauer gesagt: Er wurde dem dortigen 4. Büro zugewiesen, das für die Versorgung der Truppe und die Rechnungslegung zuständig war. Der strategische Denker und exzellente Kenner der Militärgeschichte durfte sich nun (unter anderem) mit der Haltbarkeit von Lebensmittelvorräten und dem Bezug von Schmierstoffen beschäftigen. Schlimmer konnte man den Connétable nicht demütigen.

2         Mit und gegen Pétain

 

 

 

 

 

Der Hauptmann Charles de Gaulle reagierte auf seine Verbannung nach Mainz mit einer öffentlichen Bekräftigung seiner Überzeugungen. In einem Aufsatz, der im März 1925 in der Revue militaire française erschien, steigerte er seine Kritik an der defensiven Orientierung des Generalstabs zu einem Frontalangriff auf die herrschende Militärdoktrin:

»Der französische Militärgeist weigert sich, den empirischen Charakter anzuerkennen, den das Kriegshandeln notwendiger Weise annehmen muss. Er bemüht sich unaufhörlich, eine Doktrin zu konstruieren, die es ihm erlaubt, das Handeln a priori auszurichten und seine Form zu bestimmen, ohne den Umständen Rechnung zu tragen, von denen es ausgehen müsste. Er versucht ständig, die Konzeption von Konstanten abzuleiten, die von vorneherein bekannt sind, obwohl man doch für jeden einzelnen Fall kontingente und variable Faktoren induzieren muss.«

Der Konzentration auf das Kampfgelände, die an der Kriegsakademie gelehrt wurde, warf er vor, »systematisch von allen Variablen und vor allem vom Feind abzusehen.«1

Dass diese Attacke eines als mittelmäßig klassifizierten Hauptmanns nicht zu seiner dauerhaften Isolierung führte, war dem Umstand zu verdanken, dass sich Pétain dadurch nicht davon abhalten ließ, sich der Dienste de Gaulles zu versichern. Im Prinzip entsprach die Haltung, die de Gaulle angriff, auch dem Empfinden des Marschalls. Er hatte sogar schon vor dem Kriege, als die Begeisterung für die Offensive noch en vogue gewesen war, die Konzentration auf die Defensive gepredigt. Aber jetzt kam er zu der Überzeugung, dass er den begabten Autor und Kenner der Militärgeschichte brauchte: als Ghostwriter eines größeren Werkes über den Soldaten in Geschichte und Gegenwart (mit einem besonderen Schwerpunkt auf dem Weltkrieg und einem noch besondereren auf der Schlacht von Verdun). Pétain ging wie damals ganz Paris davon aus, dass er demnächst den Platz von Marschall Foch in der Academie française einnehmen würde, und er setzte seinen Ehrgeiz darein, dazu mit gewichtigerem literarischem Gepäck anzutreten als der von ihm verachtete illustre Vorgänger. Verschiedene andere Untergebene hatte er schon mit dem Projekt befasst, ohne zu einem zufriedenstellenden Ergebnis zu gelangen; also versuchte er es jetzt mit de Gaulle. Ein Probestück, das der Connétable bereitwillig ablieferte, gefiel; und so wurde er zum 1. Juli 1925 in das Kabinett von Marschall Pétain berufen.

De Gaulle wusste natürlich, dass der Marschall weit davon entfernt war, seine Auffassungen von Strategie zu teilen, und dass die ungleiche Zusammenarbeit, die ihm da angeboten wurde, ihre heiklen Momente haben würde. Auf der anderen Seite war er mit einem Schlag in das Zentrum der Armeeführung vorgedrungen, dorthin, wo über jede militärische Reform entschieden werden musste. Er war selbstbewusst genug, um an die Chance zu glauben, den mächtigen und überaus angesehenen Armeechef beeinflussen zu können. Während sich die Obersten im Generalstab des Marschalls am Boulevard des Invalides oft zu dritt ein Zimmer teilen mussten, verfügte der Hauptmann de Gaulle hier im zweiten Stock über ein eigenes Büro. Er konnte sich seine Arbeitszeiten frei einteilen und hatte allein dem »Patron« des Hauses Bericht zu erstatten.

Den ersten Arbeitsauftrag, den der Marschall ihm erteilte, erledigte er auch recht geschickt. Er sollte einen Aufsatz über die Rolle der Festungen in der Geschichte der Verteidigung des Landes schreiben, der als Argumentationsgrundlage für den Bau einer Kette neuer befestigter Anlagen im Nordosten dienen sollte – dort, wo Frankreich eben nicht durch natürliche Grenzen geschützt war. Das Projekt zielte also auf die Umsetzung der defensiven Strategie, auf die sich der Generalstab nach dem Krieg verständigt hatte, und lief damit den Intentionen des Anwalts des Bewegungskrieges potenziell zuwider. De Gaulle entledigte sich des Dilemmas, in das er durch den Auftrag geraten war, indem er einerseits die Notwendigkeit des Baus neuer Befestigungsanlagen betonte, andererseits aber anhand von historischen Beispielen seit den Zeiten Ludwigs XIV. und Vaubans darlegte, dass sie nur als Ausgangsbasis für bewegliche Operationen der Armeen Sinn machten. In der Sache hatte de Gaulle damit seinen Standpunkt behauptet, auch wenn der Aufsatz, der im Dezember 1925 in der Revue militaire française erschien, von vielen nur als Plädoyer für das neue Befestigungsprogramm gelesen wurde und damit, da viel beachtet, letztlich seine Durchsetzung beförderte.

Auch die Arbeit am Soldaten-Buch fiel zur Zufriedenheit Pétains aus. De Gaulle griff auf die eigenen Vorarbeiten zu einer Armeegeschichte zurück, spannte seinen Vater als Zulieferer ein und stellte Kapitel für Kapitel entsprechend rasch und zuverlässig fertig; der Marschall war von den historischen Darlegungen recht angetan. Gelegentlich registrierten Beobachter Wutausbrüche des Connétable, wenn er von Unterredungen mit seinem Auftraggeber kam, aber die wusste er vor dem Helden von Verdun vorerst zu verbergen. Folglich förderte ihn der Chef, wie er es für angemessen hielt. Bereits 1926 durfte de Gaulle nebenher als Instrukteur an der Kriegsakademie unterrichten. Für 1927 wurde seine Beförderung zum Major angekündigt. Und dann entschloss sich Pétain, nachdem er den, wie er schrieb, »intelligentesten Offizier der französischen Armee« zu einer Inspektionsreise nach Verdun mitgenommen und noch einmal auf Herz und Nieren geprüft hatte,2 zu einem Akt der Rehabilitation und offensichtlich auch der Rache, wie ihn die ehrwürdige École supérieure de guerre noch nicht erlebt hatte: Der neue Direktor der Akademie wurde angewiesen, den mittelmäßigen Absolventen von 1924 drei Vorträge in Anwesenheit des gesamten Lehrkörpers halten zu lassen, und das unter dem Vorsitz des Marschalls höchstselbst.

Die Vorträge fanden am 7., 14. und 21. April 1927 statt, jeweils vormittags um 10.30 Uhr, zur Zeit der Hauptvorlesungen. Pétain ermahnte die versammelten Offiziersjahrgänge, Obersten und Generäle – insgesamt die intellektuelle Elite der Armee –, den Darlegungen des »Hauptmann de Gaulle« aufmerksam zu folgen; dann entwickelte dieser seine Vorstellungen von militärischer Führung. Gleich im ersten Vortrag über Das Kriegshandeln und der Chef, wie immer memoriert und mit rauem Pathos vorgetragen, steigerte er seine Kritik am herrschenden Dogmatismus der Offiziersausbildung zu einem Angriff auf das Beförderungssystem der Armee insgesamt:

»Wie Scharnhorst sagt, triumphieren in Friedenszeiten die mechanisch organisierten Geister über diejenigen, die über Genie und Einfühlungsvermögen verfügen.«3

Im zweiten Vortrag Über den Charakter führte er aus, wie er sich das militärische Genie vorstellte, im dritten Über das Prestige handelte er vom richtigen Umgang mit seinen Untergebenen, auch über den militärischen Bereich hinaus. Das konnte man als Eloge auf Pétain verstehen, es war aber auch ein Programm, das er sich selbst gab und seinen Zuhörern vermitteln wollte.

Tatsächlich waren manche Zuhörer sehr beeindruckt. Die Obersten und Generäle aber waren außer sich über die Unverfrorenheit, mit der ihnen dieser militärische Niemand gegenübertrat, und die Demütigung, die der Marschall ihnen damit zufügte. Ihre Wut stieg noch, als sie erfuhren, dass de Gaulle die Vorträge im November vor einem universitären und bürgerlichen Publikum in der Sorbonne wiederholen durfte. Eingeladen hatte ihn dazu der Cercle Fustel de Coulange, ein Club von Professoren, die der monarchistischen Action française nahestanden. Dass er dessen Einladung annahm, bedeutete nicht, dass er sich den rechtsextremen Ideen anschloss. Es war vielmehr eine Gelegenheit, nun auch in der Pariser Öffentlichkeit bekannt zu werden.

Médaille des évadés